Anthony DiNozzo mal zwei by Michi
Summary: Habt ihr schon einmal das Bedürfnis verspürt, das Leben einer anderen Person führen zu wollen? Dies ist jedenfalls der größte Wunsch des Mannes mit dem Namen Christopher und um sich diesen Wunsch zu erfüllen, würde er alles tun. Er entführt einen Mann, sperrt ihn in einen Raum ein und übernimmt sein Leben. Sein Plan scheint reibungslos zu funktionieren, jedenfalls am Anfang...
Categories: German Characters: Ziva David, Timothy McGee, Original character, Leroy Jethro Gibbs, Jimmy Palmer, Donald Mallard, Anthony DiNozzo, Abby Sciuto
Genre: Humor, Friendship, Established relationship, Drama, Angst
Pairing: None
Warnings: None
Challenges:
Series: None
Chapters: 33 Completed: Yes Word count: 144718 Read: 221691 Published: 06/01/2007 Updated: 06/29/2007
Story Notes:
Diese Story ist aus der Sicht von Tony geschrieben, wobei natürlich die anderen Charas nicht zu kurz kommen.
Der kursive Text sind Rückblenden!
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

1. Chapter 1 by Michi

2. Chapter 2 by Michi

3. Chapter 3 by Michi

4. Chapter 4 by Michi

5. Chapter 5 by Michi

6. Chapter 6 by Michi

7. Chapter 7 by Michi

8. Chapter 8 by Michi

9. Chapter 9 by Michi

10. Chapter 10 by Michi

11. Chapter 11 by Michi

12. Chapter 12 by Michi

13. Chapter 13 by Michi

14. Chapter 14 by Michi

15. Chapter 15 by Michi

16. Chapter 16 by Michi

17. Chapter 17 by Michi

18. Chapter 18 by Michi

19. Chapter 19 by Michi

20. Chapter 20 by Michi

21. Chapter 21 by Michi

22. Chapter 22 by Michi

23. Chapter 23 by Michi

24. Chapter 24 by Michi

25. Chapter 25 by Michi

26. Chapter 26 by Michi

27. Chapter 27 by Michi

28. Chapter 28 by Michi

29. Chapter 29 by Michi

30. Chapter 30 by Michi

31. Chapter 31 by Michi

32. Chapter 32 by Michi

33. Chapter 33 by Michi

Chapter 1 by Michi
Author's Notes:
Habt ihr schon einmal das Bedürfnis verspürt, das Leben einer anderen Person führen zu wollen?
Dies ist jedenfalls der größte Wunsch des Mannes mit dem Namen Christopher und um sich diesen Wunsch zu erfüllen, würde er alles tun. Er entführt einen Mann, sperrt ihn in einen Raum ein und übernimmt sein Leben. Sein Plan scheint reibungslos zu funktionieren, jedenfalls am Anfang...
Washington D.C.
Montag, 11. Mai
18:23 Uhr


Die Sonne wanderte bereits Richtung Horizont und ihre schwächer werdenden Strahlen verwandelten das anfängliche Blau des Himmels in ein blutrot, auf dem die Vögel wie schwarze Kleckse wirkten. Ein wunderschöner lauer Frühlingstag ging somit langsam zu Ende und der dichte Abendverkehr wurde noch um einen Tick stärker, da viele Berufstätige sich auf den Weg nach Hause machten, um die restlichen Stunden mit ihren Familien zu verbringen – oder mit Freunden. Auf den Straßen herrschte das übliche Chaos und in der Ferne konnte man die Sirene eines Krankenwagens ausmachen, dicht gefolgt von dem Signalton der Polizei. Noch wusste man nicht, was geschehen war – vielleicht ein Unfall oder ein Verbrechen – aber die Medien waren wie die Geier und würden sich auch noch auf die kleinste Story stürzen, um die Auflagen der Zeitungen zu steigern.
Die lauten Geräusche der Autos, die Abgase und selbst die Stimmen der Passanten interessierten den Mann mit dem Namen Christopher – von seinen wenigen Freunden einfach Chris genannt – nicht im Geringsten. Seit Jahren war er nicht mehr in Washington gewesen und es hatte ihn immense Überwindung gekostet, einen Fuß auf den Boden der Stadt zu setzen. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, die er hier verbracht hatte. Aber er hatte es geschafft, seine inneren Dämonen besiegt und jetzt saß er in seinem funkelnagelneuen Wagen, das Fenster der Fahrerseite war geöffnet, um die Luft einzulassen und beinahe lässig trank er an seiner Cola. Aus dem Radio erklang leise sanfte Musik, die eine beruhigende Wirkung auf ihn haben sollte, aber heute war er zu aufgeregt, um seinen Puls in normale Bereiche zu befördern. Heute war der Tag, an dem sich sein Leben für immer verändern sollte, ein Leben, das er bisher gehasst hatte. Es war seine Entscheidung gewesen, sich vor Jahren von seiner Familie loszusagen, eine Familie, die ihm eigentlich Liebe und Halt hätte geben sollen, ihm aber meistens nur die kalte Schulter gezeigt hatte. Dabei hatte Chris alles versucht, um anerkannt zu werden, hatte gute Noten in der Schule gehabt, war ein Sportass gewesen und hatte sogar einmal bei einem Wettbewerb in Physik teilgenommen und gewonnen, aber niemand hatte sich wirklich darum gekümmert. Selbst als er seine erste Freundin mit nach Hause genommen hatte, waren seine Eltern nicht wirklich bei der Sache gewesen. Und dann – drei Jahre später - hatte ihn sogar seine neueste Flamme betrogen. Damals war er erst 17 Jahre alt gewesen und dennoch hatte er das Gefühl gehabt, die Frau fürs Leben gefunden zu haben. Aber dieser Vertrauensmissbrauch hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und Chris war noch in derselben Nacht – ohne eine Nachricht zu hinterlassen - abgehauen, mit einem Rucksack voll Klamotten und der dicken Geldtasche seines Vaters, der natürlich am nächsten Tag sofort die Kreditkarten hatte sperren lassen – genauso wie sein Konto. Er hatte den ersten Zug genommen, den er erwischt hatte und der ihn schließlich aus der Stadt herausgebracht hatte. Kein einziges Mal hatte er bei sich zu Hause angerufen, um Bescheid zu geben, dass es ihm gut ging. Sollten sie doch glauben, was sie wollten. Zwei Tage später auf seiner Fahrt nach Los Angeles hatte er dann in der Zeitung gelesen, dass man ihn als vermisst gemeldet hatte, was ihn etwas gewundert hatte. Immerhin hatte er beinahe geglaubt, er würde niemandem fehlen. Dennoch hatte er seine Entscheidung nicht rückgängig gemacht und schlug sich von nun an mehr schlecht als recht durchs Leben.
Die ersten Jahre waren die Härtesten gewesen, aber dann hatte Chris durch Betrügereien und einigen kriminellen Aktivitäten eine Stange Geld verdient und sich ein größeres und vor allem luxuriöseres Apartment mit Blick auf das Meer leisten können. Die Frauen waren ihm scharenweise zu Füßen gelegen und er hatte sich einen gewissen Ruf in der Unterwelt erarbeitet – allerdings unter falschem Namen. Das war das Erste, was er in seiner neugewonnenen Freiheit gemacht hatte – seinen Nachnamen geändert, denn er wollte das Risiko so weit wie möglich minimieren, aufgespürt zu werden. Aber Chris war dennoch nicht glücklich gewesen, trotz der vielen Kohle und Affären. Nein, er hätte sich viel lieber ein Leben mit der Liebe seiner Eltern gewünscht, aber dies war ihm verwehrt geblieben und so hatte er sich die Anerkennung von Frauen und Kleinkriminellen, die zu ihm empor geblickt hatten, geholt. Jedoch war das ein leidiger Ersatz gewesen.
Damals und auch noch heute gab er nicht nur seinen Erzeugern die Schuld daran, dass er nicht geliebt worden war, sondern einem Jungen oder besser gesagt, mittlerweile einem Mann. Einen Mann, an den er jeden Tag gedacht hatte, ob er wollte oder nicht. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass er sein Gesicht ständig vor sich sah, seinen Körper und besonders die Augen. Sogar den Klang seiner Stimme konnte er nicht vergessen, genauso wenig wie sein Lachen. Oh ja, er gab diesem Mann die Schuld, dass sein Leben derart verlaufen war. Aber nun war die Zeit der Abrechnung gekommen und darauf freute er sich schon seit Monaten.

Ein lautes Hupen in der Nähe riss Chris aus seinen Gedanken über seine mehr als deprimierende Vergangenheit. Während den letzten Minuten, die er geistig ein wenig abwesend gewesen war, war die Sonne ein weiteres Stückchen untergegangen und das blutige Rot wurde noch dunkler, um nur darauf zu warten, bis es sich in dunkles Blau verwandeln konnte. Die sanfte Musik aus dem Radio war einem Rocksong gewichen, der seiner Stimmung eher entsprach. Er nahm einen weiteren großen Schluck aus der Colaflasche, schraubte sie zu und legte sie auf den Beifahrersitz. Gleich darauf blickte er zu dem großen Gebäude, welches er seit einer Stunde im Auge behielt, vor allem jedoch die Ausfahrt der Tiefgarage, um ja nicht den Wagen zu übersehen, auf den er wartete. Es wäre doch zu schade, wenn er den richtigen Zeitpunkt verpassen würde, obwohl ihm sein „Opfer" nicht entkommen konnte, dafür hatte er heute Nachmittag gesorgt, während dieser bei der Arbeit gewesen war. Eine Arbeit, die er nun in Zukunft erledigen würde. Besonders darauf hatte er sich gut vorbereitet, aber selbst Bücher hatten ihm nicht alles Wissen verliehen, welches er haben musste. Dennoch hoffte er, den Job gut erledigen zu können, aber er war immerhin lernfähig. Chris prägte sich Gelesenes sehr schnell ein und lernte aus Fehlern. Nur durfte er sich diesmal keine Fehler leisten, sonst würde sein Plan sofort auffliegen und alles wäre umsonst gewesen: das kleine abgelegene Haus, welches er sich extra gekauft hatte, die Einrichtung des Raumes im Keller, die er selbst zusammengebaut hatte und er hatte sich sogar ein gewisses Macho Image zugelegt, um seiner neuen Rolle gerecht zu werden. Das Geld, welches er dafür gebraucht hatte, um seinen Plan umzusetzen, hatte er größtenteils durch Schmugglereien und massenhaft Glück in Casinos zusammengebracht und ihm war sogar noch etwas übrig geblieben, das er jedoch mit größter Sorgsamkeit einsetzen würde. Die Jahre, die er in L.A. gelebt hatte, war er viel zu verschwenderisch gewesen, aber damit war nun Schluss. Immerhin begann ja jetzt sein neues Leben.
Ein Strahl der untergehenden Sonne traf auf eine Windschutzscheibe und wurde leicht reflektiert, aber dies genügte, um Chris' Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ein Grinsen bildete sich auf seinen Lippen, als er das Fahrzeug, das gerade die Tiefgarage verließ, und dessen Insassen erkannte. Für einen kurzen Moment erblickte er sein Gesicht, ein Gesicht, das ihn verfolgte, ohne dass er es verhindern konnte. Wut und maßloser Zorn breitete sich in seinem Inneren aus und er hatte plötzlich das Gefühl, das Lächeln würde auf seinen Zügen gefrieren. Chris ballte seine Hände zu Fäusten, entspannte sich aber gleich darauf wieder. Jetzt war nicht der richtige Moment, um seinem Ärger freien Lauf zu lassen, das konnte er später immer noch.
„Wird auch langsam Zeit, dass du auftauchst", murmelte er boshaft, startete seinen Wagen und folgte dem anderen in sicherem Abstand. Der Verkehr war ziemlich dicht – eine endlos lange Blechschlange, die sich langsam vorwärts bewegte - und es bestand die Gefahr, dass Chris sein Ziel aus den Augen verlor, was jedoch kein Problem darstellen sollte. Er wusste, wohin der Mann unterwegs war - zu dem Haus, das bald seines sein würde, genauso wie der Name und das Leben, das er sich so sehr gewünscht hatte. Und endlich würde sein Wunsch in Erfüllung gehen. Die Wut verflog so schnell wie sie gekommen war und machte Aufregung Platz. Fröhlich pfiff er den Song aus dem Radio mit, während ihm der Fahrtwind durch die braunen Haare fuhr und sie leicht zerzauste.
Den Blick abwechselnd auf die Straße und auf das Auto, das durch zwei weitere Wagen von ihm getrennt war, gerichtet, folgte er Anthony DiNozzo – seinem Zwillingsbruder.

Gerade als die Sonne komplett hinter dem Horizont verschwand, stellte ich meinen Wagen in der Einfahrt zu meinem Haus ab und blieb noch einen kurzen Moment sitzen, um mir die Nachrichten fertig anzuhören. Dabei ließ ich meinen Blick über die Straße schweifen, die ruhig hinter und vor mir lag. Die Laternen warfen schwaches Licht auf den Asphalt und erhellten die gepflegten Vorgärten, sowie die Fassaden der Gebäude. Um diese Uhrzeit war es hier immer etwas idyllischer, als untertags. Die Bewohner saßen meist beim Essen oder vor dem Fernseher, während ihre Kinder, die nach der Schule lieber im Garten gespielt hatten, von ihren Müttern wachsam im Auge behalten, die Hausaufgaben erledigten. Das Bedürfnis, sich nach zahlreichen Unterrichtseinheiten auszutoben, kannte ich nur zu gut. Ich war selbst in meiner Kindheit nachmittags mit Freunden unterwegs gewesen, anstatt mich an den Schreibtisch zu setzen und zu büffeln – was zu manchen Konflikten mit meinen Eltern geführt hatte. Einst war das Leben noch viel einfacher gewesen, jedenfalls bis…
Unwillkürlich ballte ich meine Hände zu Fäusten, als die schmerzhafte Erinnerung von damals an die Oberfläche kam – eine Erinnerung, die ich gekonnt verdrängt hatte, die mich aber hin und wieder zu quälen anfing, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Aber heute würde ich mir meinen Feierabend deswegen nicht vermiesen lassen, zumal das Wochenende ins Wasser gefallen war, da Gibbs darauf bestanden hatte, dass wir selbst am Sonntag nach dem verschwundenen Sohn eines Marines suchen sollten, der, wie sich herausgestellt hatte, seinen Eltern nur einen Schreck einjagen wollte. Dieser dumme Jungenstreich hatte mich um das Date mit einer heißen Brünetten gebracht und um ein freies Wochenende, auf das ich mich so sehr gefreut hatte. Das Leben eines Bundesagenten war manchmal ganz schön hart, aber trotzdem würde ich es um keinen Preis hergeben wollen.
Leise seufzend nahm ich meinen Rucksack vom Beifahrersitz, stieg aus und sperrte meinen Wagen ab. Die Luft war noch angenehm warm, obwohl die Sonne bereits verschwunden war und die ersten Sterne am Himmel aufblitzten. Das perfekte Wetter, um den Tag mit einem kühlen Bier auf der Terrasse ausklingen zu lassen – und mit einer guten Folge Magnum.
Bevor ich zur Haustür ging, machte ich einen kurzen Umweg über den Postkasten, holte mir die Briefe und zu meinem Leidwesen auch Rechnungen. In dem blassen Schein der Laterne neben meiner Einfahrt las ich mir die jeweiligen Absender durch und als ich mich bereits umdrehen wollte, um hineinzugehen, stellten sich mir von einer Sekunde auf die andere die Nackenhaare auf und ein kalter Schauer jagte mir über meinen Rücken. Auf einmal kam mir die Luft ziemlich kühl vor. Ich hob meinen Kopf und das Gefühl, beobachtet zu werden, ergriff Besitz von mir. Langsam drehte ich mich im Kreis, konnte jedoch niemanden erkennen. Kein Auto bog in die Straße und sonst war auch kein Fußgänger unterwegs. Nicht einmal mein schrulliger Nachbar Joe, der fast den gesamten Tag auf seiner Veranda saß und Rätsel löste. Die einzigen Geräusche kamen von den Vögeln, die ein letztes Konzert gaben, bevor sie sich in ihre Nester zurückzogen. „Du siehst schon Gespenster, DiNozzo", murmelte ich leise und obwohl ich wusste, dass es lächerlich war, blickte ich mich noch einmal sorgfältig um, bevor ich die Haustür aufschloss und die Post auf einen kleinen Tisch warf. Das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb jedoch aufrecht, ich gab aber schließlich dem versäumten Schlaf der letzten Tage die Schuld daran, dass ich derart sensibel reagierte.
Ich schloss die Tür und da ich mich jetzt in meinen eigenen vier Wänden befand, fühlte ich mich gleich viel sicherer. Kurz darauf machte ich Licht, legte die Schlüssel neben die Post, ließ den Rucksack achtlos neben der Treppe, die rechts in den ersten Stock führte, auf den Boden fallen und ging durch den bogenartigen Durchgang ins Wohnzimmer – meinen Lieblingsraum, da sich hier der Fernseher befand. Die Wände waren in einem warmen Gelbton gestrichen und die gesamte Einrichtung war farblich damit abgestimmt – das helle Sofa mit den dazugehörigen beiden gemütlichen Sesseln, der rechteckige Glastisch, der Teppich, der den Parkettboden vor Kratzern schützte und selbst die Bilder, die ich aufgehängt hatte. Auf dem Kamin standen gerahmte Fotos von meiner Familie, gemeinsam mit einem von Kate, die ich jeden Tag aufs Neue vermisste. Obwohl ich mich mit Ziva hervorragend verstand und es mir Spaß machte, mich mit ihr zu streiten, war es dennoch anders als mit meiner Kollegin, die noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt hätte. Manchmal kam es mir vor, als ob es erst gestern gewesen wäre, als sie von Ari erschossen worden war und mein Gesicht voll von ihrem warmen Blut bedeckt gewesen war.
Langsam ging ich auf den Kamin zu und kniff meine Augen zusammen, als mir etwas auffiel. ‚Komisch', dachte ich und betrachtete das Bild meiner Eltern. ‚Hat das heute Morgen nicht weiter links gestanden?' Ich legte meinen Kopf schief und entschied aber nach ein paar Sekunden, dass ich mich getäuscht hatte. „Anthony, du bist wohl reif für die Insel", sagte ich zu mir selbst, wandte mich ab und ging durch eine Tür, die in die Küche führte und sich rechts neben meinem gut gefüllten Bücherregal befand. Genauso wie im Wohnzimmer war die Einrichtung hier aufeinander abgestimmt. Die Einrichtung war hell und modern und schimmerte in dem weichen Licht der Deckenlampe. Es gab einen separaten Essbereich, der mit einem Tresen vom Kochbereich abgetrennt wurde und vor dem drei Hocker standen. Auf dem Tisch unter dem großen Fenster lag noch die Morgenzeitung, die ich mir heute nicht mehr ansehen hatte können, da ich wieder einmal zu spät aufgestanden war. In der Spüle befand sich das benützte Geschirr vom Frühstück, aber da ich momentan keine Lust hatte, abzuwaschen oder die Spülmaschine einzuräumen, beachtete ich es nicht weiter, sondern nahm mir ein Glas aus einem der Schränke und öffnete den Kühlschrank. „Na super", sagte ich und betrachtete die beinahe gähnende Leere. Ich hatte komplett vergessen, dass ich einkaufen hätte sollen und so hatte ich nicht einmal mehr ein Bier, das ich zu Magnum trinken konnte, also blieb mir nur noch der Orangensaft, den ich heute Morgen geöffnet hatte. Während ich mir ein Glas voll einschenkte, ging ich im Gedächtnis bereits die Nummern der Pizzalieferanten durch, da ich auch nichts Essbares im Haus hatte. Ich trank einen Schluck des Getränkes und starrte kurz darauf stirnrunzelnd die Flüssigkeit an – irgendwie schmeckte sie bitter, was in der Früh sicher nicht der Fall gewesen war, jedenfalls so weit ich mich erinnerte. Das Ablaufdatum auf der Packung war auch erst in zwei Monaten, wie ich nach einem kurzen Blick feststellte. Vorsichtig probierte ich noch einen Schluck, aber der bittere Nachgeschmack blieb. Anscheinend hatte sich sogar der Orangensaft dazu entschlossen, sich gegen mich zu verschwören.
Ich ging zur Spüle, um das Glas auszuleeren, als mich auf einmal ein heftiger Schwindelanfall überkam. Die Küche verschwamm vor meinen Augen, und ich musste mich an der Anrichte abstützen, um nicht hinzufallen. Dabei rutschte mir das Glas aus den Fingern, zerschellte auf den Fliesen und die Flüssigkeit verbreitete sich am Boden. „Was…?" begann ich, hielt aber inne, da sich die Welt für eine Sekunde verdunkelte, bevor sie sich wieder manifestierte. In meinem Kopf fing es zu brummen an, so als ob sich ein Schwarm Wespen eingenistet hätte. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und ich fühlte mich, als ob ich auf einmal eine Grippe hätte. Ich wollte einen Schritt nach vorne machen, aber ich kam nicht einmal so weit. Meine Knie gaben unter mir nach und ich knickte ein. Hätte ich mich nicht noch immer festgehalten, wäre ich auf den Boden geknallt. Ich versuchte mich aufzurichten, aber ich hatte plötzlich keine Kraft mehr in meinen Füßen. Erneut fing sich die Küche um mich zu drehen an und nicht einmal tiefes Luftholen half dagegen. ‚Was geht hier nur vor sich?' fragte ich mich und suchte eine logische Erklärung, aber mein Verstand schien auf einmal Urlaub zu machen – jedenfalls war ich zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig.
„Musstest du so eine Schweinerei in meiner Küche anstellen?" Eine Stimme, die meiner so schrecklich ähnlich war, drang wie durch Watte gedämpft an meine Ohren. „Jetzt muss ich auch noch den Boden sauber wischen." Ich kniff meine Augen zusammen und blickte in Richtung Tür, durch die eben ein Mann auf mich zukam und obwohl ich ihn nur verschwommen sah, hatte ich plötzlich das Gefühl, in einen Spiegel zu starren. „Nein, das ist nicht möglich", keuchte ich leise. Unglauben breitete sich in meinem Inneren aus und ich fragte mich, ob ich träumte. ‚Genau, du hast einen Albtraum. Das ist des Rätsels Lösung', antwortete ich mir selbst, aber noch im selben Moment wurde mir klar, dass ich mich selbst belog, dass ich nicht fantasierte und es die Realität war, die ich vor Augen hatte – wenn auch verschwommen. Ich versuchte erneut, mich aufzurichten, knickte aber sofort ein. Ich wollte weg von ihm, kam aber nicht einmal einen Zentimeter weit. Langsam, so als ob er alle Zeit der Welt hätte, näherte er sich bis auf einen Schritt und sah mich mit seinen grünen Augen hämisch an – Augen, die hätten meine sein können. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen – ein Grinsen, mit dem ich immer Ziva bedachte, wenn ich sie ärgerte. Ich spürte, wie ich das Bewusstsein verlor und ich konnte mich nur mehr mit größter Mühe an der Anrichte festhalten. Irgendwo in meinem Gehirn meinte eine Stimme, dass ich lieber auf meinen Instinkt hätte hören und das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht ignorieren hätte sollen.
„Zeit zum Schlafen, Anthony", sagte er höhnisch und betonte dabei extra meinen Namen. Sein Gesicht, welches meinem vollkommen glich, verschwamm immer mehr vor meinen Augen. Ohne dass ich es verhindern konnte, glitt ich zu Boden, wo ich mit dem Rücken zu liegen kam. Die Kühle der Fliesen drang durch den Stoff meines Hemdes und ließ mich leicht zittern. Erneut kam er in mein Blickfeld, beugte sich zu mir herunter und musterte mich kalt. Ich versuchte meinen Arm zu heben, um ihn wegzustoßen, aber er fühlte sich an, als ob er mit tonnenweise Blei gefüllt wäre.
Schwärze begann mich von allen Seiten einzuengen, egal wie hartnäckig ich dagegen ankämpfte. „Chris", brachte ich leise über meine Lippen, wobei ich fast meine eigene Stimme nicht hören konnte. Das Letzte was ich sah, bevor mich tiefe Dunkelheit umgab, war das Gesicht meines vor Jahren verschwundenen Zwillingsbruders.

Chris blieb ein paar Sekunden lang in der gebeugten Haltung und betrachtete Tonys reglosen Körper, seine Gesichtszüge und seine geschlossenen Augen. Alleine das regelmäßige Heben und Senken seines Brustkorbes deutete daraufhin, dass er noch lebte. Sein Kopf war zur Seite gedreht und der Mund stand leicht offen. Er wirkte beinahe friedlich, wie er da so lag und tief schlief – ein Schlaf aus dem er erst in mehreren Stunden erwachen würde, dafür hatte er gesorgt. Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass das Beruhigungsmittel, das er in den Orangesaft geschüttet hatte, derart schnell wirken würde. Dabei hatte er heute Nachmittag, als er bereits einmal hier gewesen war, geglaubt, sein Bruder würde eine bessere Kondition haben, aber anscheinend hatte er sich da geirrt. Andererseits hatte er eine hohe Dosis angewendet und so verwunderte es ihn nicht wirklich, dass Tonys Kampf gegen die Bewusstlosigkeit nicht lange gedauert hatte – ein Kampf, dessen Verfolgung ihn mit tiefer Befriedigung erfüllt hatte, vor allem da er von Anfang an gewusst hatte, dass er erfolglos verlaufen würde.
Chris betrachtete die Pfütze auf dem Boden und runzelte ärgerlich die Stirn. Vielleicht hätte er doch nicht so verschwenderisch mit dem Beruhigungsmittel sein sollen, denn jetzt durfte er auch noch den Mist wegräumen, den sein Bruder verursacht hatte. Hätte er das Glas nicht eine Sekunden früher abstellen können? Nein, er hatte es ja unbedingt fallen und einen See aus Orangensaft hinter lassen müssen. So hatte er sich die Einweihung seiner neuen Küche – die ihm äußerst gut gefiel - nicht ausgemalt. Aber dennoch übertraf ihr erstes Treffen seit so vielen Jahren seine Vorstellungen. Das Entsetzen, das sich auf Anthonys Gesicht abgezeichnet hatte, als er erkannt hatte, wer vor ihm stand, war einfach unbezahlbar gewesen und das Unglauben in seiner Stimme, als er seinen Namen gesagt hatte, hätte ihn beinahe laut auflachen lassen. Er hatte ihn die ganze Zeit über angesehen, so als ob er ein Gespenst vor sich hätte. ‚Nun, vielleicht trifft das auch zu', überlegte er und grinste. Denn er konnte sich lebhaft vorstellen, dass seine Familie davon ausging, dass er schon längst tot wäre.
Chris erhob sich und blickte weiter auf Tony hinunter, der zu seinen Füßen lag und nicht einmal den kleinen Finger rührte. Wenn er ehrlich war, hatte er ihn noch nie so ruhig gesehen. In ihrer Kindheit war er ständig auf Achse gewesen, selbst wenn er einmal krank gewesen war, wollte er nie im Bett liegen bleiben, egal was ihrer beider Mutter unternommen hatte, um ihn dazuzubewegen. Ihre Eltern hatten ihm vieles durchgehen lassen und das nur, weil er gerade mal lausige 10 Minuten älter als Chris war. ‚Was 10 Minuten für einen riesengroßen Unterschied ausmachen können', dachte er bitter, lehnte sich an die Anrichte und starrte leicht geistesabwesend aus dem Fenster in die beginnende Nacht hinaus. Sie waren am selben Tag geboren worden, glichen sich äußerlich bis ins letzte Detail – weshalb er sein Schicksal ständig verfluchte – und er war immer besser in der Schule gewesen, aber dennoch waren seine Leistungen nie so anerkannt worden wie die von Tony. Er hatte lauter Einser nach Hause bringen können und hatte dafür nur ein „gut gemacht" zu hören bekommen, während sein Bruder umarmt worden war und sich das Abendessen aussuchen hatte dürfen. Und jedes Mal hatte sich Christopher einzureden versucht, es würde bald anders werden, aber je älter die beiden geworden waren, desto mehr hatte er eingesehen, dass dies wohl nur ein Wunschdenken von ihm gewesen war.
Die altbekannte Wut stieg in ihm auf und ließ seine Hände zu Fäusten ballen. Jetzt, wo Anthony bewusstlos zu seinen Füßen lag, hätte er ihm locker alles Mögliche antun können, aber er hielt sich zurück. Ihn zu verprügeln wäre auch nicht die richtige Lösung, vor allem da er nichts spüren würde. Nein, es gab andere Möglichkeiten, ihn zu peinigen. Er wusste nur zu gut, dass der andere viel Bewegungsfreiheit brauchte – das war schon in ihrer Kindheit so gewesen – und die würde er ihm nehmen. In einem Raum ohne Fenster eingesperrt zu sein, würde ihn mehr quälen als harte Schläge. Er würde ihm die seelischen Qualen bereiten, die er erleiden hatte müssen. Chris würde ihm sein bisheriges Leben rauben – das Leben, was er sich so sehnlichst gewünscht hatte. Und jeden Abend würde er zu ihm kommen und ihm erzählen, wie seine Freunde und Kollegen auf ihn reinfielen, wie die Frauen, die dachten, mit Tony auszugehen, ihn anschmachteten und er würde genüsslich dabei zusehen, wie er immer mehr verzweifeln würde.
Ein Lächeln huschte ihm über die Lippen, als er das Bild vor sich sah, indem sein Bruder auf dem Bett kauern und ihn anflehen würde, ihn endlich rauszulassen – was er natürlich nicht tun würde. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg, denn Chris wusste, er hatte eine starke Persönlichkeit und würde sich nicht so leicht unterkriegen lassen – das hatte er noch nie. Aber dennoch war er zuversichtlich, dass er es schaffen würde, wenn auch mit großer Mühe. Dennoch, ein paar Wochen ohne Sonnenlicht würden selbst die hartnäckigste Person zermürben.
„Das wird ein Spaß werden", sagte er zu dem Bewusstlosen. „Du wirst schon sehen. Mit der Zeit wirst du dich daran gewöhnen, von mir abhängig zu sein. Ich werde von nun an dein Leben in meiner Hand halten. Wenn ich will, kann ich dich verhungern, verdursten oder sogar ersticken lassen. Das werden die ersten Dinge sein, die dir bewusst werden, wenn du aufwachst, da bin ich mir sicher." Er hielt in seinem Monolog inne, blickte auf Tony, neben dem sich die Pfütze Orangensaft befand und es war diese, die ihn aus seinen Vorstellungen über die Zukunft in die Gegenwart zurückholte. Bevor er seinen Bruder zu dem kleinen Haus brachte, musste er wohl oder übel noch die Küche sauber machen. Er konnte es einfach nicht ausstehen, wenn irgendwo Unordnung herrschte – noch ein Punkt, in dem sich die beiden unterschieden. Während Anthony eher der Chaotische war, war Christopher derjenige gewesen, der sein Zimmer immer in einem sauberen Zustand gehalten hatte. Auch wenn sie sich äußerlich wie ein Ei dem anderen glichen, so waren sie doch vom Charakter ganz unterschiedliche Personen und es war diese Tatsache, die ihm ein wenig Angst machte. Er wusste nicht annährend alles über Tony, um ihn perfekt spielen zu können, aber dennoch hegte er die Hoffnung, er würde dies bald erlernen. Die größte Hürde würden seine Kollegen beim NCIS werden, die mit ihm fast jeden Tag zu tun hatten und ihn sicher gut kannten. Auch wenn es ihm nicht gefiel, war ihm mehr als bewusst, dass er auf die Hilfe seines Bruders angewiesen war – was ihn mehr als wurmte. Nur wusste er noch nicht, wie er ihn dazu bringen sollte, ihm zu verraten, wie sein Leben bis ins kleinste Detail verlief. Das war der einzige Punkt seines Planes, von dem er nicht wusste, wie er ihn umsetzen sollte, denn er bezweifelte stark, dass ihm Tony von sich aus alles erzählen würde. Bis er eine Lösung dafür gefunden hatte, musste er eben darauf hoffen, dass seine Kollegen nichts mitbekommen würden. Und falls sie doch Verdacht schöpfen sollten, dann musste er sich eben eine Ausrede einfallen lassen. Im Improvisieren war er schon immer gut gewesen, sonst hätte er die ersten Jahre in L.A. kaum überlebt.
Chris seufzte leise, stieß sich von der Anrichte ab und begann nach einem Besen und Lappen zu suchen, um den Orangensaft vom Boden aufzuwischen. Währendessen fing er an, sein derzeitiges Lieblingslied zu summen, um seiner guten Laune Ausdruck zu verleihen. Endlich war er am Ziel seiner Träume angelangt.

Fortsetzung folgt...
End Notes:
Diese Story ist aus der Sicht von Tony geschrieben, wobei natürlich die anderen Charas nicht zu kurz kommen.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Chapter 2 by Michi
Etwas außerhalb von Washington D.C.
Dienstag, 12. Mai
00:13 Uhr


Als ich wieder zu mir kam, war es so, als ob ich eine unendlich lange Reise durch einen pechschwarzen Tunnel hinter mir hatte. Das Erste, was ich bewusst spürte, waren die bohrenden Kopfschmerzen, die mein Gehirn gnadenlos malträtieren. Hinter meinen geschlossenen Lidern tanzten kleine bunte Sternchen, die nach mehrmaligem tiefem Luftholen jedoch verblassten, die spitzen Pfeile unter meiner Schädeldecke blieben mir allerdings erhalten. Zusätzlich hatte sich in meinem Magen ein flaues Gefühl festgesetzt, das mich in regelmäßigen Abständen mit leichter Übelkeit quälte – es war ein beständiges auf und ab. In meinem Mund hatte sich ein übler Geschmack – den ich nicht einmal etwas Bestimmtem zuordnen konnte – ausgebreitet und meine Zunge kam mir viel zu groß vor, was aber auch daran liegen konnte, dass mein Mund staubtrocken war. Ich schluckte krampfhaft, um meinen ausgedörrten Rachen zu befeuchten und ließ meinen Kopf noch weiter in den äußerst gemütlichen Polster sinken. Die Matratze unter meinem Rücken war herrlich weich und verlockte mich geradezu wieder in den Untiefen des Schlafes zu versinken, aber eine innere Stimme hielt mich davon ab.
Ich begann mit beiden Händen meine Schläfen zu massieren, in der Hoffnung, den Schmerz so zum Abklingen zu bringen. Gleichzeitig überlegte ich, weshalb ich mich fühlte, als ob ich einen Kater hätte. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, Alkohol getrunken zu haben und schon gar nicht in solchen Ausmaßen, dass jetzt in meinem Gehirn eine Erinnerungslücke klaffte. Außer ich war mit meinen Freunden unterwegs gewesen und hatte derart über die Stränge geschlagen, wobei mir mein Instinkt jedoch etwas anderes sagte. Und weshalb kam ich mir beobachtet vor? Befand sich denn noch jemand in meinem Schlafzimmer?
Leise stöhnend rieb ich mir weiter meine Schläfen und versuchte die Bilder des vergangenen Abends zusammenzusetzen. Das Letzte woran ich mich bewusst erinnerte, war, dass ich nach Hause gekommen war, festgestellt hatte, dass ich nichts Essbares im Kühlschrank hatte und ein Glas Orangensaft in der Hand gehabt hatte, der komischerweise bitter geschmeckt hatte. Bitter – bei diesem Wort beschleunigte sich mein Herzschlag. Plötzlich setzten sich alle Puzzleteilchen zusammen und ich hörte wieder das Splittern von Glas, das auf Fliesen zerschellte, sah mich selbst auf mich zukommen, obwohl ich mich mitten in meiner Küche befand. Wie konnte das nur sein? War ich vielleicht in einem schlimmen Albtraum gefangen oder…? Aus den Tiefen meines Unterbewusstseins formte sich ein Name – der Name einer Person, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Erschrocken riss ich meine Augen auf, als mich die gesamten Erinnerungen mit einer unglaublichen Wucht überrollten und setzte mich abrupt auf. Mein Kopf nahm mir diese schnelle Bewegung jedoch äußerst übel und die Umgebung begann sich unbarmherzig zu drehen. Mein Magen revoltierte und wanderte immer weiter Richtung Hals. Ich schloss gequält meine Augen, schluckte heftig und holte tief Luft, um die Übelkeit zu bezwingen.
„Endlich wach, Dornröschen?" fragte eine Stimme, die ich nur allzu kannte und die meiner ziemlich ähnlich war. „Und ich hatte schon geglaubt, ich müsste es selbst in die Hand nehmen und dich wecken. Weißt du, mich hat es schon immer verwundert, dass du so lange schlafen kannst, Anthony." Die Erwähnung meines vollen Namens riss mich aus meinem benommenen Zustand und ich öffnete zaghaft meine Augen. Helles Licht ließ meine Kopfschmerzen noch stärker werden, aber diesmal widerstand ich dem Drang, meine Lider erneut zu schließen. Nach mehrmaligem Blinzeln sah ich vollkommen klar und die Umgebung hörte auf sich zu drehen.
Graue Betonwände umgaben mich, an denen jedoch in regelmäßigen Abständen Fotos aufgeklebt worden waren. Auf jedem einzelnen waren immer die gleichen Personen abgebildet – Personen die ich nur zu gut kannte: meine Eltern, ich selbst und mein Bruder Christopher. Ich vermied es, weiter die Bilder anzublicken und sah mich weiter um. Der Raum in dem ich mich befand, war überraschend groß und wie ein Wohnzimmer eingerichtet. Das Doppelbett, auf dem ich saß, stand an der hinteren rechten Ecke. Gegenüber an der Wand stand ein Regal, gefüllt mit den verschiedensten Büchern. Einige schienen neu zu sein, bei anderen war der Einband bereits abgegriffen und lädiert. Daneben hatte eine Kommode mit zwei Schubladen ihren Platz gefunden, auf der mehrere gerahmte Bilder standen. Darauf waren anscheinend ebenfalls Personen abgebildet, nur konnte ich sie nicht erkennen, da sich das Licht der Deckenlampe in dem Glas spiegelte.
Rechts neben der Kommode war erneut ein Regal aufgestellt worden, aber diesmal niedriger und anstatt Bücher stand dort ein kleiner Fernseher, der jedoch ausgeschaltet war.
In der Mitte des Raumes war der graue Betonboden von einem runden dunkelroten Teppich bedeckt, auf dem ein Tisch aus hellem Holz, ein gemütlicher Sessel und ein dazupassendes Sofa standen. Obwohl die Einrichtung des Zimmers genau meinem Geschmack entsprach, war sie mir im Moment jedoch herzlich egal. Ich konzentrierte mich auf den Mann, der lässig auf der Couch saß, eine Flasche Bier in seiner rechten Hand hielt und mich mit einem leichten Lächeln ansah.
„Verdammt, Chris, was soll der Mist?" fragte ich mit leicht kratziger Stimme, ignorierte meine Kopfschmerzen und schwang mit einiger Mühe meine Beine über den Rand des Bettes. Mein Körper fühlte sich seltsam kraftlos an, was wahrscheinlich die Folge der Betäubung war. Ich stütze meine Arme links und rechts neben meinen Oberschenkeln ab und blickte zu meinem Bruder, der die Flasche auf dem Tisch abstellte und aufstand. Erst jetzt bemerkte ich, dass er eines meiner Hemden trug, genauso wie die schwarze Hose, die mir gehörte. Meine Augen blieben jedoch auf Höhe seiner Hüfte hängen und Entsetzen breitete sich in meinem Inneren aus, als ich meine Marke und meine Waffe erkannte, die an dem Gürtel befestigt waren und die noch vor Stunden in meinem Besitz gewesen waren. Verwirrt sah ich Chris ins Gesicht und sein Lächeln wurde noch breiter.
„Kannst du dir das nicht denken?" antwortete er mit einer Gegenfrage, kam auf mich zu, blieb jedoch vor der Kommode mit den gerahmten Bildern stehen. Er steckte seine rechte Hand in die Hosentasche und kurz darauf hielt er einen Gegenstand in seinen Fingern, den ich nur zu gut kannte – es war mein Dienstausweis. Langsam klappte er ihn auf, betrachtete selig das kleine Bild, das sowohl mich als auch ihn zeigte und sah mir nach einigen Sekunden direkt in meine Augen. „Special Agent Anthony DiNozzo. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Es hat mich echt überrascht, als ich erfahren habe, dass du Bundesagent bist. Dabei hatte ich immer angenommen, du würdest in Daddys Fußstapfen treten. Der erstgeborene Sohn übernimmt die Leitung des Familienunternehmens." Seine Stimme hatte einen eiskalten Klang angenommen und mir lief prompt ein eisiger Schauer über den Rücken. „Was meinst du, Tony? Findest du nicht auch, dass mir die Waffe und die Marke äußerst gut stehen?" Und auf einmal wurde mir klar, weshalb Chris aufgetaucht war, weshalb er mich aus meinem eigenen Haus entführt hatte und sogar meine Kleidung trug.
„Das ist nicht dein Ernst", sagte ich entsetzt und ballte vor lauter Zorn meine Hände zu Fäusten. „Das kannst du nicht machen!" schrie ich ihn an. „Sag du mir nicht, was ich machen soll und was nicht!" fuhr er mich an, steckte den Dienstausweis in die Hosentasche zurück und kam langsam auf mich zu. „Diese Zeit ist endgültig vorbei! Ich habe mir lange genug gefallen lassen müssen, dass andere mir ständig befohlen haben, was ich zu tun habe! Dauernd hieß es: Christopher mach dies, Christopher mach das! Alles habe ich gemacht, einfach alles! Aber war es genug?! Nein, ständig gab es etwas zu bemängeln! Und immer verglich mich Mom mit dir! Wie großartig du doch nicht bist!" Er beugte sich zu mir herunter, in seinen grünen Augen funkelte es zornig und ich hatte beinahe die Befürchtung, er würde auf mich einschlagen, seinen ganzen Frust an mir auslassen, aber stattdessen steckte er seine Hände in die Hosentaschen. „Und alles nur, weil du 10 Minuten älter bist als ich! Wie oft habe ich dich dafür verflucht, wie oft habe ich dich dafür gehasst und wie oft habe ich mir vorgestellt, du zu sein?! Kannst du dir das vorstellen?! Aber damit ist jetzt Schluss! Jetzt ist es an mir, die Zügel in die Hand zu nehmen und während du dazu verdammt bist, hier herum zu sitzen, werde ich Anthony DiNozzo sein! Das Leben leben, das mir zusteht!"
Sein Atem strich warm über mein Gesicht und ich brauchte einige Sekunden, um komplett zu realisieren, was Chris mir da gerade erzählt hatte. Er richtete sich wieder auf, seine Wut schien verflogen zu sein und er musterte mich neugierig. „Du bist verrückt, weißt du das?" sagte ich und wollte aufstehen, aber da seine Hand blitzschnell zu der Waffe an seiner Hüfte glitt, ließ ich es bleiben. „Glaubst du wirklich, du wirst damit durchkommen? Glaubst du wirklich, du kannst alle, die mit mir zu tun haben, derart hinters Licht führen? Verdammt, was denkst du dir dabei eigentlich? Du verschwindest einfach, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, tauchst Jahre später wieder auf und entführst mich, in dem Bestreben, mein Leben zu übernehmen?!" Hatte ich gedacht, ich würde ihn durch meine Fragen verunsichern, so hatte ich mich in diesem Punkt deutlich geirrt. „Ich sehe es als Herausforderung an", erwiderte er und überging meinen Einwurf, dass er verrückt wäre. Er trat vom Bett zurück, ging zur Kommode hinüber, nahm eines der Bilder in seine Hand und drehte es so, dass ich die Person darauf erkennen konnte – es war Gibbs. Verwirrt sah ich zu Chris, der erneut lächelte. „Leroy Jethro Gibbs", sagte er. „Sieht ziemlich streng aus und da er dein Vorgesetzter ist, nennst du ihn sicher nur Gibbs oder Boss, habe ich Recht?" Da ich schwieg – ich war noch immer verwirrt, weshalb er Bilder meiner Teamkollegen in diesen Raum gestellt hatte – fuhr er fort: „Ja, das dachte ich mir. Ihn zu überzeugen wird sicher am Schwierigsten sein. Aber wie schon gesagt, es ist für mich eine Herausforderung." Er stellte das Foto zurück und nahm das Nächste: es war Tim. „Timothy McGee, er ist noch ziemlich neu in eurem Team, aber nicht so neu wie Ziva David. Sie ist wirklich hübsch. Es wird sicher Spaß machen, mit ihr zusammenzuarbeiten." Ich schnaubte verächtlich und obwohl mich grenzenlose Wut überkam, hielt ich mich zurück. Ich wusste, Chris wartete nur darauf, dass ich ausrastete, aber diesen Wunsch würde ich ihm nicht erfüllen. Nur, ob er soviel Spaß mit Ziva haben würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Immerhin war sie ziemlich schlagfertig und ließ sich nichts gefallen.
Er betrachtete weiter das Foto von McGee. „Ihr versteht euch sicher super, oder?" „Wie man es nimmt", erwiderte ich betont gleichgültig. „Wie nennst du ihn? McGee oder Timothy?" „Tim", antwortete ich aus einem Impuls heraus. „Einfach nur Tim?" Ich nickte und konnte mir ein Grinsen fast nicht verkneifen. Ich würde meinem Bruder sicher nicht auf die Nase binden, dass ich meinen Kollegen nie mit seinem Vornamen ansprach und darüber, dass ich ihn ziemlich oft Bambino nannte, ließ ich ihn auch im Unklaren. Es war immerhin eine Chance, dass die anderen merken würden, dass etwas nicht stimmte. „Tim also", fuhr Chris fort, stellte das Foto neben den anderen ab und drehte sich zu mir um. „Und nicht zu vergessen Abigail, eure Forensikerin. Ich weiß ja nicht wie es mit dir steht, aber ich finde ihre Klamotten ziemlich schräg." Bei dieser Aussage musste ich gegen meinen Willen lächeln. Abby und ihre Kleidung waren wirklich schräg und die Chance, dass sie sein falsches Spiel aufdeckte, war noch größer als bei McGee – immerhin waren wir sehr gute Freunde.
„Und du glaubst wirklich, ich werde einfach hier tatenlos herumsitzen und zusehen, wie du mein Leben übernimmst?" fragte ich und spannte meine Muskeln an. Wenn er dachte, ich würde ihn einfach kampflos gehen lassen, hatte er sich gewaltig geschnitten. „Dir wird nichts anderes übrig bleiben, Tony", antwortete er und lächelte leicht. „Und versuch gar nicht erst, dich gegen mich zu wehren. Du würdest nur verlieren. Das Beruhigungsmittel, das ich dir verabreicht habe, schwächt deinen Körper immer noch, dass sehe ich dir an. Wie geht es deinen Kopfschmerzen?"
Ich presste meine Lippen zusammen und schwieg eisern. Er hatte Recht. Während unserer kleinen Unterhaltung hatte ich die Schmerzen komplett vergessen, aber jetzt, da er sie erwähnte, schienen sie mit doppelter Intensität zurückzukommen. „Falls du ein Aspirin willst, im Bad ist eine Schachtel." Er deutete auf eine Tür etwa vier Meter neben dem Bett, die ich noch gar nicht bemerkt hatte. Verwundert riss ich meine Augen auf. „Ein Bad? Mit soviel Luxus hätte ich jetzt nicht gerechnet", meinte ich sarkastisch. „Wir sind immerhin Brüder", erwiderte Chris. „Und da du hier ziemlich viel Zeit verbringen wirst, habe ich mir gedacht, ich mache es dir ein wenig gemütlich. Aber ich warne dich. Falls du auf die Idee kommen solltest, abhauen zu wollen, werde ich andere Seiten aufziehen. Es liegt an dir, wie du dir deinen Aufenthalt hier gestaltest." In seinen Augen glitzerte es Unheil verkündend und ich wusste, er würde seine Drohung ohne zu zögern wahr machen.
„Du bist wirklich verrückt", wiederholte ich meine Worte von vorhin. „Das mag schon sein", meinte er darauf und blickte demonstrativ auf seine Uhr – oder besser gesagt, meine Uhr. „Also, ich werde dich jetzt alleine lassen. Immerhin will ich noch ein wenig schlafen, bevor mein erster Arbeitstag beginnt." Er ging rückwärts auf eine weitere Tür am anderen Ende des Raumes zu. Anscheinend hatte er die Befürchtung, ich würde ihn von hinten angreifen, wenn er mir auch nur den Rücken zukehren würde – wie Recht er doch hatte.
„Ich wünsche dir noch eine angenehme Nacht, Anthony. Wir sehen uns heute Abend. Und dann werde ich dir erzählen, wie es mir ergangen ist." Chris öffnete die Tür, drehte sich aber noch einmal zu mir um. „Falls du Hunger bekommst, in der Kommode habe ich ein paar Snacks verstaut. Wasser findest du im Bad und wenn du willst, kannst du auch das Bier austrinken." Damit deutete er auf die Flasche, die immer noch auf dem Tisch stand.
„Warte!" schrie ich, aber er grinste nur und schloss die Tür. Ich sprang vom Bett auf, ignorierte meine weichen Knie, den Schwindelanfall, der mich erneut bei der heftigen Bewegung überkam und lief zur Tür – aber es war zu spät. Überdeutlich hörte ich den Schlüssel, der umgedreht wurde. Ich rüttelte vergebens an der Klinke. „Mach die verdammte Tür auf, Chris! Das kannst du nicht machen!" Verzweifelt schlug ich mit meiner rechten Faust gegen das Metall. „Verdammt, lass mich hier raus!" Aber er kam nicht mehr zurück. Immer wieder rüttelte ich an der Klinke, wollte nicht einsehen, dass ich hier gefangen war, dass ich tatenlos zusehen musste, wie mein Zwillingsbruder mein Leben übernahm.
„CHRIS!" schrie ich und meine eigene Stimme hallte laut in meinen Ohren wider. Plötzlich verließ mich meine gesamte Kraft – die wegen der Betäubung ohnehin nicht groß gewesen war – und ich ließ mich zu Boden gleiten. Verzweifelt vergrub ich meinen Kopf in meinen Händen und versuchte, die Hoffnungslosigkeit, die in mir aufstieg, zurückzudrängen. Das alles konnte doch nicht wahr sein. Ich war in einem schlechten Albtraum gelandet, aus dem ich bestimmt gleich aufwachen würde. Aber auch nach einer endlos langen Minute änderte sich nichts an dem Bild, das sich mir bot – ein Raum, der wie ein Ein-Zimmer Apartment eingerichtet und der für mich zu einem Gefängnis geworden war.

Fortsetzung folgt...
Chapter 3 by Michi
Washington D.C.
Dienstag, 12. Mai
06:45 Uhr


Mit einer guten Laune, die Chris seit langem nicht mehr verspürt hatte, und einem Kaffeebecher, den er sich unterwegs bei Starbucks besorgt hatte, ausgestattet, stand er im Fahrstuhl und wartete darauf, dass er die dritte Etage erreichte. Er war alleine in der kleinen Kabine, die sich langsam mit dem Duft der gemahlenen Bohnen füllte. Eigentlich brauchte er das braune Getränk nicht, um munter zu werden, denn er war seltsamerweise ausgeschlafen, obwohl er nicht viele Stunden in dem äußerst weichen Bett verbracht hatte – das Bett, welches vorher Tony gehört hatte und jetzt seines war, genauso wie das Haus und das Auto, mit dem er heute zum Hauptquartier gefahren war. Eines musste er seinem Bruder lassen: er hatte durchaus Geschmack. Die Einrichtung der Räume war geschmackvoll und nicht gerade billig. Er hatte eine außergewöhnlich große Sammlung DVDs und einen Flachbildfernseher, der ziemlich neu aussah. Und dann war da noch der Kleiderschrank, der bestens gefüllt war, mit den verschiedensten Klamotten - von teuren Anzügen bis hin zu einfachen T-Shirts. Jedes einzelne Stück hatte seinen Platz und Chris hatte gut eine Viertel Stunde gebraucht, um sich entscheiden zu können, was er heute anziehen sollte. Schlussendlich hatte er sich eine Jeans und ein dunkelblaues Hemd ausgesucht, denn er konnte sich nicht vorstellen, in einem Anzug einen Tatort zu untersuchen. Vielleicht hatte Tony ja so viele davon, weil er für jedes Date einen anderen anzog. Das war noch ein Punkt, den er seinen Bruder fragen musste, aber ob er eine Antwort erhalten würde, das war eine andere Sache.
Unwillkürlich breitete sich auf seinen Lippen ein Grinsen aus, als er an den Mann dachte, der in dem Keller eingesperrt war. Er hatte seine Schreie noch gut in Erinnerung, die ihm verraten hatte, dass er endgültig realisiert hatte, dass er nicht so bald aus dem Raum herauskommen würde – ein Raum, den er extra gemütlich eingerichtet hatte. Sicher, er hätte Anthony auch in ein kahles Zimmer stecken können, wo es nichts weiter als graue Betonwände gab, aber er hatte sich dann doch entschieden, es ihm ein wenig komfortabler zu machen. Immerhin war er ja kein Unmensch. Aber er hatte sorgfältig darauf geachtet, keine Gegenstände zu verwenden, mit dem er die Tür aufbringen oder sonst irgendeinen Unfug anstellen konnte. Denn dass Tony versuchen würde auszubrechen, davon war er überzeugt, aber er würde sicher bald einsehen, dass es sinnlos war.
Ein leises Pling riss Chris aus seinen Gedanken und kurz darauf öffneten sich die Fahrstuhltüren. Er rückte den Träger des Rucksackes zu Recht und murmelte: „Na, dann mal los." Drei Schritte später blieb er wieder stehen und ließ den Anblick, der sich ihm bot, auf sich wirken. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit dem, was er sah. Vor seinen Augen erstreckte sich ein geräumiges Großraumbüro mit zahlreichen Schreibtischen. Die einzelnen Teams waren durch brusthohe Wände voneinander getrennt, aber dennoch hatte jeder genug Platz und war nicht eingepfercht, so wie man es oft in Filmen sah. Durch die großen Fenster an der rechten Seite drangen die Strahlen der Morgensonne herein und tauchten den Raum in ein helles Licht. Obwohl es noch relativ früh war, herrschte bereits eine große Hektik. Agenten eilten zwischen den einzelnen Nischen hin und her, Telefone klingelten in Sekundenabständen und laute Stimmen hallten durch das Büro. Würde über dem Eingang des Gebäudes nicht Naval Criminal Investigative Service stehen, könnte man meinen, hier würde ein Unternehmen ihren Sitz haben. Chris kannte nur die Innenräume von Polizeistationen in Los Angeles und dort sah es ganz anders aus, viel trostloser und die Beamten hatten viel weniger Platz, konnten sich teilweise nicht einmal an ihren Schreibtischen frei bewegen.
Etwas unschlüssig machte er einen weiteren Schritt, da er nicht so recht wusste, wo er hin musste. Wieso hatte er Tony nicht gefragt, wo sein Platz war? Weshalb hatte er nicht daran gedacht, dass es für ihn das erste Mal war, das er in dieses Gebäude kam? Innerlich schimpfte er sich selbst einen Idioten und ging schließlich schneller, um den Eindruck zu erwecken, er würde sich hier wie zu Hause fühlen. Und dann sah er jemanden, den er von den Fotos kannte, die er heute Nacht seinem Bruder gezeigt hatte und die er selbst aufgenommen hatte. Erleichterung durchflutete ihn, er bog links ab und blieb gleich darauf vor einem Schreibtisch stehen, um auf den braunen Haarschopf Ziva Davids zu blicken. Sie las konzentriert in einer Akte, wobei sie ihre Stirn leicht runzelte und hin und wieder einen verächtlichen Laut von sich gab. Chris fand sie wunderschön, wie so dasaß und ihr die Haare wie ein langer Vorhang ins Gesicht fielen. Deshalb setzte er sein strahlendstes Lächeln auf und sagte fröhlich: „Morgen, Ziva." Diese hob abrupt den Kopf und sah ihn überrascht an, musterte ihn aus intensiven braunen Augen von oben bis unten. „Hat dich deine neue Freundin rausgeschmissen oder ist dein Haus abgebrannt?" wollte sie wissen und grinste breit. Irritiert fragte sich Chris, ob er gerade etwas Falsches gesagt hatte. Begrüßte Tony seine Kollegen denn nicht am Morgen? „Was?" brachte er schließlich hervor und versuchte seine Verwirrtheit aus seiner Stimme zu verbannen. „Nun ja, es ist 10 Minuten vor sieben und so weit ich mich erinnere, hast du es in den letzten zwei Wochen nie geschafft, um diese Uhrzeit hier zu sein. Also, was ist passiert, dass du plötzlich aufhörst, zu spät zu kommen? Vielleicht ein Wasserschaden?" Chris entspannte sich, als er ihren Worten lauschte. Anscheinend war Tony nicht gerade der Pünktlichste und dass sich seine neue Kollegin jetzt wunderte, weshalb er so bald hier war, überraschte ihn nicht, aber jetzt wusste er wieder ein Detail aus dem Leben seines Bruder, das ihm weiterhelfen würde.
„Nichts von alldem", erwiderte er und trank einen Schluck von seinem Kaffee, der sofort seine Nerven ein wenig beruhigte. Aber er hatte noch immer das Problem, dass er keinen Schimmer hatte, welcher Schreibtisch ihm gehörte. Vielleicht schaffte er es ja, dies irgendwie in Erfahrung zu bringen, ohne einen Verdacht zu erregen.
Ziva sah ihn weiterhin fragend an und sie musterte ihren Kollegen von oben bis unten. Äußerlich war Tony unverändert, aber weshalb sagte ihr eine innere Stimme, dass etwas nicht mit ihm stimmte? Seit wann stellte er seinen Rucksack nicht ab? Normalerweise entledigte er sich immer zuerst seiner Sachen, bevor es zu ihrer ersten Auseinandersetzung kam. Und seit wann trank er einen Kaffee, durch dessen Geruch sie ohne Mühe munter werden konnte? Vielleicht wurde es nun zur Realität, was ihr McGee einmal erzählt hatte: dass Tony langsam wirklich wie Gibbs wurde. Möglicherweise bildete sie sich das Ganze ja auch nur ein. Deswegen schüttelte sie leicht den Kopf und meinte: „Also, weshalb bist du schon so früh hier?"
Chris hob verwundert eine Augenbraue. Gab diese Frau denn nie auf? „Ich habe mir gedacht, es könnte nicht schaden, wenn ich wieder einmal pünktlich erscheine. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gibbs sonderlich begeistert davon ist, wenn ich immer zu spät komme." „Ausnahmsweise gebe ich dir Recht, DiNozzo", sagte eine Stimme hinter ihm und ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Ziva konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie hatte bereits seit Sekunden gewusst, dass der Chefermittler hinter Tony stand, aber es bewusst verschwiegen. Es gab doch nichts Schöneres als ein großes Fettnäpfchen, in das ihr Kollege so bald am Morgen trat.
Chris riskierte es und drehte sich langsam um, nur um festzustellen, dass zwei Schritte hinter ihm Gibbs stand, der ihn aus eisblauen Augen – in denen ein gefährliches Funkeln lag - musterte. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken und er versuchte nicht den Eindruck zu erwecken, dass er sich auf einmal mehr als unwohl fühlte. ‚Wie hat er es nur geschafft, sich so lautlos anzuschleichen?' fragte er sich selbst und setzte ein – wie er hoffte – entwaffnendes Lächeln auf. Er wusste nicht wieso, aber irgendwie schüchterte ihn der Mann vor ihm ein wenig ein, obwohl er ein paar Zentimeter kleiner war. Eine Aura der Autorität umgab ihn und ihm wurde sofort klar, dass man sich den Ermittler lieber nicht zum Feind machen sollte.
Gibbs trank einen großen Schluck aus dem Kaffeebecher, den er sich vor Minuten besorgt hatte und musterte seinen Agent von oben bis unten. Seine Haare waren mehr zerzaust als sonst und in seinen grünen Augen lag wie üblich ein wenig Humor, aber noch irgendetwas anderes, was er nicht definieren konnte. Außerdem wirkte Tony auf ihn, so als ob er nicht so recht wusste, wo er hin musste, als wäre er Fehl am Platze. Er trug noch immer seinen Rucksack auf dem Rücken und in seiner rechten Hand hielt er einen Kaffeebecher – ein ungewöhnlicher Anblick. Aber vielleicht bildete er sich diese Veränderungen auch nur ein. Immerhin hatte er die Nacht wieder einmal in seinem Keller verbracht. Irgendwann nach Mitternacht war er beim Bauen seines Bootes eingeschlafen und heute Morgen auf dem harten Boden aufgewacht. Außerdem rückte der Hochzeitstag mit Ex-Frau Nummer drei immer näher, weshalb sich seine Laune mit jedem Tag verschlechterte.
„Morgen, Boss", brachte Chris schließlich heraus und widerstand dem Drang, einen Schritt zurückzuweichen. Der Blick aus den blauen Augen machte ihn ungewöhnt nervös und er hatte das Gefühl, sie würden ihm bis auf die Seele blicken. Auf diesen Mann musste er besonders Acht geben. Wenn einer ihn durchschauen konnte, dann er, soviel war ihm in der letzten Minute klar geworden. „Willst du hier den ganzen Morgen stehen bleiben?" fragte Jethro mit schroffer Stimme. „Wenn du schon einmal so bald hier bist, kannst du dich gleich daran machen, deine unerledigten Akten zu bearbeiten." Mit einer vagen Handbewegung deutete er auf den Schreibtisch gegenüber den von Ziva. Auf der Platte lag ein hoher Stapel, der von einer Unordnung umgeben war, bei dem sich Chris die Haare aufstellten. Wie hatte er dies nur übersehen können? Das war eindeutig Tonys Platz, denn wie er kurz darauf feststellte, waren alle anderen Tische viel ordentlicher aufgeräumt. Und er wusste, wenn er keinen Verdacht erregen wollte, musste er wohl oder übel mit dem Saustall auskommen. Dennoch beschloss er, die zusammengeknüllten Papiere zu entsorgen, sonst würde er sicher noch vor Mittag durchdrehen.
„Akten bearbeiten?" rutschte es ihm unwillkürlich raus und gleich darauf wünschte er sich, er hätte seinen Mund gehalten. Gibbs kam noch näher auf ihn zu und fixierte ihn mit seinen funkelnden Augen. „Genau, Akten bearbeiten. Und falls du nicht sofort deinen Hintern auf deinen Stuhl verfrachtest, dann könnte es sein, dass du bald einen hübschen blauen Brief in deiner Post findest." ‚Wie hält es Tony nur mit ihm aus?' fragte er sich und da er sich nicht noch mehr Ärger – denn die Drohung, gefeuert zu werden, war seiner Meinung nach nicht nur so dahergesagt - einhandeln wollte, stellte er den Rucksack auf dem Boden neben dem Tisch ab, der jetzt seiner war und ließ sich auf den Stuhl nieder. Jethro warf ihm noch einen kurzen Blick zu und ging dann zu seinem eigenen Platz, wo er seinen Becher abstellte und seine Waffe in die oberste Schublade legte. Eine innere Stimme sagte Chris, dass er dies auch machen sollte, denn bei Ziva hatte er ebenfalls keine Pistole gesehen. Deshalb nahm er sein Halfter von seinem Gürtel und verstaute es in seinem Schreibtisch. Anschließend widmete er sich dem Chaos, das vor ihm herrschte. Ungläubig schüttelte er seinen Kopf. „Wie kann man nur so schlampig sein?" murmelte er, trank seinen Kaffee aus und warf den Becher in einen Mülleimer.
„Das müsstest du doch wissen, Tony. Immerhin ist es dein Schreibtisch", erwiderte Ziva leicht gehässig „Kann man hier nicht einmal Selbstgespräche führen?" fragte er bissig und schnappte sich die erste Akte und betrachtete sie leicht angewidert. Er hatte nicht damit gerechnet, gleich Schreibarbeit machen zu müssen, aber da musste er wohl oder übel durch. „Wenn du nicht willst, dass dir jemand zuhört, dann nicht." Chris warf ihr einen bösen Blick zu und wollte gerade etwas darauf sagen, als er McGee sah, der aus dem Fahrstuhl auf ihn zukam und ihn verwundert ansah. „Wow, Tony, du bist noch vor mir da? Das ich das noch erleben darf." „Was ist eigentlich los mit euch? Kann man nicht einmal pünktlich erscheinen, ohne gleich schief angesehen zu werden?" „Was ist denn dir für eine Maus über die Leber gelaufen?" fragte Ziva und hob eine Augenbraue. Er schien auf einmal richtig wütend zu sein, was ihr Unbehagen bereitete. Was war nur mit ihm los? Normalerweise fuhr er nicht gleich so aus der Haut.
„Maus?" Gegen seinen Willen verflog sein Ärger genauso schnell wieder wie er gekommen war und er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Es heißt Laus, Ziva", berichtigte sie McGee. „Wo ist da der Unterschied? Beide sind doch klein, oder?" „So weit ich mich erinnere, sind wir hier, um zu arbeiten! Oder sind wir jetzt plötzlich in einem Kaffeehaus?!" Gibbs' Stimme drang bis zu seinen Agenten hinüber.
Tim zog seinen Kopf ein und eilte zu seinem Platz. So bald am Morgen wollte er es lieber nicht riskieren, sich den Ärger seines Bosses auf sich zu ziehen. Seine schlechte Laune schien sich wieder einmal gefährlich nahe dem Minusbereich zu nähern, was ihm überhaupt nicht gefiel. Während er seinen PC hochfuhr, sah er zu Tony, der über einer Akte gebeugt dasaß und mit den Fingern der rechten Hand auf der Tischplatte herumtrommelte. Irgendetwas war anders an ihm. Täuschte er sich, oder waren seine Haare auf einmal etwas länger? Und was war das für ein Ausdruck in seinen Augen, mit dem er ihn vorher angeblickt hatte? So als ob etwas Böses in ihnen lauern würde. ‚Das ist doch lächerlich', dachte er und fing an, ein neues Programm zu installieren, das er gestern von Abby erhalten hatte. ‚Tony ist wie immer. Du bist nur überrascht, dass er heute so bald hier war.'
Chris las seit einer Minute immer wieder denselben Satz, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Der Start in sein neues Leben hätte schlimmer verlaufen können, aber dennoch war er nicht ganz zufrieden. Er musste es irgendwie schaffen, seinem Bruder die Details aus seinem Leben zu verraten, denn über kurz oder lang würden seine Arbeitskollegen dahinter kommen, dass etwas nicht stimmte. Sie schienen Anthony sehr gut zu kennen und jede Veränderung entging ihnen anscheinend nicht. Aber Chris war immer schon ein guter Schauspieler gewesen, sonst hätte er es nie geschafft, beim Pokern seine Gegner so abzuzocken. Deshalb war er auch zuversichtlich, dass er es schaffen würde, seine Mitmenschen zu täuschen. Ein zufriedenes Lächeln huschte ihm über die Lippen. Gleich darauf riss er sich jedoch am Riemen und konzentrierte sich auf die Akte, die vor ihm lag. Diese Schriftstücke waren eine gute Basis, um sich mit alten Fällen vertraut zu machen und diese Chance wollte er nutzen. Je mehr er über die Arbeit des Teams erfuhr, desto besser. Und alle anderen Informationen, die er sonst benötigte, würde er sich schon irgendwie beschaffen - und wenn es sein musste, mit Gewalt.

Die ersten zwei Stunden als NCIS Ermittler verbrachte Chris mit Aktenarbeit. Obwohl die Fälle durchaus interessant waren, hatte er das Gefühl, bereits nach dem ersten Schriftstück vor Langeweile zu sterben. Am Morgen war er noch munter gewesen, aber jetzt lümmelte er fast auf seinem Schreibtisch, den Kopf auf der linken Hand abgestützt und mit der Rechten versuchte er das Gähnen zu verdecken, was ihn in regelmäßigen Abständen überfiel. Dagegen halfen auch nicht die Schokoriegel, die er in der untersten Schublade des Schreibtisches gefunden und über die er sich hergemacht hatte. Vier solcher Süßigkeiten später hatte sein Körper zwar einen Zuckerschock, aber gegen die aufkeimende Müdigkeit hatten sie nicht geholfen – im Gegenteil. Er fühlte sich noch matter als zuvor.
Erneut riss er seinen Mund zu einem Gähnen auf, schlug die Akte zu und legte sie auf den nicht gerade großen Stoß mit den Erledigten. ‚Gott, ist das langweilig', dachte er und ließ seinen Blick durch das Großraumbüro schweifen. McGee saß an seinem Platz, arbeitete konzentriert an seinem Computer und schien seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Seine Finger huschten mit einer hohen Geschwindigkeit übe die Tastatur, sodass ihm schon beim Zusehen schwummrig wurde. Verwundert schüttelte Chris seinen Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit Ziva zu, die ihren Blick auf die Akte vor ihr gerichtet hatte. Ihre Augen huschten von links nach rechts und schienen die Zeilen zu verschlingen. Sie hatte ihre Stirn leicht gerunzelt – ein Geste, die er äußerst attraktiv fand.
„Hast du eine Frage, Tony? Oder wieso starrst du mich die ganze Zeit so an?" „Was?" fragte er irritiert und realisierte erst nach einer Sekunde, dass die junge Frau ihn direkt an sah, anstatt die Akte, die auf ihrem Tisch lag. Er hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass sie sich nicht mehr mit den Blättern beschäftigte, so sehr war er in ihre Betrachtung vertieft gewesen. Ihre Nase, die braunen Augen und vor allem die langen braunen Haare erinnerten ihn an Amy – seine damalige Freundin, die ihn betrogen hatte. Dabei hatte er gedacht, sie wäre eine treue Person und dann hatte er mit eigenen Augen mitverfolgt, wie sie mit einem anderen Jungen herumgemacht hatte. Der unbändige Zorn von damals drohte ihn zu überwältigen. Er ballte seine Hände zu Fäusten und widerstand dem Drang, sie auf den Tisch zu knallen.
„Erde an Tony." Erneut war es Ziva, die ihn aus seinen Gedanken riss. „Ich habe dich etwas gefragt." Chris setzte ein Lächeln auf, das ihm mehr als gezwungen vorkam und zuckte lässig mit seinen Schultern. „Ich habe nicht dich angesehen", erwiderte er schließlich und schaffte es mit Mühe, seinen Ärger nicht in der Stimme mitschwingen zu lassen. „Sondern ich habe in die Luft gestarrt." Die Lüge kam ihm glatt über die Lippen – darin war er Meister.
„Dann lass das mal nicht Gibbs mitbekommen", sagte sie und grinste hämisch. „Wenn er dich dabei erwischt, dass du nichts tust, wird er deinen Schreibtisch sicher mit Akten zupflastern." „Ach, der Boss ist doch nicht hier. Er wird es deswegen nicht erfahren." „Was werde ich nicht erfahren, DiNozzo?" erklang eine schroffe Stimme links neben ihm und ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Zivas Grinsen wurde noch breiter und sie schenke ihm einen Blick aus unschuldigen Augen, der ihn beinahe zur Weißglut trieb. Chris drehte sich um und bemerkte Gibbs, der vor seinem Platz stand, in der reichten Hand einen Becher Kaffee – den Dritten an diesem Morgen – hielt und ihn gefährlich anfunkelte. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, bildete sich ein Kloß in seinem Hals, den er mühsam hinunterschluckte. „Ich dachte, du wärst in einer Videokonferenz", brachte er schließlich hervor und versuchte ihn mit einem Dackelblick zu besänftigen – allerdings vergeblich. Und erneut fragte er sich, wie es dieser Mann schaffte, sich derart leise anzuschleichen – dabei hatte er ein super Gehör und bekam jedes kleine Geräusch mit, eine Gabe, die ihm öfters das Leben gerettet hatte, aber jetzt schien sie ihn verlassen zu haben.
„Wie du siehst, ist sie bereits vorbei", erwiderte Jethro und trank einen Schluck Kaffee. Er fand es immer wieder amüsant, wie die Menschen in seiner Umgebung zusammenzuckten, wenn sie merkten, dass er in ihrer Nähe war. So hatte er auch schon lange mitbekommen, dass Tony sich nicht sonderlich auf seine Arbeit konzentrierte. Anscheinend war es wieder einmal Zeit, ihm eine saftige Kopfnuss zu verpassen. Aber bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, klingelte sein Telefon. Er ließ die Hand, die er bereits erhoben hatte, sinken und ging zu seinem Schreibtisch. Sein Agent würde noch eine Minute Schonfrist haben. Mit einem schroffen „Gibbs" meldete er sich und hoffe, der Anrufer würde sofort wieder auflegen, aber dieser ließ sich nicht einschüchtern. Er hörte schweigend zu, was ihm sein Gesprächspartner mitteilte, nickte ab und zu in dem Bewusstsein, dass das dieser nicht sehen konnte, brummte etwas Unverständliches und legte nach ein paar Sekunden wieder auf. Anschließend trank er seinen Kaffee aus, entsorgte den leeren Becher und öffnete die oberste Schreibtischschublade, um seine Waffe und die Schlüssel hervorzuholen. „Wir haben einen neuen Fall", sagte er und prompt hoben seine drei Agents neugierig - und auch erleichtert - ihre Köpfe. „Ein toter Commander wurde in seinem Haus auf dem Navy Stützpunkt in Quantico gefunden. McGee, sag Ducky Bescheid. Tony, tank den Truck auf."
Reflexartig fing Chris den Schlüssel auf, um zu verhindern, dass er ihm mitten auf die Stirn knallte. Irritiert sah er sich um, in der Hoffnung, jemand könne ihm erklären, was Jethro eben damit gemeint hatte, er solle den Truck auftanken. Gehörte das vielleicht zu Tonys Aufgaben? Schon wieder ein Punkt, den er seinen Bruder fragen musste. „Wieso muss ich das erledigen?" wollte er deshalb wissen, stand auf und schnappte sich seine Waffe. Gibbs, der gerade an seinem Platz vorbei ging, blieb abrupt stehen und wandte sich ihm zu. „Gibt es dafür nicht andere, die das erledigen?" Als das letzte Wort seine Lippen nicht einmal komplett verlassen hatte, wusste er, dass er lieber nichts gesagt hätte. Obwohl der Schreibtisch zwischen ihnen war, schaffte es Jethro, sich so weit vorzubeugen, dass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter auseinander waren. Der Blick aus seinen blauen Augen nagelte ihn an Ort und Stelle fest, obwohl er liebend gerne zurückgewichen wäre.
„Hast du damit ein Problem, DiNozzo?" fragte er gefährlich ruhig und sein Atem streifte warm über seine Haut. Chris schluckte, bewegte sich aber keinen Zentimeter. „Ähm, nein, Boss", erwiderte er schließlich und versuchte das hämische Grinsen von Ziva zu ignorieren, deren Gesicht am Rande seines Blickfeldes auftauchte. „Habe ich auch nicht gedacht", meinte der Chefermittler und trat einen Schritt zurück. Erleichtert atmete Chris auf, umrundete den Schreibtisch und wollte sich gerade bücken, um den Rucksack vom Boden aufzuheben, als ihn ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf traf. Abrupt hielt er in der Bewegung inne und starrte Gibbs fassungslos an. Seine Augen weiteten sich geschockt und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keine einzige Silbe hervor. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sprachlos und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Ärger darüber, dass es jemand gewagt hatte, ihn zu schlagen, wallte in seinem Inneren auf und er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. „Verdammt, was soll das?" fragte erbost und rieb sich mit einer Hand über die schmerzende Stelle – glücklich darüber, kein Loch in seinem Schädel zu finden, oder eine Gehirnerschütterung davon getragen zu haben.
„Dafür, dass du in die Luft starrst, anstatt zu arbeiten und jetzt tank den Truck auf, oder das Einzige, was du in Zukunft tun wirst, ist Akten bearbeiten." Mit diesen Worten ließ er den noch immer sprachlosen Chris stehen und eilte zum Fahrstuhl. „Ich habe dir ja den Rat gegeben, dass du Gibbs nicht mitbekommen lassen sollst", meinte Ziva und schnappte sich ihren Rucksack. „Aber ihm kann man eben nichts verheimlichen." „Schlägt er gleich jeden, der etwas sagt, was ihm nicht passt?" wollte er wissen, nachdem er sich endlich aus seiner Starrte losgelöst hatte. Die junge Frau sah ihn gleichzeitig überrascht und verwirrt an. „Was ist nur mit dir los, Tony? Du tust ja so, als ob es das erste Mal wäre, dass du eine Kopfnuss erhalten hast. Dabei verpasst Gibbs dir mehr als McGee und mir zusammen. Hast du über Nacht etwa dein Gedächtnis verloren? Oder sonst eine Neuentwicklung durchgemacht?" „Das ist doch Quatsch", erwiderte Chris, setzte ein sorgloses Grinsen auf und nahm sich seinen Rucksack. „Meinem Gedächtnis geht es hervorragend und ich habe keine Neuentwicklung durchgemacht. Ich bin immer noch derselbe." Damit eilte er zum Fahrstuhl und ließ Tim und Ziva zurück, die ihm verwundert nachsahen. „Irgendetwas stimmt nicht mit Tony", sagte die junge Frau, als sich die Türen hinter ihm geschlossen hatten. „Was meinst du?" fragte McGee. „Ich weiß auch nicht, aber etwas ist anders. Hast du nicht den geschockten Blick gesehen, den er Gibbs zugeworfen hat, als er ihm eine Kopfnuss verpasst hat? So als ob es für ihn neu wäre." Ihr Kollege schüttelte seinen Kopf. „Das bildest du dir sicher nur ein", meinte er und ging ebenfalls zum Aufzug, um in die Garage hinunterzufahren – dicht gefolgt von Ziva.
„Wahrscheinlich hat seine neueste Freundin mit ihm Schluss gemacht und Tony ist deshalb so durch den Wind", schlug er vor und betrat die kleine Kabine. Obwohl er die ganze Sache herunterspielte, gab er ihr im Stillen Recht. DiNozzo benahm sich eigenartig, so als ob er nicht er selbst wäre. ‚Ach was, das ist sicher nur eine Phase', dachte McGee. ‚Morgen wird er wieder der Alte sein.' Aber dennoch blieb ein komisches Gefühl in ihm zurück.

Fortsetzung folgt...
Chapter 4 by Michi
Etwas außerhalb von Washington
Zur selben Zeit


Wieder einmal war Weihnachten vergangen und Silvester stand vor der Tür. Wie jedes Jahr waren meine Eltern mit mir und meinem 7-jährigen Zwillingsbruder Christopher in die Rocky Mountains geflogen, wo wir ein Ferienhaus besaßen. Rundherum gab es nur Wälder, ausgedehnte Wiesen und in die nächste Stadt – eine kleine Ansammlung von wenigen Geschäften - brauchte man mit dem Auto gute 15 Minuten, vorausgesetzt, die Straße war wegen dem vielen Schnee nicht gesperrt. Vor zwei Jahren war dies der Fall gewesen und Chris und ich hatten das als ein aufregendes Abenteuer in Erinnerung. Mein Vater hingegen war die drei Tage, die wir uns von dem Haus nicht entfernen konnten, meistens schlecht gelaunt, da aufgrund des Schneesturmes das Telefonnetz zusammengebrochen war und er keine Hilfe anfordern konnte – und auch mit seinen Geschäftspartnern hatte er keinen Kontakt aufnehmen können. Meine Mutter hatte alles möglichst gelassen gesehen und das Beste aus der Situation gemacht.
Die Weihnachtsferien waren für meinen Bruder und mich die einzigen Tage, in denen wir gemeinsam mit unseren Eltern etwas unternahmen. Sonst hatten beide immer viel zu tun und überließen es Lucille – dem Kindermädchen – die Erziehung. Sie war Mitte dreißig, gerade mal 1,60 Meter groß und hatte eine etwas füllige Taille. Auch wenn sie nach außen hin streng aussah – ihre braunen Haare hatte sie immer zu einem Knoten geschlungen – war sie überraschend nett und geduldig. Und im Gegensatz zu unseren Eltern behandelte sie uns gleichberechtigt. Obwohl ich erst sieben war, bekam ich bereits mit, dass Chris vernachlässigt wurde und ich der behütete Schatz unserer Erzeuger war. Weshalb das so war, verstand ich nicht und es machte keiner Anstalten uns das zu erklären. Neugierig wie ich war, fragte ich mindestens einmal in der Woche Lucille danach, aber sie schüttelte immer nur den Kopf. Entweder wusste sie nichts davon oder sie durfte nicht darüber reden. Jedenfalls schenkte sie meinem Bruder die Aufmerksamkeit die er eigentlich von unseren Eltern bekommen sollte. Sie passte die meiste Zeit auf uns auf, außer wenn wir über Weihnachten in die Rocky Mountains flogen. Da blieb sie in Washington und besuchte ihre eigene Familie.
Am Nachmittag des 28. Dezembers liefen Chris und ich durch den tief verschneiten Wald hinter unserem Ferienhaus. Unsere Mutter saß im Wohnzimmer und ging ein paar Akten ihrer Mandaten – sie war Rechtsanwältin – durch und unser Vater hatte sich in die kleine Bibliothek zurückgezogen, um mit einigen Geschäftspartnern zu telefonieren. Obwohl sie es uns immer wieder versprachen in den Ferien nicht zu arbeiten, so hatten es beide bisher nie geschafft, Wort zu halten. Normalerweise ärgerte ich mich darüber, aber heute war ich froh, dass sie nicht dabei waren. So konnten wir alleine den Wald erkunden und zu dem zugefrorenen See auf einer großen Lichtung gehen, der besonders mich wie magisch anzog. Obwohl uns Mom verboten hatte uns zu weit vom Haus zu entfernen, konnten wir nicht anders, als einfach weiterzulaufen. Die Sonne schien durch die blätterlosen Bäume und ließ den Schnee glitzern, der den Boden und die Äste der Riesen bedeckte. Die Luft war kalt, aber nicht so kalt, dass man es nicht aushalten könnte. Vor unseren Mündern stieg Dampf auf, wenn wir ausatmeten und unsere Gesichter waren vor Aufregung und wegen der Kälte gerötet. Unsere Stiefel hinterließen Abdrücke und knirschten bei jedem Schritt.
Immer weiter liefen wir in den Wald hinein, sprangen geschickt über Äste, die auf dem Boden lagen und wichen jedem Hindernis aus. Chris rannte etwas vor mir, blieb aber schließlich abrupt stehen, als wir die Lichtung erreichten, die mein eigentliches Ziel war. Keuchend machte ich neben ihm halt und bestaunte den großen zugefrorenen See, der in der Nachmittagssonne in verschiedenen Farben glitzerte. Auf dem Eis lag eine dünne Schneedecke und reflektierte das Licht noch mehr.
Langsam näherte ich mich dem Ufer und drehte mich schließlich um, als mir mein Bruder nicht folgte. „Wer als erstes in der Mitte des Sees ist", sagte ich und sah ihn herausfordernd an. Er kniff seine grünen Augen unbehaglich zusammen und schüttelte den Kopf. „Du weißt doch was Mom gesagt hat, Tony. Wir dürfen nicht auf das Eis, da es ziemlich dünn ist. Außerdem sollten wir uns nicht so weit von dem Haus entfernen. Wenn sie es herausfindet, bekommen wir sicher jede Menge Ärger." „Ach was", erwiderte ich und betrat vorsichtig den zugefrorenen See. „Wenn wir nichts verraten, wird sie es nie erfahren. Außerdem, was soll schon passieren?" Ich hüpfte auf dem Eis auf und ab. „Siehst du? Es hält mich aus. Jetzt komm schon, Chris. Sei ein einziges Mal nicht so ein Feigling. Lass uns ein kleines Wettrennen machen und dann werden wir sofort wieder zurückgehen. Versprochen." Einige Sekunden war es ruhig und man konnte nur die Geräusche des Waldes hören. Er zögerte noch immer, kaute nervös an seiner Unterlippe herum. „Mom und Dad werden es nicht erfahren?" fragte er ängstlich und kam auf mich zu. „Nie im Leben", antwortete ich und trat noch einen Schritt weiter auf die Mitte des Sees zu. „Was ist nun, Kleiner?" Ich wusste, er mochte es überhaupt nicht, wenn ich ihn so nannte und auch diesmal blieb die Wirkung nicht aus. Er verzog wütend sein Gesicht und ehe ich mich versah, versetzte er mir einen Stoß, sodass ich beinahe hingeflogen wäre. „Ich werde dir zeigen, wer hier der Kleine ist!" rief er und lief los. Bevor ich mich wieder gefasst hatte, war er bereits drei Meter vor mir. „Na warte!" schrie ich ihm nach und rannte ihm hinterher, wobei ich immer wieder auf dem glatten Eis ausrutschte und nur mit Mühe einen Sturz verhindern konnte. Chris stellte sich wesentlich geschickter an und machte den Eindruck, als ob er auf Asphalt unterwegs wäre.
„Wo bleibst du denn?!" fragte er laut, als er die Mitte des Sees erreicht hatte. Er strahlte über das ganze Gesicht und grinste hämisch, als ich erneut fast hingefallen wäre. Aber gleich darauf veränderte sich seine Miene von fröhlich in ängstlich. Verwirrt blieb ich stehen, zwei Meter von ihm entfernt. Deutlich konnte ich das Knacken vernehmen, das von Chris' Füßen ausging. „Tony?" fragte er panisch und auf einmal war auch in mir Angst. „Was ist das?" Ich wusste genau, was das Geräusch bedeutete und mein Herz begann schneller zu schlagen. Meine Beine fühlten sich wie festgefroren an und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Die Warnung unserer Mutter kam mir wieder in den Sinn, ja nicht den See zu betreten, da die Eisdecke viel zu dünn war. Wieso hatte ich nicht auf sie gehört? Wieso musste ich auch unbedingt hier heraus rennen?
Das Knacken wurde immer lauter und riss mich aus meiner Starre. „Lauf!" schrie ich meinem Bruder zu, aber da war es schon zu spät. Noch bevor er einen Schritt machen konnte, gab das Eis unter ihm nach und mit einem lauten Schrei landete er in dem kalten Wasser. „CHRIS!!!" rief ich und sah wie er wild mit den Armen ruderte, um nicht unterzugehen. Ich wusste, dass es gefährlich war, aber dennoch legte ich mich auf dem Bauch und rutschte vorsichtig zu dem Loch hin. Wie in Zeitlupe registrierte ich, dass ihn das Gewicht seiner nassen Kleidung nach unten zog. Reflexartig packte ich die Kapuze seiner dicken Winterjacke und zog ihn mit aller Kraft nach oben. Meine Muskeln zitterten vor Anstrengung und meine Finger, die in dem Wasser waren, begannen bereits taub zu werden, aber ich ignorierte das alles. Wichtig war jetzt nur, meinen Bruder nicht loszulassen. Seine Lippen liefen blau an und er brachte kein Wort heraus, so sehr zitterte er. Ich versuchte immer wieder ihn aus dem Wasser herauszuziehen, aber er war einfach zu schwer. „Hilfe!" schrie ich und nahm auch noch meinen anderen Arm, um Chris festzuhalten. „Wieso hilft uns denn keiner?!" Mein Schrei verhallte ungehört in der Ferne. Ich wusste, lange würde ich ihn nicht mehr über Wasser halten können, aber trotzdem gab ich nicht auf. „Halt durch", sagte ich, wobei ich nicht sicher war, wem von uns beiden die Worte galten. Er nickte schwach, aber kurz darauf fielen ihm seine Augen zu. „Nein, nein, nein", flüsterte ich panisch. Und dann holte ich noch einmal tief Luft und schrie so laut ich konnte: „HILFE!!!!!"


Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Mein Atem raste und mir war eisig kalt, so als ob ich erneut mit dem Bauch voran auf dem zugefrorenen See liegen würde, meine Arme in dem Wasser und zu verhindern versuchte, dass mein Bruder vor meinen Augen ertrank. Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust und ich brauchte in paar Sekunden um zu realisieren, dass es nur ein Traum gewesen war. Anstatt den verschneiten Wald vor mir zu sehen, konnte ich graue Betonwände bestaunen, auf denen verschiedene Bilder aufgeklebt waren – Bilder die im Laufe meiner Kindheit entstanden waren.
Es herrschte drückende Stille in dem Raum, der mein Gefängnis war, und ließ den Herzschlag noch lauter in meinen Ohren ertönen. Ich fuhr mir mit einer Hand über mein Gesicht, versuchte den Traum aus meinem Gehirn zu verbannen, aber er blieb an der Oberfläche und quälte mich weiterhin. Die Schuldgefühle von damals kamen zurück und nahmen mir beinahe die Luft zum Atmen. Erneut sah ich Chris vor mir, wie ihn die Kraft verließ, wie ich versuchte, ihn aus dem Wasser zu ziehen und mein eigener Hilfeschrei hallte laut in meinen Ohren wider – ein Schrei, der doch noch erhört worden war. Ein Jäger war gerade am Rande der Lichtung vorbeimarschiert, als er meinen Ruf gehört hatte. Ohne zu zögern war er hinaus aus den See gelaufen und hatte Chris, so als ob er überhaupt nichts wiegen würde, aus dem eiskalten Wasser gezogen. Der Mann, dessen Namen ich bis heute nicht wusste, hatte seine Jacke ausgezogen und meinen Bruder darin eingewickelt, der erbärmlich gezittert hatte. Alles Weitere war wie ein Film, den ich im Kino gesehen hatte, an mir vorbeigezogen. Er hatte Chris auf seine Arme gehoben und ihn durch den Wald getragen - ich hatte ihm den Weg zu unserem Haus erklärt. Wie erwartet hatte meine Mutter, als sie uns beide so gesehen hatte, beinahe eine Schreiattacke bekommen und der Fremde hatte schließlich meinem Vater erklärt, wo er uns gefunden hatte. Dieser war sichtlich wütend auf uns gewesen, hatte aber trotzdem einen Arzt gerufen. Während der ganzen Zeit hatte ich auf einem Sessel gekauert und kein Wort gesagt. Ich hatte mich mies gefühlt und gewusst, dass es meine Schuld gewesen war, dass Chris halberfroren auf dem Sofa lag – dick eingepackt in Decken.
Der Arzt hatte meinen Eltern aufgetragen, ihn zur Sicherheit in ein Krankenhaus zu bringen, das etwa eine Stunde Fahrtzeit entfernt gewesen war. Drei Tage musste er dort bleiben und wurde von den netten Schwestern gehegt und gepflegt. Danach hatten wir unseren Urlaub abgebrochen und waren nach Washington zurückgeflogen. Um mich von meinen Schuldgefühlen zu befreien, hatte ich ihnen schließlich gestanden, dass ich es war, der auf die Idee gekommen war, auf den See hinauszulaufen. Hatte ich geglaubt, mindestens einen Monat Hausarrest zu bekommen, so hatte ich mich geirrt. Meine Dummheit hatte überhaupt keine Konsequenzen gehabt und eine Woche später hatten meine Eltern so getan, als ob überhaupt nichts geschehen wäre.
Chris war nach dem Vorfall noch viel stiller geworden und hatte sich in seine Bücher vergraben. Jedes Mal wenn ich versuchte, mit ihm etwas zu unternehmen, hatte er abgeblockt und mich ignoriert. Damals hatte ich es auf den Schock geschoben, den er unweigerlich erlitten hatte, aber jetzt in meinem Gefängnis kam mir in den Sinn, dass er mir die Schuld an der ganzen Sache gegeben hatte. Zwar hatte sich unser Verhältnis etwa drei Monate später wieder verbessert, aber dieser Unfall hatte seitdem immer zwischen uns gestanden.
Der Außenwelt hatten sich meine Eltern glücklich darüber gezeigt, dass Chris überlebt hatte und hatten mich als Held gefeiert, weil ich ihn gerettet hatte. Dabei war es der Mann gewesen, den ich nie wieder zu Gesicht bekommen hatte. Seit diesem Ereignis war mir klar geworden, dass mein Bruder nicht den Stellenwert bei meinen Eltern hatte, den ich gehabt hatte und den Grund wusste ich bis heute nicht. Und zum ersten Mal kam mir jetzt in den Sinn, dass sie ihm die Schuld daran gaben, dass er in das Eis eingebrochen war. Jedenfalls würde es erklären, weshalb ich überhaupt nicht bestraft worden war.

„Was ist nur aus dir geworden?" fragte ich in die Stille hinein, schwang meine Beine über das Bett und vergrub meinen Kopf in den Händen, der Dank des Aspirins wenigstens nicht mehr schmerzte. Obwohl ich sicher mehrere Stunden geschlafen hatte, war ich noch immer müde, aber wenigstens fühlten sich meine Gliedmaßen nicht mehr unendlich schwer an und mein Magen meldete sich auch zu Wort, aber ich ignorierte das Knurren. Noch immer konnte ich nicht glauben, dass Chris mein Leben übernehmen wollte und mich hier eingesperrt hatte. Allerdings fragte ich mich, was er wohl mit mir vorhatte. Wollte er mich laufen lassen, wenn er genug davon hatte, Anthony DiNozzo zu sein oder würde er mich für immer verschwinden lassen? Meine Hoffnung bestand jedoch darin, dass er nicht so skrupellos war und seinen eigenen Bruder einfach so umbringen konnte. Aber tief in meinem Inneren traute ich es ihm allerdings zu, dass er den Schlüssel zu der Tür verlieren würde und ich somit in diesem Raum ewig gefangen war – jedenfalls so lange, bis ich verhungert war.
Erneut drohte die Verzweiflung, die mich schon einmal ergriffen hatte, zu überkommen und so stand ich auf und schaltete den kleinen Fernseher ein, um wenigstens so die Stille zu durchbrechen, die schwer auf mir lastete. Es liefen gerade Nachrichten und die Uhr links unten auf dem Bildschirm zeigte kurz nach neun Uhr. Also war es bereits Morgen und Chris wahrscheinlich schon im NCIS Hauptquartier. Irgendwie brannte es mir unter den Fingernägeln zu erfahren, wie er sich so anstellte. Hatten meine Kollegen ihn schon durchschaut oder glaubten sie, dass sie Tony vor sich hatten? Bei dem Gedanken an meine Freunde zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen und ich warf einen kurzen Blick auf die Bilder, die auf der Kommode standen. „Ihr müsst doch mitbekommen, dass ich nicht ich bin", sagte ich zu den Gesichtern, die mir starr entgegenblickten. Ich fuhr mit dem Zeigefinger meiner rechten Hand das Gesicht von Ziva nach, drehte dann aber aus einem Impuls heraus jedes einzelne Foto um, sodass ich sie alle nicht mehr ansehen musste. Ich wusste, dies war ein weiterer Versuch von Chris, mich zu zermürben, mich noch mehr verzweifeln zu lassen, in dem er mir zeigte, wer er jetzt war und was ich verloren hatte.
„Wenn du glaubst, mich hier festhalten zu können, hast du dich getäuscht", sagte ich laut und wandte dem Fernseher den Rücken zu. Nur am Rande bekam ich mit, wie Tom und Jerry anfingen, sich das Leben gegenseitig schwer zu machen. Wie bereits vor Stunden begann ich erneut den Raum zu durchsuchen, in der Hoffnung, einen Gegenstand zu finden, der mir dabei helfen würde, die Tür aufzubekommen. Aber ich wusste bereits, wie die Suche ausgehen würde. Chris hatte sorgfältig darauf geachtet, mir nichts dazulassen, was mir eine Flucht ermöglichen könnte – aber dennoch gab ich nicht auf. Er hatte mir zwar meine Freiheit und meine Identität geraubt, aber meine Hoffnung, aus meinem Gefängnis herauszukommen, die würde er mir nicht nehmen – egal was er noch mit mir vorhatte.

Fortsetzung folgt...
Chapter 5 by Michi
Viel zu schnell kam ihnen ein Pick up, dessen Fahrer unablässig die Lichthupe betätigte, auf derselben Spur entgegen. Kurz bevor es zur Kollision kam, riss Gibbs das Steuer herum, schnitt den Wagen, den er gerade überholt hatte und fädelte sich wieder in den fließenden Verkehr ein. Der Lenker des Pick ups wedelte wie wild mit der Hand herum und dann war er auch schon vorbei.
Chris klammerte sich an dem Griff an der Tür fest und versuchte sein wie wild klopfendes Herz zu beruhigen. Seit Jahren hatte er nicht mehr das Bedürfnis verspürt zu beten – seinen Glauben an Gott hatte er schon lange verloren – aber in dieser Minute fand er, dass es der passende Zeitpunkt wäre, wieder damit anzufangen. Vielleicht sollte er auch wieder einmal in die Kirche gehen – als Dank dafür, dass er diese Höllenfahrt lebendig überstand.
Mühsam schluckte er und versuchte seinen Mageninhalt bei sich zu behalten, der mit jeder weiteren Kurve, die sie passierten, weiter in Richtung seines Halses wanderte. Innerlich verfluchte er sich selbst, dass er ausgerechnet so viel gefrühstückt hatte. Normalerweise begnügte er sich mit einer Tasse Kaffee und Toast, aber heute Morgen hatte er es für eine gute Idee gehalten, so richtig zuzuschlagen. Und was hatte es ihm eingebracht? Das Essen lag bleischwer in seinem Magen und wartete nur darauf, hoch zu kommen.
Als sich der Chefermittler hinter das Steuer des Trucks gesetzt hatte, hatte er nicht einmal ansatzweise geahnt, was auf ihn zukam. Er hatte sich noch darüber amüsiert, dass McGee vorne keinen Platz mehr gehabt hatte und deswegen hinten im Laderaum sitzen musste. Aber eine Minute später war er vollauf damit beschäftigt gewesen, keine Angstschreie auszustoßen. Bereits als sie die Tiefgarage verlassen hatten, war Jethro mit quietschenden Reifen auf die Straße abgebogen und hatte dabei fast ein anderes Auto gerammt. Da hatte er noch gedacht, es wäre ein Versehen gewesen, dass er vielleicht den anderen nicht bemerkt hatte, aber kurz darauf hatte er feststellen müssen, dass er sich geirrt hatte. Gibbs schien einen Betonklotz als Fuß zu haben und drückte das Gaspedal bis zum Boden durch. Nicht einmal bei einer Kreuzung ging er mit der Geschwindigkeit herunter, sondern überquerte sie ungebremst.
Chris riss seinen Blick von der Windschutzscheibe los und sah aus dem Seitenfenster, in der Hoffnung, so nicht mitbekommen zu müssen, wenn ihnen erneut ein Wagen auf derselben Spur entgegenkam. Er hätte sich natürlich beschweren oder verlangen können, dass der Chefermittler das Tempo etwas reduzierte, allerdings hatte er keine Ahnung, wie dieser darauf reagieren würde. Seine Miene war undurchdringlich und er schien nur Augen für die Straße zu haben. Außerdem bestand die Gefahr, dass er das Gaspedal noch mehr durchtreten oder dass er ihm erneut eine saftige Kopfnuss verpassen würde, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten. Der Agent schien seine eigene Methode zu haben, wenn einer seiner Untergebenen etwas sagte, was ihm nicht gefiel – oder nicht das tat, was er verlangt hatte. Und Tony schien der Rekordhalter zu sein, wenn es darum ging, sich einen Klaps einzufangen. Aber Chris wunderte es nicht. Schon in ihrer Kindheit hatte sein Bruder eine vorlaute Klappe besessen und hatte es nicht geschafft, seinen Mund zu halten. Seine Freunde hatten dies mehr als amüsant gefunden, wohingegen die Lehrer mehr als genervt davon gewesen waren. Aber hatte er deswegen von seinen Eltern eine Strafe bekommen? Nein, sie hatten nur gemeint, dass es in dem Alter normal wäre, dass ihr Junge eine derart lose Zunge hatte.
Ein harter Ruck, Reifengequietsche und ein lauter Schrei rissen den jungen Mann aus den Erinnerungen und er konnte nur aufgrund seiner schnellen Reflexe verhindern, dass er mit voller Wucht gegen die Tür krachte. Ziva wurde gegen ihn gedrückt, richtete sich aber sofort wieder auf, so als ob sie es stören würde, dass sie auf ihm gelandet war. Für eine Sekunde hatte er noch den Duft ihres dezenten Parfüms in der Nase, aber gleich darauf verfolg der Geruch wieder – sehr zu seinem Leidwesen.
Aus dem Laderaum konnte man ein Poltern und ein lautes Fluchen hören und obwohl Chris mehr als übel war, fing er zu grinsen an. Unwillkürlich stellte er sich McGee vor, der wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken lag und versuchte, einen Ausrüstungskoffer von seinem Oberkörper zu wuchten. Obwohl er selbst von der rasanten Fahrt sicher einige blaue Flecken davon trug, so war er froh, hier vorne sitzen zu dürfen, und nicht hinten im Laderaum.
„Wäre es nicht besser, auch hinten einen Sicherheitsgurt einzubauen?" fragte er und hoffte, dass er nicht wieder etwas gesagt hatte, was den Verdacht erregen könnte, dass nicht Tony in diesem Truck saß. Ziva sah ihn von der Seite her an und verzog nicht einmal die Miene, als Gibbs erneut ein anderes Fahrzeug überholte und deswegen ein weiteres Hupkonzert kassierte. Chris hingegen schloss kurz die Augen und betete darum, endlich in Quantico anzukommen. Er fuhr gerne mit dem Auto und hatte auch nichts dagegen, Beifahrer zu sein, aber dies grenzte ja schon an Folter. Vielleicht sollte er eine Gehaltserhöhung fordern. Als kleine Entschädigung dafür, dass er um sein Leben fürchten musste – und dass, obwohl er normalerweise vor nichts Angst hatte.
Als Chris es wieder wagte, die Augen zu öffnen, sah er das hämische Grinsen von Ziva. Sie saß lässig zwischen ihm und Gibbs und für sie schien es das Normalste der Welt zu sein, knapp dem Tod zu entrinnen. „Du machst dir doch nicht etwa ins Shirt, oder, Tony?" fragte sie und ihr Grinsen wurde noch breiter. Obwohl ihm mehr nach Schreien zu Mute war – Jethro hatte soeben eine Kreuzung bei Gelb überquert – kam ihm ein lautes Prusten aus. Heute Morgen hatte er noch geglaubt, ihr Versprecher war ein Einzelfall gewesen, aber anscheinend machte sie öfters Fehler, wenn es um Redewendungen ging. „Es heißt ins Hemd machen", korrigierte er sie und vergaß für einen Moment, dass ihm übel war. Aus Zivas Augen schossen Funken in seine Richtung, was ihn aber noch mehr amüsierte. „Oder du kannst auch in die Hose machen sagen. Beide Varianten sind…" „Ich habe es kapiert", erwiderte sie leicht gereizt. „Was habt ihr überhaupt mit diesen dämlichen Redewendungen? Es ist doch egal, wie man es sagt, Hauptsache die Bedeutung stimmt. Außerdem, wieso heißt es, in das Hemd machen? Wie kann man sich…?" „Seit ihr beiden fertig?" wollte Gibbs neben ihnen wissen. „Wenn ja, habt ihr sicher nichts dagegen, endlich auszusteigen. Außer, ihr wollt hier übernachten?" Blinzelnd sah sich Chris um und bemerkte erst jetzt, dass sie endlich ihr Ziel erreicht hatten. Er war so sehr in die Betrachtung von Ziva vertieft gewesen, dass er gar nicht mitbekommen hatte, dass der Truck zum Stehen gekommen war. Anscheinend hatte er endlich ein Mittel gefunden, die Fahrt halbwegs unbeschadet zu überstehen. Vielleicht würde er nachher einen kleinen Streit mit der jungen Frau beginnen, in der Hoffnung, die ganze lange Strecke zurück zum Hauptquartier irgendwie zu überleben.
„Ähm, nein, Boss", antwortete er gespielt zerknirscht und öffnete erleichtert die Tür. Er war froh, endlich dieses Höllengefährt verlassen zu dürfen und sog tief die laue Frühlingsluft in seine Lungen. Bäume, die die Straße säumten, warfen Schatten auf den Asphalt und boten ein wenig Schutz vor der hellen Sonne. Die Umgebung des großen, in einem nüchternen weiß gestrichenen Hauses, war mit gelbem Flatterband abgesperrt worden und Männer in der Uniform des Marine Corps hinderten ein paar Schaulustige daran, den Tatort zu betreten. Obwohl sie sich auf einem Stützpunkt befanden, gab es auch hier neugierige Gaffer – vorwiegend Frauen aus der Nachbarschaft, deren Gatten zu diesem Zeitpunkt im Dienst waren. Sie reckten ihre Hälse, um ja nichts zu verpassen und schnatterten eifrig mit den anderen - es fehlten nur noch Kaffee und Kuchen.
Chris machte ein paar Schritte, bis er das Gefühl hatte, seine Beine wären nicht mehr aus Butter und setzte sich seine Sonnenbrille – oder besser gesagt, Tonys Sonnenbrille – auf. Er hatte bereits heute Morgen festgestellt, dass sie ihm ein cooles Aussehen verlieh und erneut musste er zugeben, dass sein Bruder einen ausgezeichneten Geschmack hatte, am meisten mochte er sein Auto. Das leise Brummen des Motors, die bequemen Sitze und vor allem die vielen PS. Es juckte ihn in den Fingern, den Wagen einmal bis zu seiner Grenze der Belastbarkeit zu testen.
Mit einem breiten Grinsen ging er um den Truck herum und öffnete die Türen, um sich seinen Rucksack zu holen, den er vor der Abfahrt dort verstaut hatte. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, konnte er sich ein lautes Auflachen beinahe nicht verkneifen. McGee lag auf dem Rücken und hielt sich mit beiden Händen die rechte Seite. Anscheinend war der schwere Koffer, der neben ihm lag, auf ihm gelandet und hatte ihn schmerzhaft getroffen. „Hör bloß auf zu grinsen, Tony", sagte er wütend und rappelte sich mühsam auf, wobei er sein Gesicht leicht verzog. „Ich möchte mal wissen, wie du aussiehst, wenn dich ein tonnenschwerer Koffer fast halbiert." „Na, übertreib nicht so. Der wiegt sicher keine Tonne und außerdem lebst du doch noch, oder, Tim?" Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde wusste Chris, dass er etwas Falsches gesagt hatte. McGee klappte der Mund so weit auf, dass man seine Mandeln problemlos bestaunen konnte und Ziva warf ihm einen verwirrten und überraschten Blick zu. Beide rührten sich keinen Millimeter und sahen ihn ganz komisch an. „Was ist jetzt schon wieder?" fragte er verwundert, aber innerlich wusste er bereits, was passiert war – eine Sekunde später bekam er es bestätigt. „Nun, du hast ihn noch nie beim Vornamen angeredet", antwortete Ziva an McGees Stelle, der noch immer damit beschäftigt war, seinen Unterkiefer nach oben zu bewegen. Chris setzte einen Gesichtsausdruck auf, so als ob es für ihn nichts Neues wäre, dass er seinen Kollegen noch nie Tim genannt hatte. „Das weiß ich doch", sagte er so unbeschwert wie möglich. „Ich wollte doch nur mal sehen, wie der gute McGee reagiert, wenn ich es mache. Du hättest mal deine schockierte Miene sehen sollen", wandte er sich an seinen Kollegen, der es endlich geschafft hatte, seinen Mund zu schließen. „Schade, dass ich keine Kamera dabei gehabt habe. Das hätte ich zu gerne für die Nachwelt festgehalten." „Wirklich witzig, Tony", erwiderte dieser, kletterte aus dem Truck und schnappte sich seine Ausrüstung. „Und ich habe schon gedacht, du würdest endlich damit aufhören, mich Bambino zu nennen." Ein wenig beleidigt ließ er ihn einfach stehen und eilte Gibbs nach, der bereits hinter dem Absperrband verschwunden war und das Haus betreten hatte.
Äußerlich ließ sich Chris zwar nichts anmerken, aber innerlich brodelte er vor Wut. Er hätte es wissen müssen, dass Tony ihn angelogen hatte, als er ihm gesagt hatte, er würde McGee nur mit Tim anreden. In seinen Augen war ein hinterlistiger Ausdruck gewesen, aber er hatte gedacht, sich das nur einzubilden. Sein Bruder ließ also keine Möglichkeit aus, ihm seinen Plan durchkreuzen zu wollen. Damit hätte er eigentlich rechnen müssen, aber er war zu sehr von seiner Freude abgelenkt gewesen, endlich das Leben leben zu können, was er sich immer gewünscht hatte.
‚Na warte', dachte er ärgerlich, schnappte sich seinen Rucksack und ließ Ziva einfach stehen, die ihm verwundert hinterher sah. Er zückte seinen Dienstausweis, hielt ihn einen der Männer unter die Nase, der sofort das Band hochhob und ihn somit durchließ. ‚Glaub ja nicht, dass du damit durchkommst. Du wirst schon sehen, was du davon…' Chris wurde allerdings aus seinen wütenden Gedanken gerissen, als er das Wohnzimmer des großen Hauses betrat. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn erstarren und er hatte das Gefühl, sein Frühstück nun endgültig von sich geben zu müssen. In den Jahren, die er in Los Angeles gelebt hatte, hatte er schon viele Leichen gesehen und er hatte geglaubt, Toten gegenüber abgehärtet zu sein. Aber in diesem Moment erkannte er, dass dies wohl ein großer Irrtum gewesen war.

Vor dem Mord an dem Commander war das Wohnzimmer sicher ein Ort gewesen, wo man sich nach einem anstrengenden Arbeitstag prima entspannen hatte können. Die Einrichtung, die mit großer Sorgfalt ausgesucht worden war, wirkte selbst jetzt noch teuer und hatte dem Raum vor Stunden eine Behaglichkeit verliehen. Allerdings war an diesem Vormittag davon nichts mehr zu sehen. Durch das große Fenster schien die Sonne herein und tauchte die Szene, die sich vor Chris' Augen befand, in ein erbarmungsloses helles Licht, welches im starken Kontrast zu der Brutalität der Tat stand. Nicht das kleinste Detail konnte einem entgehen – nicht einmal, wenn man ein unerfahrener Tatortermittler war. Das Bild brannte sich unauslöschlich in sein Gehirn ein und innerhalb des Bruchteils einer Sekunde wusste er, dass er es wohl so schnell nicht wieder loswerden würde. Unwillkürlich kam ihm der Vergleich mit einem Tornado, der durch dieses Zimmer gefegt war. Es gab kein Möbelstück, das nicht zerstört oder umgeworfen worden war. Ein hohes Regal lag quer auf dem dunkelblauen Teppich, der den Parkett davor schützen sollte, Kratzer abzubekommen. Der Inhalt – zahlreiche Bücher, Porzellanfiguren und Sporttrophäen - war dabei umbarmherzig verteilt und zu Stolperfallen degradiert worden. Neben dem Regal hatte sich einmal ein Breitbildfernseher – der ein kleines Vermögen gekostet hatte – befunden, aber auch dieser war umgeworfen worden. Das Gehäuse war durch die Wucht des Aufpralls geborsten und das Innenleben quoll teilweise heraus. Zusätzlich war das Glas des Bildschirms in kleine scharfe Splitter zerborsten.
Die Türen der Kästen und die Laden der Kommoden, die in dem Raum aufgestellt worden waren, standen offen und die Gegenstände, die sich darin befunden hatten, waren achtlos auf den Boden geworfen worden – hauptsächlich DVDs und CDs.
Der gläserne Couchtisch war ebenfalls zerstört worden und nur mehr die Beine aus Metall waren übrig geblieben. Das Obst, welches sich in einer Schale befunden hatte, lag inmitten des Scherbenhaufens – gemeinsam mit einer Fernsehzeitschrift und einer Fernbedienung. Aber die Zerstörung war nichts im Vergleich zu dem Toten, der halb auf dem Sofa saß und teilweise auf den beigen Kissen lag. Die linke Hand hing über den Rand und in regelmäßigen Abständen tropfte Blut von den schlaffen Fingern. Die rote Flüssigkeit landete auf dem blauen Teppich, wo sich bereits eine hässliche, dunkle und vor allem klebrige Pfütze gebildet hatte. Das Hemd, das der Mann trug und das vorher einmal blau weiß kariert gewesen sein musste, war ebenfalls damit getränkt. Aus seiner muskulösen Brust ragte der schwarze Griff eines Messers, dessen Klinge unübersehbar im Herzen steckte. Aber auch diese Verletzung war nicht die Ursache dafür, dass Chris für einen kurzen Moment das Gleichgewicht verloren hatte. Der Grund war der Kopf – oder besser gesagt, was davon noch übrig war – der Leiche. Der Schädel war mit großer Wucht von einem harten Gegenstand eingeschlagen worden. Nicht einmal oder zweimal. Nein, so wie das Gesicht des Commanders aussah, hatte der Täter seine ganze Wut an ihm ausgelassen. Die Nase war zersplittert und die Wangenknochen gebrochen. Die Haut war an zahlreichen Stellen aufgerissen worden und hatte grässliche Fleischwunden hinterlassen. Das einzige, das aus der roten Masse, in die sich das Gesicht verwandelt hatte, hervorstach, waren die leblosen Augen, die starr und voller Entsetzen an die Decke blickten. Die vormals braune Iris war bereits trüb geworden und verlieh dem Ganzen zusätzlich einen schaurigen Touch. Das Blut hatte auf dem hellen Stoff des Sofas hässliche Flecken hinterlassen, die bereits einen Braunton angenommen hatten. Über der ganzen Szenerie lag der unverwechselbare Geruch des Todes.
„Da hatte anscheinend jemand eine Mordswut", sagte Chris, in dem Versuch, die Situation locker zu nehmen und zu überspielen, dass er sich hier mehr als unwohl fühlte. Gibbs, der neben der Leiche stand und sie stirnrunzelnd gemustert hatte, blickte auf und sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
McGee hingegen, der dabei war, seine Kamera auszupacken, fand diese Aussage amüsant. Seit Tony ihn plötzlich mit dem Vornamen angeredet hatte, war er ziemlich irritiert gewesen und das Gefühl, dass er nicht er selbst war, hatte sich noch um eine kleine Spur verstärkt. Allerdings war der Spruch, der soeben über die Lippen seines Kollegen gekommen war, so typisch DiNozzomäßig gewesen, das er nicht anders konnte, als seinen Instinkt für verrückt zu erklären. Zwar war Anthony ein wenig blass um die Nase - er selbst hatte ebenfalls von der Fahrt noch ein flaues Gefühl im Magen – aber in seinen Augen lag das ihm mehr als vertraute humorvolle Funkeln. Er hatte seinen Mund zu einem Grinsen verzogen, das Gibbs ziemlich oft auf die Palme brachte - also schien alles wieder beim Alten zu sein. Vielleicht hatte Tonys neueste Flamme einfach mit ihm Schluss gemacht und er war deswegen so durch den Wind. Aber er schien ja relativ schnell darüber hinweggekommen zu sein.
„So, glaubst du das, DiNozzo?" fragte Gibbs und seine Stimme war gefährlich ruhig. Er fand es überhaupt nicht witzig, dass sein Agent über diesen Mord blöde Sprüche reißen konnte. Allerdings war er ein wenig erleichtert, auch wenn er es nach außen hin nicht zeigte. Seit sein bester Agent heute Morgen ins Büro gekommen war – noch dazu vor seiner normalen Zeit, was alleine schon ein Grund wäre, misstrauisch zu werden - hatte er sich merkwürdig verhalten, aber allem Anschein nach war es nur eine vorübergehende Phase gewesen. Zufrieden bemerkte er, wie dem Jüngeren das Grinsen auf dem Gesicht gefror und er erkannte, dass er am besten den Mund hätte halten sollen.
Chris wusste sofort, dass der Chefermittler nicht zum Spaßen aufgelegt war. ‚Ob er das jemals wäre?' schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf. Das Grinsen, welches ihm vor Sekunden vergangen war, drohte erneut ihn zu überkommen, aber er schaffte es, es mit Mühe zu unterdrücken. Sein Instinkt sagte ihm, dass er dann wohl eine weitere Kopfnuss kassieren würde – auf die er aber gut und gerne verzichten konnte.
Gibbs runzelte ungeduldig die Stirn und wartete noch immer auf eine Antwort. Allerdings fiel dem anderen keine passenden Wörter ein. Normalerweise hatte er keine Probleme damit, schlagfertig zu sein, aber heute, an diesem Ort des Verbrechens und durch den Blick aus den eisblauen Augen war sein Gehirn wie leergefegt. Chris hatte keine Ahnung, weshalb er in der Nähe des Chefermittlers oft nach den richtigen Worten suchen musste. In Los Angeles hatte es keiner geschafft, ihn aus dem Konzept zu bringen oder einzuschüchtern – egal wie gefährlich derjenige gewesen war. Der Agent schaffte dies aber mit einem einzigen Blick. ‚Ob Tony damit auch Probleme hat?' fragte er sich, aber er fing gar nicht erst an, darüber nachzudenken. Stattdessen konzentrierte er sich auf eine Antwort, auf die Jethro noch immer wartete, wie ihm sein Gesichtsausdruck verriet. „Nun…" begann Chris, obwohl er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte, aber eine höhere Macht schien doch noch Mitleid mit ihm zu haben, denn Schritte erklangen hinter ihm und kurz darauf erschien Ziva – im Schlepptau mit Ducky und Jimmy.
Innerhalb einer Sekunde erkannte die junge Frau, dass ihr Kollege wohl wieder einmal in ein großes Fettnäpfchen getreten war. Sein zerknirschter Gesichtsausdruck sprach Bände und sie konnte nicht anders als breit zu grinsen. Sie würde McGee später fragen, was für einen Spruch Tony von sich gegeben hatte, denn sie hatte das untrügliche Gefühl, dass es ihr der Italiener nicht sagen würde. Gibbs schien jedenfalls nicht gerade glücklich über den Scherz zu sein, wie ihr das Funkeln in seinen Augen verriet. Gehässigkeit gewann die Oberhand und verdrängte das komische Gefühl, das sie befallen hatte, als Anthony Tim mit seinem Vornamen angeredet hatte. Ziva glaubte nicht wirklich, dass er nur wissen hatte wollen, wie der Jüngere darauf reagierte. Aber jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt dafür, um darüber nachzudenken – nicht, nachdem sie einen Blick auf den toten Commander geworfen hatte, der in den letzten Sekunden seines Lebens anscheinend Todesangst ausgestanden haben musste. Ungeachtet dessen, dass die Agentin bereits viele Leichen in ihrem Leben gesehen hatte, so schockierte sie der Anblick des Mannes doch ein wenig. Der Täter musste ziemlich viel Wut im Bauch gehabt haben, als er diesen Mord verübt hatte.
„Es tut mir leid, dass wir so spät kommen, Jethro", sagte Ducky und lenkte damit seinen Freund von Chris ab, der erleichtert aufatmete. „Aber Mister Palmer hat sich wieder einmal verfahren. Diese jungen Menschen heutzutage. Sind einfach nicht fähig, eine Straßenkarte richtig zu lesen." Dabei sah er seinen Assistenten leicht kopfschüttelnd an und stellte seine schwarze Tasche auf dem Boden ab. „Aber Sie hatten doch die Karte, Doktor", verteidigte sich Jimmy und rückte sich seine Kappe zu Recht. „Das mag schon sein, aber Sie hätten mir ruhig sagen können, dass wir falsch abgebogen sind. Immerhin…" „Können wir uns endlich an die Arbeit machen?" wurde er von Gibbs ungeduldig unterbrochen. „Ah ja, richtig. Nun, was haben wir denn heute?" wollte Ducky wissen und beugte sich zu dem Commander hinunter. „Der Arme hatte einen sehr unschönen Tod, so viel kann ich dir jetzt schon sagen. Diese Art der Verletzungen erinnert mich an eine Geschichte aus dem Jahre 1986. Ein befreundeter Pathologe aus London hatte einen Fall, der erschreckend dem hier ähnelt. Damals war…" „Duck", wurde er von seinem Freund ein weiteres Mal in seinem Redefluss gebremst. Jethro hatte jetzt keinen Nerv für eine dieser langen Geschichten. Schon gar nicht, wenn sein Körper nach Koffein verlangte, es in der Nähe aber nirgendwo ein Geschäft gab, wo er sich sein Lieblingsgetränk beschaffen konnte.
„Schon gut", meinte der Pathologe und winkte seinen Assistenten zu sich heran. „Nun, dann machen wir uns einmal an die Arbeit." Er öffnete seine schwarze Tasche und holte das Thermometer heraus, mit dem er die Lebertemperatur messen konnte. Mit einem widerlichen Geräusch verschwand das Instrument in dem Körper des Commanders.
Zufrieden damit, dass seinem Befehl Folge geleistet wurde, wandte sich Gibbs an seine Kollegen, die allesamt noch immer bei der Tür standen, außer McGee, der bereits seine Kamera in der Hand hielt. „Ziva, du und Tony sucht in diesem Chaos hier nach Spuren. Vielleicht findet ihr irgendwo Fingerabdrücke oder sonstige Hinweise auf den Täter. McGee, du kümmerst dich um die Fotos, Laser und Skizzen. Und wenn es geht, heute noch." „Und was machst du?" fragte Chris mutig und stellte den Rucksack auf einen Fleck auf dem Boden ab, der nicht von zerstörter Einrichtung bedeckt wurde. „Ich werde die Frau des Commanders befragen. Sie hat die Leiche ihres Mannes gefunden. Und jetzt macht euch endlich an die Arbeit. Ich will Ergebnisse sehen. Und das bis gestern." Damit ließ er alle stehen und strebte auf die Treppe zu, die in das Obergeschoss führte, in dem sich die Gattin des Ermordeten aufhielt.
„Puh, der hat heute aber wieder eine schlechte Laune", sagte Chris und zog sich Gummihandschuhe über. Aufregung, dass er gleich seinen ersten Tatort untersuchen würde, überkam ihn. „Das liegt wahrscheinlich daran, dass er heute noch nicht so viel Kaffee wie sonst intus hat", erwiderte McGee, der sich seine Kamera umhängte und anfing, die Leiche zu fotografieren. „Und wir wissen ja, wie Gibbs ist, wenn er nicht genug Koffein bekommt", fügte Ziva hinzu und trat über einen Scherbenhaufen. „Wie ein hungriges Raubtier auf Beutesuche", meinte DiNozzo und fing an zu grinsen. „Das trifft den Nagel auf den Kopf." Seine Kollegin schenkte ihm ein Lächeln, was ihm einen Schauder über den Rücken jagte und für einen Moment war er abgelenkt. ‚Reiß dich zusammen', schimpfte er mit sich selbst. ‚Du bist nicht hier, um zu flirten.' Er ignorierte die Tatsache, dass ihn Ziva an seine damalige Freundin Amy erinnerte und machte sich daran, irgendwelche Spuren auf dem Boden zu finden, der von zahlreichen Gegenständen bedeckt wurde. Allerdings hatte er mehr und mehr das Gefühl, dass es eher wie die Suche einer Nadel in einem Heuhaufen werden würde. Chris wollte sich bereits dem kaputten Fernseher zuwenden, als ein kleines gerahmtes Bild, das zwischen den Büchern lag, seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es zeigte einen schwarzhaarigen Jungen im Alter von acht Jahren, der auf einer Bühne stand und das Kostüm von Peter Pan trug.
Unwillkürlich bildete sich in seinem Hals ein dicker Kloß und er hatte nur noch Augen für das Foto. Er betrachtete das Gesicht des Kindes, aber nach einer Sekunde verwandelte es sich in sein Eigenes. Das sonnendurchflutete Wohnzimmer, der Geruch des Todes, die Leiche und die Stimmen der anderen verschwammen, als ihn eine Erinnerung aus seiner Kindheit überkam und ihn zurück an den Abend brachte, an dem er als 10 jähriger auf einer Bühne gestanden hatte…

Fortsetzung folgt...
Chapter 6 by Michi
Chris stand mitten auf der großen Bühne, die den hinteren Teil des weitläufigen Raumes einnahm, der als Theater der Privatschule, die er besuchte, fungierte. Normalerweise drang jede Menge Sonnenlicht durch die hohen Fenster, aber an diesem frühen Abend waren sie mit dicken und vor allem schweren Vorhängen verdeckt, was dem Ganzen eine etwas unheimliche Atmosphäre verlieh. Das einzige Licht kam von dem Scheinwerfer, der ihn anstrahlte, ihn aber nicht blendete. So konnte er problemlos in den Zuschauerraum blicken, der teilweise im Halbdunkel lag. Vor allem die Personen, die in den hinteren Reihen saßen, waren nur mehr als Schatten zu erkennen. Ihre Bewegungen kamen ihm teilweise gespenstisch vor, wie bedrohende Gesten. Genauso sahen die gesichtslosen Menschen aus seinen Albträumen aus, die er als fünfjähriger gehabt hatte. Aber er ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen, schon gar nicht heute. Schon als kleines Kind hatte er die Abenteuer von Peter Pan verfolgt und sich gewünscht, genauso fliegen zu können. Und als vor vier Monaten in der Schule bekannt gegeben worden war, dass die Theatergruppe einen Hauptdarsteller suchte, hatte er sich sofort für die Rolle beworben – obwohl er sich bereits für andere Dinge interessierte. Aber dennoch wollte er einmal der Junge sein, der Captain Hook das Leben schwer machte.
Sein schärfster Konkurrent beim Vorsprechen war Tom Richmond gewesen, der bis jetzt jedes Jahr eine Hauptrolle in einem Stück ergattert hatte. An dem Tag, an dem verkündet worden war, wer welchen Part übernehmen wollte, hatte er sich vor allen gebrüstet und behauptet, er wäre garantiert der Sieger. Von jeher war er so überheblich gewesen und hatte die Nase ständig viel zu weit nach oben gehalten. Und nur, weil sein Vater einer der reichsten Männer von Washington war.
Ein paar Minuten später war er jedoch auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden, als Miss Anders – die Regisseurin – bekannt gegeben hatte, wer die Hauptrolle übernehmen würde. Und zu seiner größten Verblüffung war die Wahl auf Chris gefallen. Tom hatte kurz darauf einen Wutanfall bekommen, war rot angelaufen und zur Tür rausgestürmt, die er so heftig zugeschlagen hatte, dass das Krachen bis in die erste Etage gehört wurde. Natürlich hatte sein Dad versucht, die Professorin zu überreden, aber sie hatte stur gemeint, Chris wäre die idealere Besetzung und war von ihrem Standpunkt nicht mehr abgewichen. So kam es, dass er nun auf der Bühne stand, anstatt des hochnäsigen Bengels, der ihn in den letzten Tagen ständig wütend angefaucht und keinen Hehl daraus gemacht hatte, was er von ihm hielt. Aber jetzt dachte er nicht an Tom und seine ärgerlichen Blicke, sondern konzentrierte sich auf seinen Text. Ohne zu stocken oder einen einzigen Fehler zu machen, sprach er Wort für Wort und versetzte sich in die Figur hinein, versuchte die richtigen Gefühle zu empfinden und sie den Zuschauern zu präsentieren.
Der Scheinwerfer schwenkte von ihm weg und drehte eine kurze Runde über das Publikum, um schließlich wieder zu Chris zurückzukehren. Charlize Hauser, die Wendy spielte, kam auf die Bühne und stahl ihm für eine Minuten die Show. Jeder konzentrierte sich nur auf sie und so hatte er die Möglichkeit, seinen Blick über die Zuseher wandern zu lassen. Reihe für Reihe klapperte er ab, aber die beiden Personen, die er suchte, waren nirgendwo zu sehen. Obwohl er bereits damit gerechnet hatte, dass seine Eltern nicht erscheinen würden, versetzte es ihm einen Stich ins Herz. Sein Vater hatte bereits vor Wochen gesagt, dass er einen wichtigen Termin in der Stadt hatte und seine Mutter hatte gestern nicht gewusst, ob sie sich rechtzeitig vom Gericht losreißen konnte.
Ein großer Kloß bildete sich in seinem Hals, als er erkannte, dass von seinen Freunden sogar einige Onkeln und Tanten erschienen waren. Von jedem, der heute Abend auf der Bühne stand, war die Familie anwesend, nur von ihm nicht. Enttäuscht suchte Chris erneut die Reihen ab und schließlich entdeckte er zwei Menschen im Publikum und deren Anblick schaffte es, seine Traurigkeit ein wenig zu lindern. Lucille saß in der vierten Reihe und verfolgte das ganze Geschehen. Ihre langen schwarzen Locken hatte sie zu einem dicken Zopf zusammengebunden und das schlichte Frühlingskleid passte hervorragend zu ihrem dunklen Teint. Sie war Mitte Dreißig, aber äußerlich wirkte sie wie zwanzig. Ihre Augen strahlten Tag für Tag vor Fröhlichkeit und sie war für jeden Spaß zu haben. Für die beiden Brüder war sie mehr als nur ihr Kindermädchen. Lucille war ihre Freundin, ihre Aufpasserin und Spielkameradin.
Links neben ihr saß Tony, leicht vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie abgestützt und verfolgte gespannt das Geschehen auf der Bühne. Chris wusste, er hatte sich nie sonderlich für Peter Pan interessiert, aber dennoch hatte er ihm geholfen, seinen Text zu lernen, hatte sogar ab und zu mit ihm geprobt. Seit dem Vorfall vor drei Jahren kurz nach Weihnachten hatte Anthony das Gefühl, etwas gut machen zu müssen, auch wenn sein Bruder ständig behauptete, er brauche sich keine Vorwürfe zu machen. Beiden war nur allzu bewusst, dass damals alles anders ausgehen hätte können, wäre nicht zufällig der Jäger vorbeigekommen. Das Ereignis lag über ihnen wie ein drohender Schatten und sie versuchten, es so gut wie möglich zu ignorieren.
Tony, der zu spüren schien, dass ihn sein Bruder direkt ansah, zwinkerte ihm zu, hob beide Daumen in die Höhe und grinste breit. Chris lächelte kurz zurück, konzentrierte sich aber schließlich wieder auf seine Rolle, um seinen Einsatz nicht zu verpassen. Nicht mehr lange, dann käme der Kampf mit Captain Hook, in dessen Verlauf dieser von seinem Schiff stürzen würde und von dem Krokodil, in dessen Inneren beständig eine Uhr tickte, gefressen wurde.
In dem Bewusstsein, dass doch Mitglieder seiner Familie – er sah auch Lucille als solches an – gekommen waren, um ihn auf der Bühne stehen zu sehen, bemühte er sich noch mehr, seine Rolle zu spielen. Die leichte Nervosität, die ihn während des gesamten Stückes begleitet hatte, verpuffte und plötzlich hatte er das Gefühl, nichts anderes in seinem Leben getan zu haben. Bis zum Ende waren es noch 15 Minuten und in denen stellte er seine Mitspieler in den Schatten. Als sich der Vorhang schließlich senkte und Chris den Blick auf das Publikum verwehrte, brandete lauter Applaus auf. Überglücklich darüber, dass alles so super gelaufen war, hatte er ein Dauergrinsen im Gesicht. Sämtliche Schüler umarmten sich und in diesem Moment war es egal, dass alle unterschiedlich alt waren. Hinter der Bühne waren sie jetzt gleich gestellt und genossen gemeinsam den Beifall.
Kurz darauf fassten sie sich alle an den Händen und der Vorhang hob sich noch ein letztes Mal. Synchron verbeugten sie sich, bedankten sich für den Applaus, winkten Eltern und Freunden kurz zu, um sich dann auf den Weg zu den Umkleideräumen zu machen.
War es vorher ruhig gewesen, so konnte man nun überall laute Stimmen und aufgeregtes Gemurmel hören. Miss Anders war ganz aus dem Häuschen und lief mit einem strahlendem Gesicht herum, und dass, obwohl sie normalerweise aussah, als ob sie in eine besonders saure Zitrone gebissen hätte.
Chris sah sich noch einmal auf der Bühne um – der Vorhang war wieder heruntergelassen worden – betrachtete versonnen die Kulissen und ließ die vergangene Stunde Revue passieren. Deshalb war er auch der Letzte, der die Stufen zu den Kabinen hinunter stieg. In dem Gang war es ruhig, alle waren hinter den Türen verschwunden, um sich umzuziehen. Es war ein wenig düster und die gedämpften Stimmen, die von den Personen, die sich noch immer in dem Zuschauerraum aufhielten, hallten von den Wänden wider. Aber davon ließ er sich nicht stören. Gut gelaunt eilte er auf die Tür zu, hinter der sich die Umkleide für die Jungen befand – allerdings kam er nur drei Meter weit. Plötzlich und ohne Vorwarnung erhielt er von hinten einen heftigen Stoß. Durch die Wucht verlor er das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Reflexartig versuchte er den Fall mit seinen Händen abzufangen, aber es nützte nichts. Chris knallte auf die kühlen Fliesen und blieb leicht benommen mit dem Bauch voran liegen. Vor seinen Augen tanzten für eine Sekunde bunte Sternchen, die sich aber wieder in Luft auflösten. Seine Hände, mit denen er sich abstützen hatte wollen, schmerzten ein wenig, aber ansonsten konnte er von Glück sagen, dass ihm nicht mehr passiert war.
Hinter ihm erklang ein gemeines Lachen und er erkannte sofort, wer das war, wer verantwortlich dafür war, dass er hier auf dem Boden lag. Langsam drehte er sich auf den Rücken, setzte sich auf und blickte zu Tom hoch, der über ihm stand und ihn feixend angrinste. Dieser sah ihn aus seinen blauen Augen kalt an und die dunklen Haare schienen ihm vom Kopf abzustehen. Sein Körper zeigte erste Anzeichen von Übergewicht und sein Gesicht war ein wenig rundlich. Er hatte seine Arme demonstrativ vor der Brust verschränkt, um ihm zu zeigen, wer der Stärkere war. „Na, bist du über deine eigenen Füße gestolpert?" fragte er hämisch und beugte sich zu Chris hinunter. „Schon dämlich, wenn man zu blöd ist, um zu gehen." Dem Angesprochenen schoss die Schamesröte ins Gesicht und er ballte unwillkürlich seine Hände zu Fäusten. Er wusste, er könnte einfach um Hilfe rufen, aber er wollte keinem zeigen, dass er sich nicht alleine gegen Tom wehren konnte. Oh nein, er würde sicher nicht wie ein kleines Mädchen anfangen zu schreien.
„Na, was ist los. Hat es dir die Sprache verschlagen, du halbe Portion?" fagte der andere, packte ihn am Kragen seines Kostüms und schüttelte ihn heftig. „Du machst dir doch nicht etwa in die Hose? Vor kurzem bist du noch über die Bühne stolziert, hast so getan, als ob du ein Held wärst, aber in Wirklichkeit bist du nur ein kleiner Feigling. Und so etwas hat mir die Show gestohlen." Er schüttelte Chris immer weiter, der vergeblich versuchte, sich aus dem Griff zu befreien.
„Hey!" erklang plötzlich hinter ihnen eine Stimme. „Nimm deine dreckigen Finger von meinem Bruder." Tom erstarrte mitten in der Bewegung und drehte sich langsam um, wobei er sein Opfer noch immer fest hielt. „Da haben wir ja die zweite halbe Portion", meinte er und grinste breit. Tony, der zwar um einen halben Kopf kleiner war als der andere, ließ sich das nicht gefallen. Er wusste nur zu gut, wer da vor ihm stand – oder besser gesagt, hockte. Der Ruf des Jungen war an der Schule weithin bekannt, aber nie konnte man ihm etwas nachweisen. Die Schüler, auf die er es abgesehen hatte, trauten sich nicht zu verraten, wer sie quälte und schwiegen. Bis jetzt waren die DiNozzo Brüder von ihm verschont geblieben, aber seit Chris die Hauptrolle in dem Stück ergattert hatte, hatte er seine Wut geschürt, um sie am heutigen Tag auszulassen. Und dass er jetzt alle beide in die Finger bekam, freute ihn umso mehr. Zu lange hatte er in ihrem Schatten gestanden, da sie viel beliebter waren, selbst bei den Mädchen, die ihre grünen Augen anhimmelten. Dabei war er es, der viel mehr Geld besaß und sich kaufen konnte, was er wollte.
Ohne zu zögern lief Tony auf die beiden zu und zerrte Tom am Kragen seines weißen Hemdes in die Höhe. Dieser war so perplex, dass er Chris losließ. Er hatte angenommen, der Kleinere würde nur harmlose Drohungen ausstoßen und sich breitbeinig aufstellen, um besonders furchterregend aussehen zu wollen. „Nenn mich nicht halbe Portion", herrschte ihn Anthony an und stieß ihn von sich, sodass er gegen die Wand prallte. „Und lass meinen Bruder in Ruhe!" Erneut packte er ihn am Kragen und hob drohend seine Faust. Er musste zwar zu dem anderen aufblicken, aber das war ihm egal. Tom war noch immer sprachlos darüber, dass sich jemand gegen ihn zur Wehr setzte. Das schrie förmlich nach Rache. Er hob bereits ein Bein, um damit kräftig gegen das Schienbein des anderen zu treten. Chris allerdings hatte das mitbekommen und schrie sofort: „Pass auf!" Tony reagierte blitzschnell, sprang zur Seite und sein Kontrahent trat daneben. Sein eigener Schwung brachte ihn aus dem Gleichgewicht und da er nicht mehr länger festgehalten wurde, taumelte er nach vorne. Allerdings erholte er sich innerhalb von wenigen Sekunden und wollte auf Anthony losgehen, als ihn dessen Faust hart im Magen traf und er einknickte. Laut keuchend krachte er mit den Knien auf dem Boden und versuchte Luft in seine Lungen zu pumpen.
Chris rappelte sich auf und starrte auf Tom, der wie ein kleines Kind auf dem Boden lag und wimmerte. In diesem Moment hatte er überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit dem großspurigen Jungen. „Alles klar?" wurde er von seinem Bruder gefragt und er nickte. „Klar." Die Zwillinge grinsten sich an, aber gleich darauf gefror es beiden auf den Gesichtern, als Miss Anders auftauchte. Ihr strahlender Gesichtsausdruck verschwand rasend schnell und diesmal sah sie aus, als ob sie in hundert saure Zitronen gebissen hätte. Ihre Augen funkelten zornig und beiden war sofort bewusst, dass sie jetzt mächtigen Ärger bekommen würden. Aber das Tom Richmond keuchend am Boden lag, machte jede Strafe allemal wett.


„Tony?" Eine Hand wurde Chris auf die Schulter gelegt und riss ihn somit aus seinen Erinnerungen. Noch immer starrte er das Bild auf dem Boden, das einen Jungen im Peter Pan Kostüm zeigte, an. Auch er hatte diese Rolle gespielt, vor zig Jahren. Er hatte schon ewig nicht mehr an diesen Abend gedacht, aber jetzt, wo er das Foto gesehen hatte, kam alles wieder hoch. Das Glücksgefühl, als ihm alle applaudiert hatten, die Freude, die er empfunden hatte, als er Lucille und seinen Bruder im Publikum entdeckt hatte, die Scham, als ihn Tom Richmond zu Fall gebracht hatte und dann die Gehässigkeit, als dieser wimmernd auf der Erde gelegen hatte – geschlagen von Tony. Unwillkürlich bildete sich auf seinen Lippen ein Grinsen, als er daran dachte. Genau wie vorhergesagt hatte sein Bruder wegen der Sache Schwierigkeiten bekommen. Da es keine Zeugen für den Streit gegeben hatte, hatte Tom behauptet, Anthony hätte ihn ohne Grund geschlagen. Natürlich hatte Chris versucht, es richtig zustellen und seinem Bruder zu Hilfe zu kommen, allerdings war dabei nicht viel herausgekommen. Egal ob mit oder ohne Grund, eine Schlägerei wurde an der Schule nicht geduldet, egal wie sehr der eine von dem anderen provoziert worden war. Miss Anders hatte ohne Umschweife den Direktor informiert, der mehr als erbost gewesen war. Dieser hatte natürlich sofort die Eltern verständigt und noch am selben Abend ein Gespräch mit ihnen geführt. Mister Richmond war außer sich gewesen, dass sein Sohn geschlagen worden war und wollte den Worten des Schulleiters keinen Glauben schenken, dass ihm Grunde sein Sprössling angefangen hatte. Er hatte Tom in Schutz genommen und war mit ihm nach Hause gefahren, nicht ohne vorher zu drohen, dass das Ganze noch ein Nachspiel haben würde.
Tony wurde für die nächsten zwei Wochen zum Nachsitzen verdonnert und musste zusätzliche Hausaufgaben erledigen, was für ihn nicht sehr angenehm gewesen war. Immerhin war er mehr draußen unterwegs als für die Schule zu lernen. Aber Chris, der sich die Schuld an allem gab, hatte ihm da durch geholfen und jedes Mal, wenn ihre Eltern nicht daheim gewesen waren, hatte er einen Teil der Aufgaben gelöst.
Sonst hatte sein Bruder keine Strafe erhalten, nicht einmal Hausarrest. Mister DiNozzo hatte gemeint, Tom hätte es schon lange verdient, dass ihm jemand eine Abreibung verpasste. Er hatte seinen Sohn anerkennend auf die Schulter geschlagen, zu Chris gemeint, er solle sich das nächste Mal gefälligst nicht so überrumpeln lassen und war dann wieder zu der Tagesordnung übergegangen.
In der Schule war die kleine Schlägerei natürlich in aller Munde gewesen und jeder hatte Tony hoch gelobt, der gemeint hatte, ohne seinen Bruder hätte er das nie geschafft. Tom war die nächsten Wochen mit gesenktem Kopf durch die Gänge geschlichen und hatte jeden angefaucht, der ihn auch nur angesprochen hatte. Mister Richmond hatte seine Drohung nie wahr gemacht und irgendwann war der ganze Vorfall immer mehr in Vergessenheit geraten.
Aber am heutigen Tag kam er wieder an die Oberfläche und erinnerte Chris daran, wie super er sich mit Anthony verstanden hatte. Damals hatten sie wie Pech und Schwefel zusammengehalten, ungeachtet dessen, dass er von seinen Eltern vernachlässigt worden war. Aber je älter sie geworden waren, desto mehr hatten sie sich auseinander gelebt. Sie hatten verschiedene Richtungen eingeschlagen und dann, im Alter von 17, hatte er schließlich den Grund erfahren, weshalb er nicht genauso wie Tony behandelt worden war. Und am selben Tag hatte sein Bruder etwas getan, was ihm vor Augen geführt hatte, dass er eigentlich nicht besser war als alle anderen. Die Wut, die er damals verspürt hatte, kam erneut in ihm hoch und er ballte unwillkürlich seine Hände zu Fäusten.
„Hey, ist mit dir alles in Ordnung?" riss ihn Ziva aus seinen Gedanken und erst jetzt realisierte Chris, dass er sich noch immer am Schauplatz eines Verbrechens befand. „Sicher", sagte er unbeschwert. „Ich war nur kurz in Gedanken. Das Bild hier hat mich an meine Kindheit erinnert. Damals bin ich selbst einmal auf der Bühne gestanden." Von sich selbst überrascht, hielt er inne. Er hatte gar nicht darüber reden wollen, aber irgendwie waren ihm die Worte einfach über die Lippen gekommen.
Ziva hob amüsiert ihre Augenbrauen. „Du hast als Kind Theater gespielt?" „Ja, aber nur einmal. Irgendwie war das dann doch nichts für mich." „Das kann ich mir durchaus vorstellen." Sie hielt inne und grinste breit. „So viel lesen zu müssen und dann auch noch auswendig lernen, war sicher nicht dein Fall, oder?" Chris zuckte nur mit den Schultern und schwieg. Irgendwie fand er es amüsant, dass Tony anscheinend nicht mehr gerne las, obwohl er in seiner Kindheit öfters Bücher richtig verschlungen hatte. Vielleicht hätte er ihm in seinem Gefängnis nicht so viel zu lesen da lassen sollen. In seinem Haus standen reihenweise DVDs herum. Nun, eventuell sollte er ihm vielleicht ein paar seiner Filme mitnehmen und Magnum, denn mit dieser Serie konnte er einfach nichts anfangen – irgendwie fand er sie total langweilig.
Aber bevor er seinem Bruder am Abend einen Besuch abstatten würde, musste er vorher noch einen Tatort untersuchen und wenn möglich, zum ersten Mal in seinem Leben, einen Mörder schnappen.

Fortsetzung folgt...
Chapter 7 by Michi
Etwas außerhalb von Washington
Kurz vor Mittag


Die Zeit war noch nie so zäh verronnen wie jetzt – nicht einmal, wenn mich Gibbs zur Aktenarbeit verdonnert hatte. Wenigstens hatte ich da Ziva und McGee, die ich ärgern konnte, wenn ich kurz davor war, vor Langeweile zu sterben, aber hier, in diesem großen Raum mit den Betonwänden gab es niemanden mit dem ich reden konnte. Und Selbstgespräche führen wollte ich auch nicht, da ich mir dabei mehr als dämlich vorkommen würde.
Erneut hatte ich versucht, die Tür aufzubekommen und hatte aber schließlich einsehen müssen, dass es sinnlos war. Sie war fest verschlossen und rührte sich keinen Millimeter. Ich hatte das gesamte Zimmer auf den Kopf gestellt, in der Hoffnung, ein Stück Draht oder etwas Ähnliches zu finden, mit dem ich das Schloss knacken konnte, hatte aber feststellen müssen, dass Chris darauf geachtet hatte, mir keine Hilfsmittel dazulassen, mit denen ich ausbrechen hätte können. Nicht einmal im Bad hatte ich einen Gegenstand gefunden. Allerdings musste ich zugeben, dass ich im ersten Moment fast sprachlos gewesen war, als ich den Raum gesehen hatte. Die Betonwände waren mit einer hellgelben Farbe gestrichen worden, was ihnen ihre Trostlosigkeit nahm - zusätzlich wurde das Bad von einer Lampe an der Decke hell beleuchtet. In der rechten hinteren Ecke befand sich eine Duschkabine, die ziemlich neu aussah und aus bruchsicherem Glas bestand, jedenfalls wurde das auf einem kleinen Aufkleber unten links erwähnt. Gegenüber der Tür war ein Waschbecken an der Wand befestigt worden, das sauber in dem hellen Licht der Lampe glänzte. Oberhalb davon hing ein Spiegel und ich hatte mit der Idee gespielt, ihn zu zerbrechen, es dann aber doch unterlassen, da ich mit den Scherben die Tür sicher nicht aufbekommen hätte. Und wer weiß, vielleicht hätte ich mir dadurch auch noch sieben Jahre Pech eingehandelt – obwohl, wenn ich es mir recht überlegte, hatte mich im Moment das Glück sowieso verlassen.
Gegenüber der Dusche stand ein Schrank aus hellem Holz, in dem feinsäuberlich Handtücher, Duschgel, Shampoo, Seife, Rasierapparat und verschiedene Kleidungsstücke verstaut waren – alles Sachen von mir zu Hause, wie ich nach einem kurzen Blick festgestellt hatte. Neben dem Waschbecken befand sich noch die Toilette, die ebenfalls neu aussah. Chris hatte sich anscheinend Mühe gegeben, mir meinen unfreiwilligen Aufenthalt an diesem Ort möglichst komfortabel zu machen. Er hätte mich auch in ein finsteres feuchtes Kellerloch stecken können, aber stattdessen hatte er eine kleine Wohnung eingerichtet, auch wenn die Fenster fehlten - und wäre die Tür nicht abgesperrt gewesen, hätte ich mich durchaus wohl fühlen können.
Seit fast zwei Stunden saß ich nun auf dem erstaunlicherweise bequemen Sofa und starrte etwas geistesabwesend auf den Fernseher. In meiner rechten Hand hielt ich einen Keks, an dem ich etwas lustlos herumkaute. Wie Chris gesagt hatte, hatte er mir in der Kommode ein paar Snacks dagelassen – allerdings nichts, was wirklich nahrhaft war. Es waren ein paar Energieriegel, zwei Packungen Kekse – mit Schokostückchen, wie ich sie in meiner Kindheit gerne gegessen hatte – Knabbergebäck und ein paar Äpfel, damit die Kost nicht ganz ohne Vitamine war, darunter. Allerdings hatte ich jetzt viel mehr Lust auf einen großen Hamburger mit Pommes oder eine Pizza mit extra viel Käse. Alleine bei dem Gedanken daran knurrte mein Magen laut, obwohl ich gerade eine halbe Packung Kekse verdrückt hatte. Mit meiner freien Hand rieb ich mir über den Bauch, in der Hoffnung, den Störenfried zum Schweigen zu bringen und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher. Die langweilige Talkshow, die kurz vorher über den Bildschirm geflimmert war und in der sich die verschiedensten Frauen öfter als einmal unflätige Worte an den Kopf geworfen hatten, verschwand und machte einem jungen Mann Platz, der verkündete, dass es 12 Uhr und somit Zeit für die Mittagsnachrichten war. Mittag – die Stunde, in der ich normalerweise anfing die anderen mit meinem Hunger zu nerven und McGee losschickte, um mir etwas zu Essen zu besorgen. Falls ich hier rauskommen sollte – lebend versteht sich – dann würde ich Bambino einmal einen Burger oder etwas vom Chinesen bringen, genauso wie meinen anderen Kollegen. Erst jetzt, wo ich hier in diesem Raum eingesperrt war, wurde mir bewusst, was ich an ihnen gehabt hatte und was ich dabei war, zu verlieren. Gibbs, der oftmals schlechtgelaunte Chefermittler, der keine Gelegenheit ausließ, um mir eine Kopfnuss zu verpassen und meinen Tisch mit Akten anzufüllen, wenn wir gerade keinen Fall zu bearbeiten hatten. Ziva, die noch nicht lange beim NCIS war, sich aber hervorragend in das Team integriert und sogar ihre anfänglichen Streitereien mit Abby überwunden hatte. Unsere kleinen Auseinandersetzungen brachten jedes Mal eine wunderbare Abwechslung in den Alltag, auch wenn wir damit Jethro mehr als einmal auf die Palme brachten. McGee, den ich noch immer Bambino nannte, obwohl er jetzt nicht mehr der Frischling war. Seit er zu uns ins Team gekommen war, hatte er immer mehr sein Selbstbewusstsein gesteigert und wurde nicht gleich verlegen, wenn ihn Gibbs wütend anfunkelte oder ich ihm einen Streich spielte. Er hatte definitiv seine Schüchternheit abgelegt und setzte sich nun auch mir entgegen, wenn ich ihn mit irgendetwas aufzog. Mittlerweile war er ein unverkennbar guter Ermittler und ich musste zugeben, dass ich ihn sehr gerne hatte. Aber egal wie erwachsen er mit jedem Tag wurde, für mich würde er immer Bambino bleiben.
Ducky und Palmer, das Duo der Pathologie. Beide harmonierten hervorragend miteinander und ich vermisste die langen Geschichten des älteren Mannes. Sie würden mir vor allem hier, in dieser Einsamkeit, eine willkommene Abwechslung sein. Falls mich Chris wirklich gehen lassen sollte oder meine Kollegen sein falsches Spiel durchschauen würden, nahm ich mir vor, mir eine seiner Geschichten zu Ende anzuhören, auch wenn es den ganzen Tag dauern sollte.
Und dann war da noch Abby, die junge, leicht verrückte Goth, die mich jedes Mal mit ihrer Fröhlichkeit ansteckte. Sie war wie ein Wirbelwind, der durch das Labor fegte und auch noch den kleinsten Hinweis fand, der dazu führte, einen Mörder zu schnappen. In den Jahren hatte sich zwischen uns beiden eine tiefe Freundschaft entwickelt und ich merkte, dass ich sie am meisten von allen vermisste. Ich würde jetzt sogar liebend gerne einen ihrer manchmal mehr als unverständlichen Vorträge über Computer hören, während sie in ihren geheiligten Hallen auf und ab lief, wobei ihre Rattenschwänze lustige Tänze aufführten. Bei diesem Gedanken bildete sich auf meinen Lippen ein breites Lächeln, das mir aber gleich darauf auf dem Gesicht gefror. Ich verschluckte mich an dem Keks, den ich mir doch noch komplett in den Mund geschoben hatte und versuchte, nicht zu ersticken. Während ich an einem Hustenanfall litt, schnappte ich mir die Fernbedienung und drehte den Ton lauter, um ja kein Wort zu verpassen. Auf dem Bildschirm war eine junge Frau mit langen lockigen blonden Haaren zu sehen, deren blaue Augen mit der Kamera zu flirten schienen. Unter dem grauen Kostüm zeichnete sich unübersehbar eine wunderbare Figur ab, aber es war nicht die Reporterin, auf die ich mich konzentrierte, sondern auf das Geschehen hinter ihr. Ihre sanfte Stimme drang an meine Ohren und fütterte mein Gehirn mit Informationen. Sie sprach von einem Mord, der anscheinend heute Morgen am Navystützpunkt in Quantico geschehen war. Hinter ihr konnte man einige Soldaten sehen, die dabei waren, die neugierige Reportermeute von dem Schranken, der das Gelände absperrte, wegzubringen. Allerdings blieb dieser Schranken nicht lange unten, als sich der mir nur allzu bekannte Truck des NCIS näherte, der dabei war, den Stützpunkt zu verlassen. Die Kamera, die vorher auf die Reporterin gerichtet gewesen war, vollführte einen Schwenk und machte eine Großaufnahme des Fahrzeuges. Für eine Sekunde konnte man einen Blick in das Innere werfen und ich sah deutlich mein eigenes Antlitz, nur dass es Chris war, der auf dem Beifahrersitz saß. Neben ihm war Ziva und Gibbs befand sich hinter dem Steuer. Wut stieg in mir auf und ich drückte meine rechte Hand so fest zusammen, dass das Plastikgehäuse der Fernbedienung, die ich immer noch hielt, leise knackte.
„Verdammt, wieso merkt ihr denn nichts?" fragte ich laut und am liebsten wäre ich in den Bildschirm hineingekrochen, um sie alle bei den Schultern zu rütteln, damit sie endlich aufwachten. Die Verzweiflung, die ich in den letzten Stunden erfolgreich verdrängt hatte, drohte erneut mich zu überschwemmen. Ich verfolgte, wie die Kamera an dem Truck dranblieb, der jetzt mit schnellem Tempo das Gelände verließ und ich konnte förmlich das Quietschen der Reifen hören. Die junge Frau kam wieder ins Bild und wiederholte ihre Worte von vorhin noch einmal, dass es sich anscheinend um einen äußerst brutalen Mord an einem Commander handelt, wie sie aus einer zuverlässigen Quelle, die anonym bleiben möchte, erfahren hatte.
Ich ließ mich kraftlos in das Sofa zurücksinken und widerstand dem Drang, die Fernbedienung gegen eine der Betonmauern zu werfen. Plötzlich hatte ich das fast unstillbare Bedürfnis, auf etwas einzuschlagen, so lange, bis der Gegenstand kaputt war oder meine Knöchel blutig waren. Chris hatte es anscheinend wirklich geschafft, die anderen davon zu überzeugen, dass sie weiterhin mit Anthony DiNozzo zusammenarbeiteten. Ich wusste, er war ein hervorragender Schauspieler, aber ich hätte es nie für möglich gehalten, dass er alle derart überzeugen konnte.
‚Hast du denn wirklich etwas anderes erwartet?' sagte eine Stimme in meinem Kopf. ‚Er ist immerhin dein Bruder. Ihr stammt von derselben Eizelle ab und seid ihm selben Bauch gewachsen.' Ja, wir waren zusammen aufgewachsen, hatten jede Menge Spaß gehabt, auch wenn Chris es nicht so leicht gehabt hatte wie ich und wir waren beinahe unzertrennlich gewesen. Jedenfalls bis zu dem einen Freitag, der alles verändert hatte. Noch immer sah ich seinen verständnislosen Blick vor mir, die weit aufgerissenen Augen und dann sein vor Wut verzerrtes Gesicht.
Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen aus meinem Gehirn zu verbannen und konzentrierte mich wieder auf den Fernseher, was mir aber nicht so recht gelang. Die Blondine hatte dem Moderator im Studio wieder Platz gemacht, der nun die aktuellen Börsenberichte verlas.
Auch wenn es mir Chris in meinem Gefängnis gemütlich machte, so war er doch noch immer unübersehbar wütend auf mich. Dabei hätte ich damals sofort alles aufklären können, hätte er mir nur eine Minute zugehört. Aber er hatte abgeblockt und hatte mich sogar geschlagen, wodurch ich gelernt hatte, dass seine Faust ziemlich hart war. Aber der Schmerz war nichts im Vergleich zu der Erkenntnis gewesen, dass ich meinen Bruder verloren hatte.
In meinem Hals bildete sich ein Kloß und plötzlich fühlten sich meine Augen verräterisch feucht an. Ich fuhr mir mit einer Hand über das Gesicht, atmete tief durch und nach einer unendlich langen Minute erlangte ich meine Selbstbeherrschung wieder. Die Nachrichten waren einer weiteren langweiligen Talkshow gewichen, die sich mit dem Thema Familienstreitigkeiten befasste. „Wie passend", murmelte ich sarkastisch und begann weiterzuzappen. Obwohl ich zahlreiche Kanäle zur Auswahl hatte, fand ich keinen Spielfilm, der mich wirklich interessierte und so beschloss ich Chris zu fragen, ob er mir nicht wenigstens meine DVDs bringen könnte. Denn das er mich besuchen würde, dass stand alle mal fest. Ich konnte mir richtig vorstellen, dass er mir seinen Triumph, dass sein Plan erfolgreich verlief, nicht vorenthalten würde. Und vielleicht konnte ich seine gute Laune ausnützen, um ein paar Vorteile herauszuschlagen – oder abzuhauen, fügte ich in Gedanken hinzu und nahm mir einen weiteren Keks. Und an diesem Nachmittag wünschte ich mir zum ersten Mal einen riesigen Stapel Akten, den ich bearbeiten konnte. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemals die langweilige Schreibtischarbeit vermissen würde – aber selbst ein Anthony DiNozzo konnte sich einmal irren.

Fortsetzung folgt...
Chapter 8 by Michi
Washington D.C.
Navystützpunkt Quantico
Zwei Stunden vorher


Mit großen Schritten ging Gibbs den mit einem dicken blauen Teppich ausgelegten Flur entlang. Die Wände waren in einem nüchternen Weiß gestrichen, jedoch waren in regelmäßigen Abständen Bilder aufgehängt worden, die verschiedenste Motive zeigten und somit für ein wenig Farbe sorgten. Zwischen Fotografien von Sehenswürdigkeiten gab es Kinderzeichnungen und Schnappschüsse der Familie – eine Familie, die es in dieser Form nie wieder geben wird, dafür hatte jemand gesorgt. Commander Brandon Emmerson lag erschlagen im Wohnzimmer und wartete nun darauf, von Ducky in die Pathologie gebracht und aufgeschnitten zu werden, um vielleicht einen Hinweis auf seinen Mörder zu finden.
Jethro eilte an den Bildern vorbei und steuerte auf eine Tür am Ende des Flures zu, die offen stand und ein wenig Licht in den sonst düsteren Flur ließ. Anstatt in einem nüchternen Weiß gehalten, war auf die Wände des Schlafzimmers eine geblümte Tapete geklebt worden, die den Raum leicht altmodisch wirken ließ. Gegenüber der Tür befand sich ein großes Doppelbett, auf dem eine mit großen roten Rosen verzierte Tagesdecke ausgebreitet war. Rechts an der Mauer stand ein breiter Schrank, in dem sich gut und gerne zwei Erwachsene verstecken hätten können. Links neben der Tür befand sich ein Frisiertisch mit einem Spiegel und zahlreichen Schubladen. Der dazugehörige Stuhl hatte eine dicke Polsterung, sodass man den Eindruck hatte, man würde darin versinken, wenn man sich hineinsetzen würde. Auch dieser Überzug war geblümt. Die linke Wand wurde von einer breiten Fensterfront eingenommen und die weißen Vorhänge, die normalerweise vor allzu neugierigen Blicken schützen sollten, waren zur Seite gezogen worden und ließen das helle Sonnenlicht in den Raum, dessen sämtliche Möbelstücke aus einem dunklen Holz waren und eine etwas bedrückende Atmosphäre verströmten.
Vor den Fenstern stand eine mittelgroße schlanke Frau, die mit einem beigen Rock und einer kurzärmeligen farblich dazupassenden Bluse bekleidet war. Ihre schwarzen Haare fielen ihr locker bis auf die Schultern, wobei sich die Spitzen leicht lockten. Ihre Füße waren nackt und versanken beinahe in dem flauschigen hellen Teppich, der einen starken Kontrast zu der dunklen Einrichtung bildete.
„Mrs. Emmerson?" fragte Gibbs vorsichtig und beobachtete, wie die Angesprochene leicht zusammenzuckte, sich aber schließlich umdrehte und ihren Blick von dem Garten unter ihr losriss. Ihre blauen Augen waren geweitet und von dem vielen Weinen gerötet. Ihr Make-up, das vorher sicher makellos gewesen war, war durch die Tränen verschmiert worden und die Wimperntusche hatte schwarze Flecken auf ihren unnatürlich blassen Wangen hinterlassen. Obwohl sie nicht älter als Mitte vierzig sein konnte, wirkte sie jetzt um mindestens 10 Jahre älter. In ihre Stirn waren tiefe Falten eingegraben, genauso wie um die Augen und Mund. Ihr gesamter Körper war angespannt und sie schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen – was auch kein Wunder war. Immerhin hatte sie ihren Mann vor nicht allzu langer Zeit tot aufgefunden.
„Ich bin Special Agent Gibbs, NCIS", sagte der Chefermittler und zeigte ihr kurz seine Marke, die sie nicht einmal wahrzunehmen schien. „Sind Sie eventuell dazu bereit, mir einige Fragen zu beantworten?" Mrs. Emmerson ballte ihre rechte Hand um das Taschentuch, das sie zwischen den Fingern hielt, starrte ihn für fünf Sekunden geistesabwesend an, nickte aber schließlich. Ihre Bewegungen wirkten abgehakt, als sie zu dem Bett ging zu und sich darauf niederließ. „Bitte nennen Sie mich einfach Valerie", sagte sie mit leiser, aber erstaunlich fester Stimme, die ihn aber nicht über ihren desolaten psychischen Zustand hinwegtäuschen konnte. Jethro ging zu ihr, setzte sich neben sie auf die Matratze und nahm seine Mütze ab. „Ich weiß wie schwer das für Sie ist, Valerie, aber ich muss Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen." Sie putzte sich geräuschvoll ihre Nase, nickte erneut und versuchte gleichzeitig, die grauenhaften Bilder aus ihrem Gehirn zu vertreiben - ihr geliebter Ehemann, der brutal erschlagen unten lag und nie wieder zu ihr zurückkehren würde. Aber noch fühlte sie sich wie betäubt und konnte die Ausmaße des Geschehens nicht erfassen – wollte es nicht einmal.
„Wann genau haben Sie Ihren Mann heute gefunden?" fragte Gibbs behutsam und nahm aus seiner Tasche einen kleinen Notizblock und einen Bleistift.
Mrs. Emmerson überlegte kurz, ging noch einmal in Gedanken durch, was sie heute Morgen alles gemacht hatte. „Ich war mit einer Freundin zum Frühstück verabredet", begann sie und krallte ihre Finger in die Tagesdecke. Während sie sprach, starrte sie mit geweiteten Augen aus dem Fenster in den blauen Himmel. „Tracy und ich treffen uns jeden Dienstagmorgen in einem kleinen Kaffee in Washington, um dort gemeinsam zu frühstücken. Nachher machen wir normalerweise einen Einkaufsbummel, aber sie hatte einen wichtigen Arzttermin und so bin ich wieder nach Hause gefahren. Ich weiß noch, dass es kurz vor dreiviertel neun war, da ich einen kurzen Blick auf die Uhr in meinem Auto geworfen und freudig festgestellt hatte, dass der Dienst von Brandon noch nicht angefangen hat. Ich bin dann sofort hineingegangen und da habe ich… da habe ich…" Valerie brach ab und neue Tränen traten in ihre Augen. „Schon in Ordnung", sagte Gibbs und ließ ihr Zeit, sich wieder zu fassen. Sie atmete tief durch und versuchte die aufsteigende Panik zurückzudrängen. „Alles war zerstört", schluchzte sie. „Die gesamte Wohnzimmereinrichtung und mitten in dem Chaos lag Brandon auf dem Sofa. Überall war Blut, da war so viel Blut!" Mrs. Emmersons Stimme wurde immer schriller und sie begann sich wie ein kleines Kind vor und zurück zu wiegen. Tränen strömten über ihre Wangen, aber sie schien sie gar nicht zu bemerken. Sie war in ihrer eigenen Welt, sah nur die schrecklichen Bilder der vergangenen Stunden vor sich. „Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur dagestanden habe, aber dann bin ich hier nach oben gerannt und habe Hilfe gerufen." Sie deutete auf das Schnurlostelefon, das auf dem Nachttisch lag. „Sie haben nicht versucht, Ihrem Mann zu helfen?" wollte Jethro wissen, was sie zu einem heftigen Kopfschütteln animierte. „Ich habe sofort gewusst, dass er… dass er…" Sie brachte das Wort nicht über ihre Lippen, deshalb zuckte sie mit den Schultern und schwieg.
Der Chefermittler machte sich eine kurze Notiz und blickte anschließend wieder zu der Frau, deren Tränenstrom versiegt war und die jetzt auf ihre zitternden Hände starrte. Ihre Finger zerrissen das Taschentuch in kleine Fetzen, die auf den Boden segelten und dort liegen blieben. „Haben Sie eine Ahnung, wer Ihrem Mann so etwas antun konnte?" Gibbs wusste, es würde nicht mehr lange dauern und er würde Mrs. Emmerson verlieren. Sie hielt sich bis jetzt tapfer, aber mit jeder Minute die verstrich, zeigte sie immer mehr Anzeichen eines nahenden Nervenzusammenbruchs. Vielleicht wäre es besser, einen Krankenwagen zu rufen oder Ducky, der sich dann um die Frau kümmern sollte.
Sie atmete tief ein und sah ihm zum ersten Mal, seit das Gespräch begonnen hatte, direkt in die Augen. „Nein, Agent Gibbs. Brandon war überall beliebt, auch bei seinen Kollegen und er hatte viele Freunde. Es gab fast kein Wochenende, wo wir nicht unterwegs gewesen waren und uns mit Leuten getroffen haben. Außer er hatte Dienst, dann war ich immer bei Tracy. Brandon war ein guter Ehemann und Vater, ja das war er." Sie stockte und ihre Augen weiteten sich noch einmal und sahen jetzt wie riesige blaue Murmeln aus. „Mein Gott." Mrs. Emmerson keuchte und griff sich an ihre Brust, so als ob sie einen Herzanfall erleiden würde. „Ty." „Wer ist Ty?" fragte Gibbs, obwohl er sich die Antwort schon denken konnte. Er sah die Bilder vor sich, die auf dem Flur hingen und einen Jungen in den verschiedenen Stadien des Erwachsenwerdens zeigten. „Tyler, unser Sohn. Er geht aufs College. In San Francisco. Wissen Sie, er wollte unbedingt an die Westküste. Mein Gott, er weiß noch gar nicht, was geschehen ist. Ich muss ihn anrufen, ich muss…" Jethro drückte die völlig aufgelöste Frau wieder auf die Matratze zurück, da sie bereits halb aufgestanden war. „Das können wir übernehmen", sagte er leise und machte sich gedanklich eine Notiz, dass er Ziva damit beauftragen würde. Ihm war nur allzu bewusst, dass sie sich dagegen sträuben würde, aber wenn sie wollte, konnte sie durchaus das nötige Mitgefühl an die Oberfläche holen. Und sie musste eben lernen mit Hinterbliebenen von Mordopfern zu sprechen, auch wenn es ihr nicht gefiel.
Gibbs wusste, dass er zum jetzigen Zeitpunkt nichts mehr aus Valerie herausbringen würde. Ihr schmaler Körper wurde von heftigen Schluchzern erschüttet und sie murmelte immer wieder den Namen ihres Sohnes. Deshalb steckte er den kleinen Notizblock ihn seine Tasche zurück und stand auf, in dem Bestreben, Ducky zu holen, der sich ein wenig um sie kümmern sollte. Obwohl er Pathologe war, wusste er nur allzu gut, wie er mit lebenden Patienten umgehen musste. Immerhin hatte er ihn auch schon einmal wieder zusammengeflickt, nachdem ihm Ex-Frau Nummer zwei mit einem Baseballschläger eines übergezogen hatte.
Der Chefermittler wandte sich zur Tür, in der Chris stand. Dieser hatte die letzten Minuten unbemerkt hier verbracht und hatte dem Gespräch gelauscht. Er war mehr als überrascht gewesen, dass Gibbs eine derart sanfte Seite hatte, hatte er ihn doch als schlechtgelaunten Mann kennen gelernt, der keine sich ihm bietende Möglichkeit ausließ, seine Mitarbeiter böse anzufunkeln. Es war, als ob er komplett verwandelt wäre und deshalb hatte er ihn auch nicht gestört sondern still zugehört. Mrs. Emmerson saß auf dem Bett und wiegte sich hin und her, und flüsterte beständig etwas, das er von seiner Position aus nicht hören konnte. Sie war sichtlich mit den Nerven am Ende, was er ihr nicht einmal verdenken konnte. Ihr Mann war tot, war auf grausamste Art und Weise aus dem Leben gerissen worden. Irgendwie erinnerte sie ihn an seine eigene Mutter. Diese hatte ebenfalls schwarze Haare gehabt, die ihr locker auf die Schultern gefallen waren. Nur selten hatte sie sie hochgesteckt oder zu einem Pferdeschwanz gebunden. Als ihr Vater – sein Großvater, den er über alles geliebt hatte – gestorben war, hatte sie genauso geweint. Chris hatte es damals auch schwer getroffen, den liebenswerten Mann zu verlieren, der ihm mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte, als seine eigene Mutter. Unwillkürlich ballte er seine Hände zu Fäusten und dabei drang leises Rascheln an seine Ohren, was ihn daran erinnerte, weshalb er überhaupt in das Obergeschoss gekommen war. Gibbs kam auf ihn zu, verließ das Schlafzimmer und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt, wodurch es in dem Flur wieder düsterer wurde. „Was gibt es?" fragte er und setzte sich sein Basecap auf. Chris hob den großen Beweismittelbeutel, in dem sich ein Baseballschläger befand. „Das ist die Mordwaffe", antwortete er leise, damit Mrs. Emmerson nicht mitbekam, was er sagte. „Ich habe sie im Wohnzimmer in dem Chaos gefunden. Der Commander wurde eindeutig damit erschlagen." Er deutete auf das Blut - das in dem düsteren Licht noch dunkler wirkte - an dem Holz. „So wie es momentan aussieht, hat der Täter damit auch die Einrichtung zertrümmert." Jethro betrachtete das Beweisstück und auch wenn das Blut darauf noch nicht von Abby untersucht und bestätigt worden war, dass es sich um das von Brandon Emmerson handelte, so sagte ihm sein Instinkt, dass es seines war. „Und da wäre noch etwas", fügte Chris hinzu und eilte dem Chefermittler nach, der sich auf den Weg nach unten machte, um Ducky zu holen. Mitten auf der Treppe blieb er stehen und sah zu DiNozzo hoch, der eine Stufe über ihm Halt machte, um nicht in den anderen hineinzulaufen. „Muss ich dich erst dazu auffordern, mir zu sagen, was ihr noch herausgefunden habt?" fragte er ungeduldig – der sanfte Gibbs von vorhin war wieder verschwunden. „Ähm, nein. Also, McGee hat sich ein wenig in der Küche umgesehen und da gibt es eine Hintertür, die in den Garten hinausführt. Jedenfalls hat er eindeutige Einbruchsspuren gefunden." Leroy hob überrascht seine Augenbrauen. Er war bis jetzt von einem vorsätzlichen Mord ausgegangen, aber die neue Information tauchte den Fall in ein komplett neues Licht. „Einbruchsspuren?" „Ja. Es sieht so aus, als ob das Schloss mit einem Stemmeisen geknackt worden war. Allerdings haben wir das Brecheisen bis jetzt nicht gefunden, was wahrscheinlich bedeutet, der Täter hat es wieder mitgenommen." Gibbs nickte und stieg die restlichen Stufen hinunter. „Also war es Einbruch", sagte er mehr zu sich selbst und betrat das Wohnzimmer, in dem Palmer gerade dabei war, den Reißverschluss des Leichensackes zu schließen. „Und Commander Emmerson hat ihn anscheinend überrascht", fügte Chris hinzu, der dem Chefermittler gefolgt war. „Versuch mit McGee herauszufinden, ob etwas gestohlen wurde. Vielleicht ist Mrs. Emmerson im Stande, uns eine Liste der Wertgegenstände zu geben, die sie besitzen." „Geht klar, Boss", sagte er, verstaute den Baseballschläger in seinem Rucksack und eilte in die Küche, wo seine beiden Kollegen dabei waren, die Tür auf Fingerabdrücke und andere Spuren zu untersuchen. Mittlerweile hatte er sich von dem Schock des grauenhaften Anblicks der Leiche erholt und er musste sich eingestehen, dass ihm die Arbeit als Ermittler durchaus Spaß machte. Es war irgendwie befriedigender, als kleinere Gaunereien über die Bühne zu bringen. Obwohl er selbst keine weiße Weste hatte, so hatte er doch noch nie einen anderen Menschen umgebracht, egal wie sehr er ihn verabscheut hatte. Aber dies war noch lange kein Grund, jemandem das Leben zu nehmen. Und wer so skrupellos gewesen war, einem anderen Mann den Schädel einzuschlagen und damit einer Familie den Vater zu rauben, gehörte ohne Zweifel bestraft. Und Chris würde dabei helfen, diesen Mörder zu identifizieren und ihn hinter Schloss und Riegel zu bringen, damit dem Toten Gerechtigkeit widerfuhr. Mit diesem Ziel vor den Augen stieß er die Küchentür auf, um McGee zu holen, um mit ihm gemeinsam das Haus zu durchsuchen.

Es stellte sich heraus, dass es sich wohl wirklich um einen Einbruch handelte. Nachdem sich Ducky um die völlig aufgelöste Mrs. Emmerson gekümmert hatte, war sie in der Lage gewesen, eine kurze Liste der Wertgegenstände, die sich im Haus befunden hatten, aufzustellen. Zusätzlich hatte sie ihnen verraten, wo sie ihre Schmuckstücke aufbewahrte – allerdings waren sie nirgendwo zu finden. Chris und McGee hatten sicherheitshalber jeden Winkel durchsucht, aber auch in den anderen Räumen gab es keine Spur ihrer teilweise teuren Ketten, Ohrringe, Armreifen und Ringe. Die meisten dieser Sachen waren Erbstücke ihrer Großmutter und daher für Valerie unersetzbar. Aber an diesem Vormittag machte sie sich keinerlei Gedanken darüber, sondern trauerte um ihren Mann, der sich bereits auf dem Weg in die Pathologie des NCIS befand.
Tim hatte ihre beste Freundin Tracy angerufen und sie darüber informiert, was geschehen war. 30 Minuten später – als der Leichnam schon abtransportiert worden war – hatte sie das Haus betreten und hatte angesichts der großen Zerstörung und des vielen Blutes beinahe einen Schock bekommen, hatte sich aber schließlich zusammengerissen, in dem Bewusstsein, dass es eine Person gab, die dringend ihre Hilfe benötigte. So hatte sie der Witwe beim Packen einiger Kleidungsstücke geholfen, da sie nicht weiter hier wohnen wollte – außerdem wollte Gibbs den Tatort noch nicht freigeben. Deshalb würde sie bei Tracy einige Zeit unterkommen, nachdem sie sich strikt geweigert hatte, sich im Krankenhaus durchchecken zu lassen und anschließend in ein Hotel zu ziehen.
Ziva hatte – obwohl sie versucht hatte, sich davor zu drücken – Tyler Emmerson angerufen, der um diese Zeit noch im Bett gelegen und erst nach über einer Minute s richtig realisiert hatte, dass sein Vater ermordet worden war. Sie hatte sich sein Schluchzen und die Vorwürfe angehört, sie würde lügen, aber sie hatte es geschafft, ihn zu überzeugten, dass sie die Wahrheit sagte und seine Mutter nun seine Hilfe benötigen konnte. Schließlich hatte er versprochen mit dem nächsten Flugzeug nach Washington zu kommen. Erleichtert darüber, dieses Gespräch hinter sich gebracht zu haben, hatte Ziva nicht einmal dagegen protestiert, gemeinsam mit Gibbs die Nachbarn zu befragen, ob sie etwas Verdächtiges gehört oder gesehen hatten. Wie nicht anders zu erwarten, war dabei nicht viel herausgekommen. Mary-Ann Judge, die Ehefrau eines Lieutenant hatte um kurz nach sieben Uhr morgens laute Geräusche gehört, sich aber nichts dabei gedacht, da allgemein bekannt war, dass Brandon Emmerson in seiner Garage gerne Möbelstücke zusammengebaut hatte und es deshalb öfters laut gewesen war. Besonders morgens, bevor sein Dienst angefangen hatte, hatte er bevorzugt gebastelt. Deshalb war es ihr nicht verdächtig erschienen, dass es lauter gewesen war. Die anderen Nachbarn hatten angegeben, nichts Auffälliges beobachtet zu haben, obwohl die teilweise gelangweilten Frauen der Navyangestellten gerne ihre Hälse reckten, um nichts zu verpassen, was in der Nachbarschaft vor sich ging.
So kam es, dass die Agents den Tatort verließen, ohne wirklich eine Spur zu haben. Mittlerweile war es Mittag – Mrs. Emmerson war bereits vor einer Stunde mit ihrer Freundin losgefahren und sie war nicht die Einzige, die froh war, diesen Ort des Verbrechens verlassen zu dürfen. Auch Chris war erleichtert, endlich von dem Haus fortzukommen, obwohl ihm bewusst war, dass ihm eine weitere Horrorfahrt à la Gibbs bevorstand. Aber sogar das war ihm lieber, als die Zerstörung und der penetrante Geruch des Blutes, der sich im Wohnzimmer ausgebreitet hatte und seine Sinne quälte. Deshalb atmete er erst einmal tief die warme Luft ein, kaum dass er einen Fuß auf die Straße gesetzt hatte. Die Schaulustigen hatten sich mittlerweile zerstreut, jedoch lugten hin und wieder neugierige Augenpaare hinter Vorhängen hervor, in der Hoffnung, noch etwas Interessanten mitzubekommen.
„Bin ich froh, wenn wir endlich im Hauptquartier sind. Ich sterbe vor Hunger", sagte Chris, verstaute seinen Rucksack im Truck und sah zu, wie McGee die restliche Ausrüstung aus dem Haus schleppte, wobei er ihn in diesem Moment eher an einen Packesel erinnerte als an einen Menschen. Ziva stand neben ihm und machte ebenfalls keine Anstalten, ihrem jungen Kollegen zu helfen. „Wie kannst du jetzt nur an Essen denken?" fragte sie und machte Platz, damit Tim die schweren Koffer in den Laderaum wuchten konnte, wobei er pfeifende Geräusche von sich gab.
„Wieso sollte ich nicht ans Essen denken? In meinem Magen herrscht ein großes Loch", entgegnete er und schlug die Türen zu, nachdem McGee sich zu der Ausrüstung gesellt hatte, die er an der linken Wand aufgereiht hatte, die aber wahrscheinlich schon in der ersten Kurve wild herumfliegen würden.
„Nach diesem Blutbad da drinnen?" Ziva deutete mit ihrer Hand zum Haus, das Gibbs gerade verließ und auf den Truck zueilte. „Mir ist da der Appetit vergangen." „Du scheinst einen schwachen Magen zu haben", sagte Chris und zog wissend seine Augenbrauen in die Höhe. „Ich habe überhaupt keinen schwachen Magen", erwiderte sie bissig und funkelte ihn ärgerlich an, was ihm komischerweise einen heftigen Schauer über den Rücken jagte. Unwillkürlich bildete sich in seinem Hals ein dicker Kloß und seine Handflächen wurden feucht – eine Reaktion, die er nicht kannte und die ihm ein wenig peinlich war. Für einen kurzen Moment hatte er nur diese wunderschönen braunen Augen im Kopf und er ballte seine Hände zu Fäusten, damit er nicht in die Versuchung geriet, sie in der üppigen Haarmähne der jungen Frau zu vergraben.
„Hey!" schrie Gibbs und seine laute Stimme hallte durch die milde Frühlingsluft. Er war wieder ausgestiegen, nachdem er realisiert hatte, dass seine Agents keine Anstalten machten, sich in den Truck zu setzen. Seine schlechte Laune – welche vor allem durch zu wenig Koffeinkonsum verursacht wurde – sank um einen weiteren Grad und wären die beiden in seiner Reichweite, hätte er ihnen eine saftige Kopfnuss verpasst. Heute hatte er einfach keinen Nerv für diese albernen Streitereien, zumal sein Körper nach Kaffee verlangte und er sich sein Grundnahrungsmittel so schnell wie möglich beschaffen wollte. Das Letzte was er folglich brauchen konnte, waren zwei kindische Agents, die nichts Besseres zu tun hatten, als zu versuchen, sich gegenseitig mit verbalen Ausdrücken zu übertreffen.
„Wollt ihr hier Wurzeln schlagen, oder was? Bis ihr euch einmal bequemt einzusteigen, hat Ducky sicher schon die Autopsie beendet!" Chris zuckte zusammen und realisierte erst jetzt, dass sie noch immer beim Tatort waren und nicht irgendwo in einem Park, in dem er sich mit Ziva bei einem Picknick gesehen hatte. ‚Reiß dich zusammen', schimpfte er mit sich selbst und wischte sich die noch immer feuchten Handflächen an seiner Hose ab. ‚Du kennst diese Frau doch erst seit Stunden und nicht seit Tagen.' Er riss seinen Blick von den braunen Augen los, die ihn noch immer anfunkelten, ging nach vorne und öffnete die Beifahrertür. Die junge Agentin folgte ihm, rauschte an ihm vorbei und stieg eilig ein, wobei ihm ihr Duft in seine Nase trat und ihn tief Luft holen ließ.
„Heute noch, DiNozzo!" rief Gibbs laut, der sich erneut hinter das Steuer gesetzt und bereits den Motor angelassen hatte. „Ist der schlecht gelaunt", murmelte er leise vor sich hin und stieg ein. „Das habe ich gehört", kam es prompt vom Chefermittler und ließ ihn erneut zusammenzucken. „Auch wenn meine Augen nicht mehr die besten sind, heißt das noch lange nicht, dass ich taub bin."
Chris blickte schuldbewusst zu dem Älteren, auch wenn er sich keiner Schuld bewusst war. So weit er sich erinnerte, hatte er die Worte gerade laut genug gesagt, dass er sie selbst hören konnte und hätte nie damit gerechnet, dass sie noch jemand anderer wahrnehmen würde – und schon gar nicht Gibbs. Egal was er machte oder akustisch von sich gab, der andere schien es immer mitzubekommen – einerlei ob er in der Nähe war oder nicht. Der Chefermittler war eine Klasse für sich, dass wurde ihm jetzt mehr als bewusst und seine Achtung vor diesem Mann stieg. Er war nicht umsonst Leiter eines Ermittlerteams – ein Team, dessen Mitglieder ihm vertrauten und jeden Befehl ohne zu zögern ausführten. Und auch Chris begann ihm zu vertrauen, obwohl er gerade zurechtgewiesen worden war. Mit Mühe riss er seinen Blick von den eisblauen Augen los und schloss die Tür, damit Jethro keinen weiteren Grund hatte, ihm die Schuld zu geben, dass sie nicht von hier wegkamen.
McGee, der seinen Kopf durch das kleine Fenster – das in der Wand, die die Fahrerkabine vom Laderaum abtrennte, eingelassen war – gesteckt hatte, sah von einem zum anderen. Irgendwie hatte er für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt, dass bei Tony soeben eine Veränderung stattgefunden hatte. Etwas in seiner Körperhaltung hatte sich verändert, auch wenn er jetzt den Eindruck erweckte, als ob nichts geschehen wäre. Aber Tim hatte keine Möglichkeit mehr, länger darüber nachzudenken, da Gibbs unvermittelt auf das Gaspedal trat und er durch die plötzliche Beschleunigung den Halt verlor. Mit einem erschrockenen Aufschrei fiel er nach hinten und landete mit dem Rücken auf dem kühlen Metallboden, wo er leicht benommen liegen blieb.

Fortsetzung folgt...
Chapter 9 by Michi
30 Minuten und ein paar haarsträubende Ausweichmanöver, um nicht mit anderen Fahrzeugen zu kollidieren, später kamen sie endlich in der Tiefgarage des NCIS Hauptquartiers an. Chris hatte bereits aufgehört zu zählen, wie oft er gegen die Beifahrertür gedrückt worden war, wenn Gibbs wieder einmal bei einer Kreuzung, ohne abzubremsen, abgebogen war. An Ziva schien die Fahrt spurlos vorüber gegangen zu sein, aber von McGee war seit einiger Zeit kein einziger Laut mehr zu hören gewesen. Entweder hatte er sich das Genick gebrochen oder er war von einem schweren Koffer bewusstlos geschlagen worden. Allerdings war keines von beidem eingetreten, wie Christopher feststellte, als er die hinteren Türen des Trucks öffnete. Tim lag wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und nur die Tatsache, dass sich sein Brustkorb hob und senkte, zeigte ihm, dass er nicht mausetot war.
„Angenehme Fahrt gehabt, Bambino?" fragte er und schnappte sich seinen Rucksack. Irgendwie gefiel ihm dieser Spitzname und er passte ausgesprochen gut zu dem jungen, etwas pummeligen Agent. Es wunderte ihn gar nicht, dass Tony ihn so nannte, immerhin war es ein italienisches Wort und ihm war klar, dass zwischen den beiden eine Freundschaft herrschen musste, die sie sich wohl nicht eingestanden. Obwohl er selbst Tim nur wenige Stunden kannte, mochte er ihn unerklärlicherweise ein wenig, was ein irritierte. Schon seit langem hatte er nicht mehr dieses Gefühl gehabt, denn die Leute, mit denen er in L.A. seine „Geschäfte" abgewickelt hatte, waren bestenfalls Bekannte gewesen, aber keine Freunde. Die letzten Jahre hatte er nie Freundschaften geschlossen, aus Angst, enttäuscht und hintergangen zu werden, so wie ihn sein Bruder hintergangen hatte.
Chris schüttelte den Kopf, um die Bilder der Vergangenheit loszuwerden und beobachtete, wie McGee – der ihm einen betont ärgerlichen Blick wegen seiner vorherigen Frage zuwarf - aus dem Truck kletterte und sich seinen Rucksack umhängte. Ja, er mochte diesen jungen Mann und der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich diese Chance, endlich neue Freundschaften zu knüpfen, entgehen lassen würde. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen folgte er seinen Kollegen zum Fahrstuhl, der sie innerhalb kürzester Zeit in den dritten Stock beförderte, in dem es trotz der Mittagsstunde hektisch zuging – so als ob die Agents der Bundesbehörde nie eine Pause machen würden. Aber auf ihn würde das sicher nicht zutreffen. Als Chris seinen Rucksack auf den Boden vor dem Schreibtisch fallen ließ, gab sein Magen – obwohl er eine wilde Fahrt hinter sich hatte – ein lautes Knurren von sich und forderte somit sein Recht auf Nahrung ein. Bei dem Gedanken an das Essen, das es bei einem Chinesen nur eine Querstraße weiter gab, lief ihm das Wasser im Mund zusammen und anstatt sich auf seinen Stuhl zu setzen – wie es die anderen getan hatten – wollte er wieder in Richtung Fahrstuhl gehen, aber die Stimme von Gibbs ließ ihn inne halten. „Wo willst du hin, DiNozzo?" Chris drehte sich um und sah zu dem Agent, der bei seinem Schreibtisch saß und ihn mit zusammengekniffenen Augen musterte. ‚Kein gutes Zeichen', schoss es ihm durch den Kopf und gegen seinen Willen kam er sich ganz klein vor. Wieso hatte er in der Gegenwart des Chefermittlers ständig das Gefühl, etwas verbrochen zu haben? Wieso kam er sich wie ein unartiger Schüler vor, der beim Schummeln erwischt worden war?
„Ich wollte mir etwas zu Essen holen, da es bereits nach Mittag ist und ich Hunger habe", sagte er mit fester Stimme. Tief in seinem Inneren wusste er bereits, wie die Worte des anderen lauten würden – und er sollte sich nicht täuschen. „Wir haben einen Fall zu lösen", erwiderte Jethro und unterdrückte ein Lächeln, als er das enttäuschte Gesicht seines Agents sah. „Irgendwo dort draußen rennt frei ein Mörder herum und den will ich so schnell wie möglich hinter Gittern sehen. Anstatt dir Essen zu besorgen, kannst du die Beweismittel zu Abby hinunterbringen. Je schneller sie mit der Analyse anfangen kann, desto eher haben wir die Ergebnisse." „Aber…" begann Chris und rieb sich über seinen protestierenden Magen. Ziva grinste ihn hämisch an und biss in einen Apfel, den sie sich in weiser Voraussicht von zu Hause mitgenommen hatte. Hilfesuchend blickte er zu McGee, der es aber vorzog, auf seinen Computerbildschirm zu starren.
„Hast du ein Problem mit meinen Anweisungen, Tony?" wollte Gibbs wissen und beugte sich vor. „Nein", meinte er kleinlaut und sah ein, dass es sinnlos war, eine Diskussion anzufangen, die er von vornherein verlieren würde. Verärgert verzog er seinen Mund, schnappte sich den Rucksack, in dem sich alle Beweisstücke befanden und ging zum Fahrstuhl, auf den er nicht allzu lange warten brauchte und den ein ihm unbekannter Agent verließ, der in seinen Händen eine große Tüte hielt, aus der es verführerisch nach Hamburgern duftete. Chris' Magen gab noch ein lauteres Knurren von sich und mit einem „das ist nicht fair" betrat er die kleine Kabine. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Knöpfe mit den verschiedenen Etagenzahlen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, wo sich die Forensik befand. Aber nachfragen konnte er nicht, da damit sein Spielchen sofort auffliegen würde, immerhin arbeitete Tony seit Jahren in diesem Gebäude. Deshalb hörte er auf sein Bauchgefühl und drückte schließlich einen Knopf, von dem er hoffte, dass er ihn in die richtige Etage bringen würde. Ganz unten befand sich sicher die Autopsie, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Räume oberhalb der Erde lagen. Im Erdgeschoss hatte er keinen Hinweis auf ein Labor gefunden, also nahm er an, dass es sich im ersten Untergeschoss befinden musste.
Dass seine Vermutung richtig gewesen war, erfuhr er ein paar Sekunden später. Die Türen des Aufzuges glitten auseinander und gaben den Blick auf eine Glastür frei, hinter der unübersehbar ein forensisches Labor lag. Bereits hier auf dem Gang konnte Chris den Krach hören, der anscheinend Musik sein sollte, obwohl er kein einziges Wort des Gekreisches verstehen konnte. Er widerstand dem Drang, sich die Finger in die Ohren zu stecken, um den Lärm zu dämpfen. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild der jungen Goth, die hier arbeitete und anscheinend noch verrückter war, als er angenommen hatte. Wer hörte sich schon Lieder an, von dem man nicht einmal den Text verstehen konnte?
In der Hoffnung, dass seine Trommelfelle heil bleiben würden, ging er auf die Glastür zu, die sich automatisch öffnete und ihn in Abbys geheiligte Hallen einließ.

Kaum hatte Chris einen Fuß in das Labor gesetzt, blieb er stehen, so als ob er gegen eine unsichtbare Mauer geprallt wäre. Was aber nicht an den ultramodernen, sicher teuren Analysegeräten, die im Raum herumstanden, lag und auch nicht an der lauten Musik, die in seinen Ohren dröhnte und dabei alle anderen Geräusche überdeckte. Die farbenfrohen Bilder an den Wänden, die ihn an abstrakte Kunstwerke erinnerten, beachtete er genauso wenig wie die zahlreichen Hilfsmittel, mit den man die Beweismittel untersuchen konnte. Die Sonne, die durch die Fenster schien, erhellte den großen Raum und ließ die Oberflächen schimmern. Aber all das interessierte den jungen Mann nicht, der wie gebannt auf den Rücken der Forensikerin starrte, die vor einem Computer stand, mit atemberaubender Geschwindigkeit ihre Finger über die Tastatur fliegen ließ und dabei gleichzeitig mit den Füßen – die in kniehohen Plateaustiefeln steckten – zum Takt des grauenhaften Kraches auf den Boden klopfte. Die beiden Rattenschwänze, zu denen sie ihre Haare gebunden hatte, wippten lustig auf und ab, so als ob sie ein Eigenleben entwickelt hätten. Ihr schlanker Körper wurde von einem weißen Laborkittel umhüllt und verbarg ihre restliche Kleidung. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass sie soeben Besuch hatte, was Chris auch nicht wunderte, denn er hatte das Gefühl, dass er nicht einmal seine eigene Stimme bei dieser Lautstärke hören würde. Er kam sich wie in einer Disko vor. Nur die Kugel und die ganzen Tänzer fehlten. Kopfschüttelnd sah er sich weiter um, ließ seinen Blick über die Geräte schweifen, von denen er nicht einmal ansatzweise wusste, wie sie funktionierten. Und dann bemerkte er es: die Quelle dieses Lärms, von dem er beinahe die Befürchtung hatte, einen Tinitus davonzutragen.
Chris löste sich aus seiner anfänglichen Starre und durchquerte das Labor, ohne dass ihn Abby bemerkte. Sie tippte weiter fleißig in ihre Tastatur und schien ihre Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen. Wenn er wollte, hätte er sie jetzt locker überfallen können. Mit weit ausholenden Schritten ging er zu der Stereoanlage und eine Sekunde später hatte er den Off Knopf gefunden, der innerhalb kürzester Zeit den Song zum Verstummen brachte. Wohltuende Ruhe breitete sich in dem Labor aus, aber dennoch hatte er das Gefühl, das Lied würde in seinem Gehirn weiter abgespult. ‚Na klasse', dachte er und drehte sich um. ‚Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein Ohrwurm von einem Song, den ich nicht einmal ausstehen kann.' Aber trotzdem war er froh, dass es still war und jetzt konnte er auch die verschiedenen Geräusche der Geräte hören.
Abby hingegen war überhaupt nicht erfreut darüber, dass es soeben jemand gewagt hatte, die Quelle ihrer Unterhaltung zu unterbrechen. Genau im Refrain, den sie mittlerweile in und auswendig kannte und dessen Text sie äußerst aussagekräftig fand. Drei Sekunden später und ihre Lieblingsstelle wäre gekommen, aber jetzt drangen nur noch die unterschiedlichen Laute ihrer „Babies" an ihr Gehör, was sie aber noch lange nicht so beruhigte wie ihre geliebte Musik. Gerade war sie dabei gewesen, ein neues Programm für Tatortanalysen zu schreiben und war wirklich weit gekommen, aber jetzt, wo sich diese Stille ausgebreitet hatte, war sie in ihrem Fluss gestört worden. Abbys Finger hatten automatisch aufgehört, die Tastatur zu bearbeiten und ihre Augen huschten durch ihr Reich, um den Schuldigen zu suchen, der es gewagt hatte, ihre Lieblingsband zum Verstummen zu bringen. Als sie allerdings die Person gefunden hatte, hellte sich ihre Miene, die sich verfinstert hatte, sofort wieder auf. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie trat vom Tisch zurück.
„Tony!" Die Stimme der Forensikerin ließ Chris leicht zusammenzucken und ehe er sich versah, fand er sich in einer schraubstockförmigen Umarmung wider. Nur mit Mühe konnte er sein Gleichgewicht halten und taumelte deswegen einen Schritt rückwärts, bevor er seine Balance wiederfand. Ihr Parfum stieg ihm in die Nase und ihre schwarzen Haare kitzelten seine Haut. Dadurch, dass ihn ihre Arme – in denen erstaunlicherweise viel Kraft steckten – fest umschlangen, wurde ihm die Luft aus den Lungen gepresst und er hatte Mühe, überhaupt zu atmen. „Luft", war das einzige Wort, was er herausbrachte und das kam auch noch erbärmlich gekrächzt aus seinem Mund. In seinem gesamten Leben hatte es noch nie jemand geschafft, ihn derart aus der Puste zu bringen, auch nicht, als er in der Highschool Football gespielt hatte und über den ganzen Platz gerannt war, um einen Touchdown zu machen. Und diese junge Frau schaffte es mit einer einzigen Umarmung, ihn fast zu erwürgen. Sie musste Tony folglich sehr gerne haben, wenn sie ihn derart stürmisch begrüßte.
Abby schien endlich zu realisieren, dass sie dabei war, ihn auf dem besten Wege ins Jenseits zu befördern und ließ schließlich von ihm ab. Erleichtert sog Chris Sauerstoff in seine Lungen und die Umgebung, die vorhin ein wenig verschwommen geworden war, manifestierte sich wieder. Er rollte mit seinem Kopf, um die halbgequetschten Nackenmuskeln zu lockern und setzte ein Lächeln auf, von dem er hoffte, dass es auf die Forensikerin den Eindruck erweckte, das er sich freute, sie zu sehen. Jetzt, wo sie zwei Schritte von ihm entfernt stand, konnte er auch den Rest von ihr bewundern. Unter ihrem Laborkittel trug sie einen rot-schwarz karierten Minirock und ein dazu passendes schwarzes T-Shirt, auf dem rote Flecken abgebildet waren, die erschreckend nach Blutspritzer aussahen. Um ihren Hals war ein Stachelband, das ziemlich gefährlich wirkte, gelegt und ihre Handgelenke wurden von Nietenarmbändern geziert. Abbys grüne Augen sahen ihn erfreut an und auf ihrem mit dunkelrotem Lippenstift geschminkten Mund lag ein breites Lächeln.
Den Eindruck, dass sie noch verrückter war, als er angenommen hatte, schien sich nach dieser beinahe mörderischen Umarmung zu bestätigen. Kaum zu glauben, dass so eine Frau Forensikerin war und für eine Bundesbehörde arbeitete. Aber wenn er es sich recht überlegte, war niemand aus dem Team so richtig normal. Dennoch fühlte er sich auf seltsame Art wohl.
Abby musterte ihn von oben bis unten mit so einem intensiven Blick, dass Chris sich unwillkürlich fragte, ob sie bemerkt hatte, dass nicht Tony vor ihr stand. Fühlte er sich möglicherweise anders an oder roch er anders? Dabei hatte er heute Morgen das Aftershave seines Bruders verwendet – genauso wie das Shampoo und Duschgel.
Die junge Frau verzog leicht enttäuscht ihre Lippen und sah ihm direkt in die Augen, mit denen sie ,dank ihrer schwindelerregenden Stiefel, fast auf gleicher Höhe mit den seinen war. „Kein CafPow?" fragte sie mit ihrer leicht rauchigen Stimme und trat einen weiteren Schritt zurück. ‚CafPow? Was ist denn das?' fragte er sich im Stillen und versuchte einen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der ihr vermitteln sollte, dass er genau wusste, wovon sie sprach. War es vielleicht ein Schokoriegel oder sonst etwas zu Essen? Für Chris hörte es sich nach etwas Exotischem an und wenn er sich recht erinnerte, dann hatte er bis jetzt in keinem Geschäft ein Produkt mit diesem komischen Namen gefunden.
„Tut mir leid", erwiderte er, in Ermangelung einer besseren Antwort. „Aber ihr wisst doch, dass ich ohne mein geliebtes Koffeingetränk nicht so gut arbeiten kann." Bei diesen Worten zog Abby einen Schmollmund, der auch den härtesten Kerl erweicht hätte. In dieser Sekunde sah sie wie ein unschuldiges Schulmädchen aus, das eine schlechte Note bekommen hatte. Er musste sich ein Grinsen verkneifen, auch wenn es ihm mehr als schwer fiel. Die junge Frau vor ihm war definitiv verrückt, aber dennoch liebenswert. Und jetzt wusste er auch, was ein CafPow war. Anscheinend war sie danach genauso süchtig wie Gibbs nach Kaffee.
„Ich bin mir sicher, du wirst es auch ohne hinbekommen", sagte Chris, nahm den Rucksack von den Schultern und stellte ihn auf einen freien Tisch. Abby verfolgte jede seiner Bewegungen und kniff dabei die Augen zusammen. ‚Komisch', dachte sie und legte ihren Kopf schief. ‚Täusche ich mich, oder ist Tony heute irgendwie anders?' Sie konnte nicht sagen, woher sie plötzlich dieses Gefühl hatte. Es hatte sich in ihrem Bauch eingeschlichen und ließ sie nicht mehr los, seit sie ihr Lieblingsgetränk erwähnt hatte und dabei für den Bruchteil einer Sekunde Unverständnis über sein Gesicht gehuscht war. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Äußerlich wirkte er wie immer, außer… Sie tippte sich kurz mit dem Zeigefinger an ihre Lippen und fragte: „Hast du etwas mit deinen Haaren gemacht, Tony?" „Was?" Chris zuckte zusammen und seine Hand, die im Rucksack herumgekramt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. Unwillkürlich krampften sich seine Finger um die Beweismitteltüte, in der das Messer - welches dem Commander in die Brust gerammt worden war - steckte. Sein Herz fing an, schneller zu schlagen und er hatte den Eindruck, dass man es bis hoch in die dritte Etage hören konnte. Er räusperte sich, um seinen trockenen Hals freizubekommen, setzte eine unbeschwerte Miene auf und drehte sich zu Abby um, wobei er das Beweisstück noch immer in seiner Hand hielt. „Wie kommst du darauf?" wollte er wissen und widerstand dem Drang, dass Messer fester zu umfassen. „Nun…", begann die Angesprochene, kam auf ihn zu und zupfte ein wenig an seinen Haarspitzen herum. „Irgendwie kommen sie mir länger vor und heller, so als ob du ziemlich lange in der Sonne gewesen wärst. Und deine Haut ist auch eine Spur brauner. Warst du in einem Sonnenstudio?" „Ähm… tja, weißt du, ich dachte nicht, dass das gleich so offensichtlich ist", erwiderte Chris ein wenig unsicher und setzte ein unschuldiges Lächeln auf. „Wow, und ich habe dich nicht für den Typ gehalten, der jemals in ein Sonnenstudio geht", meinte Abby und zupfte weiter an seinen Haaren herum, sodass er Mühe hatte, ihre Hand nicht beiseite zu schlagen. „Die stehen ja heute mehr als sonst in alle Richtungen ab." „Ich hatte keine Zeit, mich allzu lange in den Spiegel zu schauen. Ausnahmsweise wollte ich einmal nicht zu spät erscheinen. Und was das Sonnenstudio angeht. Das war die Idee eines Freundes." Dass er von der kalifornischen Sonne so braun war, brauchte sie ja nicht zu wissen. Chris konnte von Glück sagen, dass er nicht auf den Mund gefallen war und für jede Situation eine Ausrede parat hatte – na ja, für fast jede Situation. Wie er das mit den längeren Haaren erklären sollte, hatte er keine Ahnung. Und dabei hatte er gedacht, Tonys Frisur perfekt kopiert zu haben.
Zu seiner Erleichterung ließ sich Abby nicht länger über seinen Haarschnitt aus, sondern begann jetzt, an seinem rechten Bizeps herumzudrücken. „Du solltest nicht gleich auf deinen Freund hören. Weißt du denn nicht, dass so etwas schädlich für die Haut ist? Also, deine Muskeln fühlen sich auch härter an. Besuchst du etwa ein Fitnessstudio?" „Auch wenn es heißt, Sport ist Mord, will ich mich fit halten", erwiderte er und hoffte, dass diese Fragerunde bald vorbei war. Kaum zu glauben, aber der Forensikerin schienen Dinge aufzufallen, die den anderen des Teams entgangen waren – was ein wenig beängstigend war. In Zukunft musste er Abby gut im Auge behalten. Nicht, dass sein falsches Spiel sofort auffliegen würde.
„Und ich habe gedacht, dass dein einziger Sport darin besteht, hübschen Frauen hinterher zu jagen", sagte sie, grinste breit und ließ von ihm ab. Obwohl er für jede ihrer Fragen eine Antwort parat gehabt hatte, so blieb doch das komische Gefühl, dass an ihrem Freund etwas anderes war. Sie hätte schwören können, dass seine Haare wirklich um einen Tick länger waren und viel mehr vom Kopf abstanden. Und gestern war er noch nicht so braun gewesen. Obwohl, vielleicht lag es auch an dem Licht im Labor. ‚Du siehst ja schon Gespenster', schalt sich Abby selbst und beschloss – jedenfalls für den Augenblick – ihre Grübeleien zu unterbrechen und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Messer zu.
Chris war erleichtert, als er mitbekam, dass er es wohl überstanden hatte. Das war ja wie eine Feuerprobe gewesen und sein Instinkt sagte ihm, dass er froh sein konnte, sie überstanden zu haben. Bei der Erinnerung an den letzten Satz der jungen Frau hatte sich trotz des Ernstes der Lage ein Grinsen auf seinen Lippen ausgebreitet. Sein Bruder schien ja ein Schürzenjäger zu sein, wenn er hinter jeder Frau her war. Aber ihn wunderte es nicht. Bereits in der Highschool hatte er jedem Mädchen mit langen Beinen hinterher gesehen und war dabei sogar einmal in Professor Narby hineingelaufen, der das Fach Biologie unterrichtet hatte. Dieser hatte ihn gleich darauf zusammengestaucht und ihm angedroht, in der nächsten Stunde zu prüfen. Da Tony allerdings in Biologie nicht gerade ein Genie gewesen war, hatte sich Chris seiner erbarmt und hatte mit ihm die Rollen getauscht. Professor Narby war mehr als erstaunt gewesen, dass Anthony plötzlich so gut gewesen war.
Bei dieser Erinnerung wurde sein Lächeln noch breiter und für einen Moment sah er die Highschool wieder vor sich, die langen Gänge und die Klassenräume, in denen er viel Zeit verbracht hatte. Aber kurz darauf wedelte ihm Abby mit der Hand vor den Augen herum und riss ihn in die Gegenwart zurück. „Erde an Tony", sagte sie. „Tschuldigung", erwiderte er. „Ich war gerade in Gedanken." „Ja, das war nicht zu übersehen. Also, was hast du für mich?" Dabei deutete sie auf das Messer und er reichte es ihr. „Commander Brandon Emmerson wurde heute Morgen von seiner Frau ermordet aufgefunden. Das Messer steckte mitten in seiner Brust und sein Schädel wurde mit einem Baseballschlager eingeschlagen. Jedenfalls glauben wir das." Er holte besagten Gegenstand aus dem Rucksack und reichte ihr ihn. An dem Holz klebte gut sichtbar Blut, das bereits eine hässliche braune Farbe angenommen hatte. „Dann haben wir noch zahlreiche Blutproben und Fingerabdrücke genommen." Abby nickte und war innerhalb einer Sekunde wieder die professionelle Wissenschaftlerin. „Wann will Gibbs die Ergebnisse haben?" fragte sie, zog sich Latexhandschuhe an und nahm das Messer aus dem Beutel. „Das hat er nicht gesagt", erwiderte Chris und hängte sich den jetzt viel leichteren Rucksack wieder über die Schulter. „Aber ich schätze, so bald wie möglich." „Was wohl heißt, bis gestern." Die junge Frau verzog leicht ihre Lippen. „Spätestens in zwei Stunden wird er hier unten antanzen und mich fragen: wie weit bist du, Abbs?" Dabei machte sie die tiefe Stimme des Chefermittlers nach, was Chris dazu brachte, dass ihm fast der Mund aufklappte. „Noch nicht weit, mein silberhaariger Fuchs", redete sie weiter, nur um darauf wieder in die tiefe Tonlage zu fallen. „Was heißt, noch nicht weit?" Abby wollte sich selbst gerade antworten, als ein lautes Knurren sie unterbrach und dazu veranlasste, zu DiNozzo zu blickte, der sich über seinen Magen rieb. „Hunger, Tony?" fragte sie und sah ihn mitfühlend an. „Das ist wohl nicht zu überhören. Gibbs hat mir nicht erlaubt, mir etwas zu Essen zu holen und hat mich stattdessen hier herunter geschickt. Ich glaube, bis ich wieder etwas zwischen die Zähne bekomme, bin ich nur mehr Haut und Knochen." Die junge Goth legte ihm verständnisvoll eine Hand auf den Unterarm. „Wenn du willst, dann kannst du etwas von mir haben", schlug sie vor und deutete zu dem Kühlschrank mit der Glastür, wo er eine rote Lunchbox entdeckte, auf der ein Totenkopf abgebildet war. Aus einem Impuls heraus wollte Chris bereits ihr Angebot annehmen, überlegte es sich aber anders. „Ich will dir nicht dein Essen wegnehmen, Abby. Ich werde es schon überstehen. Außerdem habe ich noch einen kleinen Schokoriegelvorrat in meinem Schreibtisch. Aber trotzdem danke." Dennoch war er ein wenig gerührt, dass sie ihm ihre Nahrung angeboten hatte. Seit Jahren hatte das niemand mehr getan und es fühlte sich richtig gut an, dass sich jemand um ihn Sorgen machte. Obwohl er die junge Frau noch nicht lange kannte, so hatte er sie doch innerhalb von Minuten ins Herz geschlossen. Auch wenn sie auf den ersten Blick einen verrückten Eindruck machte, so war sie doch hinter dieser Fassade ein ganz anderer Mensch.
„Dann mache ich mich einmal an die Arbeit", sagte Abby, unterschrieb, dass sie die Beweismittel übernommen hatte und schenkte ihm noch ein letztes Lächeln. „Und du lass am besten Gibbs nicht allzu lange warten." Er schüttelte den Kopf, rückte den Rucksack zurecht und verabschiedete sich mit einem „bis nachher." Gleich darauf verließ er das Labor und ging zum Fahrstuhl, um in die dritte Etage zu fahren, wo er sich erneut von Tonys Schokoriegelvorrat bedienen würde.
Abby hingegen blieb für kurze Zeit noch am selben Fleck stehen und sah ihrem Freund stirnrunzelnd hinterher. Es war äußerst bizarr, dass er das Angebot ausgeschlagen hatte, sich an ihrem Essen zu bedienen. Dabei ließ er sonst nie eine Gelegenheit aus, sich an der Nahrung von jemand anderem zu vergreifen. „Wirklich seltsam", sagte sie zu sich selbst. „Wirklich seltsam."

Fortsetzung folgt...
Chapter 10 by Michi
Etwas außerhalb von Washington
15:39 Uhr


Über drei Stunden später, nachdem ich Chris im Fernsehen gesehen hatte, saß ich auf dem breiten Bett, den Rücken gegen das Kopfteil gelehnt und las eines der Bücher, die er mir dagelassen hatte. Moby Dick hatte ich schon seit Jahren nicht mehr in Händen gehalten und ich wusste nicht genau, weshalb ich mich ausgerechnet für diese Geschichte entschieden hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass ich vor über 1 ½ Jahren Gibbs empfohlen hatte, diesen Roman zu lesen, nachdem er mich ungewohnt heftig zusammengeschrieen hatte, da ich wieder einmal einer Frau hinterhergelaufen und somit viel zu spät von der Mittagspause in den Dienst zurückgekehrt war. Wie sich später herausgestellt hatte, war sie eine Terroristin gewesen, die unter Aris Kommando gestanden hatte – Ari, den wir zu diesem Zeitpunkt für einen Mossadagenten gehalten hatten, was sich aber als Irrtum herausgestellt hatte. Ari, der Kate auf dem Gewissen hatte, der ihr ohne Skrupel eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte, um damit Gibbs möglichst viel Schaden zuzufügen.
Obwohl seit dem Tod meiner Kollegin bereits über sechs Monate vergangen waren, vermisste ich sie noch immer schrecklich. Ihre braunen Augen, die mich jedes Mal funkelnd angesehen hatten, als sie erkannte, dass ich wieder einmal ihre Schreibtischschubladen oder ihre Handtasche durchwühlt hatte, auf der Suche nach Informationen über ihren neuesten Freund. Ihr Lachen, das ich noch immer hören konnte, wenn ich mich darauf konzentrierte, aber am meisten vermisste ich unsere kleinen Streitereien. Jetzt hatte ich zwar Ziva, mit der ich mir ständig Wortgefechte lieferte, aber es war anders als mit Kate. Wir hatten ein Verhältnis wie Bruder und Schwester gehabt und hatten uns gegenseitig ständig aufgezogen. Allerdings hatte sie nie diese witzigen kleinen Versprecher gehabt, mit denen mich die Ex-Mossad Agentin tagtäglich zum Grinsen brachte und die ich automatisch korrigierte, ohne wirklich darüber nachzudenken. Wie ich diese kleinen Wortverdrehungen vermisste, genauso wie ich es vermisste, McGee Bambino zu nennen, Abbys schreckliche Musik, die sicher auch heute wieder ihre geheiligten Hallen erfüllte und Gibbs' brummige Art und die Kopfnüsse, die er mir immer verpasste, wenn ich vorlaut gewesen war.
Ich blinzelte und erst jetzt bemerkte ich, dass ich schon seit ein paar Minuten immer wieder dasselbe Wort anstarrte. Obwohl ich es verhindern hatte wollen, waren meine Gedanken erneut zu meinen Kollegen abgeschweift. In den letzten Stunden hatte ich es mühelos geschafft, nicht an sie zu denken, aber jetzt hatte mein Gehirn erneut ein Eigenleben entwickelt und sich nicht mehr von der wundervollen Welt des Moby Dick einlullen lassen. Ich wusste, dass es nichts bringen würde, wenn ich versuchte, mich auf das Buch zu konzentrieren. Die Buchstaben schienen vor meinen Augen zu verschwimmen und komplett andere Worte zu bilden, als die, die auf dem dünnen Papier standen. Deshalb knickte ich ohne zu überleben die Ecke der Seite um, die ich gerade gelesen hatte und klappte die Lektüre zu. Ich legte das Buch neben mir auf die Matratze und fuhr mir einer Hand über das Gesicht, in der Hoffnung, so die Bilder meiner Kollegen aus meinem Gehirn zu verbannen, was aber nicht so recht funktionierte. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sie jemals herausfinden würden, dass nicht ich im Hauptquartier an meinem Schreibtisch saß, sondern Chris. Wie ich ihn kannte, hatte er bereits meinen Schokoriegelvorrat entdeckt, den ich mir in weiser Voraussicht angelegt hatte, da es nicht selten vorkam, dass ich nicht zum Essen kam. Sicher, Schokolade war nicht das gesündeste Nahrungsmittel, aber besser als gar nichts und sie verhinderte, dass ich verhungerte, bevor mir Gibbs endlich erlaubte, mir einen Burger oder sonst etwas zu beißen zu kaufen.
Ich seufzte leise, legte meinen Kopf in den Nacken und verfluchte den Umstand, dass ich nie meinen Zwillingsbruder erwähnt hatte. Es war nicht so, dass ich ihn aus meinem Inneren verbannt hatte, aber je mehr Jahre vergangen waren, desto seltener hatte ich an ihn gedacht. Chris hatte mir nie eine Nachricht zukommen lassen, die mir verriet, dass es ihm gut ging. Am Tag seines Verschwindens und auch noch Wochen später hatte ich versucht herauszufinden, wohin er abgehauen war, aber es war unmöglich gewesen, ihn aufzustöbern, so als ob er von der Bildfläche verschwunden war. Mein Vater hatte sich nicht sonderlich Mühe gegeben, nach ihm zu suchen und hatte nur sein Konto gesperrt und gemeint, ohne Geld würde er schon wieder zurückkommen. Aber Chris hatte sich nie wieder blicken lassen. Die Gleichgültigkeit, mit dem das mein Dad aufgenommen hatte, hatte mir vor Augen geführt, was für ein Mensch er wirklich war: kalt, herzlos und ohne Emotionen. Ein Grund mehr, weshalb ich gleich nach der Highschool ausgezogen und aufs College gegangen war, aber nicht um Wirtschaft zu studieren, so wie er es von mir verlangt hatte, sondern Sport. Und ich hatte meine Entscheidung nie bereut.
Meiner Mutter hingegen war Chris' Verschwinden viel näher gegangen und das humorvolle Funkeln in ihren Augen, das ich immer so gemocht hatte, war von einem Tag auf den anderen erloschen. Ich hatte sie einmal gefragt, weshalb ich immer bevorzugt worden war, aber sie hatte mir keine Antwort gegeben und ich hatte erkannt, dass sie es mir auch nie verraten würde. Jetzt im Nachhinein wurde mir bewusst, dass ich härter nachbohren hätte sollen. Vielleicht hätte ich sie somit aus ihrem Schneckenhaus herausholen können und das Funkeln in ihre Augen wäre wieder zurückgekehrt. Kurz bevor ich mit dem College fertig geworden war, war sie gestorben und meine Chance zu erfahren, was mein Bruder getan hatte, dass er nicht die Liebe erhalten hatte, die mir zu Teil geworden war, war dahin gewesen. Denn von meinem Vater hätte ich sicher nichts herausbekommen. Er hätte mich höchstens aus dem Haus geschmissen. Ich hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen, aber vielleicht sollte ich ihn wieder besuchen, falls ich hier herauskommen sollte, und ihm von Chris erzählen. Wie würde er wohl reagieren, wenn er erfuhr, dass sein anderer Sohn wohlbehalten nach Washington zurückgekehrt war? Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich noch einige Zeit in meinem – zugeben netten – Gefängnis verbringen musste.
Ich seufzte erneut und schüttelte meinen Kopf, um die deprimierenden Gedanken zu vertreiben. Ich sollte anfangen, dass Glas als halbvoll und nicht als halbleer zu betrachten. Normalerweise war ich auch nicht so ein Pessimist. Um mich ein wenig zu bewegen, schwang ich die Beine über die Matratze und stand auf. Den Fernseher, den ich auf einen Musiksender eingestellt hatte, berieselte mich mit einem Rocksong, den ich noch nie gehört hatte, der aber nicht schlecht war. Auf dem Bildschirm konnte man endlose Sandstrände, blaues Meer und einen mit kleinen Wölkchen bedeckten Himmel sehen. Dazu sang ein junger Mann von der Endlosigkeit des Horizontes und Freiheit. Freiheit war genau das, was ich in meinem Leben immer so sehr geschätzt hatte, was mir aber momentan verwehrt blieb. Von jeher hatte ich es gehasst, nicht genügend Bewegungsraum zu haben, aber noch hatte ich keine Probleme damit, mich in diesem Zimmer aufzuhalten. Aber ich wusste, es würde der Zeitpunkt kommen, an dem mir die Decke auf den Kopf fallen würde.
Um nicht weiter den verlockenden weißen Sandstrand sehen zu müssen, drehte ich dem Fernseher den Rücken zu und zum ersten Mal konzentrierte ich mich bewusst auf die Bilder, die Chris auf die Betonmauer geklebt hatte. Es waren Schnappschüsse, die im Laufe unserer Kindheit entstanden waren und von denen ich wusste, dass sie sich bis vor kurzem noch in einer Schachtel im Schrank meines Schlafzimmers befunden hatten. Was mir wiederum vor Augen führte, dass mein Bruder schon länger in Washington sein musste und mein Haus durchsucht hatte. Allerdings hatte er es so geschickt angestellt, dass ich nichts bemerkt hatte und das Fehlen der Bilder wäre mich so oder so nie aufgefallen, da ich sie schon seit Jahren nicht mehr betrachtet hatte. Aber jetzt, wo ich massig Freizeit und nichts anderes zu tun hatte, als mir eine Beschäftigung zu suchen, um mich ein wenig abzulenken, war der richtige Moment, um damit anzufangen.
Die Fotos waren an die Wand links neben der verschlossenen Tür geklebt worden, chronologisch geordnet, wie ich kurz darauf feststellte. Das erste Bild zeigte Chris und mich als Babys, beide mit einem blauen Strampler bekleidet. Während mein Bruder die Zehen seines rechten Fußes umklammerte, war ich gerade dabei, an meinem Daumen zu nuckeln. Äußerlich unterschieden wir uns überhaupt nicht und nur durch die kleinen goldenen Kettenanhänger, die ein A und ein C darstellten, konnte ich erkennen, wer wer war. Ein Grinsen huschte über meine Lippen und leicht wehmütig strich ich über das Foto. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen und wir hatte noch nicht einmal ansatzweise geahnt, was auf uns zukommen würde. Lucille hatte zu uns immer gesagt, wir wären die süßesten Babys gewesen, aber kaum hatten wir laufen gelernt, hatten wir ständig versucht, ihr zu entkommen. Dadurch hatte sie sich das Geld für ein Fitnessstudio erspart, hatte sie eines Tages gemeint und uns dabei liebevoll angelächelt.
Das nächste Bild zeigte Chris und mich an unserem vierten Geburtstag, wie wir gemeinsam versuchten, die Kerzen auf der großen Schokoladentorte auszupusten. Unsere Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab und die Augen hatten wir in vollster Konzentration zusammengekniffen. Obwohl dieser Tag schon sehr lange zurücklag, erinnerte ich mich noch sehr genau daran – an die zahlreichen Verwandten, die zu Besuch gekommen waren und uns in die Wangen gekniffen hatten, Großtante Roberta, die uns beiden einen dicken Schmatz verpasst und dabei einen großen Lippenstiftabdruck hinterlassen hatte. Und die vielen Geschenke, die sich in einer Ecke gestapelt hatten.
Ich ließ meinen Blick weiterschweifen, sah Chris in einem Krankenhausbett, kurz nachdem er in das Eis des Sees eingebrochen war, wir beide im Alter von 10 bei einem Wanderausflug der Schule, bei dem sich ein Mitschüler im Wald verlaufen hatte, nachdem er von einem anderen Jungen so lange gehänselt worden war, dass er einfach davongelaufen war. Stunden später hatten ihn Rettungskräfte auf einer großen Lichtung gefunden, wo er zusammengekauert auf den Boden gesessen hatte.
Ein weiteres Foto zeigte Chris und mich an unserem ersten Tag an der Highschool. Nebeneinander standen wir vor dem Eingang des großen Gebäudes und unsere Augen strahlten vor Freude. Noch immer konnte ich das großartige Gefühl, das ich damals gehabt hatte, spüren und wie glücklich wir gewesen waren, dass wir nicht mehr länger zu den Kleinen gehörten. An diesem Tag hatte die Sonne hell geschienen und der Tag war ungewöhnlich heiß gewesen. Lucille hatte uns zur Schule gefahren und hatte darauf bestanden, dieses Bild zu machen. Allerdings war es einer der letzten Momente gewesen, wo Chris und ich friedlich beisammen gestanden waren. Zwar hatten wir uns auch weiterhin super verstanden, aber wir wurden beide erwachsen, hatten verschiedene Freundeskreise und während ich lieber nach der Schule mich mit anderen Mitschülern traf, fuhr er nach Hause, um seine Nase in Bücher zu vergraben - außer er spielte Football. Was mich zum letzten Bild blicken ließ, das an der Wand hing. Es zeigte meinen Bruder im Trikot der Footballmannschaft und er saß auf den Schultern zweier Mitspieler, alle drei verschwitzt, aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Chris hatte an diesem Tag einen Touchdown hingelegt und somit die damals beste Mannschaft von einer New Yorker Highschool besiegt. Ich war bei dem Spiel dabei gewesen und war richtig stolz auf ihn gewesen. Bis nach Mitternacht hatten wir in der Turnhalle gefeiert, wobei die Hälfte der Schüler anwesend gewesen war und massenhaft Professoren, die aufgepasst hatten, dass kein Alkohol floss. Aber dennoch hatten wir jede Menge Spaß gehabt.
Eine Woche später hatte mir Chris jedoch mit einem harten Schlag beinahe den Unterkiefer gebrochen und der hasserfüllte Blick, den er mir zugeworfen hatte, jagte mir noch heute einen eiskalten Schauer über den Rücken. Mit einem Schlag hatte sich die Welt verändert und es war das letzte Mal, dass ich meinen Bruder gesehen hatte - bis gestern, wo er ohne Vorwarnung aufgetaucht war, um mein Leben zu übernehmen.
Ich hatte mich im Laufe der letzten 15 Jahre manchmal gefragt, ob er überhaupt noch lebte. Aber es auf diese Weise zu erfahren, hätte ich gut und gerne verzichten können. Hätte er mir nicht einfach eine Postkarte schicken können?
Hilflos ballte ich meine Hände zu Fäusten und gemeinsam mit der Wut auf Chris überkam mich auch Traurigkeit. Traurigkeit darüber, dass die Chance, dass ich meinen Bruder wieder zurückbekommen würde, mehr als gering war. Wenn ich ihm erklären könnte, was damals wirklich vorgefallen war, würde er mir vielleicht verzeihen, aber ich wusste, würde ich auf dieses Thema zu sprechen kommen, würde er sich taub stellen, so wie er es vor Jahren bereits einmal getan hatte. Aber trotzdem musste ich es versuchen. Möglicherweise schaffte ich es ja, den Panzer, den er unübersehbar um sich aufgebaut hatte, zu durchbrechen. In dem Mann, der heute mein Bruder war, steckte irgendwo tief verborgen der alte Chris und ich würde versuchen, ihn wieder ans Tageslicht zu zerren.
Meine Hände entspannten sich und ich fuhr mit dem Zeigefinger meiner rechten Hand über das Babyfoto. Vielleicht würden wir eines Tages erneut so friedlich zusammen sein – ein Wunsch, von dem ich hoffte, dass er sich erfüllen würde.

Fortsetzung folgt...
Chapter 11 by Michi
Washington D.C.
NCIS Hauptquartier
16 Uhr


Vier Stunden nachdem Chris seine Bewährungsprobe bei Abby hinter sich gebracht hatte, saß er im Großraumbüro und vertilgte den letzten Rest des großen Burgers, der noch vor ein paar Minuten ganz gewesen war. Gibbs hatte McGee losgeschickt, ihm einen Kaffee zu besorgen und da selbst der junge Agent kurz davor gestanden war zu verhungern, hatte er auf dem Weg zurück an einem Imbissstand Halt gemacht und jedem etwas zu Essen besorgt. Natürlich hatte die Gefahr bestanden, dass ihm der Boss deswegen eine Kopfnuss verpassen würde, aber ein Klaps war erträglicher als ein fußballgroßes Loch im Magen. Aber da er dem Chefermittler auch etwas mitgenommen hatte, hatte dieser nichts weiter getan als ein Brummen von sich zu geben. Selbst wenn es schien, als ob sein Grundnahrungsmittel aus Koffein bestand, so musste er ebenfalls hin und wieder etwas essen und wenn es dazu noch gratis war, sagte er natürlich nicht nein. Allerdings hätte es ihm mehr als amüsiert, wenn er Tim mit seinen Blicken durchbohren hätte können, weil er vergessen hatte, ihm etwas zu beißen zu besorgen. Aber nicht einmal seinen Kaffee hatte er auskühlen lassen und somit hatte er keinen Grund, eine übelgelaunte Miene aufzusetzen und hatte sich lediglich auf einen Brummlaut beschränkt. Kurz darauf hatte sich Jethro ein Grinsen fast nicht verkneifen können, als er zu Tony gesehen hatte, der mit einem riesigen Bissen ein Viertel des Burgers verschlungen hatte. Es hatte ihm mehr als verwundert, dass sein Agent einen derart großen Hunger hatte, immerhin hatte er pro Stunde einen Schokoriegel verputzt, wobei die Plastikverpackung seltsamerweise sofort im Mülleimer verschwunden war, anstatt auf der Tischplatte liegen zu bleiben. Eine Tatsache, die er mit einem Stirnrunzeln quittiert hatte. Überhaupt, der Platz von DiNozzo kam ihm viel sauberer als am Morgen vor. Wo waren die Papierbälle abgeblieben? Oder die Bleistifte, die kreuz und quer herumgelegen waren? Hatte er etwas McGee dazu verdonnert, seinen Schreibtisch aufzuräumen, während er und Ziva mit ein paar Kollegen des ermordeten Commanders gesprochen hatten?
Wenn er ehrlich war, kam ihm Tony heute überhaupt ein wenig anders vor. Und seit wann konnte er tippen? Normalerweise hatte er schon Probleme damit, die Buchstaben auf der Tastatur mit zwei Fingern zu finden. Allerdings könnte es sein, dass ihm eine seiner zahlreichen Freundinnen ein wenig Unterricht gegeben hatte, im Austausch gegen…Gibbs hielt in seinen Gedanken inne und schüttelte leicht den Kopf. Nein, er würde jetzt nicht daran denken, was sein Agent in seiner Freizeit alles machte. Es reichte bereits, dass dieser damit regelmäßig – vor allem nach einem Wochenende – prahlte. Es wurde höchste Zeit, dass er sich wieder mit dem Fall beschäftigte und sich nicht den Kopf darüber zerbrach, weshalb sein Agent heute eine Spur anders wirkte als sonst.

Chris leckte sich genüsslich die äußerst schmackhafte Soße von den Fingern, knüllte das Papier, in der der Burger eingewickelt gewesen war, zusammen und warf es gezielt in den Mülleimer, in dem sich bereits ein Teil des Mistes befand, den Tony hinterlassen hatte. Wie konnte man nur in so einem Chaos arbeiten, ohne dabei den Überblick zu verlieren?
„Du musst unbedingt an deinen Ess- und Tischmanieren nageln, Tony", sagte Ziva, da er sich schon wieder daran machte, seine Finger mit seiner Zunge zu reinigen, anstatt mit Wasser. „Du verdirbst ja jedem in deiner Nähe den Appetit, wenn du alles so in dich hineinstopfst." Chris nahm seinen Zeigefinger aus dem Mund, wischte ihn an seiner Hose trocken und schenkte der jungen Frau ein strahlendes Lächeln, das in ihre Augen lediglich ein ärgerliches Funkeln zauberte, statt ein Entzücktes, so wie er gehofft hatte. „Was regst du dich so auf?" fragte er mit sorgloser Stimme und setzte sich gerade hin. „Du musst mir ja nicht zusehen, wenn ich esse. Und außerdem heißt es, an den Ess- und Tischmanieren feilen und nicht nageln." „Könntest du endlich damit aufhören, mich ständig bei diesen Redewendungen zu verbessern?" „Wenn du aufhörst, bei besagten Redewendungen falsche Worte zu verwenden, dann ja." „Und könnt ihr beide endlich aufhören, euch wie Kinder zu benehmen und euch stattdessen wieder an die Arbeit machen?" unterbrach Gibbs die beiden von seinem Platz aus und selbst aus dieser Entfernung konnte man deutlich das gefährliche Funkeln in seinen Augen sehen. Mit einer einzigen Bewegung zerdrückte er den leeren Kaffeebecher und Chris hoffte innerlich, dass er dabei nicht an seinen Hals dachte, den er da soeben zerquetschte. Er senkte seinen Blick auf die Akte, die vor ihm lag und versuchte sich einen Reim darauf zu machen, weshalb es Ziva mühelos schaffte, ihn in einen kleinen Streit zu verwickeln, obwohl ihm gar nicht danach war.
„Also, was habt ihr über Commander Emmerson herausgefunden?" fragte Jethro, stand auf und stellte sich vor den großen Plasmabildschirm und signalisierte seinen Agents dadurch, dass sie es ihm gleich tun sollten. McGee sprang sofort auf, ließ seinen Burger, den er noch nicht ganz aufgegessen und der auf Chris eine verlockende Wirkung hatte, einfach liegen, schnappte sich die Fernbedienung und öffnete ein Bild des Ermordeten. Das Gesicht, das bis zur Unkenntlichkeit mit einem Baseballschläger zerstört worden war, erschien unversehrt auf dem Bildschirm und lächelte ihnen entgegen, wobei zwei Reihen strahlendweißer Zähne enthüllt wurden. Die braunen Augen waren voller Leben und starrten nicht reglos an eine Decke. Das volle dunkelbraune Haar war nicht vor Blut verklebt, sondern ordentlich frisiert und nur an den Schläfen leicht ergraut. Die hohen Wangenknochen waren nicht zerschmettert und die gebräunte Haut nicht verletzt. Der Commander war ein attraktiver Mann gewesen und er machte den Eindruck, als ob er keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte. Und jetzt war er das Opfer eines missglückten Einbruches geworden – jedenfalls sah es danach aus.
„Brandon Emmerson", begann McGee und blickte zu dem Bild. „45 Jahre alt, wäre nächsten Monat 46 geworden. Er ist in Washington geboren, wobei seine Mutter bei der Geburt gestorben ist. Drei Jahre lang hat er bei seinem Vater gewohnt, der aber bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist. Er war Pilot und hatte selbst eine einmotorige Maschine, mit der er einmal pro Woche einen Ausflug gemacht hat", fügte Tim nach einer Sekunde hinzu, als Gibbs fragend eine Augenbraue gehoben hatte. Er sah ein wenig hilfesuchend zu seinen Kollegen und da Chris fand, dass er ihn vorm Verhungern gerettet hatte, nahm er den Faden auf. „Für drei Monate wurde Brandon in einem Waisenhaus untergebracht, bis die Großeltern das Sorgerecht bekamen. Sie nahmen den Jungen mit nach New Jersey und zogen ihn groß. Seine Großmutter starb an Hautkrebs, als er 14 war und somit war sein Großvater der einzig lebende Verwandte, den er hatte. Dieser war bei den Marines gewesen und hat in Vietnam gekämpft. Brandon Emmerson ist ebenfalls den Marines beigetreten, kurz nachdem er die Highschool abgeschlossen hatte und ist somit in die Fußstapfen des Älteren getreten. Ich habe mit einem Freund des Toten telefoniert, der mir erzählt hat, dass er immer wieder voller Stolz von seinem Großvater gesprochen hat, obwohl dieser seit mehr als sechs Jahren tot ist. Die beiden hatten folglich ein inniges Verhältnis zueinander."
Chris hielt inne und ballte seine Hände, die plötzlich zu zittern angefangen hatten, zu Fäusten. Traurigkeit breitete sich in seinem Inneren aus und er starrte abwesend auf den Plasmabildschirm. Aber er sah nicht das Bild des Commanders und er hörte auch nicht mehr das Stimmengewirr und die ständig klingelnden Telefone. Das Großraumbüro rückte in den Hintergrund, genauso wie der gesamte Mordfall. Er dachte nicht an die entstellte Leiche, an die trauernde Ehefrau oder an den Mörder, der noch frei herumlief. Nein, in diesem Moment war er wieder zwölf Jahre alt, sah sich selbst, wie er rastlos durch die Gänge seines Zuhauses wanderte, den Kopf gebeugt, um zu verbergen, dass er geweint hatte – der Tag, an dem draußen ein Schneesturm getobt und an dem er erfahren hatte, dass sein Großvater an einem Herzinfarkt gestorben war…

Laut heulte der Wind und ließ die dicken Schneeflocken lustig zu Boden tanzen, wo sie sich zu einer hohen weißen Schicht vereinigten, die den sonst so grünen Rasen bedeckte. Obwohl es erst früher Nachmittag war, war es bereits düster, was durch die dunklen Wolken und den dichten Schneefall nur noch verstärkt wurde. Die Bäume in dem großen Garten des DiNozzo Anwesens wurden geschüttelt, als wären sie dünn wie Bleistifte und nicht teilweise über 50 Jahre alte Riesen. Schon lange waren keiner Blätter mehr an den Ästen, die ansonsten dem Sturm zum Opfer gefallen wären.
Es dauerte noch zwei Wochen bis Weihnachten und das Haus war bereits festlich geschmückt, mit bunten Lichtern und grünen Girlanden, die um das Geländer der Treppe gewickelt worden waren. In der Eingangshalle stand ein kleiner Christbaum, der mit goldenen Kugeln verziert worden war. Allerdings hatte Mister DiNozzo für so einen Kitsch nichts übrig und würde es Lucille nicht geben, gäbe es auch keine bunten Lichter oder Girlanden, die man bewundern konnte. Die Mutter der Zwillinge kümmerte sich ebenso wenig um diese Festlichkeiten, da sie tagtäglich im Gericht war und lieber Geld verdiente, anstatt das Haus zu schmücken oder Weihnachtskekse zu backen. Das überließ sie Lucille, die dafür mit ihren Schützlingen dabei viel Spaß hatte und ihnen als Belohnung jede Menge Kekse essen ließ, wobei Tony von den verschiedensten Köstlichkeiten viel mehr verschlang als Chris.
Aber an diesem Tag war keine Fröhlichkeit in der Villa zu spüren. Die Lichter waren zwar bunte Farbkleckse in dem Schneesturm, vermochten aber die düstere Stimmung nicht zu vertreiben, die sich seit dem heutigen Sonntagmorgen in jeder Ecke eingenistet hatte. Das Wetter passte hervorragend zu der Hiobsbotschaft, die heute per Telefon angekommen war und seit dem jedes Lachen vertilgt hatte.
Kaum war das Frühstück in dem mit einem großen Tisch für mindestens 12 Personen, einem Perserteppich und wertvollem Porzellan ausgestattetem Esszimmer serviert worden, hatte das Telefon geklingelt und Paul, einer der drei Brüder von Mrs. DiNozzo hatte seiner Schwester erzählt, dass ihr Vater in der Nacht an einem Herzinfarkt gestorben ist. Da sie nicht mehr zurückgekommen war, hatte Lucille schließlich nach ihr gesehen und sie völlig aufgelöst im Wohnzimmer gefunden.
Tom Franks war ein beliebter Mann gewesen. Er hatte zu seiner Tochter ein inniges Verhältnis gehabt und seine beiden Enkelsöhne vergöttert, die ihn öfters zum Narren gehalten hatten, wenn es darum ging, wer wer war und er hatte ständig darüber gelacht, wenn ihm die beiden die allerneusten Witze erzählt hatten.
Seit der Todesnachricht hatte sich Tony in seinem Zimmer zurückgezogen und sich nicht mehr blicken lassen. Großvater Tom hatte ihm immer zugehört, wenn er mit Problemen zu ihm gekommen war und er war es auch gewesen, der ihm über die Schuldgefühle hinweggeholfen hatte, die er sich gemacht hatte, nachdem Chris vor drei Jahren ins Eis eingebrochen war und beinahe gestorben wäre. Außerdem hatte er ihm in den letzten Wochen Ratschläge gegeben, wie er am besten mit dem weiblichen Geschlecht umging. Egal welche Probleme er gehabt hatte, Tony hatte immer zu ihm kommen können, um ihm sein Herz auszuschütten. Auch wenn er es nicht gezeigt hatte, so hatte ihn der Verlust hart getroffen.
Chris hingegen war seit dem Morgen kein einziges Mal in seinem Zimmer gewesen. Ruhelos war er von einem Zimmer zum anderen gewandert, unfähig, sich auch nur für eine Sekunde hinzusetzen. Wenn er zu lange an einem Fleck gewesen war, hatte er das Gefühl gehabt, die Decke würde ihm auf den Kopf fallen. Am liebsten wäre er hinausgelaufen und hätte sich seinen Schmerz von der Seele geschrien, aber aufgrund des Schneesturmes wäre das mehr als Lebensmüde gewesen.
Heute hatte er die Person verloren die ihn – neben Lucille – genauso wie seinen Bruder behandelte. Für ihn waren die beiden seine Eltern und nicht seine Erzeuger. Tom hatte ihm soviel Liebe geschenkt, dass es ihm in letzter Zeit nicht mehr so viel ausgemacht hatte, dass Tony bevorzugt wurde. Er brauchte die Anerkennung seiner Eltern nicht, dafür bekam er sie von seinem Großvater und von Lucille – und von Anthony. Dieser freute sich jedes Mal, wenn Chris eine Eins nach Hause brachte oder sonst mit seinen Leistungen auftrumpfte.
Seine Schritte hallten laut in seinen Ohren wider, als er einen weiteren, mit dunklen Fliesen ausgelegten Gang, entlangging, vorbei an dem Arbeitszimmer seines Vaters, hinter dessen Tür ein lautes Lachen ertönte, gefolgt von einem belustigten Wortschwall. Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten und steckte sie ihn seine Hosentaschen, um nicht in die Versuchung zu geraten, sie gegen die Tür zu schlagen und zu schreien, er solle mit dem Lachen aufhören. Sein Vater hatte als Einziger gleichgültig auf die Nachricht des Todes seines Schwiegervaters reagiert, was wohl auch daran liegen mochte, dass bekannt war, dass er nicht in dessen Testament erwähnt wird, was Tom ihm bereits vor Monaten gesagt hatte, mit der Begründung, er gäbe seinen Kindern nicht die Aufmerksamkeit, die sie brauchten. Ein heftiger Streit war die Folge gewesen und seitdem hatte sich Tom nur mehr sehen lassen, wenn Mr. DiNozzo außer Haus war, was jeden Tag der Fall war, außer Sonntag.
Ein Schluchzer bildete sich in Chris' Kehle, aber er schluckte ihn tapfer hinunter. Er wollte nicht schon wieder weinen, hatte er doch die letzten Minuten damit verbracht, während er in der Bibliothek in der 2. Etage auf und ab gelaufen war. Sein Blick war starr auf seine Füße gerichtet, die sich wie in Trance bewegten und die auf ihn den Eindruck erweckten, dass sie nicht zu seinem Körper gehörten. Ein Schritt nach dem anderen bewegte er sich weiter, bis ihn ein lautes Schluchzen inne halten ließ. Fast glaubte er, es stammte von ihm, aber dann erklang es erneut, begleitet von einem Schniefen. Wie gegen eine unsichtbare Mauer geprallt, blieb er stehen, genau neben einer nur angelehnten Tür. Dahinter lag das Schlafzimmer seiner Eltern – ein Raum, den er wegen der dunklen Möbel, die seinem Vater so gefielen - nicht gerne betrat. Aber heute war es anders, heute war alles anders.
Langsam, so als ob er sich an dem Holz verbrennen würde, legte er die Finger darauf und drückte die Tür auf, die sich lautlos aufschwang. Es war düster in dem Schlafzimmer, kein Licht brannte, dessen Helligkeit die Dämmrigkeit zu vertreiben vermochte. Die Einrichtung wirkte fast schwarz und bildete einen starken Kontrast zu dem hellen Teppich. Das Einzige, was hell hervorstach, waren die weißen Laken, mit denen das große Himmelbett bezogen war, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Seine Mutter hatte einen Faible, wenn es um Himmelbetten ging und ihm und Tony je eines gekauft, als sie fünf gewesen waren. Damals hatte sein Bruder immer behauptet, ein Vampir würde sich im Baldachin verstecken und nur darauf warten, ihm in den Hals zu beißen und beide waren erleichtert gewesen, als diese grässlichen Betten wieder verschwunden waren und normalen Platz gemacht hatten.
Auf der Matratze saß eine Frau, dessen schlanker Körper von Schluchzern gebeutelt wurde. Sie trug eine elegante schwarze Hose und eine Bluse, die hellgelb aber auch beige sein konnte, was man in dem schlechten Licht aber nicht erkennen konnte. Ihre langen braunen Haare fielen ihr wirr ins Gesicht und verdeckten es vor neugierigen Blicken. Chris blieb wie angewurzelt stehen. Er kannte seine Mutter als starke Frau, aber sie wirkte auf einmal zerbrechlich wie eine ihrer Porzellanfiguren, die sie auf einer der Kommoden aufgestellt hatte, die sich in dem Schlafzimmer befanden.
„Mom?" fragte er vorsichtig und mit leiser Stimme, um sie nicht zu erschrecken – jedoch zeigte sie keine Reaktion. Langsam betrat er das Schlafzimmer, seine Schritte wurden dabei von dem Teppich verschluckt. Immer näher kam er ihr, wobei ihr Schluchzen lauter wurde. „Mom, sag doch etwas." Jetzt klang seine Stimme ungewöhnlich ängstlich und ihm wurde klar, dass er an ihr hing, egal wie ungerecht sie ihn behandelte. In seine Augen traten erneut Tränen, die er versuchte wegzublinzeln, was aber nicht klappte. Das Nass begann über seine Wangen zu strömen, als er eine Hand auf ihre bebende Schulter legte und sie zusammenzuckte. Wie bei einer Marionette hob sie ihren Kopf und blickte in seine Augen – grüne Augen, die er von ihr hatte. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und ihr Make-up zerstört. Verschwunden war die starke Anwältin und hatte einer Frau Platz gemacht, die um ihren Vater trauerte. „Mom?" fragte er erneut, wobei seine Stimme seltsam erstickt klang. „Mir geht es gut, Chris", antwortete sie ihm so leise, dass er sie fast nicht verstehen konnte. Sie war der einzige Mensch, der ihn und Tony auseinanderhalten konnte, auch wenn sie gleich angezogen waren und ließ sich somit auch nicht zum Narren halten, wenn sie die Rollen tauschten.
Er wusste, dass es ihr nicht gut ging und er wollte sie trösten, von dem Schmerz erlösen, der auch auf ihn lastete. Aber er fand keine richtigen Worte. Stattdessen setzte er sich zu ihr auf die Matratze, legte einen Arm um ihre bebenden Schultern und kuschelte sich an sie. Eine Sekunde später fuhr sie ihm mit einer zitternden Hand durch die Haare, während ungehindert Tränen über ihr Gesicht strömten. Chris wagte es fast nicht zu atmen. Zu schön war das Gefühl, das ihn überkam, als er ihre Finger in seinen Haaren spürte. Für einen kurzen Augenblick ließ die Trauer um seinen Großvater nach, aber gleich darauf kehrte sie mit voller Wucht zurück, als Schritte erklangen und eine Stimme von der Tür her sagte: „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich nicht mit Schuhen ins Bett legen?" Erschrocken zuckte er zusammen und setzte sich kerzengerade auf. Groß, schlank und gutaussehend stand Mr. DiNozzo unter der Tür und sah seinen Sohn ärgerlich an. Chris hätte jetzt vorgeben können, Tony zu sein, aber er wusste, es würde ihm nichts bringen. Sein Vater würde die Lüge gleich durchschauen. Wut stieg in ihm auf und er wischte sich die Tränen ab, wollte sich keine Blöße geben. „Ich wollte doch nur Mom trösten", sagte er und stellte erleichtert fest, dass seine Stimme wie eh und je klang. „Immerhin ist Großvater…" „Ich weiß, was mit Tom geschehen ist", wurde er schroff unterbrochen. „Und jetzt geh in dein Zimmer." „Aber…" „Kein aber, Christopher. Du tust was ich dir sage. Morgen ist wieder Schule und wie ich dich kenne, hast du deine Hausaufgaben noch nicht erledigt, da ihr ja mit Lucille diese kitschige Beleuchtung aufhängen musstet." Die Stimme seines Vaters war lauter geworden und er trat jetzt komplett in den Raum, dessen Atmosphäre sich durch seine bloße Anwesenheit noch verdüsterte. Chris starrte ihn fassungslos an, sah schließlich hilfesuchend zu seiner Mutter, die ihren Kopf aber wieder gesenkt und völlig vergessen hatte, dass ihr Sohn neben ihr saß und sie trösten wollte. Um nicht zu riskieren, sich womöglich eine Ohrfeige einzufangen, glitt er von dem Bett, ging zur Tür, blieb aber aus einem Impuls heraus stehen und drehte sich um. „Du konntest Großvater doch nur nicht ausstehen, weil er dir kein Geld vererbt! Das ist doch das Einzige was dich interessiert: Geld! Wir sind dir doch alle egal!"
Mit diesen Worten rannte er hinaus, fort von seinen Eltern, hörte wie sein Vater wütend seinen Namen rief, ignorierte ihn aber. Eine Etage tiefer stieß er die Tür zu seinem Zimmer auf, warf sie mit einem lauten Knall wieder zu, sperrte ab und ließ sich auf den Boden sinken. Tränen stiegen ihm in die Augen und er fing heftig zu weinen an. Weinte um seinen geliebten Großvater, weinte um die nicht vorhandene Liebe und weinte darum, dass er nicht jemand anderes sein konnte.
Während draußen das Licht immer weniger wurde, sein Zimmer in Dunkelheit tauchte und der Schneefall noch mehr zunahm, zerbrach etwas in Chris, was dazu führte, dass er sich – je mehr Jahre vergingen – immer weniger als DiNozzo betrachtete und sich von seiner Familie entfremdete.


Fortsetzung folgt...
Chapter 12 by Michi
Chris brauchte ein paar Sekunden, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden, zu präsent waren die Erinnerungen an den Tag, an dem sein Großvater gestorben war. An diesem stürmischen und kalten Morgen hatte er eine wichtige Bezugsperson verloren – ein Person, die ihn immer aufgebaut hatte, wenn ihn seine Eltern wieder einmal ignoriert hatten, als er eine gute Note nach Hause gebracht oder sonst irgendeinen Erfolg errungen hatte. Für die beiden hatte nur das Geld gezählt, dass sie mit ihrer Arbeit verdienten und nicht ihr Sohn. Allerdings hatte er an diesem Tag auch eine wichtige Erkenntnis gewonnen. Seine Mutter liebte ihn anscheinend viel mehr als sie zeigte, sonst wäre sie ihm nicht mit der Hand durch die Haare gefahren und hätte ihm damit nicht ein wenig Trost gespendet. Aber kaum war sein Vater in dem Schlafzimmer erschienen, hatte sie sich wieder in die unterwürfige Frau verwandelt und ihr Kind nicht mehr wahrgenommen. Seit diesem Zeitpunkt wusste Chris, dass sein Vater eigentlich an allem schuld war, aber dennoch war er wütend auf seine Mom gewesen. Immerhin hätte sie sich gegen diesen Mann wehren können, anstatt ständig alles zu machen, was er von ihr verlangte. Nur weil er glaubte, der Hausherr zu sein, hieß dass noch lange nicht, dass sich jeder seinen Wünschen und Befehlen beugen musste. Seit dem Tag, an dem Chris' Großvater ihn für immer verlassen hatte, war auch ein Teil von ihm gestorben und er hatte begonnen, sich gegen seinen Vater aufzulehnen. In den nächsten drei Jahren noch weniger, aber dann immer mehr, bis er sich nichts mehr von seinem alten Herrn hatte sagen lassen, was ständig zu heftigen Streits geführt hatte. Aber jedes Mal hatte sich Chris danach gut gefühlt, denn er hatte förmlich gespürt, dass er sich immer mehr von den DiNozzos entfernte und sich nicht mehr wirklich als Familienmitglied betrachtete - was vielleicht eine andere Person betrübt hätte, ihn aber nicht. Er hatte sich ein eigenständiges Leben aufgebaut und dass ohne den Einfluss seines Erzeugers, was ihm am Wichtigsten gewesen war.
Von seiner Mutter war er mehr als enttäuscht gewesen, dass sie ihn nicht in Schutz genommen hatte und so hatte er sich auch vor ihr zurückgezogen, obwohl er gemerkt hatte, dass es sie schmerzte. Aber ihm war das egal gewesen. Sollte sie ruhig spüren, was sie ihm angetan hatte, als sie ihn ignoriert hatte, als er sie dringend gebraucht hatte.
Die Einzigen, die ihm Trost gespendet hatten, waren Tony und Lucille gewesen. Sein Bruder hatte genauso an ihren Großvater gehangen, hatte seinen Schmerz aber niemandem gezeigt, außer Chris. Vor ihm hatte er die starke Maske fallen lassen und am Abend waren sie einfach stumm nebeneinander auf Anthonys Bett gesessen, hatten sich alleine durch ihre körperliche Anwesenheit gegenseitig getröstet. Damals hatten ihn Tony und Lucille davor bewahrt, sofort in ein schwarzes Loch zu fallen und hatten ihn von dem tiefen Abgrund weggezerrt. Aber je mehr Jahre vergangen waren, desto dicker war der Panzer geworden, den er um sich aufgebaut hatte, um die teilweise verletzenden Worte seines Vaters an ihm abprallen lassen zu können. Und so kam es, dass nach einiger Zeit nicht einmal mehr Tony zu ihm hatte durchdringen können.

Chris war so in seine Gedanken vertieft, dass er die Hand von Gibbs nicht kommen sah, die ihn eine Sekunde später hart am Hinterkopf traf und ihn somit vollkommen in die Wirklichkeit zurückholte. War er beim ersten Mal noch schockiert gewesen, so begrüßte er jetzt den kurzen Schmerz, der die dunklen Wolken, die sein Gehirn umnebelt hatten, vertrieb und ihn daran erinnerte, dass er sich mitten in einem Großraumbüro befand und nicht mehr in der Villa, in der er aufgewachsen war und von der er hoffte, sie nie wieder sehen zu müssen.
„Du wirst nicht dafür bezahlt, um Tagträumen nachzuhängen, DiNozzo", sagte Gibbs bemerkenswert ruhig, aber Chris hatte in den wenigen Stunden, seit er ihn kannte, gelernt, dass dies kein gutes Zeichen war. „Tschuldigung, Boss", murmelte er deswegen und konzentrierte sich wieder auf das Bild des Commanders, der unten in der Pathologie lag.
Gibbs hingegen wandte seinen Blick nicht von seinem Agent ab, der in den letzten Sekunden geistig vollkommen weggetreten gewesen war. In seinen grünen Augen hatte sich auf einmal eine Trauer gespiegelt, die er bei ihm noch nie gesehen und die ihm sofort verraten hatte, dass er sich gerade an etwas Schmerzhaftes erinnert hatte. Was der Auslöser dafür gewesen war, konnte er nicht sagen, und wenn er ehrlich war, interessierte es ihn in diesem Moment auch gar nicht. Vielleicht war es wieder einmal an der Zeit, ein Gespräch unter vier Augen im Fahrstuhl mit dem Jüngeren zu führen. Es war offensichtlich, dass ihn etwas bedrückte und er konnte es sich nicht leisten, einen Agent zu haben, der nicht hundertprozentig bei der Sache war, jedenfalls nicht, solange irgendwo ein Mörder frei herumlief.
„Was habt ihr noch über Commander Emmerson herausgefunden?" fragte Jethro und bemerkte erleichtert, dass sich Tony anscheinend wieder gefangen hatte. Es ging doch nichts über eine saftige Kopfnuss, um einen wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen.
„Der Commander ist seit gut sechs Jahren in Quantico stationiert", fuhr Chris weiter, froh darüber, dass Gibbs nicht sauer auf ihn war. „Vorher war er in Norfolk gewesen, hat sich aber auf eigenen Wunsch versetzen lassen. Keiner seiner Kameraden weiß weshalb, da er nicht gerne über seine Vergangenheit geredet hat, außer über seinen Sohn und seine Frau." Und schon wieder verspürte er einen Stich in seinem Herzen. Die Emmersons waren anscheinend eine glückliche Familie gewesen und Tyler hatte die Liebe bekommen, die ein Kind von seinen Eltern auch erhalten sollte. Zu gern hätte er das Gefühl einmal erlebt wie es ist, richtig geliebt zu werden.
„Ich habe mit dem ehemaligen Vorgesetzten des Commanders in Norfolk telefoniert", nahm Ziva den Faden auf, zog kurz ihre Notizen zu Rate und blickte anschließend wieder in die Runde. Drei Augenpaare sahen sie erwartungsvoll an und selbst Tony schien wieder ganz bei der Sache zu sein. Sie hatte ihn noch nie so durch den Wind erlebt, wie vor zwei Minuten. Und hatte sie sich getäuscht, oder waren seine Augen für ein paar Sekunden Tränenverschleiert gewesen? Irgendetwas musste ihn aus den Konzept gebracht haben, aber da Gibbs ungeduldig eine Augenbraue hob, zog sie es vor, sich nicht länger den Kopf darüber zu zerbrechen, sondern sich wieder auf den Fall zu konzentrieren.
„Wie Tony bereits erwähnt hat, ist Commander Emmerson eines Tages im Büro seines Vorgesetzten aufgetaucht und hat um Versetzung gebeten. Er hat keinen Grund angegeben und hat sich wie eine Auster verschlossen, wenn die Sprache darauf gekommen ist, zumal er keine Probleme oder etwas Ähnliches mit Kameraden gehabt hatte. Zwei Monate später sind er und seine Familie nach Quantico gezogen."
„Und was ist mit Freunden in Norfolk? Wissen die, weshalb er sich plötzlich versetzen lassen wollte?" „Da sind wir noch dran, Boss", erwiderte McGee. „Allerdings könnte das noch ein wenig dauern, da Mrs. Emmerson momentan nicht in der Verfassung ist, klar zu denken. Sonst weiß niemand etwas über Freunde oder Bekannte. Die Nachbarn in Quantico wissen jedenfalls nicht, weshalb die Emmersons hierher gezogen sind."
„Na schön", meinte Gibbs und rollte seine Schultern, um seine Muskeln ein wenig zu entspannen. So wie es aussah, kamen sie momentan nicht vom Fleck und es würde schwer werden, den Einbrecher zu finden, da er anscheinend keine Spuren hinterlassen hatte. Aber sein Instinkt verriet ihm, dass da irgendetwas faul war. Noch konnte er jedoch nicht sagen, was ihn an der ganzen Sache störte. Diesen Gedanken konnte er allerdings nicht weiterverfolgen, da sein Handy klingelte und ihn somit störte. Mit zwei großen Schritten war er bei seinem Schreibtisch, nahm das kleine Gerät, klappte es auf und meldete sich mit einem üblichen knappen „Gibbs." Ein paar Sekunden später legte er wieder auf und blickte zu seinem Team, das ihn neugierig musterte. „Ducky ist mit der Autopsie fertig", sagte er und eilte so schnell zum Fahrstuhl, dass die anderen eine Sekunde lang brauchten, um zu realisieren, dass er nicht mehr vor seinem Schreibtisch stand. Kurz bevor sich die Türen aber schließen konnten, quetschten sich die Drei in die kleine Kabine, die sie in Sekundenschnelle in den Keller brachte.

Es war das erste Mal, dass Chris in der Pathologie war und als sich die Türen des Fahrstuhles mit einem leisen Pling öffneten, versuchte er den Eindruck zu erwecken, er wäre jeden Tag hier unten. Im Gegensatz zum Großraumbüro herrschte im Keller eine angenehme Stille. Es gab keine hektisch herumlaufende Agents, kein Telefongeklingel oder laute Stimmen. Genauso wenig waren hier Fenster zu finden, die etwas Sonnenlicht in die Räume hätte bringen und somit die Atmosphäre ein wenig aufheitern hätten können. Das einzige Licht kam von beinahe kalt wirkenden Lampen hoch oben an der Decke und ließ Chris unwillkürlich frösteln. Der Keller war ein Ort des Todes, dass erkannte er sofort, kaum dass er einen Fuß in den Gang gesetzt hatte. Zielsicher steuerte Gibbs auf die Glastür zu, hinter der sich unverkennbar zwei Personen aufhielten, die sich unterhielten. ‚Das ist also Duckys Reich', dachte der junge Mann, schluckte eher unbewusst und widerstand nur mit Mühe dem Drang, seine Hände nervös zu kneten. Irgendwie fühlte er sich hier unten unwohl, was wahrscheinlich an dem fehlenden Sonnenlicht lag. Er war schon immer ein Mensch gewesen, der sich gerne im Freien aufhielt und nicht unter der Erde. Außerdem erinnerte ihn der Gang und die Räume der Pathologie – die sie eine Sekunde später betraten – ein wenig an Krankenhäuser. Und wenn es etwas gab, was er überhaupt nicht ausstehen konnte, dann waren es Spitäler. Er musste schon halbtot sein, wenn er einmal zum Arzt ging. Chris konnte vor allem den Geruch nach Desinfektionsmitteln nicht ausstehen und es war dieser Geruch, der sich in seiner Nase festsetzte, als sich die Türen leise zischend öffneten und sie in den großen Raum einließen. Am liebsten wäre er einfach stehen geblieben und hätte beim Fahrstuhl, oder noch besser, im Großraumbüro, auf die anderen gewartet, aber dadurch würde er nur riskieren, dass sein falsches Spiel aufflog und er im Knast landete, während sein Bruder wieder frei herumlief und sein ursprüngliches Leben lebte – vorausgesetzt, er verriet sein Versteck.
Ein einziges Mal hatte er ein Gefängnis von innen gesehen und auch nur, weil er übersehen hatte, dass das Haus, in das er eingedrungen und dessen Besitzer er um ihren Schmuck und Bargeld erleichtern hatte wollen, eine gut versteckt installierte Alarmanlage gehabt hatte, die einen stummen Alarm ausgelöst hatte. Noch während er die Schränke durchwühlt hatte, hatten ihn zwei Cops dabei überrascht und sofort festgenommen. Sechs Monate später war er wieder ein freier Mann und seitdem viel vorsichtiger gewesen, wenn er andere Leute um ihr Bares erleichtert hatte.
Chris schüttelte den Kopf, um die nicht sehr schönen Erinnerungen an die enge Zelle loszuwerden und konzentrierte sich auf die Leiche, die auf einen der beiden Stahltische lag und die Jimmy gerade zunähte. „Da seid ihr ja endlich", sagte Ducky und wandte sich kurz darauf an seinen Assistenten: „Mister Palmer, passen Sie auf, dass Sie alles ordentlich machen und nicht wieder einen Stich auslassen." „Natürlich, Doktor", erwiderte dieser, wobei seine Wangen von einem Hauch von Rosa überzogen wurden und er schnell den Kopf senkte, damit es die anderen nicht mitbekamen.
Obwohl Commander Emmerson von dem Blut - das am Morgen noch seinen Schädel, Gesicht und Kleidung bedeckt hatte - befreit worden war, sah er jetzt noch viel schlimmer aus. Dadurch, dass die rote lebensnotwendige Flüssigkeit nun verschwunden war, kamen die zahlreichen Verletzungen wunderbar zur Geltung und hoben sich deutlich von der blassen Haut ab. Sein Kopf wirkte noch deformierter als am Tatort und die Wunden noch größer und grässlicher. Dass sein Oberkörper jetzt zusätzlich mit einer Y-förmigen Narbe verziert wurde, machte den Anblick nicht unbedingt erträglicher. Das Einzige, was an dem Toten noch heil zu sein schien, waren die Beine.
„Was kannst du uns sagen, Duck?" fragte Gibbs und wünschte sich, er hätte sich vorher einen Becher Kaffee besorgt. Denn wie nicht anders zu erwarten, begann sein Freund mit einer seiner üblichen langen und ausschweifenden Reden. „Nun, Jethro, der Arme hat ziemlich viele Schläge mit einem harten länglichen Gegenstand abbekommen. Der Mörder hat mit viel Wucht zugeschlagen und bereits beim ersten Mal den Kopf getroffen, wodurch der Knochen des Schädels wie eine Eierschale gesprungen ist. Das erinnert mich übrigens an eine Geschichte aus dem Jahre 1988. Leider war ich nicht selbst dabei, aber mein guter Freund Trevor aus Edinburgh hat damals einen Mann obduziert, der ähnliche Verletzungen aufgewiesen hat. Zwei Tage später wurde erneut eine Leiche gefunden, die genauso…" „Könnten wir uns auf diesen Fall konzentrieren, Duck?" fragte Gibbs und presste seine Kiefer so fest aufeinander, dass es beinahe schmerzte. Heute hatte er absolut keinen Nerv für eine dieser langen Geschichten.
Chris hingegen fand es schade, dass der Pathologe unterbrochen worden war. Wenn es nach ihm ging, hätte er die Geschichte zu Ende erzählen dürfen, denn sie hörte sich durchaus spannend an und er liebte nun einmal alle Art von Krimis. Allerdings schien er der Einzige zu sein, der nicht gerade glücklich darüber war, dass es nicht weiterging, denn sowohl Ziva als auch McGee hatten einen erleichterten Gesichtsausdruck aufgesetzt.
„Wo war ich stehen geblieben?" fragte Ducky und runzelte die Stirn, so als ob er sich zu erinnern versuchte. „Ah ja, genau, bei den Schlägen. Der Commander wurde durch den ersten Schlag sofort bewusstlos und bekam somit zu seinem Glück nicht mehr mit, wie der Mörder mehrmals auf ihn einschlug. Nach der Anzahl der Verletzungen dürfte er sechs Mal getroffen worden sein, drei Mal am Kopf und drei Mal im Brustbereich. Dabei wurden sieben Rippen gebrochen, wobei sich eine davon in die Lunge gebohrt hat. Der Arme ist an den Schlägen am Kopf gestorben, aber so wie es aussieht, wollte der Täter auf Nummer sicher gehen und hat ihm zusätzlich ein Messer genau ins Herz gerammt." „Ein wirklich unglaublich guter Stich", meldete sich Jimmy zu Wort. „Genau mitten in…" Als ihn fünf Augenpaare ansahen, zog er es jedoch vor, sich wieder ans Zusammennähen zu machen.
„Und was ist mit dem Todeszeitpunkt?" fragte Chris aus einem Impuls heraus und plötzlich war er es, der angestarrt wurde. Er kam sich vor, als ob ihn zahlreiche helle Scheinwerfer anstrahlen würden. „Was ist?" Irritiert hob er seine Augenbrauen. Ducky schüttelte leicht seinen Kopf und lächelte. „Du wirst Gibbs immer ähnlicher, Tony", meinte er und zwinkerte ihm zu. „Ihr beide seid ungeduldig und ihr könnt nicht schnell genug an Informationen gelangen. Fehlt nur noch, dass du anfängst, in deinem Keller ein Boot zu bauen." „Ein Boot in einem Keller bauen? Wie geht denn das?" Überrascht sah er zu Jethro, der ihn mit einem amüsierten Funkeln in den Augen musterte. „Indem man einzelne Holzbalken so anordnet und sie miteinander verbindet, dass sie die Form eine Bootes haben, DiNozzo", erwiderte dieser. „Und wie willst du das Ding da rausbekommen?" fragte Chris interessiert und überhörte geflissentlich die Anleitung mit den Holzbalken. Außerdem fühlte er sich seit langem wieder einmal mehr als stolz. Denn dass der Pathologe gemeint hatte, er wäre Gibbs ziemlich ähnlich, zeigte ihm, dass er seine Rolle überzeugend spielte, denn es war anscheinend nichts Neues, dass sich Tony wie der Chefermittler verhielt.
„Keine Ahnung", antwortete Jethro auf die Frage, wie er sein Boot aus dem Keller herausbringen wollte. „Darüber werde ich mir den Kopf zerbrechen, wenn es fertig ist. Und könnten wir uns jetzt endlich wieder um den Fall kümmern, anstatt über meine Freizeit zu reden? Sonst habt ihr gleich massenhaft davon." Ducky schüttelte den Kopf, wobei er sich ein Lächeln verkneifen musste. Auch wenn sich hinter seiner Aussage die Drohung zur Kündigung versteckte, so wusste er genau, dass er niemals einen seiner Agents feuern würde. Dazu mochte er sie viel zu gerne, auch wenn er dies wohl nie zugeben würde – jedenfalls, wenn andere Leute anwesend waren.
„Wenn ich mich recht erinnere, waren wir beim Todeszeitpunkt", sagte der Pathologe, legte seine Fingerspitzen aneinander und fuhr fort: „Der Commander ist zwischen sieben und acht Uhr heute Morgen verstorben." „Seine Frau kann von Glück reden, dass sie mit ihrer Freundin frühstücken war", meinte Ziva. „Sonst würde sie womöglich auch noch hier liegen." „Und der Junge wäre somit ein Vollwaise", spann McGee den Faden weiter. „Ich wäre lieber ein Vollwaise gewesen", murmelte Chris so leise, dass ihn niemand hören konnte - außer Gibbs. Zwar waren seine Augen nicht mehr die Besten, dafür funktionierte sein Gehör umso ausgezeichneter. Verwundert sah er zu dem jungen Mann, der ein wenig betrübt auf die Leiche starrte. ‚Was soll das bedeuten, Tony wollte lieber Vollwaise sein?' fragte er sich und runzelte die Stirn. Dieser hatte noch nie über seine Eltern oder Familie gesprochen, aber irgendetwas bedrückte ihn in diese Richtung, dass war unverkennbar. Auf ihn machte es den Eindruck, dass sein Agent alles andere als eine glückliche Kindheit gehabt hatte. Aber wieso kam diese Sache gerade heute an die Oberfläche und nicht schon viel früher? Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie einen Fall hatten, wo ein Vater oder eine Mutter oder sogar beide ermordet worden waren. Und jedes Mal war Tony wie immer gewesen, hatte nicht so ausgesehen, als ob ihn das an seine Vergangenheit erinnern würde. ‚Also, weshalb gerade heute?' überlegte Gibbs und musterte Anthony. Es war wirklich Zeit, ein klärendes Gespräch mit ihm zu führen – und zwar so bald wie möglich.

Kaum hatten sich die Türen geschlossen, setzte sich der Fahrstuhl mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck in Bewegung. Gibbs starrte auf den Rücken von Tony, der vor ihm stand und seine Hände in den Hosentaschen vergraben hatte. Wären sie jetzt alleine in der kleinen Kabine, würde er ohne Zögern den Aufzug anhalten und ihn fragen, was nur mit ihm los sei, warum er sich heute so komisch benahm. Sein Instinkt sagte ihm, dass vor seiner Nase etwas geschah, das er zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstand, aber er würde nicht locker lassen, bis er die Wahrheit erfuhr. Nicht umsonst war er einer der besten Ermittler, die der NCIS hatte.
„Ein Boot in einem Keller bauen? Wie geht denn das?" Die Worte hallten noch immer in Jethros Kopf wider und ließen ihm keine Ruhe mehr. Es war, als ob Tony das erste Mal gehört hatte, dass er ein Boot in seinem Keller baute. Den überraschten Ausdruck in den grünen Augen hatte er vor ein paar Minuten mehr als amüsant gefunden und sich eine trockene Antwort nicht verkneifen können, aber jetzt erfüllte es ihn mit Unbehagen. Sein Agent war schon einmal in seinem Keller gewesen, hatte das unfertige Boot gesehen und Witze darüber gerissen, dass er das Ding wohl nie hinausbringen würde, denn er könne es ja schlecht in den Händen die Stufen hinauftragen, geschweige denn, dass er es nicht einmal durch die Tür bringen würde. Und von einer Sekunde auf die andere hatte er das Alles vergessen? Konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er sich damals lustig darüber gemacht hatte? Litt er etwa unter Gedächtnisverlust? Denn genau das schien der Fall zu sein, obwohl die Momente des Unwissens nicht häufig waren. Man könnte glatt den Eindruck haben, Tony wäre nicht er selbst.
Oder hatte das Alles etwas mit dem Fall zu tun, der ihnen heute Vormittag ins Haus geflattert war? Was war so besonderes daran? Was war der Auslöser dafür gewesen, dass sich sein Agent plötzlich wünschte, Vollwaise gewesen zu sein? Irgendetwas musste in seiner Vergangenheit geschehen sein, das jetzt wieder hervorbrach und ihn bedrückte, obwohl er das mit seinem üblichen Gehabe zu überspielen versuchte. Gibbs konnte nur hoffen, dass Anthony genug Vertrauen ihm gegenüber hatte, um sich ihm anzuvertrauen. Wenn er wüsste, was in ihm vorging, dann konnte er ihm vielleicht auch helfen und die Dämonen der Vergangenheit austreiben. Er wusste nur zu gut, wie es war, wenn man von Erinnerungen eingeholt wurde, die man am liebsten vergessen würde, die aber immer da waren und einen zum ungünstigsten Zeitpunkt überfielen. Man musste lernen damit umzugehen und vor allem damit zu leben, egal wie schmerzhaft es war.
Das leise Pling, mit dem sich die Fahrstuhltüren öffneten, riss den Chefermittler aus seinen Gedanken und gleich darauf schallte ihm laute Musik entgegen, die seine Ohren klingeln ließen. Abby war wieder einmal in ihrem Element, was sich kurz darauf, als sie das Labor betraten, bestätigte. Wie ein Wirbelwind fegte sie durch ihre heiligen Hallen, bediente eine Maschine nach der anderen, tippte in atemberaubender Geschwindigkeit auf ihrer Tastatur herum und schaffte es nebenbei im Takt des Liedes mit dem Kopf zu wippen.
Wie immer führte Gibbs der erste Weg zur Stereoanlage, dessen Off Knopf er mittlerweile mit verbundenen Augen finden würde, so oft hatte er ihn schon gedrückt, um den Lärm in wohltuende Stille zu verwandeln. Von dieser plötzlichen Ruhe aufgeschreckt, merkte die Forensikerin erst jetzt, dass sie Besuch hatte und ein strahlendes Lächeln, das noch so finstere Wolken ohne Mühe vertrieben hätte, erhellte ihr Gesicht. „Hey, Leute", begrüßte sie alle mit freudiger Stimme und ihre Augen blieben eine Sekunde länger an Chris hängen, dem das nur allzu bewusst war. Ihm war klar, dass sie weiterhin misstrauisch war und er fragte sich, was er wohl dagegen tun konnte. Abwarten war das einzig Sinnvolle, was ihm auf die Schnelle einfiel und so erwiderte er einfach ihr strahlendes Lächeln. Abby wandte sich wieder von ihm ab, was ihn erleichtert durchatmen ließ und blickte zu Gibbs, der seine Augenbrauen zusammengezogen hatte – ein Zeichen, dass er bereits ungeduldig wurde.
„Hast du schon etwas Wichtiges herausgefunden?" fragte er und versuchte seine Stimme bedrohlich wirken zu lassen, was an der jungen Goth jedoch wie ein Gummiball von einer harten Oberfläche abprallte. „Kommt ganz auf die Definition von Wichtig an", kam prompt die Antwort. „Manche glauben, dass…" „Abbs, komm zur Sache. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit." „Wie wahr", murmelte Chris und linste unauffällig auf seine Uhr – es war kurz vor 17 Uhr. Verdammt, er hatte doch tatsächlich vergessen, Tony zu fragen, wann regulärer Feierabend war oder ob das Gibbs bestimmte. Er konnte nur hoffen, dass er nicht bis in die späte Nacht hier festsaß. Immerhin wollte er seinem Bruder noch einen kleinen Besuch abstatten und ihm von seinem ersten Tag, der seiner Meinung nach gar nicht so schlecht verlaufen war, erzählen. Andererseits, was machte es schon, wenn er etwas länger im Hauptquartier bleiben musste. Es war ja nicht so, dass Anthony irgendwo hin konnte, von daher konnte er ihn auch spät in der Nacht besuchen und ihn – falls es erforderlich wäre – aus dem Schlaf reißen.
„Zu Befehl, mein silberhaariger Fuchs", sagte Abby, tippte etwas in ihre Tastatur und auf dem großen Plasmabildschirm erschien ein Foto des Baseballschlägers, den sie in dem Haus gefunden hatten, allerdings war es eine vergrößerte Aufnahme, sodass man wunderbar die Kerben in dem Holz erkennen konnte, gepaart mit Blut, das bereits geronnen war. „Die Tatwaffe", meinte die Forensikerin und die betonte die beiden Worte, so als ob sie in einer Werbung ein neues Produkt vorstellen würde. „Das Blut stammt definitiv von Commander Emmerson. Außerdem habe ich zusätzlich ein wenig Hirnmasse gefunden. Ein weiterer Beweis dafür, dass er mit diesem Baseballschläger erschlagen worden ist. Zusätzlich befinden sich frische Kerben in dem Holz." „Also wurde damit auch die Wohnzimmereinrichtung zertrümmert", stellte McGee fest und besah sich das Bild mit zusammengekniffen Augen, wodurch er den Eindruck erweckte, dass er Pixel für Pixel nach wertvollen Hinweisen absuchen würde. „Ganz Recht, Timmy", erwiderte Abby, drückte eine Taste, der Baseballschläger verschwand und machte einem blutverschmierten Messer Platz. „Das hier dürfte schon viel interessanter werden", fuhr sie fort und grinste Gibbs an, der nur die Augenbrauen hob und sie fragend ansah. „Inwiefern?" wollte er gleich wissen und schien alleine mit seiner Willenskraft zu versuchen, die Goth zum Weiterreden zu bringen. Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, öffnete sie ihren Mund und sagte: „Neben dem ganzen Blut des Commanders habe ich welches gefunden, dessen Blutgruppe nicht zu der des Toten passt." „Also hat sich der Mörder geschnitten?" fragte Chris, obwohl es mehr als offensichtlich war, dass es sich so zugetragen hatte. „Genau. Und damit haben wir die DNA des Täters." „Kannst du uns auch einen Namen nennen?" wollte der Chefermittler wissen, aber er wusste bereits, wie die Antwort lauten würde. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn sich der Fall als so leicht entpuppt hätte. „Tut mir leid, Gibbsman", entgegnete Abby und verzog entschuldigend ihren Mund. „Ich habe jede Datenbank abgesucht, oder besser gesagt, hat das der Computer für mich erledigt. Aber keinen Treffer." „Und was ist mit Fingerabdrücken?" meldete sich Ziva. „Negativ. Der Griff des Messers war sauber und am Baseballschläger habe ich nur Abdrücke des Commanders gefunden." „Also stehen wir wieder am Anfang", sagte McGee und fuhr sich durch seine kurzen Haare. „So würde ich das nicht ausdrücken", erwiderte Chris und grinste. „Immerhin können wir jetzt die DNA mit einem Verdächtigen abgleichen." „Wenn wir einen Verdächtigen hätten", gab Ziva ihren bissigen Kommentar dazu ab. „Und da wir keinen haben, werden wir uns so schnell wie möglich einen suchen", entgegnete Gibbs und unterband damit den aufkeimenden Streit der beiden. Für diese Kindereien hatte er momentan keinen Nerv. Außerdem brauchte er dringend einen Kaffee, sein Koffeinspiegel war bereits am unteren Level angelangt, was seiner Laune nicht gerade förderlich war. Er wollte seinen Agents bereits aus dem Labor folgen, als ihn Abbys Stimme inne halten ließ: „Kann ich dich kurz sprechen, Gibbs?" Überrascht sah er sie an, wie sie wie ein kleines Mädchen von einem Fuß auf den anderen trat und auf ihn einen nervösen Eindruck machte. „Sicher. Ich komme gleich nach", wandte er sich an die Drei, die auf der Schwelle der Tür stehen geblieben waren und auf ihren Boss warteten. Ein stechender Blick aus seinen Augen genügte, um sie das Labor endgültig verlassen zu lassen.
„Also, worum geht es?" wollte er wissen und drehte sich zu Abby um, die unsicher an ihrer Unterlippe herumkaute. Jetzt, wo sie mit Jethro alleine war, hatte sie das Gefühl, keine richtigen Worte zu finden, obwohl sie sie sich vorher zurechtgelegt hatte. Aber irgendwie waren sie jetzt verschwunden, also entschied sie sich für den Frontalangriff. „Irgendetwas stimmt nicht mit Tony", sagte sie schließlich, als sich die Stille bereits wie ein besonders zäher Kaugummi gedehnt hatte. „Ich weiß auch nicht, wie ich das beschreiben soll", fuhr sie ganz schnell fort, jetzt, wo ihr die Worte wieder einfielen. Gibbs sah sich mit erhobenen Augenbrauen an, aber sie ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. „Etwas ist anders an ihm. Ich könnte schwören, dass seine Haare auf einmal länger sind, so als ob sie über Nacht ein wenig gewachsen wären und seine Haut ist brauner. Tony hat behauptet, er wäre in einem Sonnenstudio gewesen, aber…" „Aber du kaufst ihm das nicht ab", vollendete der Chefermittler den Satz und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Also war er nicht der Einzige der fand, dass mit seinem Agent etwas nicht stimmte. „Tony ist nicht der Typ, der ins Sonnenstudio geht, außer er hegt die Hoffnung, dort Frauen aufzureißen." Jethro grinste bei diesen Worten, war ihm doch mehr als bekannt, dass der Jüngere keine Möglichkeit ausließ, um Frauen kennenzulernen. Aber er wurde gleich darauf wieder Ernst. Abby sah ihn unsicher an und wartete darauf, dass er etwas zu ihrer Vermutung sagte. „Du hast Recht, Abbs. Irgendetwas ist mit DiNozzo los", erwiderte er schließlich. „Aber ich denke, dass liegt an dem Fall, den wir bearbeiten. An irgendetwas scheint ihn das zu erinnern." „Wie meinst du das?" „Vorher in der Pathologie hat er fast unhörbar geflüstert, dass er lieber Vollwaise hätte sein wollen." „Vollwaise?" wiederholte die Forensikerin verblüfft und blickte ihn skeptisch an. „Ich hatte aber ständig den Eindruck, dass Tony eine glückliche Kindheit hatte, wenn er von seiner Familie gesprochen hat, was, zugegeben, nicht oft vorgekommen ist. Dennoch schien er ein recht gutes Verhältnis mit seinen Eltern gehabt zu haben. Wieso sollte er plötzlich so etwas sagen?" Gibbs schüttelte ein wenig frustriert den Kopf. Er hasste es, wenn er mitbekam, dass einem seiner Agents etwas zu schaffen machte, er aber nichts dagegen tun konnte. Wieso vertraute sich Tony ihm nicht einfach an? Hatte er Angst, er würde von dem Fall abgezogen werden oder sonst irgendwelche Konsequenzen tragen müssen?
„Ich weiß es nicht, wieso er das gesagt hat, aber ich werde es sicher herausfinden", meinte Jethro schließlich. „Ein Gespräch unter vier Augen wirkt manchmal wahre Wunder. Ich hatte sowieso vor, bald mit ihm zu reden. Am Besten noch heute." Abby verzog skeptisch ihren Mund. „Ich weiß nicht, Bossman. Wenn Tony wegen einem Ereignis in seiner Vergangenheit durcheinander ist und du ihn auf deine nette Art und Weise drängst, es dir zu verraten, kann es sein, dass die Sache nach hinten losgeht und er sich noch weiter zurückzieht. Lass ihm ein wenig Zeit. Vielleicht ist er morgen schon wieder ganz der Alte."
Gibbs ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Innerlich wusste er, dass sie Recht hatte. Er würde Tony wahrscheinlich in die Enge treiben und ihn einem regelrechten Verhör unterziehen, nur um herauszufinden, was mit ihm los war. Aber dennoch wusste er, dass sie beide um ein Gespräch nicht herumkamen, vorausgesetzt, DiNozzo benahm sich bald nicht wieder wie er selbst. Auch wenn er spürte, wie es ihm unter den Fingernägeln brannte, herauszufinden, was damals geschehen ist, weshalb Anthony lieber Vollwaise hätte sein wollen. Ihm war bewusst, würde er mit ihm noch heute im Fahrstuhl verschwinden, würde er ihn sicher anbrüllen und das Ganze würde in einen Streit ausarten, mit dem Ergebnis, dass er nicht schlauer als vorher sein würde. Dem Chefermittler war klar, dass er erst einmal selbst seine Ungeduld unter Kontrolle bringen musste, bevor er mit Tony redete. Denn mit schreien und Drohungen würde er diesmal nicht weit kommen. Es wäre das Beste, wenn er alle in den Feierabend schicken würde und einfach bis morgen abwartete, wie sich die Sache entwickelte. Und vielleicht hatte es sich bis dahin von selbst geregelt. Wenn nicht, musste er wohl oder übel seine einfühlsame Seite hervorkramen und Anthony klar machen, dass er sich ihm anvertrauen konnte und dass er ihm bei seinen Problemen helfen würde.
„Du hast Recht, Abbs", sagte er nach ein paar Sekunden des Überlegens. „Ich werde bis morgen warten, aber wenn sich DiNozzo bis dahin nicht wieder in sich selbst zurückverwandelt hat, werde ich mit ihm sprechen." „Aber ohne ihn anzubrüllen. Damit würdest du ihn nur vergraulen", erwiderte sie und blickte ihn etwas zweifelnd an, nicht sicher, ob er das auch machen würde. Ihr war bewusst, dass sich hinter Tonys selbstbewusster Fassade und seiner humorvolle Art ein ganz anderer Mann versteckte. Ein Mann, der Angst hatte, verletzt zu werden, wenn er seine wahren Gefühle zeigte.
„Ich weiß", meinte der Chefermittler auf ihre letzte Aussage. Die Idee, früher Feierabend zu machen, fand er immer reizvoller und während er an seinem Boot baute, konnte er sich eine Strategie zulegen. Es ging doch nichts über das beruhigende Schleifen von Holz, um zu verhindern, dass man seinen Agent zur Schnecke machte.
„Du bekommst das bestimmt hin", sagte Abby und klopfe ihm auf die Schulter. „Und vielleicht ist alles nur halb so schlimm wie wir glauben." „Ich hoffe es, Abbs. Ich hoffe es", erwiderte Gibbs, auch wenn er nicht wirklich daran glaubte.

Fortsetzung folgt...
Chapter 13 by Michi
Etwas außerhalb von Washington
Kurz vor 19 Uhr


Irgendwann hatte ich mich wieder auf das Bett gesetzt, den Rücken gegen das hölzerne Kopfteil gelehnt und schmökerte in Moby Dick weiter. Ich hatte meine Beine angewinkelt, das Buch auf meinen Oberschenkeln platziert und die Hände, die ich nur rührte, wenn ich eine Seite umblättern musste, hinter meinem Kopf verschränkt. Meines Wissens nach hatte ich seit einer kleinen Ewigkeit nichts mehr gelesen – außer langweilige Akten, die mir Gibbs von Zeit zu Zeit auf den Tisch knallte, mit einem knappen Befehl begleitet, er wolle sie vor Feierabend fertig auf seinem Platz lieben haben. Hatte ich ihn früher dafür innerlich verflucht, so wünschte ich mir jetzt seine unnachahmliche nette Art herbei, mit der er mich regelmäßig behandelte. Momentan fehlte mir das Reden mit einer Person mehr als Sonnenlicht oder Bewegungsfreiheit – nicht dass ich mich über zu wenig Bewegungsfreiheit beklagen würde. Mir war bewusst, dass mich Chris irgendwo anketten hätte können, sodass ich mich fast gar nicht mehr rühren hätte können und dazu verdammt gewesen wäre, nur herumzusitzen. Dadurch, dass er mir ein paar Unterhaltungsmedien dagelassen hatte, war in mir ein kleiner Hoffnungsschimmer entstanden, dass er mich doch noch ein wenig mochte. Mittlerweile konnte ich mir auch nicht mehr vorstellen, dass er mich einfach so umbringen würde. Egal was in der Vergangenheit zwischen uns vorgefallen war, so war Chris nie gewalttätig oder gefühllos gewesen – sah man von dem einen harten Faustschlag ab, den er mir verpasst hatte und der eher eine sekundenschnelle Reaktion gewesen war, anstatt wohlüberlegt.
Er hätte mich gestern auch einfach bewusstlos schlagen können, aber stattdessen hatte er mich mit einem Beruhigungsmittel außer Gefecht gesetzt, das mir zwar Kopfschmerzen, aber keine Gehirnerschütterung eingebracht hatte. In den letzten Stunden hatte ich genügend Zeit gehabt, über unsere Kindheit nachzudenken und langsam begann ich meinen Bruder zu verstehen – konnte seinen Frust nachvollziehen. Deshalb war meine anfängliche Wut auf ihn auf ein geringes Maß gesunken, obwohl ich es immer noch nicht gut hieß, dass er mich hier einfach einsperrte und meine Identität übernommen hatte. Anscheinend spielte er seine Rolle wirklich überzeugend, sonst hätten mich meine Freunde schon längst befreit – außer Chris weigerte sich zu verraten, wo ich mich befand. Würde er mich hier wirklich versauern lassen? Mir war bewusst, dass er den Schlüssel zu der Tür einfach wegschmeißen und mich verhungern lassen könnte. Das mit dem Verhungern würde wahrscheinlich ziemlich schnell gehen, da die Snacks, die er mir dagelassen hatte, nicht wirklich nahrhaft waren. Mein Magen knurrte seit geraumer Zeit und ließ sich nicht einmal mit ein paar Keksen beruhigen. Ich sehnte mich nach einem großen Hamburger oder noch besser: nach einer Pizza mit extra viel Käse.
Obwohl es durchaus sein könnte, dass mich Chris einfach vergaß, so spürte ich tief in meinem Inneren, dass er mir heute noch einen Besuch abstatten würde. Und wenn es so weit war, hoffte ich, dass er mir etwas zu Essen mitbringen würde – am Besten, eine ganze Wagenladung davon.
Ich seufzte leise, löste eine Hand von meinem Hinterkopf und blätterte eine weitere Seite des Buches um, nur um gleich darauf über meinen Magen zu reiben, der sich laut zu Wort meldete und sogar das Lied, welches gerade auf MTV lief, übertönte. Mein Blick schweifte zu der Kommode, in der die Snacks verstaut waren und förmlich darauf warteten, von mir verschlungen zu werden. Ich wollte mir die Sachen eigentlich aufheben, da ich ja nicht wusste, wann sich mein Bruder hierher bequemen würde. Immerhin war es nicht zu übersehen gewesen, dass dem NCIS ein neuer Fall ins Haus geflattert war und wie ich Gibbs kannte, bedeutete das jede Menge Überstunden.
Ein weiteres Knurren nahm mir aber schließlich die Entscheidung ab. Ich bog eine Ecke der Seite, die ich gerade zu lesen begonnen hatte, um, klappte das Buch zu und wollte gerade die Beine über das Bett schwingen, als mich das unverkennbare Geräusch eines Schlüssels, der in ein Schloss gesteckt wurde, inne halten ließ. Unwillkürlich fing mein Herz schneller an zu schlagen und ich rührte mich nicht vom Fleck. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich auf die Tür, deren Klinke langsam hinuntergedrückt wurde und schließlich lautlos aufschwang. Eine Sekunde später tauchte Chris auf, mit einem glücklichen Gesichtsausdruck, den ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Seine Körperhaltung war entspannt und er hatte ein freudiges Lächeln auf den Lippen, das nicht gespielt war. Er hatte seine Kleidung vom Vorabend gewechselt und trug nun eines meiner Hemden und Jeans. Meine Marke und die Pistole waren noch immer an seiner Hüfte befestigt und erinnerten mich erneut daran, wer er jetzt war. Aber diesmal interessierte ich mich nicht sonderlich dafür. Viel wichtiger war der Gegenstand, den er in beiden Händen hielt – ein große Pizzaschachtel, bei deren Anblick mein Magen sofort ein Knurren von sich gab und mir das Wasser im Mund zusammenlief.
„Hey, Tony", begrüßte er mich fröhlich, betrat den Raum und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt. „Angenehmen Tag gehabt?" Meine Muskelstarre löste sich bei seinen Worten in Luft auf und ich schnaubte. „Wenn du untätig auf einem Bett herumliegen, ein wenig lesen und fernsehen als einen angenehmen Tag bezeichnest, ja, dann hatte ich einen", antwortete ich eine Spur sarkastisch und schwang die Beine über das Bett. Gleichzeitig versuchte ich nicht allzu auffällig auf die Schachtel in seinen Händen zu starren, die mich wie magisch anzog. Chris sah mich für einen Moment an, bevor er zu lachen anfing. „Deinen Humor habe ich wirklich vermisst", erwiderte er schließlich belustigt, stellte die Pizza auf den Tisch und holte aus einem Rucksack – oder besser gesagt, meinen Rucksack - zwei Flaschen Bier heraus. Anschließend ließ er sich auf das Sofa fallen und streckte seine Beine aus. „Ich habe mir gedacht, du wirst sicher schon Hunger haben", fuhr er fort, da ich nichts gesagt hatte und auch jetzt noch keine Anstalten machte, ein Gespräch mit ihm anzufangen oder mich vom Fleck zu rühren, obwohl ich am liebsten aufgesprungen und mir die Pizza geschnappt hätte, die mittlerweile einen verführerischen Duft verströmte. „Ich habe nicht vergessen, dass du derjenige von uns beiden mit dem größeren Magen bist. Ich hoffe, du magst deine Pizza immer noch mit viel Käse?"
Chris beugte sich vor und öffnete die Schachtel, aus der prompt ein wenig Dampf entstieg und nahm sich ein Stück heraus, hielt aber inne, bevor er abbeißen konnte. „Was ist los?" wollte er wissen und sah mich mit einer erhobenen Augenbraue an. „Jetzt sag nicht, dass du keinen Hunger hast, Tony. Ich konnte das Knurren deines Magens vorher deutlich hören." Ich schüttelte den Kopf. „Was erwartest du eigentlich von mir?" fragte ich ihn etwas zu laut, weshalb er seine Augen zusammenkniff. „Glaubst du wirklich, ich setze mich gemütlich zu dir und könnte so tun, als ob nichts passiert wäre? Verdammt, du hast mich hier eingesperrt und ich war dabei, mich zu Tode zu langweilen. Und dann tauchst du wieder auf und glaubst, ich würde jetzt mit dir ein nettes Gespräch führen? Du hast vielleicht Nerven."
„Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist und…" „Sauer auf dich?!" unterbrach ich ihn. „Du nimmst an, ich wäre sauer auf dich?! Ich war es heute Morgen und auch noch teilweise am Nachmittag, aber mittlerweile tust du mir nur noch leid! Was kann ich denn dafür, wenn dich Mom und Dad nicht so wie mich behandelt und dich öfters gar nicht beachtet haben? Und du gibst mir die Schuld daran, habe ich Recht? Gibst mir die Schuld an einer Sache, für die ich im Prinzip nichts kann." Er zuckte mit den Schultern, hatte aber sichtlich Mühe, seinen Ärger zu verbergen, der in ihm während meiner Worte aufgestiegen war. „Du bist so ein Vollidiot, Chris!" Obwohl ich damit gerechnet hatte, ließ er sich durch meine Worte nicht aus dem Konzept bringen. „Du bist nicht der Erste, er mir das sagt." Gleich darauf biss er herzhaft in das Stück Pizza und kaute genüsslich. Ich schüttelte erneut den Kopf und wusste, mein kleiner Vortrag würde nicht dazu beitragen, dass ich hier herauskam. Meinen kleinen Widerstand aufgebend, stand ich auf und setzte mich ans andere Ende des Sofas, um zu meinem Bruder ein klein wenig Abstand zu wahren. Ohne lange zu zögern, schnappte ich mir ein Stück der Pizza, nahm einen großen Bissen und unterdrückte gerade noch einen zufriedenen Seufzer. „Und ich habe schon gedacht, du lässt mich hier verhungern", sagte ich mit vollem Mund. „Ich hatte auch vor, dich hungern zu lassen", erwiderte Chris und grinste bei meinem geschockten Gesichtsausdruck. „Ich war heute Vormittag richtig wütend auf dich, nachdem ich bemerkt habe, dass du mich angelogen hast." Mit Mühe schluckte ich den Bissen hinunter und versuchte gar nicht erst so zu tun, als ob ich nicht wüsste, wovon er sprach. „Ich wette, McGee hat ziemlich dumm aus der Wäsche gesehen, als du ihn mit seinem Vornamen angeredet hast." „Wenn sein Unterkiefer noch weiter hinuntergewandert wäre, hätte man ihm problemlos die Mandeln entfernen können." Er grinste, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Es war nicht gerade nett von dir, mich in Bezug auf McGee anzulügen. Du weißt genau, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn jemand nicht die Wahrheit sagt." „Hast du von mir etwas anderes erwartet? Ich bitte dich. Du übernimmst einfach mein Leben und glaubst, ich würde dir jedes noch so kleine Detail davon offenbaren. Da muss ich wohl meine Aussage von vorhin korrigieren. Du bist ein riesiger Vollidiot." Chris kniff seine Augen zusammen und funkelte mich ärgerlich an. „Hör auf, mich einen Vollidioten zu nennen." „Und ich dachte, ich wäre nicht der Erste, der dich als solchen bezeichnet." Ich nahm mir ein weiteres Stück und verschlang es innerhalb kürzester Zeit. Man hätte glatt den Eindruck haben können, ich hätte seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen. Während ich mit kauen beschäftigt war, ließ ich meinen Blick zu der nur angelehnten Tür schweifen, der Weg in die Freiheit. Aber ich müsste mehr als schnell sein, um überhaupt so weit zu kommen, immerhin saß ich am entfernteren Ende der Couch. Aber dennoch, es war nicht unmöglich, vor allem, da Chris dabei war, einen Schluck von seinem Bier zu nehmen. „Denk nicht einmal daran, Tony", sagte er im Plauderton und setzte die Flasche ab. „Woran soll ich nicht denken?" „An eine Flucht. Deine Augen kleben viel zu auffällig an der Tür. Du überlegst sicher gerade, ob du es schaffen könntest, ungehindert den Raum zu verlassen. Aber ich muss dich daran erinnern, dass ich derjenige mit der Waffe bin." Mit seiner freien Hand strich er über das Holster, zog sie aber nicht heraus. „Meine Waffe, wären wohl die richtigeren Worte." Ich ließ mich gegen die Sofalehne sinken, da ich wusste, dass Chris Recht hatte. Eine Kugel war viel schneller als ich und ob er es wirklich riskieren würde, auf mich zu schießen, wollte ich lieber nicht herausfinden. Es gab sicher eine andere Möglichkeit, um aus diesem Raum zu entkommen und bis ich ihn gefunden hatte, musste ich mich ein wenig gedulden.
„Jetzt ist sie nicht mehr deine Waffe, sondern meine." „Sei dir da nicht so sicher. Ich werde sie mir wieder zurückholen, wenn meine Freunde dein falsches Spiel durchschauen." Diese Worte entlockten ihm nur lediglich ein Grinsen und er bediente sich ein weiteres Mal von der Pizza. Anscheinend war ich nicht der Einzige, der hungrig war. So wie ich Gibbs kannte, hatte er wieder einmal verhindert, dass alle zu ihrem wohlverdienten Essen kamen. Aber gleich darauf wurde ich durch seinen nächsten Satz in die grausame Wirklichkeit zurückgeholt. „Deine Kollegen haben keinen blassen Schimmer, dass sie den ganzen Tag nicht mit Anthony DiNozzo zusammen gewesen sind." Meine Hand, die zu der Bierflasche gewandert war, hielt inne und ballte sich unwillkürlich zu einer Faust. Das konnte doch nicht wahr sein, dass sie nichts gemerkt hatten. Sie mussten doch aus einer Meile Entfernung riechen, dass etwas nicht stimmte. Wo war nur Gibbs' feines Gespür für Lügen? Bei jedem Verhör merkte er sofort, wenn ihm jemand nicht die Wahrheit erzählte und dann entging es ihm, dass nicht ich es war, der an meinem Schreibtisch gesessen und in Quantico gewesen war?
„Zwar hatte ich ein paar Startschwierigkeiten", fuhr Chris fort und grinste wegen meiner geschockten Reaktion. „Aber die haben sich schließlich in Luft aufgelöst. Ich muss sagen, mein erster Tag als Special Agent war unglaublich. Jeder hat mich respektiert und nicht einfach links liegen lassen. Du hast ein Glück, solche Freunde zu haben, weißt du das? Sogar Gibbs scheint dich zu mögen, wenn auch auf andere Art und Weise wie die anderen. Allerdings scheint er seine Mitarbeiter gerne zu schlagen, oder täusche ich mich da?" War ich vor Sekunden noch wegen der Tatsache, dass es niemandem auffiel, dass nicht ich im Büro gewesen war, mehr als deprimiert gewesen, so hellte sich meine Stimmung prompt auf. Auf meinem Gesicht breitete sich ein schadenfrohes Grinsen aus und ich griff nach der anderen Bierflasche, um einen großen Schluck zu trinken.
„Dann bist du also in den Genuss einer von Gibbs' Kopfnüssen gekommen?" fragte ich und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme einen höhnischen Klang annahm. Die Vorstellung, wie Chris einen saftigen Klaps erhielt und nicht ich, amüsierte mich mehr als die witzigste Komödie und ich vergaß für einen Moment, dass ich eigentlich in Schwierigkeiten steckte.
„Nicht nur eine. Es waren zwei." Mein Grinsen wurde noch breiter und ich nahm mir zur Belohnung, dass er es doch nicht so leicht gehabt hatte wie er gedacht hatte, ein weiteres Stück Pizza. „Wenn du weiterhin mich spielen willst, musst du dich wohl oder übel daran gewöhnen", sagte ich mit vollem Mund. „Es vergeht kein Tag, an dem er keine Kopfnüsse austeilt und sei es nur, weil du eine Sekunde länger brauchst, um einen seiner Befehle auszuführen." „Ich denke, dass werde ich schon aushalten oder ihm einfach keinen Anlass mehr dazu geben, mir eine zu verpassen. Allerdings würde es mehr als komisch aussehen, wenn ich mich plötzlich am Riemen reißen würde. Mich haben ja schon alle schief angesehen, nur weil ich vor sieben Uhr aufgetaucht bin." Ich schluckte den Bissen hinunter und hatte das Gefühl, mein Grinsen würde gar nicht mehr aus meinem Gesicht verschwinden. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie alle Chris mit großen Augen angestarrt hatten, weil er pünktlich zur Arbeit erschienen war. „Tja, ich habe da das kleine Problem, dass ich gerne verschlafe", erwiderte ich noch immer grinsend, worauf mein Bruder seine Mundwinkel ebenfalls nach oben zog. „Was mich eigentlich nicht wundern sollte. Es war schon früher eine Schwerstarbeit, dich aus dem Bett zu schmeißen." „Manche Sachen ändern sich eben nie." Das Schweigen, das sich nach dem kurzen Dialog ausbreitete, war überraschend friedlich und nicht feindselig. In unserer Kindheit waren wir öfters so beisammen gesessen ohne ein Wort zu sagen, hatten einfach den Geräuschen um uns herum gelauscht, so wie jetzt dem Fernseher. Ich sah zu dem Bildschirm, wo Madonna gerade erschien und ihren neuesten Hit zum Besten gab.
„Ich habe dich heute im Fernsehen gesehen", durchbrach ich schließlich unser Schweigen und blickte wieder zu Chris, der mit seinen Gedanken ganz wo anderes gewesen war. Wahrscheinlich wäre es ein Leichtes gewesen, jetzt abzuhauen, aber irgendwie wollte ich es gar nicht. Ich wollte die Kluft zwischen uns wieder verschließen und wenn ich davonlief, würde ich ihn wahrscheinlich für immer verlieren. Ich erinnerte mich an mein Versprechen, das ich mir vor Stunden selbst gegeben hatte. Egal wie lange es dauerte, ich würde hartnäckig versuchen, meinen Bruder, so wie ich ihn kannte, hervorzuholen. „Wirklich?" fragte er überrascht, nachdem er sich ein wenig aufgesetzt und seine Aufmerksamkeit wieder mir zugewandt hatte. „Ihr seid in den Nachrichten gewesen, als ihr den Stützpunkt in Quantico verlassen habt. Muss ein grausamer Mord gewesen sein, jedenfalls hat das die Reporterin erzählt." „Grausam ist nicht einmal annähernd der richtige Ausdruck dafür. Es ist nicht gerade ein netter Anblick, wenn einem der Schädel mit einem Baseballschläger eingeschlagen wurde." „Und Gibbs hat euch nicht zu Überstunden verdonnert?" fragte ich verblüfft und trank einen weiteren Schluck Bier. Wenn es einen neuen Fall gab, dann kam es nicht selten vor, dass wir bis spät in die Nacht hinein arbeiteten, um den Mörder zu finden. „Nein, hat er nicht. Um kurz nach sechs hat er uns in den Feierabend geschickt." „Da bin ich einmal nicht in der Arbeit und schon dürft ihr früher nach Hause. Das ist echt nicht fair." Ich ließ mich in die Polster zurücksinken und starrte abwesend an die Decke. Seit ich Jethro kannte, war es nicht oft vorgekommen, dass er uns vor sechs Uhr erlaubt hatte, Schluss zu machen. Wurde er vielleicht ebenfalls durch einen Zwillingsbruder ersetzt? Bei dieser Vorstellung schüttelte ich den Kopf und setzte mich wieder aufrecht hin. Obwohl es mich brennend interessierte, mehr über den Fall zu erfahren, so hielt ich mich zurück. Für mich war es wichtiger, mich mit Chris zu beschäftigen. Ich wollte etwas über die letzten 15 Jahre wissen, in denen ich keinen Kontakt zu ihm gehabt hatte, wollte wissen, wie es ihm so ergangen war, was er alles gemacht hatte.
Bestimmt stellte ich die Bierflasche auf den Tisch zurück und rückte in wenig an ihn heran, verringerte die Distanz zwischen uns, ließ aber noch genügend Abstand, damit er sich nicht bedrängt fühlte. „Wo hast du bloß die ganzen Jahre über gesteckt?" fragte ich vorsichtig, da ich mir nicht sicher war, wie er darauf reagieren würde. „Ich habe mich ziemlich oft gefragt, wo du bist und was du gerade machst." „Da wirst du sicher der Einzige gewesen sein", erwiderte er leise und für einen kurzen Moment verfinsterte sich sein Gesicht. „Komm schon, Chris. Erzähl mir etwas von deinem Leben. Ich würde gerne…" „Was würdest du gerne?" unterbrach er mich unwirsch. „Mich mit deinen Worten einlullen? Mich um den kleinen Finger wickeln, damit ich dich gehen lasse?" „Nein, ich will mich nur ein wenig mit dir unterhalten und mehr über dich erfahren." Er beugte sich ein wenig vor und kniff seine Augen zusammen. „Du willst also mehr über mich erfahren? Ich war die ganze Zeit in L.A. und habe mir dort ein neues Leben aufgebaut. Und weißt du was das Erste gewesen ist, was ich gemacht habe? Ich habe meinen Nachnamen geändert, mich damit für allemal von den DiNozzos losgesagt und somit meine Vergangenheit hinter mir gelassen. Zum ersten Mal habe ich mich so richtig frei gefühlt und habe tun und lassen können, was ich wollte, ohne gleich die Befürchtung zu haben, ich würde Dad dadurch gegen mich aufbringen. Es gab keinen, der mir Vorschriften gemacht hat und vor allem keine Menschen, die mich hintergangen haben."
Es war offensichtlich, dass mein Versuch, mehr über sein Leben herauszufinden, gerade nach hinten losgegangen war. Wut glomm in seinen Augen auf und er hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Ich schluckte und widerstand nur mit Mühe dem Drang, seinem Blick auszuweichen. „Hör auf damit, Chris", sagte ich leise. „Das liegt über 15 Jahre zurück. Ich habe dir sogar verziehen, dass du mir beinahe den Unterkiefer gebrochen hast und…" „Schön für dich", erwiderte er laut und seine Stimme hatte einen kalten Klang angenommen. „Aber ich habe dir nicht verziehen. Ich hatte wirklich gedacht, du wärst anders als unsere ach so tollen Eltern, aber ich habe mich nur in dir getäuscht." „Es war nicht so wie es ausgesehen hat. Lass mich…" „Halt deine Klappe, Tony!" schrie er mich an und sprang auf. „Ich weiß genau was ich gesehen habe, also spar dir deine Erklärung! Ich will sie nicht hören, es würden doch nur Lügen über deine Lippen kommen!"
„Chris…" begann ich, musste aber einsehen, dass es sinnlos war. Er hatte vor sich wieder eine Mauer aufgebaut und sie einzureißen war momentan ein Ding der Unmöglichkeit. „Halt einfach deinen Mund", sagte er, bückte sich und schnappte sich den Rucksack. „Ich werde jetzt gehen und…" „Du kannst mich doch nicht schon wieder einfach hier zurücklassen!" Nun war es an mir, laut zu werden. „Das kann ich und werde es auch machen! Glaubst du, für einen einzigen Tag hätte ich es auf mich genommen, diesen Raum einzurichten, nur um dich hier so kurz einzusperren?! Jetzt bist wohl du der Vollidiot!" Mit großen Schritten ging er zur Tür, öffnete sie und trat in den schwach erleuchteten Gang hinaus. „Warte!" rief ich, stand auf, blieb aber stehen, als seine Hand gefährlich nahe zu der Waffe an seiner Hüfte kam. „Bis morgen, Tony. Vielleicht", fügte er hinzu, schlug die Tür mit einem lauten Krachen zu und sperrte ab. „Verdammt!" entfuhr es mir und ich lehnte meine Stirn gegen die Tür, nur um gleich darauf mit der Faust dagegen zu schlagen. Allerdings war ich nicht auf Chris wütend sondern auf mich selbst. Wieso hatte ich auch unbedingt etwas über sein Leben in den letzten 15 Jahren erfahren wollen? Und was hatte es mir eingebracht? Ich war erneut hier eingesperrt, ohne Aussicht, bald aus meiner misslichen Lage rauszukommen. „Das hast du klasse hinbekommen, Anthony", murmelte ich und schlug erneut auf die Tür ein. „Wirklich toll gemacht." Frustriert fuhr ich mir durch meine Haare, drehte mich um und ging zum Sofa zurück. Der erste Versuch, den alten Chris zurückzubekommen, war fehl geschlagen, aber ich würde sicher nicht aufgeben. Irgendeinen Weg musste es doch geben, um die Mauer einzureißen, die er um sich aufgebaut hatte und ich würde ihn finden, egal wie lange es dauern würde. So schnell gab ein Anthony DiNozzo nicht auf.

Fortsetzung folgt...
Chapter 14 by Michi
Washington D.C.
Mittwoch, 13. Mai
07:05 Uhr


Es war kurz nach sieben Uhr, als Chris den Fahrstuhl in der Tiefgarage betrat, um in die dritte Etage zu fahren. Kaum hatten sich die Türen geschlossen, ließ er den Rucksack auf den Boden fallen, lehnte sich an die hintere Wand und schloss für einen Moment seine Augen. In der kleinen Kabine war es herrlich still und er wusste, wenn er das Großraumbüro erreichte, würde es für viele Stunden mit der Ruhe vorbei sein. Immerhin mussten sie noch einen Mörder fangen, der frei herumlief und vielleicht schon seinen nächsten Einbruch plante – vorausgesetzt, es handelte sich überhaupt um einen. Als er gestern nach Hause gefahren war, hatte er erneut über den Fall nachgedacht und irgendetwas störte ihn weiterhin an dem ganzen Bild. Aber Chris hatte keinen freien Kopf gehabt, um die einzelnen Puzzleteilchen an ihren richtigen Platz zu legen. Der Besuch bei Tony hatte ihn doch mehr mitgenommen, als er sich eingestehen wollte. Er hatte vorgehabt, einfach in den Raum zu gehen, seinem Bruder zu sagen, dass sein erster Tag als Agent hervorragend verlaufen war und anschließend einfach wieder verschwinden. Aber es war alles ganz anders gekommen. Angefangen hatte es bereits damit, dass er sich kurzerhand entschlossen hatte, eine Pizza zu kaufen, da er wusste, dass Anthony sicher Hunger hatte, auch wenn er ihn ein wenig leiden hatte lassen wollen, da er ihn in Bezug auf McGee angelogen hatte. Aber da alles mehr oder weniger glatt verlaufen und er deswegen guter Laune gewesen war, hatte er nicht weiterhin böse auf ihn sein können. Zu schön war das Gefühl gewesen, dass es plötzlich Menschen gab, die ihn mochten und nicht nur deswegen, weil sie von ihm etwas wollten. Es war nicht so, dass er in seiner Kindheit keine Freunde gehabt hatte, aber seit er sich von seiner Familie losgesagt hatte und nach L.A. abgehauen war, hatte er keine engen Bindungen geknüpft, aus Angst, er würde erneut enttäuscht werden. Deshalb hatte er sich vorwiegend nur auf geschäftliche Beziehungen eingelassen und Menschen nicht zu nahe an ihn herangelassen. Es war schon seltsam, dass er sich nach Jahren wieder einmal geborgen fühlte, auch wenn er wusste, dass die Personen um ihn herum ihn für Tony hielten, was ihm doch ein wenig schmerzte. Was würden sie nur sagen, wenn sie herausfinden würden, wer er wirklich war? Würde er gleich in den Knast wandern oder würden sie Milde walten lassen, wobei er sich nicht sicher war, ob dieses Wort Gibbs überhaupt kannte. Immerhin war er Bundesagent. Und Chris war sich mehr als bewusst, dass er Tony entführt und somit ein Verbrechen begangen hatte, über dessen Konsequenzen er sich noch nicht wirklich den Kopf zerbrochen hatte. Er wusste nicht einmal was er machen sollte, sollte sein falsches Spiel auffliegen. Aber eines war sicher: er würde bestimmt nicht ins Gefängnis gehen. Einmal hatte ihm gereicht und er hatte sich geschworen, diese äußerst tristen Räumlichkeiten kein weiteres Mal von innen zu sehen, sei es als Besucher oder als Insasse.
Chris schüttelte seinen Kopf, um die Gedanken von der Zukunft wieder dorthin zu bringen, wo sie vorher gewesen waren: bei dem gestrigen Abend. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er das Zusammensein mit Tony vermisst. Früher waren sie oft zusammengesessen, hatten über alles und jeden geredet und dabei Pizza gegessen, während Lucille in der Nähe und damit beschäftigt gewesen war, zu stricken. Mit den Jahren waren diese Gespräche zwar immer seltener geworden, aber wenn sie stattgefunden hatten, dann stundenlang und manchmal sogar die ganze Nacht lang. Und gestern hatte er erneut das geborgene Gefühl gehabt, wenn er mit Anthony geredet hatte. Für ein paar Minuten war es wie früher gewesen, sie hatten Pizza gefuttert und sich gegenseitig etwas erzählt. Diese kurze Zeit über hatte er nicht daran gedacht, dass sein Bruder eigentlich ein Gefangener war, hatte nicht daran gedacht, dass er ihn gekidnappt und seinen Platz eingenommen hatte, zu sehr hatte er es vermisst, mit ihm zusammen zu sein, hatte seinen trockenen und teils schweinischen Humor vermisst. Und dann musste Tony unbedingt von den letzten 15 Jahren anfangen. Wieso wollte er unbedingt etwas von seinem Leben wissen? Chris erinnerte sich nicht immer gerne an seine nicht gerade legalen Tätigkeiten in L.A. und schon gar nicht an den Grund, weshalb er Washington noch vor seinem Highschoolabschluss verlassen hatte. Die Wut von damals war erneut an die Oberfläche gekommen und hatte die ganze Stimmung zerstört, hatte ihm die Geborgenheit genommen, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Trotz des Ärgers, der in ihm gebrodelt hatte, hatten ihn die Worte von Tony nicht mehr in Ruhe gelassen. Dieser hatte ihm verziehen, dass er ihn geschlagen hatte, wieso also konnte er es nicht umgekehrt genauso? Die Sache lag immerhin 15 Jahre zurück, eine lange Zeit, um wirklich nachtragend zu sein.

Chris war am Abend im Bett gelegen und hatte sich darüber seine Gedanken gemacht, während draußen der Mond seine Bahn gezogen und der Dienstag in den Mittwoch übergegangen war. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und Tony zu verzeihen. Aber dennoch konnte er nicht verhindern, sich vorzustellen, wie sein Leben ausgesehen hätte, wäre er an diesem Abend nicht in das Zimmer seines Bruders gestürmt. Vielleicht wäre er dann nicht abgehauen und hätte stattdessen ein elitäres College besucht, anstatt sich mehr schlecht als Recht durchzuschlagen. Aber er konnte die Zeit nicht mehr zurückdrehen und er würde versuchen, aus der Situation das Beste zu machen. Wenn der jetzige Fall abgeschlossen war und der Mörder hinter Gittern sah, dann würde er sich noch einmal in Ruhe mit Anthony, ihrer Kindheit und den einen verhängnisvollen Abend beschäftigen, würde alles überdenken und vielleicht kam er zu einem Schluss, wie seine weitere Zukunft aussehen würde.

Das leise Pling des Fahrstuhls brachte Chris wieder in die Gegenwart zurück und als sich die Türen öffneten, schnappte er sich den Rucksack und verließ die kleine Kabine, in dem Bewusstsein, dass er zu spät dran war. Aber da die anderen ihn gestern mehr als seltsam angesehen hatten, da er vor sieben im Büro aufgetaucht war, hatte er sich heute etwas mehr Zeit gelassen und dank des dichten Morgenverkehrs hatte er das Hauptquartier erst um kurz nach sieben erreicht. Wenn Tony es überlebt hatte, dass er sooft zu spät kam, dann würde er auch nicht den Kopf verlieren – hoffte er zumindest.
Chris eilte zum Schreibtisch, ließ den Rucksack achtlos auf den Boden fallen und setzte sich auf den Stuhl. „Deine guten Vorsätze haben ja nicht allzu lange gehalten", begrüßte ihn Ziva und schenkte ihm ein etwas spöttisches Grinsen. „Der Verkehr war ziemlich stark", erwiderte er und fuhr den PC hoch. „Du hattest auch schon einmal bessere Ausreden", meinte McGee, dessen Kopf hinter seinem Computerbildschirm auftauchte und ihn direkt ansah. „Das ist keine Ausrede, Bambino. Und hast du nichts anderes zu tun, als mich zu nerven?" Dieser verzog eine Spur beleidigt seinen Mund und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Aber innerlich atmete er auf. Tony schien wieder ganz der Alte zu sein, wenn er anfing, erneut zu spät zu kommen und er nicht mehr allzu freundlich zu ihm war. Vielleicht hatte er gestern einfach nur einen schlechten Tag gehabt oder zu wenig Schlaf gefunden. Was auch immer der Grund für seine kurzfristige Veränderung gewesen war, es war ihm egal, solange er nicht erneut das Gefühl hatte, eine andere Person würde am Schreibtisch neben ihm sitzen.
Chris sah zu, wie sein Computer hochfuhr und unterdrückte ein Gähnen. Für seinen Geschmack hatte er viel zu wenig Schlaf gefunden. Nicht, dass er ein Morgenmuffel wäre, aber nicht einmal fünf Stunden im Bett hatten definitiv nicht ausgerecht, um komplett ausgeruht aufzustehen.

„Anstrengende Nacht gehabt, DiNozzo?" erklang Gibbs' Stimme links neben ihm und ließ ihn zusammenzucken. Wieder einmal hatte er es geschafft, sich lautlos anzuschleichen. Irgendwann musste er den Chefermittler fragen, wie er das machte. „Ich konnte gestern nicht einschlafen", antwortete Chris wahrheitsgemäß, wobei seine Worte bei Ziva ein Grinsen auslöste, die sich nur allzu gut vorstellen konnte, weshalb ihr Gegenüber nicht gerade munter war. „Hattest du noch Besuch?" konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen, wobei sie als Erwiderung einen funkelnden Blick aus grünen Augen erhielt. Er hatte bereits einen passenden Satz auf seiner Zunge liegen und öffnete seinen Mund, hielt aber rechtzeitig inne, als er eine kurze Bewegung von Jethros rechtem Arm wahrnahm und anstatt ein Wort zu sagen, rollte er aus der Reichweite der Hand, die sicher ihren Weg zu seinem Hinterkopf gesucht und problemlos gefunden hätte.
Seine leicht übertriebene Reaktion entlockte Gibbs ein Grinsen und er stellte eine Spur erleichtert fest, dass Tony anscheinend die niedergeschlagene Phase von gestern überwunden hatte. Seine Körperhaltung war entspannt, seine Augen strahlten wieder mehr und er hatte es geschafft, erneut zu spät zu kommen – eigentlich alles wie immer. Aber dennoch blieb ein leichtes Gefühl der Besorgnis zurück. Die Worte, das sein Agent lieber Vollwaise gewesen wäre, ließen ihm einfach keine Ruhe mehr. Er hatte sich noch nie sonderlich für das Privatleben seiner Kollegen interessiert, aber diesmal sollte er vielleicht eine Ausnahme machen. Was war nur in der Vergangenheit passiert, dass er sich wünschte, keine Eltern zu haben? Eventuell sollte er Abby ein wenig in der DiNozzo Familiengeschichte graben lassen, aber wäre das nicht Verrat gegenüber Tony? Wenn dieser nichts davon erzählte, dann wollte er wahrscheinlich, dass es weiterhin im Verborgenen blieb. Deshalb beschloss Gibbs, den jungen Mann nicht aus den Augen zu lassen, seine Reaktionen in den nächsten Stunden zu beobachten und wenn die Arbeit nicht darunter litt, dann musste er wohl oder übel einsehen, dass Tony sich durch seine Erinnerungen nicht aus dem Konzept bringen ließ und er doch stärker war, als er allen immer weismachen wollte.

„Das nächste Mal solltest du früher losfahren, um nicht im Morgenverkehr festzustecken", sagte Gibbs und schenkte Chris einen bedrohlichen Blick, der sich unwillkürlich fragte, wie dieser seine Worte an McGee mitbekommen hatte, obwohl er sich nicht im Großraumbüro aufgehalten hatte. „Ich werde es mir merken, Boss", erwiderte er, was den Chefermittler anscheinend zufrieden stellte, da er zu seinem Platz ging und seinen Kaffee austrank, den er die ganze Zeit in der linken Hand gehalten hatte. „Davon gehe ich aus", meinte er nachdrücklich und warf den leeren Becher in den Mülleimer neben seinem Schreibtisch. „Und jetzt macht euch an die Arbeit. Ich will wissen, weshalb Commander Emmerson vor fünf Jahren plötzlich von Norfolk nach Quantico gezogen ist." „Ist das denn wichtig?" fragte McGee und runzelte die Stirn. „Ich dachte, es wäre ein Einbruch, was hat das mit der Vergangenheit des…" Ein scharfer Blick aus blauen Augen ließ ihn inne halten und er spürte, wie sich seine Wangen mit einem Hauch von Rot überzogen. „Andererseits kann es nicht schaden, ein wenig tiefer zu graben", fügte Tim hinzu und konzentrierte sich wieder auf den Computerbildschirm, nur um dem stechenden Blick zu entkommen, der ihn jedes Mal wie Espenlaub zittern ließ.
Chris konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er McGee beobachtete, der sich intensiv mit seinem PC beschäftigte. Irgendwie fand er es amüsant, dass nicht nur er sich unwohl fühlte, wenn Gibbs einen direkt ansah. Noch immer lächelnd drehte er sich um und blickte zu Ziva, die ruhig an ihrem Platz saß und konzentriert Informationen von dem Bildschirm vor ihr ablas. Dabei hatte sich eine Strähne ihres Haares, das sie heute zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte, aus dem Zopf gelöst und fiel ihr ins Gesicht. In diesem Moment erinnerte Chris die junge Frau mehr denn ja an Amy. Bilder von seiner damaligen Freundin überfluteten sein Gehirn, weshalb er sich schnell auf seinen Computer konzentrierte, in der Hoffnung, sie zurückzudrängen. Aber er sah nicht die Buchstaben vor sich, sondern das Gesicht des Mädchens, das er über alles geliebt und die sein Leben in einer Art und Weise geprägt hatte, mit der er niemals gerechnet hätte. „Amy", flüsterte er beinahe tonlos. Das Großraumbüro rückte in den Hintergrund, verschwand aus seiner bewussten Wahrnehmung, genauso wie die Gespräche der anderen Agenten. Seine Erinnerungen schweiften zu dem Tag ab, an dem er sie kennen gelernt hatte, an dem sie wie ein Wirbelwind in sein Leben getreten war…

Während draußen dicke Schneeflocken lautlos vom Himmel segelten und auf dem gefrorenen Boden aufkamen, um sich dort zu einer dicken weißen Decke zu vereinigen, hallte in dem großen Einfamilienhaus in einem Vorort von Washington laute Musik. Es war der letzte Tag des Januars und somit der Geburtstag von Zack Brewer, dem besten Freund von Chris, der heute 17 Jahre alt wurde. Seine Eltern hatten ihm erlaubt, eine große Party zu schmeißen, während sie auf Skiurlaub in den Rocky Mountains waren. Die Nachbarn waren nicht gerade begeistert davon gewesen, sich eine halbe Nacht lang laute Musik anhören zu müssen, hatten sich aber dann doch umstimmen lassen und waren bereit, ein Auge zuzudrücken, wenn es etwas zu stürmisch wurde. Zack war in der Nachbarschaft überall beliebt und hatte viele Freunde, vor allem seit der im Footballteam der Highschool, die er besuchte, spielte. Er und Chris kannten sich seit zwei Jahren und hatten sich auf Anhieb verstanden und so war es auch nicht verwunderlich, dass dieser der Erste gewesen war, der eine Einladung zu der Party bekommen hatte. Zack wollte eigentlich beide DiNozzo Brüder auf dem Fest haben, aber Tony hatte sich vor zwei Tagen eine schlimme Grippe eingefangen und durfte das Bett nicht verlassen, auch wenn er stark dagegen protestiert hatte und jedem damit auf die Nerven gegangen war. Und so war Chris alleine losgefahren, hatte aber seinen Eltern fest versprechen müssen, keinen einzigen Tropfen Alkohol anzurühren, ansonsten könne er sich auf einen Monat Hausarrest gefasst machen. Seit er jedoch 17 Jahre alt geworden war, hatte er aufgehört, auf die beiden zu hören und hatte sich deshalb einfach wortlos verabschiedet, ungeachtet dessen, dass ihm sein Vater nachgeschrien hatte, sie wären noch nicht miteinander fertig. Aber das war ihm egal gewesen. Jede Minute, die er weit entfernt von diesem Mann verbringen konnte, war ein Geschenk Gottes und er würde sich garantiert den Abend nicht durch irgendwelche Drohungen vermiesen lassen. Dass er vor hatte, sowieso nichts zu trinken, da er mit dem Auto unterwegs war, hatte er wohlweislich verschwiegen, da er es immer wieder gerne sah, wenn sein alter Herr wegen ihm aus der Haut fuhr. Sollte er ruhig mitbekommen, was sein Sohn von ihm hielt.

Mittlerweile war die Party seit mehr als zwei Stunden im Gange und die Zeiger der Uhr näherten sich immer mehr 23 Uhr. Das große Wohnzimmer des Hauses war mit Teenagern beinahe überfüllt, die sich auf jede sich bietende Sitzgelegenheit gequetscht hatten und sich lauthals mit ihren Freunden unterhielten. Der dunkle Parkettboden war bereits mit zahlreichen Knabbereien übersät, die den Weg in die Münder nicht gefunden hatten. Auf den Tischen standen überall Pappbecher herum, teilweise leer oder noch mit den verschiedensten Getränken gefüllt. Einige Pärchen bewegten sich in der Mitte des Raumes rhythmisch zu den Klängen der Musik, wobei vor allem die Mädchen durch aufreizende Bewegungen den männlichen Anteil der Gäste anheizten.
Chris stand bei dem gut gefüllten Bücherregal und hielt einen Becher Cola in der Hand, der allerdings fast leer war. Neben ihm befand sich Trevor, ein weiterer Spieler des Footballteams, ein großgewachsener Junge mit langen blonden Haaren und braunen Augen, die die Farbe von Whiskey hatten. Sie hatten sich etwa 15 Minuten lang unterhalten, wobei schreien der bessere Ausdruck dafür wäre. Durch die laute Musik war eine normale Unterredung so gut wie unmöglich und jetzt waren beide ein wenig heiser. Außerdem hatte Trevor vor kurzem ein Mädchen ins Auge gefasst, das wild tanzte und dabei ihre Haarmähne ständig von links nach rechts warf. Da dieser nicht den Anschein machte, auch in den nächsten Sekunden wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren, beschloss Chris in die Küche zu gehen und sich seinen Becher wieder zu füllen. Im Gegensatz zum Wohnzimmer war es hier nicht ganz so überfüllt und die Musik wurde ein wenig durch die dicke Holztür gedämpft. Die Küche selbst war mit den modernsten Geräten, die es zurzeit auf dem Markt gab, eingerichtet und auf dem großen Tisch, an dem gut und gerne zehn Personen Platz fanden, standen unordentlich die Getränkeflaschen herum. Neben ihm waren noch vier weitere Personen hier anwesend und einer davon war Zack, der sich ein Bier aus dem Kühlschrank holte und sichtlich unsicher auf den Beinen war, aber dennoch schaffte er es ohne Mühe, sich die Flasche zu schnappen und einen gierigen Schluck daraus zu nehmen.

„Hey", sagte Chris, damit sich der andere nicht erschreckte, wenn er sich umdrehte. „Alles klar?" hakte er gleich darauf nach und stellte seinen Becher auf den Tisch ab, um ihn mit Cola zu füllen. „Aber sicher", erwiderte Zack mit schwerer Zunge und grinste, wobei er eine Reihe weißer Zähne enthüllte. Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab und sein T-Shirt hatte vorne einen kleinen Fleck, wo er sich vor etwa einer halben Stunde mit einem Bier bekleckert hatte. „Mir ist nur ein wenig schwindelig", fügte er hinzu und kniff seine blauen Augen zu Schlitzen zusammen. Chris fing zu lachen an und klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Kein Wunder, bei der Menge, die du bereits getrunken hast." „Man wird nur einmal 17. Und muss ich dich daran erinnern, wie es dir bei Tonys und deiner Geburtstagsparty gegangen ist? Ich war nicht derjenige, der draußen im Garten hinter einen Busch getorkelt ist, um seinen Magen auszuleeren." Chris verzog bei dieser Erinnerung das Gesicht. Es war das erste Mal gewesen, dass er betrunken gewesen war und er hatte sich seit dem geschworen, nie wieder so viel zu konsumieren – jedenfalls nichts Alkoholisches. Er hatte von Glück reden können, dass seine Eltern an diesem Tag nicht zu Hause gewesen waren, sonst hätte er sich gleich einen ellenlangen Vortrag anhören dürfen. Aber die beiden hatten nicht einmal etwas von der Party erfahren, nur Lucille war eingeweiht gewesen und sie hatte es so eingefädelt, dass die Bedienstenten sich diese Nacht frei genommen hatten. Es war einer der besten Abende seines Lebens gewesen.
Zack grinste spöttisch, zwinkerte seinem Freund zu und verließ die Küche, um zu seinen Gästen zurückzukehren. Für einen kurzen Augenblick blieb Chris noch stehen, nahm sich schließlich den vollen Becher und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo bereits das nächste Lied gespielt wurde. Die Menschenmenge schien noch mehr geworden zu sein und mittlerweile war es ziemlich stickig in dem Raum, dessen Einrichtung wie durch ein Wunder noch heil geblieben war. Grinsend schüttelte er den Kopf angesichts der vielen Teenager und wollte sich bereits auf den Weg zurück zu Trevor machen, der noch immer keine Anstalten gemacht hatte, die Schwarzhaarige anzusprechen, die ihn so faszinierte, als plötzlich jemand mit voller Wucht in ihn hineinlief, ihn damit aus dem Gleichgewicht brachte und somit der Inhalt seines Bechers auf sein Hemd befördert wurde. Die klebrige Flüssigkeit durchnässte den Stoff innerhalb einer Sekunde und blieb unangenehm auf seiner Haut kleben. Und ausgerechnet heute hatte er sein Lieblingshemd anziehen müssen, das vorher Tony gehört hatte, der es ihm aber geschenkt hatte, nachdem dieser mitbekommen hatte, wie sehr es Chris mochte.
Etwas ärgerlich darüber, blickte er sich nach dem Verursacher des Zusammenstoßes um. Vor ihm stand ein Mädchen, das einen Kopf kleiner als er war und ihn entschuldigend ansah. Ihre Haut war makellos und schimmerte weich in der Beleuchtung des Raumes. Ihre langen braunen Haare waren zu einem Zopf gebunden, aus dem sich allerdings eine Strähne gelöst hatte und ihre linke Wange umschmeichelte. Ihre vollen Lippen waren mit einem dezenten roten Lippenstift geschminkt, ihre Wangenknochen wurden durch ein wenig Rouche hervorgehoben und durch den dunklen Lidschatten wurden ihre Augen besonders betont. Und es waren diese braunen Augen, die Chris derart in den Bann zogen, sein Herz schneller schlagen ließen und seinen gesamten Körper mit einem Prickeln überzogen. Vergessen war sein nasses Hemd, vergessen waren die laute Musik und die vielen Menschen, die sich mit ihm in dem Raum aufhielten. Sein Hals wurde staubtrocken und der Kloß in seinem Hals hatte die Ausmaße des Mount Everests erreicht.
Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich einer von ihnen rührte oder den Blickkontakt unterbrach und in dieser Zeitspanne veränderte sich in seinem Inneren etwas und ließ die Luft zwischen ihnen knistern. Chris hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt und hatte es immer für ein Märchen gehalten, aber jetzt musste er seine Ansicht revidieren. Es gab sie tatsächlich und er wusste, vor ihm stand seine zweite Hälfte, die Person, die sein Leben ausfüllen und ihn aus seinem Alltagstrott reißen würde. In diesem Augenblick verschenkte er sein Herz und seine Seele – verschenkte sie an das Mädchen mit dem Namen Amy Parker.


Fortsetzung folgt...
Chapter 15 by Michi
Gibbs saß an seinem Schreibtisch und sah sich bereits zum zweiten Mal an diesem Morgen die Bilder vom Tatort an. Für jedes einzelne Foto nahm er sich ausreichend Zeit, betrachtete sie Zentimeter für Zentimeter und ließ die Brutalität des Mordes auf sich wirken. Überall war so viel Blut, dass es ihn wunderte, dass in dem Körper des Commanders überhaupt noch ein Tropfen gewesen war. Der eingeschlagene Kopf erinnerte den Chefermittler an eine zerplatzte Melone, nur dass in diesem Fall kein Fruchtfleisch, sondern ein wenig Gehirnmasse aus den Bruchstellen austrat, was nicht gerade einen appetitlichen Eindruck machte. Erneut überkam ihm das Gefühl, dass es mit diesem Mord etwas anderes auf sich hatte als einen Einbruch. Wieso hatte der Täter die Wohnzimmereinrichtung derart zerstört, dass nur mehr ein Trümmerhaufen übrig geblieben war? Warum hatte er die anderen Räume verschont? Und vor allem beschäftigte Jethro die Frage, weshalb derjenige dem Commander ein Messer in das Herz gerammt hatte, nachdem er ihm die Schädel eingeschlagen hatte. Dieser hätte so oder so nicht überlebt, zu stark waren die Verletzungen des Gehirns gewesen, also weshalb die Aktion mit dem Messer? Wollte er nur auf Nummer sicher gehen oder steckte mehr dahinter? Immer mehr drängte sich Gibbs der Gedanke auf, dass der Einbruch nur vorgetäuscht war, dass das Motiv für diesen Mord ein ganz anderes war. Der teilweise wertvolle Schmuck von Mrs. Emmerson war wahrscheinlich eine nette Einnahmequelle gewesen und man konnte ihn immerhin leicht am Schwarzmarkt zu Geld machen.

Ein Tastendruck später erschien ein weiteres Foto auf dem Bildschirm, diesmal eine Übersichtsaufnahme des Wohnzimmers, das nur mehr ein Trümmerhaufen war. Das nächste Bild zeigte die Küche und vor allem die Hintertür, die aufgebrochen worden war. Deutlich konnte man die Kratzer am Schloss sehen, die das Brecheisen hinterlassen hatte. Was Gibbs zu seiner nächsten Frage brachte. Weshalb hatte der Täter den Baseballschläger, mit dem er den Commander getötet hatte, zurückgelassen und das Stemmeisen hatte er wieder mitgenommen? Dieser Fall schien jetzt, einen Tag später, viel komplizierter zu sein, als es zuerst den Eindruck gemacht hatte. Jethros Instinkt sagte ihm, dass es sich um einen hinterhältigen Mord handelte, aber noch konnte er es nicht beweisen.
Ein weiterer Tastendruck, die Küche verschwand von dem Bildschirm und wurde durch die leeren Schmuckschatullen ersetzt, die in einem Schrank des Ehepaars aufbewahrt worden waren. Die Kästchen waren geschmackvoll verziert und hatten sicher ein kleines Vermögen gekostet. Allerdings hatte Abby darauf nur die Fingerabdrücke von Valerie Emmerson gefunden und keine des Täters. Es wäre auch zu leicht gewesen, hätte ihnen der Einbrecher die Sache so leicht gemacht.
Gibbs seufzte leise und fuhr sich mit einer Hand über sein Gesicht. Die Bilder verschwammen vor seinen Augen und deshalb schloss er die Datei. In der letzten Nacht hatte er nicht sonderlich viel Schlaf bekommen, da er wieder einmal bis nach Mitternacht an seinem Boot gebaut hatte. Zu viel war ihm durch den Kopf gegangen, als dass er Ruhe gefunden hätte. Sein Körper hatte zwar nach Schlaf verlangt, aber sein Geist war hellwach gewesen. Während er das Holz abgeschliffen hatte, hatte er zuerst über den Fall nachgedacht, war alles immer wieder durchgegangen, bis schließlich seine Gedanken bei Tony gelandet waren. Dieser hatte ihn, nachdem er gestern um kurz nach 18 Uhr verkündet hatte, dass sie Feierabend machen konnten, mit großen Augen angesehen und sich wahrscheinlich gefragt, ob mit Gibbs alles in Ordnung sei. Gleich darauf hatte er sich aber seine Sachen geschnappt und war verschwunden, so als ob er Angst gehabt hätte, es wäre vielleicht doch nur ein Scherz gewesen. In der Zeit, als der Chefermittler von Abby zurückgekommen war und bis zum Feierabend, hatte sich sein Agent normal verhalten, nichts hatte darauf hingewiesen, dass ihn etwas bedrückte. Genauso wie ihm sein Instinkt sagte, dass es sich bei dem Fall nicht vorrangig um einen Einbruch handelte, verriet er ihm auch, dass die Sache, was auch immer Tony derart beschäftigte, noch nicht ausgestanden war. Zwar war er an diesem Morgen wie immer, war zu spät gekommen und hatte seine Kollegen genervt, aber dennoch hatte er das Gefühl, dass diese Fassade nur aufgesetzt war.

Gibbs schüttelte seinen Kopf und griff automatisch nach einem Kaffeebecher, als ihm einfiel, dass er diesen bereits ausgetrunken hatte und er im Mülleimer lag. Vielleicht sollte er sich einen weiteren kaufen und auf dem Weg zu seinem Koffeindealer konnte er ein wenig frische Luft schnappen, um seine Gedanken zu ordnen. Anschließend würde er sich noch einmal die Bilder vom Tatort vornehmen, in der Hoffnung, dann endlich darauf zu kommen, was ihn an der ganzen Szene störte.
Jethro wollte schon aufstehen, als sein Blick zu Tony fiel, der an seinem Platz saß und auf den Computerbildschirm starrte. Man hätte meinen können, dass er sich ganz auf die Informationen konzentrierte, die darauf standen. Sah man jedoch genauer hin, konnte man deutlich erkennen, dass es nicht die Buchstaben vor ihm waren, auf die er seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Zusätzlich hatte er seinen Kopf auf seine linke Hand gestützt, während die andere auf der Tischplatte lag und sich keinen Zentimeter rührte. Er schien die gesamten Geräusche des Großraumbüros nicht wahrzunehmen, genauso wenig wie die Tatsache, dass sein Telefon anfing zu klingeln. DiNozzo blinzelte nicht einmal, als es läutete und der Anrufer es nach ein paar Sekunden wieder aufgab. Seine Augen waren weiterhin starr auf den Bildschirm gerichtet, wobei er seine Lippen ein wenig zusammengekniffen hatte. Es war mehr als offensichtlich, dass er mit seinen Gedanken nicht bei dem Fall war, sondern schon wieder irgendwo anders. Und dabei hatte Gibbs gedacht, Tony wäre wieder er selbst geworden und hätte die Sache, die ihn bedrückte, so weit unter Kontrolle, dass er seiner Arbeit ungehindert nachgehen konnte. Nun, das war anscheinend nicht der Fall. Anthony war unbestreitbar sein bester Agent, aber in diesem abwesenden Zustand konnte er ihn einfach nicht gebrauchen. Wenn sie keinen Fall hätten, wäre es etwas anderes, aber sie mussten immerhin einen Mörder finden. Gibbs beschloss, dass sein Kaffee noch ein wenig warten konnte und stand auf. Es war an der Zeit, Tony in den Fahrstuhl zu zerren und mit ihm ein kleines Gespräch zu führen, in der Hoffnung, dieses würde Licht in die ganze Angelegenheit bringen.

Chris war mit seinen Gedanken immer noch bei Amy und ihren wunderschönen braunen Augen, die ihn noch heute manchmal in seinen Träumen verfolgten. Obwohl die Party, bei der er sie kennengelernt hatte, mehr als 15 Jahre zurücklag, konnte er sich noch an jede Einzelheit erinnern. Die enganliegenden Jeans, die sie getragen hatte, dass schwarze Top, das ihre aufreizende Figur vorteilhaft betont hatte, das Lächeln, das sie ihm geschenkt hatte und ihn damit in den siebten Himmel geschickt hatte. Und vor allem ihre samtene Stimme, die ihn an einen leise dahinplätschernden Bach erinnert hatte, als sie als erstes das Schweigen gebrochen hatte und ein schüchternes „Entschuldigung" gesagt hatte, gerade so laut, dass er es bei der Musik verstanden hatte. Vergessen waren Zack oder Trevor gewesen. In diesem Moment hatte nur Amy gezählt, die ihn mit nur einem Blick in seinen Bann gezogen hatte. Es hatte ihm auch gar nichts mehr ausgemacht, dass sein Lieblingshemd voller Cola war und unangenehm auf seiner Haut klebte.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hatten sich die beiden in einen ruhigen Raum zurückgezogen, ein kleines Arbeitszimmer im ersten Stock. Sie hatten es sich auf der Ledercouch bequem gemacht und Chris war in seinem gesamten Leben noch nie so nervös gewesen. Der zarte Duft ihres Parfüms hatte ihn leicht schwindelig gemacht und er hatte einfach nicht genug davon bekommen können. Immer wieder hatte er tief die Luft eingesogen, so als ob der Geruch sein Lebenselixier gewesen wäre. Die Deckenlampe hatte Amys Haar glitzern lassen und die widerspenstige Haarsträhne hatte noch immer ihre Wange umschmeichelt. In dieser Nacht hatten sie stundenlang geredet, gelacht und geflirtet, allerdings ohne dass etwas zwischen ihnen geschehen wäre. Chris hatte erfahren, wie ihr Name war, dass sie ein paar Straßen weiter wohnte und dass sie sogar in dieselbe Schule gingen, ohne sich jedoch vorher jemals getroffen zu haben. Sie hatte Zack schon seit ihrer Kindheit gekannt, da ihre Eltern miteinander befreundet waren und mit der Zeit waren sie wie Geschwister gewesen, da jeder von ihnen ein Einzelkind war.
Irgendwann nach drei Uhr morgens hatte er Amy nach Hause gefahren, obwohl sie nur fünf Minuten zu Fuß gebraucht hätte. Sie hatte ihm einen kleinen Kuss auf die Wange gegeben, ihm für den wunderschönen Abend gedankt und war schließlich im Inneren des Hauses verschwunden. Chris hatte die gesamte Autofahrt zurück zur DiNozzo Villa ein Dauergrinsen im Gesicht gehabt und nicht einmal die schlechten Straßenverhältnisse hatten ihm die gute Laune verderben können. In dieser Nacht hatte er von Amy geträumt und auch das restliche Wochenende war sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Tony, dem das Grinsen seines Bruders nicht entgangen war, hatte natürlich sofort nachgebohrt, was denn los sei und Chris hatte ihm schließlich von dem hübschen Mädchen erzählt. Anthony hatte sich sichtlich darüber gefreut und ihm nahegelegt, es nicht zu versauen.
Am Montag hatte er Amy am Eingang der Schule getroffen und sie vor ihren Freundinnen gefragt, ob sie nicht mit ihm später Mittagessen wolle. Erfreut hatte sie zugestimmt und er konnte jetzt noch die teilweise neidvollen Blicke der anderen Mädchen vor sich sehen. Seit diesem Tag waren sie unzertrennlich, hatten viele Stunden miteinander verbracht, bis sich Chris zehn Tage nach der Party durchgerungen hatte, ihr seine Liebe zu gestehen. Am Anfang hatte er Angst gehabt, er würde Amy damit verschrecken, hatte aber ein paar Sekunden später ein strahlendes Lächeln ihrerseits erhalten, das ihm schier den Atem genommen hatte. Der nachfolgende Kuss hatte ihm beinahe den Verstand geraubt und er hatte es nicht für möglich gehalten, jemals so glücklich zu sein. Es hatte ihm nichts mehr ausgemacht, dass ihn seine Eltern nicht wirklich beachteten. Er hatte Amy gehabt, die ihm die Liebe geschenkt hatte, die ihn aus seinem tristen Leben befreit hatte und er hatte gewusst, dass es von nun an bergauf ging. Nichts hatte seine gute Laune trüben können und er hatte jede Minute als Geschenk angesehen, die er mit seiner Freundin hatte verbringen dürfen. Alles war wunderbar verlaufen, bis zu jenem Abend im Mai, an dem sich alles verändert hatte.

Das Klingeln des Telefons riss Chris aus seinen Gedanken, aber er machte keine Anstalten, abzunehmen. Egal wer dran war, derjenige sollte es ruhig später noch einmal versuchen. Zurzeit hatte er keinen Kopf, sich auf irgendetwas außer auf Amy zu konzentrieren. Es war kein Tag vergangen, an dem er nicht an sie gedacht hatte, auch wenn das mit Schmerz verbunden gewesen war. Und seit er Ziva begegnet war, die ihr so ähnlich sah, hatte er Mühe, sie nicht allzu oft in seinen Kopf zu lassen. Und es hätte beinahe auch geklappt, wäre der jungen Frau ihm gegenüber nicht eine Haarsträhne ins Gesicht gefallen – eine Haarsträhne, die sicher weich und nach…
„DiNozzo!" Der laute Schrei ließ Chris zusammenzucken und er wusste sofort, wer vor ihm stand. Gibbs' Stimme würde er überall erkennen. Verwirrt blinzelte er, um wieder in die Realität zurückzufinden und hob seinen Kopf von seiner linken Hand. Eine Sekunde später blickte er in blaue Augen, die ihn ärgerlich anfunkelten und am liebsten hätte er sich unter seinem Schreibtisch verkrochen, um ihnen zu entkommen.
„Was gibt es?" fragte er so locker wie möglich und setzte ein entwaffnendes Lächeln auf, was sein Gegenüber jedoch kalt ließ. „Mitkommen", befahl der Chefermittler knapp und seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Verwirrt sah er zu McGee, der nur die Schultern zuckte und dann zu Ziva, die ihn mit erhobenen Augenbrauchen musterte. Aber keiner von beiden schien ihm helfen zu wollen, deshalb fügte er sich in sein Schicksal, da er seinen Kopf noch ein wenig länger behalten wollte.
„Wohin gehen wir?" fragte Chris und stand auf. Aber er erhielt keine Antwort. Gibbs drehte sich wortlos um und steuerte auf den Fahrstuhl zu. Eine Sekunde sah er ihm noch nach, bis er sich in Bewegung setzte, nicht sicher, wohin es ihn bringen würde. Vielleicht fuhren sie ja nur zu Abby hinunter oder zu Ducky, der doch noch etwas Interessantes bei der Leiche gefunden hatte.

Er stellte sich neben Gibbs, der auf den Aufzug wartete und sah ihn von der Seite her an. Dessen Miene war verschlossen und nichts deutete darauf, woran er gerade dachte, was ihn mehr beunruhigte als eine laute Standpauke. Die Türen öffneten sich mit einem leisen Pling, drei Agenten verließen die kleine Kabine, die kurz darauf der Chefermittler betrat, gefolgt von Chris, der ein wenig nervös war, wobei er nicht wusste, weshalb. Jethro drückte den Knopf für die Pathologie, worauf sich die Türen schlossen. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, woraufhin der Jüngere erleichtert aufatmete. Anscheinend waren sie wirklich zu Ducky unterwegs. Aber noch bevor er sich entspannen konnte, betätigte der andere blitzschnell den Stopphebel und der Aufzug kam ruckend zum Stehen. Die Lichter gingen aus und die Notbeleuchtung an, wodurch des dämmrig in der Kabine wurde. Irritiert sah Chris zu Gibbs, der ihn von oben bis unten musterte, ohne ein Wort zu sagen. Die blauen Augen schienen ihn förmlich zu röntgen und bis in sein Innerstes zu blicken. Er wurde immer unruhiger und begann sich unwohl zu fühlen. Die Wände schienen auf ihn zuzukommen und ihn erdrücken zu wollen. Die Luft wurde für seinen Geschmack viel zu warm und er widerstand nur knapp dem Drang, seine Hemdsärmel nach oben zu schieben. In seinem Hals bildete sich ein dicker Kloß, den er mühsam hinunterschluckte und um ein wenig Halt zu finden, lehnte er sich gegen eine Wand, die ihm ein wenig Stabilität vermittelte.

„Verdammt, was soll das?" fragte Chris ein wenig zu laut und gleich darauf hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Gibbs kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen, kam auf ihn zu und blieb nur ein paar Zentimeter vor ihm stehen. Sein Atem strich über sein Gesicht und er konnte eine Spur von Kaffee riechen.
Jethro beobachtete seine Reaktion genau und er konnte ein wenig Angst in den grünen Augen erkennen. Er wusste, dass er die Privatsphäre des anderen verletzte, da er nur wenige Zentimeter zwischen ihnen freiließ, aber durch die laute Frage seines Agents war unvermittelt Wut in ihm aufgestiegen. Er konnte sich nicht erinnern, dass Tony jemals seine Stimme so gegen ihn erhoben hatte. Aber er wusste, mit Wut und schreien würde er jetzt nicht weiterkommen, genauso wie Abby es gestern gesagt hatte. Deshalb atmete er tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen, verringerte aber den Abstand zwischen ihnen nicht.
„Was das soll?" wiederholte Gibbs die Frage mit leiser Stimme, was Chris mehr als verwunderte. Irgendwie hatte er damit gerechnet, dass der andere anfangen würde, ihn anzubrüllen. Aber er wusste nicht, ob er jetzt erleichtert sein sollte oder nicht. „Ganz einfach", fuhr der Chefermittler fort und nagelte ihn mit seinem Blick fest. „Der Fahrstuhl ist der einzige Ort, wo wir ungestört reden können, ohne dass uns jemand stört." „Ungestört reden?" plapperte Chris wie ein Papagei nach und schluckte. „Worüber denn reden?" Gibbs sah ihn ein paar Sekunden weiterhin durchdringend an, bevor er einen Schritt nach hinten machte. „Darüber, weshalb du seit gestern ständig in Gedanken versunken bist, anstatt dich auf deine Aufgaben zu konzentrieren. Darüber, dass du anscheinend vergessen hast, dass ich ein Boot in meinem Keller baue und vor allem darüber, weshalb du lieber Vollwaise sein willst." Bei jedem Wort, das über seine Lippen gekommen war, hatte sich Chris' Herzschlag erhöht, und hämmerte jetzt laut in seinen Ohren. Kleine Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn und er wusste, er hatte ein großes Problem. Gibbs hatte also alles mitbekommen und sich seine Gedanken darüber gemacht und ihm wurde klar, dass er doch nicht so gut schauspielern konnte, wie er geglaubt hatte. Die Umgebung begann sich um ihn zu drehen und er wusste nicht, was er sagen sollte. „Ich…" begann er, brach aber wieder ab.

Jethro fuhr sich durch seine Haare, als er merkte, dass er den anderen ein wenig in die Ecke gedrängt hatte. Es war offensichtlich, dass dieser sich unwohl fühlte, was er alleine schon durch die angespannte Körperhaltung merkte und dadurch, dass er nicht wusste, was er antworten sollte, was bis jetzt noch nie vorgekommen war. „Was ist nur mit dir los, Tony?" fragte er vorsichtig und trat noch einen Schritt zurück, um seinem Agent ein wenig mehr Freiraum zu geben. „Ich habe seit gestern das Gefühl, dass du nicht du selbst bist. Deine Gedanken sind irgendwo nur nicht in der Gegenwart. Irgendetwas bedrückt dich und auf mich macht es den Eindruck, dass es etwas mit deinen Eltern zu tun hat. Weshalb willst du lieber Vollwaise sein?"
Chris war sich gar nicht bewusst gewesen, dass irgendjemand seine Worte in der Pathologie gehört hatte und das es ausgerechnet Gibbs gewesen war, brachte ihn ganz schön in Bedrängnis. Andererseits machte sich sein Gegenüber ein wenig Sorgen, sonst hätte er nicht mit ihm alleine sein wollen, um mit ihm darüber zu sprechen. Es war offensichtlich, dass dem Chefermittler das Wohl seiner Agents am Herzen lag, auch wenn er dies wohl nicht zugeben würde. Aber dennoch war er sich nicht sicher, was er jetzt sagen oder was er tun sollte. Er wusste ja nicht einmal, wie viel Tony von seiner Kindheit erzählt hatte. Hatte er jemals erwähnt, dass er einen Bruder hatte? Hatte er jemals über seine Eltern gesprochen?
„Rede mit mir, Tony", sagte Gibbs schließlich, da er noch immer kein Wort von dem anderen gehört hatte. „Was bedrückt dich, dass du dich nicht einmal auf einen Fall konzentrieren kannst? Ich kann keinen Agenten gebrauchen, der nicht vollkommen bei der Sache ist." Gleich darauf hätte er sich am liebsten selbst eine Kopfnuss verpasst. Der letzte Satz war ihm einfach so rausgerutscht und er wusste, er hatte somit alles versaut. Der junge Mann vor ihm war sichtlich zusammengezuckt und er ballte seine Hände zu Fäusten. Zwischen ihnen dehnte sich das Schweigen aus und Jethro wurde klar, dass er wohl kein Wort aus seinem Agent herausbringen würde. Ein weiterer Beweis dafür, dass er nicht gut darin war, jemanden dazu zu bringen, ihm sein Herz auszuschütten. Was sollte er jetzt machen? Sollte er Tony bedrängen, ihm zu verraten, was in seinem Inneren vorging oder es ein anderes Mal versuchen? Er brannte darauf zu erfahren, weshalb sein Agent so durch den Wind war und obwohl er wusste, dass es nicht sinnvoll war, stieg Wut in ihm auf, dass er sich ihm nicht anvertrauen wollte. Wie er es hasste, nicht zu wissen, was vor sich ging. Gibbs sah weiterhin zu seinem Agent, der mittlerweile interessiert seine Füße musterte und er öffnete bereits seinen Mund, um ihm den Kopf zu waschen, als ihn eine leise Stimme innehalten ließ: „Hast du eine Ahnung, wie es ist, von seinen eigenen Eltern nicht geliebt zu werden?"

Chris hatte sich nach langer Überlegung dazu entschlossen, etwas zu sagen. Seit Jahren fraß er die ganze Sache in sich hinein und jetzt bot sich ihm eine Gelegenheit, alles raus zu lassen, allerdings würde er sich davor hüten, zu erwähnen, dass er Tony in einem Keller eingesperrt hatte. Dann hätte er zwar sein Herz ausgeschüttet, dafür würde er aber wahrscheinlich im Gefängnis landen.
Langsam hob er seinen Kopf und Gibbs zuckte innerlich zusammen, als er den traurigen und verbitterten Ausdruck in den grünen Augen sah. „Hast du eine Ahnung, wie es ist, einfach links liegen gelassen zu werden, egal wie oft man versucht, Aufmerksamkeit zu erregen?" Jethro hörte schweigend zu und ließ sich gegen die Fahrstuhlwand sinken. Bisher hatte er nie den Eindruck gehabt, dass die Kindheit von Tony derart verlaufen war. Zwar redete er nicht oft von seinen Eltern, aber er hatte nie angenommen, dass seine Vergangenheit dermaßen schmerzlich gewesen war. Aber weshalb kam das Ganze erst jetzt zum Vorschein und nicht schon vor Jahren?
„Nichts konnte ich ihnen Recht machen, war für sie teilweise nur Luft, außer wenn es darum ging, mich anzubrüllen. Dabei war ich derjenige, der die besseren Noten nach Hause brachte. Ich war immer der brave Sohn gewesen, habe immer alles gemacht, um sie zufrieden zu stellen. Aber hat es gereicht? Nein. Egal was ich auch gemacht habe, es war nie gut genug. Ihre gesamte Aufmerksamkeit und Liebe schenkten sie…" Chris brach ab, als ihm gerade noch rechtzeitig klar wurde, dass er beinahe Tony erwähnt hätte. Seine Stimme hatte einen verbitterten Klang angenommen und war immer lauter geworden. Ungläubig darüber, dass er einem für ihn fremden Menschen dabei war, sein Herz auszuschütten, schloss er seinen Mund. Verdammt, was tat er hier überhaupt? Wieso vertraute er sich plötzlich einem Mann an, der ihn ins Gefängnis bringen konnte, wenn er erfuhr, wer er war und was er hier überhaupt machte. Die Mauer, die er um sich aufgebaut und die Risse bekommen hatte, schloss sich wieder und schottete seine Vergangenheit von der Gegenwart ab.
Gibbs entging diese Veränderung keineswegs. Aus den grünen Augen verschwand die Bitterkeit und Traurigkeit und machte Entschlossenheit Platz. Tonys Worte hatten ihn berührt und er verstand ein wenig, weshalb er lieber Vollwaise sein wollte. Aber dennoch, er spürte, dass noch mehr dahinter steckte. Der letzte Satz, den dieser abgebrochen hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wer hatte nur die gesamte Aufmerksamkeit und Liebe bekommen, die ihm verwehrt worden war? Oder war es eine Sache? Es gab immerhin genug Menschen, die sich lieber um ihren Job kümmerten als um ihre Kinder.

„Wer oder was war wichtiger als du, Tony?" fragte er schließlich und stieß sich von der Wand ab, aber sein Gegenüber schüttelte nur den Kopf, was ihn erneut wütend machte. Wieso verschloss er sich bloß? Wieso konnte er ihm nicht einfach alles anvertrauen? Hatte er etwa Angst, es würde ihr gutes Verhältnis dadurch zerstören? „Weshalb gerade jetzt?" fuhr Gibbs fort und ging auf den anderen zu. „Warum kommt das alles erst jetzt an die Oberfläche und nicht schon früher? Was war der Auslöser? Und komm mir nicht mit dem aktuellen Fall. Wir hatten schon öfters mit glücklichen Familien zu tun." Jethro wusste genau, er würde so nicht weiterkommen, aber es erfüllte ihn mit Ärger, dass sein Agent einfach nichts mehr sagen wollte, dass er sich ihm nicht anvertrauen wollte.
Chris wich dem Blick aus den blauen Augen aus und sah erneut zu Boden. Er wusste, es war ein Fehler gewesen, auch nur einen Satz zu sagen. Er hatte Gibbs Brotkrumen hingeworfen, die dieser gierig aufgenommen hatte und jetzt noch mehr davon wollte. Wieso hatte er nicht einfach den Mund halten können? ‚Weil es sich gut anfühlt, mit jemandem darüber zu reden', gab er sich gleich darauf selbst eine Antwort und schluckte mühsam. Es war Jahre her, seit sich jemand um ihn Sorgen gemacht hatte und es war diese Tatsache, die ihn dazu veranlasst hatte, seinen Schutzschild ein wenig zu lockern. Obwohl er sich Gibbs gerne anvertraut hätte, wusste er, wenn er auch nur einen weiteren Satz sagen würde, würde er ihm von Tony erzählen, würde ihm von Amy erzählen, würde sich alles von der Seele reden, nur um danach höchstwahrscheinlich in den Knast zu wandern. Aber so weit würde es nicht kommen, das schwor er sich. Deshalb schwieg er eisern und als er spürte, wie der Chefermittler erneut nur wenige Zentimeter von ihm entfernt war, sah er auf und setzte eine versteinerte Miene auf.

„Weshalb beschäftigt dich das ausgerechnet jetzt?" Gibbs ließ nicht locker, wobei er jedoch merkte, dass er auf verlorenem Boden stand. „Verdammt, hör auf dich wie eine Auster zu verschließen!" schrie er und seine Stimme hallte laut in dem engen Raum wider. „Irgendetwas geht in deinem Kopf vor, was sicher nicht nur mit deinen Eltern zu tun hat! Seit gestern benimmst du dich beinahe wie ein anderer Mensch, so als ob dir jemand eine Gehirnwäsche verpasst hätte! Wieso vertraust du mir nicht, Tony?! Wieso verschließt du dich vor mir, anstatt dich zu öffnen?!"
Öffnen! Das Wort hämmerte in Chris' Kopf und löste eine wahre Bilderfolge in seinem Gehirn aus, was allerdings nichts mit dieser Konfrontation zu tun hatte. Vergessen war, dass er sich in einem Fahrstuhl befand und ihn Gibbs gerade zusammenstauchte, in der Hoffnung, er würde weiterreden. Stattdessen sah er den Tatort vor sich, den ermordeten Commander und die Küche mit der Hintertür, die aufgebrochen worden war. Und plötzlich wusste er, was ihn die ganze Zeit an dem Bild gestört hatte. „Das ist es!" rief er unwillkürlich, woraufhin der Chefermittler ihn verwundert ansah und er nicht wirklich wusste, was sein Gegenüber meinte. Was war was? Verwirrt runzelte er die Stirn und fragte: „Hättest du vielleicht die Güte, mich aufzuklären, DiNozzo?" In die Augen des anderen Mannes war ein Funkeln getreten, das er seit langem vermisst hatte und das ihm sagte, dass der andere wieder ganz Agent war. Die Schatten seiner Vergangenheit lösten sich in Luft auf und auf seinem Gesicht breitete sich Begeisterung aus. „Das Küchenfenster", meinte Chris und blickte Gibbs an. Vergessen war der Grund, weshalb dieser ihn beinahe mit seinem Körper berührte. „Was für ein Küchenfenster?" Jethro war sich nicht sicher, ob der Jüngere noch alle Tassen im Schrank hatte. „Das Fenster am Tatort", fuhr Chris fort. „Ich meine, das Küchenfenster, das neben der Hintertür ist, die aufgebrochen wurde. Es war offen und nicht geschlossen. Weshalb hat sich der Täter extra die Mühe gemacht, die Tür aufzubrechen, wenn er durch das Fenster hätte einsteigen können?"
Gibbs brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass es gerade um den Fall ging und jetzt wurde ihm auch klar, was ihn die ganze Zeit an der Sache gestört hatte. Wie hatte er das nur übersehen können? „Der ganze Einbruch war nur vorgetäuscht." Erregung hatte Chris gepackt. Jetzt hatten sie endlich etwas in der Hand, mit dem sie arbeiten konnten. Jethro betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf und nickte schließlich. Ihm war nur allzu bewusst, dass er momentan keine Chance mehr hatte, näheres über den Auslöser zu erfahren, was die Vergangenheit seines Agents betraf. Dieser schien anscheinend durch die paar Sätze, die er ihm anvertraut hatte, wieder besser damit klar zu kommen und seine Professionalität zurück gewonnen zu haben. Deshalb trat er einen Schritt zurück und betätigte den Stopphebel, wodurch sich der Fahrstuhl wieder in Bewegung setzte. Jetzt war es an der Zeit, sich mit dem Fall zu beschäftigen, aber Gibbs schwor sich, den jungen Mann nicht aus den Augen zu lassen. Bei dem ersten Anzeichen dafür, dass er wieder in seiner Gedankenwelt gefangen war oder sich sonst anders verhielt, würde er ihn erneut ins Gebet nehmen und zwar so lange, bis er endlich herausgefunden hatte, was mit ihm los war.
„Gut gemacht, Tony", sagte er und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, als der andere wie ein Honigkuchenpferd strahlte. Etwas Anerkennung von seinem Boss und er war schon wieder ganz der Alte. Vielleicht sollte ihn Gibbs etwas öfters loben, nur um sicher zu gehen, dass er ihm nicht wieder entglitt.
Chris atmete erleichtert auf, als der Chefermittler wieder den Aufzug in Gang setzte und ihn auch noch lobte – etwas, was ihm nur selten widerfuhr. Ein herrlich warmes Gefühl breitete sich in ihm aus und verdrängte seine Eltern und seinen Bruder in den Hintergrund. Aber in der Euphorie vergaß er nicht, dass er in Zukunft aufpassen musste, nicht wieder in Gedanken zu versinken, denn es war anscheinend das, was Jethro aufgefallen war und was ihn dazu veranlasst hatte, ihn in den Fahrstuhl zu verfrachten. Es war an der Zeit, sich nur mit dem Fall zu beschäftigen und nicht mit seiner Vergangenheit. Dazu hatte er Gelegenheit, wenn er alleine war.
Mit einem Pling öffneten sich die Türen und Chris folgte Gibbs aus der kleinen Kabine, vor der sich bereits eine Gruppe Agenten versammelt hatte und die beiden einen ärgerlichen Blick zuwarfen. Allerdings sagten sie nichts, weshalb es anscheinend keine Seltenheit war, dass der Chefermittler für längere Zeit den Aufzug anhielt, um ein Gespräch unter vier Augen zu führen. Chris würde aufpassen, dass es nicht wieder so weit kommen würde. Zu viel stand auf dem Spiel. Aber jetzt galt es erst einmal einen Fall zu lösen und wie es danach weiterging, würde sich zeigen – und vielleicht würde sich ja alles zum Guten wenden.

Fortsetzung folgt...
Chapter 16 by Michi
Etwas außerhalb von Washington
10:34 Uhr


Warmes Wasser prasselte auf meinen Kopf, lief in langen Strömen meinen Nacken entlang, den Rücken und die Beine hinunter, um schließlich im Abfluss zu verschwinden. Die feinen Strahlen lockerten ein wenig meine verspannten Schultermuskeln und hinterließen feine Tröpfchen auf den Fliesen und auf der Tür der Duschkabine, wo sie sich vereinten und in Schlieren über das Glas rannen. Weiße Dampfwolken breiteten sich in dem kleinen Bad aus, erhöhten die Raumtemperatur und beschlugen den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Langsam aber sicher wurde die Müdigkeit, die mich seit dem Aufwachen gefangen hielt, aus meinem Körper vertrieben und ich spürte, wie meine Lebensgeister zurückkehrten. Die Kopfschmerzen, die durch die beinahe schlaflose Nacht entstanden waren, reduzierten sich dank des Aspirins und des warmen Wassers auf ein erträgliches Maß. Langsam fühlte ich mich wieder wie ein lebendiger Mensch und nicht wie eine von Duckys Leichen.

Über meine Lippen kam ein leiser Seufzer und ich griff nach dem Duschgel, das nach Kokos roch - Chris hatte nicht vergessen, dass ich diesen Duft mochte. Man hätte glatt meinen können, mein Wohlergehen lag ihm am Herzen, wäre da nicht eine mehr als stabile Tür, die von außen verschlossen war und die mir den Weg ins Freie versperrte. Während ich mit meinen Händen das Duschgel auf meiner Haut verteilte und sich wohlriechender Schaum bildete, dachte ich über den letzten Abend nach. Das Gefühl, das mich gestern überkommen hatte, als ich mit Chris auf dem Sofa gesessen hatte und wir Pizza gegessen hatten, war so herrlich vertraut gewesen und ich musste mir eingestehen, dass ich es genossen hatte. Man hätte meinen können, es wäre wie früher gewesen, als wir in der Küche gewesen waren und das Abendessen verschlungen hatten, während wir uns gegenseitig von unserem Tag erzählten. Damals hatten wir es geschafft, stundenlang ohne Unterbrechung zu reden, egal wer gerade den Raum betrat oder verließ. Wir hatten uns nicht stören lassen, hatten es genossen, sich unsere Gedanken anzuvertrauen. Und gestern war es dasselbe gewesen. Mein Bruder hatte mir von seinem Tag erzählt, während ich ihm zugehört hatte, wobei ich aber die ganze Zeit nicht vergessen hatte, weshalb wir wirklich gemeinsam auf der Couch gesessen und eine Pizza vertilgt hatten. Aber dennoch hatte ich nicht verhindern können, dass ich mich in Chris' Gesellschaft wohl gefühlt hatte. Mir war mehr als bewusst, was er mir antat, aber er war immer noch mein Bruder. Wir waren 17 Jahre lang durch dick und dünn gegangen, hatten Höhen und Tiefen durchlebt, wobei wir derzeit ein ziemlich langes Tief erreicht hatten. Aber nach einem Fall ging es bekanntlich wieder aufwärts und ich würde dafür sorgen, dass es auch bei uns so sein würde. Allerdings war mein erster Versuch, zu meinem Bruder vorzudringen, gründlich in die Hose gegangen. Dabei hatte ich gedacht, er würde mir erzählen, was er die letzten 15 Jahre alles gemacht hatte. All die Zeit über hatte ich ihn vermisst, auch wenn ich nicht immer an ihn gedacht hatte und hätte ich auch nur annähernd gewusst, dass er sich in L.A. aufhielt, wäre ich sofort an die Westküste geflogen, um ihn zu suchen und nach Hause zu holen, vorausgesetzt, er hätte mich nicht gleich erwürgt. Ich konnte mir vorstellen, dass Chris nicht glücklich darüber gewesen wäre, hätte ich ihn in Kalifornien aufgespürt. Aber vielleicht hatte ich jetzt die Chance, ihn zurückzubekommen. Ein paar Minuten würden schon genügen, die er mir zuhörte, um das Missverständnis aus der Welt zu schaffen, das uns entzweit hatte. Mich schmerzte es allerdings, dass er überhaupt daran dachte, ich würde ihm so etwas antun. Die Worte, die er mir damals an den Kopf geworfen hatte, hatte ich nie vergessen und auch in diesem Moment hätte ich sie Buchstabe für Buchstabe wiedergeben können. Unbewusst fuhr ich mir mit einem Finger über meinen Unterkiefer, berührte die Stelle, die seine Faust getroffen hatte. Damals war ich über eine Woche mit einer buntschillernden Prellung herumgelaufen, aber dieser körperliche Schmerz war harmlos im Vergleich zu dem Wissen gewesen, dass ich meinen Bruder verloren hatte. Seit diesem Tag war es nie wieder wie früher gewesen und ich hatte auch erkannt, wie herzlos und kalt mein Vater war, vor allem, als er ein Jahr nach Chris' Verschwinden ihn für tot hatte erklären lassen. Ein paar Tage später war ich ausgezogen und aufs College gegangen, mit einem Sportstipendium in der Tasche. Dem Einfluss meiner Eltern entzogen, hatte sich mein Leben wieder normalisiert. Dass ich nicht das Geschäft meines Dads übernommen hatte, war die beste Entscheidung gewesen, die ich je getroffen hatte und stattdessen war ich das geworden, was er überhaupt nicht gewollt hatte: Polizist und anschließend Bundesagent, als mich Gibbs in sein Team geholt hatte. Und ich hatte es keine einzige Sekunde lang bereut.

Ein weiterer Seufzer kam über meine Lippen und ich sah dem Schaum zu, wie er von dem Wasser von meiner Haut gespült wurde und der Schwerkraft folgend, nach unten rann. Seit ich hier eingesperrt war, dachte ich ziemlich viel über die Vergangenheit nach, was ich vorher nicht gemacht hatte, aus Angst, ich würde alles noch einmal durchleben. Aber hier hatte ich nichts anderes zu tun, als herumzusitzen und dadurch, dass Chris so unverhofft aufgetaucht war, wurde ich wieder damit konfrontiert, was alles passiert war. Und dabei war ich auf dem besten Wege gewesen, alles so weit zu verdrängen, dass ich es vergessen konnte. Aber jetzt geisterte meine Vergangenheit durch meinen Kopf, ein Grund, weshalb ich in dieser Nacht nicht viel geschlafen hatte und erst in den frühen Morgenstunden in das Reich der Träume entflohen war, während der Fernseher im Hintergrund gelaufen war und mich berieselt hatte. Um kurz nach 10 war ich wie gerädert aufgewacht, mit Kopfschmerzen, so als ob ich einen Kater gehabt hätte. Mittlerweile waren aber keine fiesen Männchen mehr in meinem Gehirn am Werk, sodass ich wenigstens wieder klar denken konnte.
Der Schaum war inzwischen im Abfluss verschwunden, aber ich machte keine Anstalten, die Dusche abzustellen. Stattdessen stützte ich meine Hände gegen die Fliesen und ließ meinen Kopf nach unten hängen, um das Wasser auf meinen Nacken prasseln zu lassen. In Gedanken ging ich noch einmal das Gespräch mit Chris vom Vorabend durch, wobei mich der Vorwurf, ich sei nicht besser als unsere Eltern, mehr als alles andere als kalt ließ. Wieso konnte er mir nicht einfach zuhören? Mich erklären lassen, was wirklich geschehen war? Aber ich wusste, würde ich das nächste Mal, wenn er mich besuchen kam, erneut darauf zu sprechen kommen, würde er sicher wieder abhauen. Wieso musste dieser Mann so stur sein? Konnte er nicht einfach seinen Stolz hinunterschlucken?
Während das Wasser unermüdlich auf meinen Körper prasselte, schloss ich die Augen und ließ meine Gedanken zu dem Abend schweifen, an dem eigentlich alles begonnen hatte, an dem ich ein Mädchen namens Amy Parker kennengelernt hatte…

Der Freitag Ende Februar war verregnet und kalt. Hatte noch vor Tagen eine dicke Schneedecke Washington überzogen, so hatte sich diese mittlerweile von flockig in hart verwandelt und war durch den heftigen Regen um die Hälfte geschrumpft. Bereits den gesamten Tag über war es düster gewesen und es war nie so richtig hell geworden. Und jetzt, wo der Abend angebrochen war, war es draußen richtig unheimlich. Die Straßenlampen schafften es nicht, die Dunkelheit annähernd zu vertreiben und wirkten wie verwaschene Kleckse. Der Asphalt war nass und rutschig und man musste aufpassen, um nicht auszurutschen und sich etwas zu brechen. Vor ein paar Tagen war es Lucille beinahe so gegangen. Sie war gerade dabei gewesen, die Einkäufe vom Auto in das Haus hineinzutragen, als sie auf eine Eisplatte getreten war und innerhalb einer Sekunde auf dem Boden gelegen hatte, die Papiertüte mit den Lebensmitteln war neben ihr gelandet und der Inhalt verstreut worden. Zum Glück hatte sie sich nur eine schmerzhafte Prellung zugezogen, gepaart mit einem verstauchten Knöchel. Mittlerweile ging es ihr wieder gut und das Humpeln war fast verschwunden. Obwohl sie sich laut ärztlicher Anweisung noch schonen musste, ließ sie es sich nicht nehmen, an diesem Abend am Herd zu stehen und zu kochen. Ein köstlicher Duft zog durch die Räume und veranlasste meinen Magen dazu, sich lautstark zu melden. Nach dem Aroma zu schließen war Lucille gerade dabei, eine Köstlichkeit zu zaubern, die mir jetzt schon das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie war die beste Köchin weit und breit und egal ob es eine einfache Suppe oder ein dreigängiges Menü war, sie schaffte es immer wieder, meinen Gaumen zu erfreuen. Und auch heute würde es nicht anders sein.

Ich wusste, dass sie sich eigentlich ausruhen und ihren Fuß entlasten sollte, aber sie hatte sich strikt dagegen gewehrt. Sie hatte einfach gemeint, Chris hätte es verdient, ein wunderbares Essen zu bekommen, noch dazu, da er seine neue Freundin zum ersten Mal eingeladen hatte. Er hatte sogar meine Eltern gefragt, ob sie an diesem Abend hier sein würden, da er ihnen jemanden vorstellen wollte, aber wie zu erwarten, hatten beide einen dringenden Termin. Vater war in New York, um sich dort mit einem Geschäftspartner zu treffen und unsere Mutter konnte sich aus der Kanzlei nicht losreißen. Die Enttäuschung, die meinen Bruder ergriffen hatte, hatte ich deutlich gespürt und am liebsten hätte ich die beiden bei den Schultern genommen und sie heftig gerüttelt.
Schon als kleines Kind hatte ich mitbekommen, dass sie Chris nicht so behandelten wie mich. Damals hatte ich es nicht verstanden und heute tat ich es schon gar nicht. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte ich einmal Dad danach gefragt, aber er hatte mich einfach ignoriert, sich einen Drink eingeschenkt und ein Footballspiel im Fernsehen verfolgt, so als ob ich Luft gewesen wäre. Es war das erste Mal gewesen, dass er mich so behandelt hatte und ich hatte somit einen kleinen Einblick erhalten, wie sich Chris fühlen musste, wenn er einfach ignoriert wurde. Aber ich wusste, den Grund würde ich wohl nie erfahren und der Blick, mit dem mich mein Vater bedacht hatte, ließ mich jedes Mal, wenn ich davon anfangen wollte, die Worte hinunterschlucken. Seitdem begann ich mich jedoch ein wenig gegen ihn aufzulehnen, machte nicht mehr alles, was er von mir wollte und schlug mich immer auf die Seite meines Bruders, wenn er kritisiert wurde. Zwar brachte mir das ziemlich oft Hausarrest ein, aber ich fühlte mich alles andere als schlecht. Sollte er ruhig mitbekommen, dass ich dabei war, mich seinem Einfluss zu entziehen und mich nicht mehr herumscheuchen ließ. Die Zeiten, wo er mir sagen konnte, was ich machen sollte und was nicht, waren vorbei.

Obwohl Chris enttäuscht war, dass unsere Eltern heute nicht anwesend sein würden, war ich innerlich froh darüber. Die gemeinsamen Abendessen fanden zwar nicht mehr allzu oft statt, aber wenn sie es taten, dann wurden sie von Schweigen beherrscht. Es war jedes Mal ein Krampf und ich war froh, wenn ich wieder in meinem Zimmer verschwinden konnte. Aber diesmal würden sie die Stimmung nicht zerstören oder meinen Bruder vor seiner Freundin blamieren. Vielleicht war es ganz gut, dass Amy, wie das Mädchen hieß, die beiden nicht kennenlernte. Wenn sie wüsste, wie es wirklich hinter der Fassade der DiNozzofamilie aussah, würde sie eventuell das Weite suchen.
Ich war gerade dabei mein Hemd zuzuknöpfen, als die Tür zu meinem Zimmer aufging und ein nervöser Chris den großen Raum betrat, der so ganz anders als das restliche Haus aussah. Hier hatte ich mir mein eigenes Reich aufgebaut, mit hellen und freundlichen Möbeln und keine Antiquitäten, die man sonst überall in der Villa fand. Selbst der Parkettfußboden war aus einem hellen Holz und schimmerte in dem Licht der Deckenlampe. Überall lagen Sachen verstreut herum: Kleidung, Bücher, Mappen, Zeitschriften und ein paar Papierbälle. Das Bett war nicht gemacht und auf den Regalen hatte sich ein wenig Staub angesammelt. Auch wenn es unordentlich war, es war mein Zimmer und ich fühlte mich in dem leichten Chaos pudelwohl.

„Meinst du, Amy wird pünktlich kommen?" fragte Chris und ließ sich auf die Matratze sinken. Er knetete seine Hände und blickte mich von unter herauf an. Seit er mit ihr zusammen war, strahlten seine Augen und ich spürte förmlich, wie er mit jedem Tag lebendiger wurde und die Nachdenklichkeit, in der die er viel zu oft verfiel, abschüttelte.
„Sicher wird sie das", versuchte ich ihn zu beruhigen und drehte mich zu ihm um. „Du weißt doch, Mädchen sind immer pünktlich." „Aber was ist, wenn sie wegen dem Wetter nicht aus dem Haus will? Was ist, wenn sie sich verfährt? Was ist wenn…?" Mein Lachen unterbrach seine Fragen und er blickte mich leicht ärgerlich an. „Mannomann, dich hat es aber ordentlich erwischt", sagte ich, grinste und ließ mich neben ihm auf das Bett fallen. Chris fuhr sich durch seine Haare und brachte sie somit in Unordnung. „Sie ist die Frau, mit der ich mein Leben verbringen will", flüsterte er schließlich und blickte zu Boden, aber ich hatte bereits bemerkt, dass sich seine Wangen gerötet hatten. „Das ist doch verrückt, oder? Dabei kenne ich sie doch erst seit einem Monat." Ich verpasste Chris einen freundschaftlichen Boxhieb gegen seinen rechten Oberarm und brachte ihn somit dazu, mich anzusehen. „Das ist überhaupt nicht verrückt, im Gegenteil. Ich kann es mir vorstellen, wenn man seiner großen Liebe begegnet, dass man es sofort weiß, dass sie vor einem steht. Und Amy wird dich glücklich machen, das weiß ich." „Bist du sicher?" „Aber klar doch." Ich sah ihn von der Seite an und grinste. „So unsicher kenne ich dich gar nicht." „Ich war vorher auch noch nie verliebt." „Das hat sich nun ja geändert." Ich klopfte ihm aufmunternd auf den Oberschenkel und er blickte auf seine Uhr, was ihn dazu veranlasste, aufzuspringen. „Sie wird gleich da sein." Kaum hatte er den Satz beendet, erklang die Türglocke und ließ ihn zusammenzucken. Chris' Hände fuhren aufgeregt durch seine Haare und zupften daran. „Wie sehe ich aus?" „Großartig", versicherte ich ihm und hob beide Daumen. Meinen Worten folgte ein strahlendes Lächeln seinerseits, das ich schon lange nicht mehr bei ihm wahrgenommen hatte und das mir das Herz wärmte. Meinen Bruder so glücklich zu sehen, war einfach Gold wert. „Und jetzt geh. Nicht das Amy zu lange vor der Tür warten muss." Er nickte und eilte aus meinem Zimmer. Kopfschüttelnd sah ich ihm nach, stand auf, knöpfte mein Hemd fertig zu und folgte ihm hinaus auf den Flur. Je weiter ich mich der Treppe näherte, desto deutlicher konnte ich die Stimme einer jungen Frau hören, gefolgt von einem hellen Lachen, das mir eine Gänsehaut verursachte. Langsam stieg ich die Stufen hinab und in mein Blickfeld kam ein braunhaariges Mädchen, dessen Wangen von der Kälte draußen gerötet waren. Ihre langen Beine wurden von einer schwarzen Hose umhüllt. Passend dazu trug sie ein rotes Top, das deutlich erkennen ließ, dass sie bereits voll zur Frau herangewachsen war. Ihre langen Haare fielen ihr in weichen Locken auf den Rücken und glänzten sanft in dem Licht der Eingangshalle. Schlanke Finger hielten eine kleine Handtasche und ihr rechtes Handgelenk wurde von einem silbernen Armband verziert. Bereits auf dem ersten Blick war mir klar, weshalb Chris ihr verfallen war, weshalb er mit einem Dauergrinsen durch die Gegend lief.

Ich brachte die restlichen Stufen hinter mich und kam auf die beiden zu. Braune Augen musterten mich neugierig von oben bis unten und ihre dezent geschminkten Lippen lächelten mich freundlich an. „Du musst Tony sein", sagte sie mit einer Stimme, die wohlklingend mein Ohr erreichte und mir erneut eine Gänsehaut verursachte. „Chris hat mir schon viel von dir erzählt." „Ich hoffe, er hat dabei die schmutzigen Details weggelassen", erwiderte ich und brachte sie zum Lachen. „Ich bin Amy Parker", stellte sie sich schließlich vor und reichte mir ihre Hand, die ich schüttelte. Der Griff war überraschend fest, so als ob in den zierlichen Armen viel mehr Kraft stecken würde, als man anfangs vermuten würde. „Nett dich kennen zu lernen", meinte ich und zwinkerte meinem Bruder zu. Ich wusste, er hatte die richtige Wahl getroffen, was seine Freundin betraf und ich konnte mir vorstellen, dass er mit ihr durchaus glücklich werden konnte. „Du kannst ja Amy schon ein wenig herumführen", schlug ich vor, da Chris etwas nervös von einem Fuß auf den anderen trat und nicht so recht wusste, was er machen sollte. „Ich werde mal sehen, wie weit Lucille mit dem Essen ist." Dankbar nickte er und umschlang seine Finger mit denen seiner Freundin. Ich durchquerte die Halle, bekam aber noch mit wie sie meinte: „Tony sieht wirklich genauso aus wie du. Das ist verblüffend." „Ich habe dir ja gesagt, wir sind eineiige Zwillinge. Und es ist immer wieder ein wenig seltsam, wenn ich ihm gegenüberstehe und das Gefühl habe, in einen Spiegel zu sehen." „Er scheint nett zu sein." „Oh ja, das ist er. Du wirst ihn mögen." Amys Erwiderung bekam ich aber nicht mehr mit, da ich die Küche betrat, in dem Wissen, dass sich alles zum Guten wenden würde. Wie sehr ich mich an diesem Abend täuschte, sollte ich drei Monate später erfahren…


Blinzelnd öffnete ich meine Augen und anstatt die warme Küche vor mir zu sehen, mit Lucille am Herd, erblickte ich weiße Fliesen. Das warme Wasser prasselte noch immer auf meinen Körper ein, dessen Haut wahrscheinlich schon eine rötliche Farbe angenommen hatte. Der Dampf in dem Raum war um einiges dichter geworden und man hätte meinen können, es hätte sich Nebel gebildet.
Der Abend, an dem ich Amy kennengelernt hatte, war noch immer präsent in meinem Kopf. Ich konnte noch immer das Essen in meinem Mund schmecken, das Lucille gezaubert hatte, konnte noch immer die Worte hören, die wir gesprochen hatten, als wir um den großen Tisch gruppiert gesessen hatten, konnte noch immer Amys liebliche Stimme und das helle Lachen hören, mit dem sie uns alle in ihren Bann gezogen hatte. Sie war unbestreitbar das hübscheste Mädchen, das ich jemals getroffen hatte und auch gerade deswegen hatte ich Chris sein Glück gegönnt. Er hatte es einfach verdient, nachdem er von unseren Eltern nicht beachtet worden war und ich hatte bereits damals gewusst, dass ich alles tun würde, um zu verhindern, dass sie etwas tun könnten, dass ihn verletzen würde - aber dann war ich es gewesen, der ihn verletzt hatte, jedenfalls glaubte er das.

Über meine Lippen kam ein lauter Seufzer und ich hob mein Gesicht dem Wasserstrahl entgegen, spürte die Tropfen, die auf meine Haut prasselten und sie leicht massierte. Obwohl es ein gutes Gefühl war, entschloss ich mich dennoch nach ein paar Sekunden, die Dusche abzustellen, da ich nicht wie eine verschrumpelte Feige aussehen wollte. Kaum verstummte das Wasserrauschen, umfing mich Stille, die nur durch die leisen Stimmen aus dem Fernseher durchbrochen wurde, wo gerade eine Sitcom lief.
Ich verließ die Kabine und nahm mir eines der flauschigen Handtücher, um es mir um die Hüfte zu wickeln. Eine Sekunde später stellte ich mich vor den Spiegel, der noch immer beschlagen war, weshalb ich mit der flachen Hand darüber fuhr. Grüne Augen sahen mir aus einem Gesicht entgegen, über das Wassertropfen rannen und dessen Wangen leicht gerötet waren. Meine Haare standen in alle Richtungen ab, aber ich machte keine Anstalten, sie zu richten. Wieso auch? Hier konnte mich doch sowieso niemand sehen.
Ich wusste nicht, wie lange ich einfach so dastand und mich selbst im Spiegel betrachtete. Die Stimmen aus dem Fernseher rückten in den Hintergrund und ich dachte nur an Chris. An Chris, wie er in das Eis eingebrochen und beinahe gestorben war, Chris, der gemeinsam mit mir um unseren Großvater getrauert hatte, Chris, der mir ständig bei den kniffligen Hausaufgaben geholfen hatte, Chris, der endlich glücklich war – und Chris, der mich voller Hass und Verachtung angefunkelt hatte, als er in mein Zimmer gekommen war, damals vor über 15 Jahren.
Ich schüttelte den Kopf, um die Bilder aus meinem Gehirn zu vertreiben. „Du musst dir wirklich was einfallen lassen, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen", sagte ich zu meinem Spiegelbild und schenkte mir selbst ein aufmunterndes Lächeln. Ich konnte von Glück sagen, dass mich niemand so sah, ansonsten würde ich schneller in einer Gummizelle landen als ich Amen sagen konnte. Und dort hätte ich es sicher nicht so komfortabel wie in meinem derzeitigen Gefängnis.
„Denk nach, Anthony, denk nach", flüsterte ich und kniff meine Augen zusammen. Aber mir fiel einfach keine Lösung ein, wie ich Chris dazu bringen konnte, mir zuzuhören, ohne gleich auszurasten. Der Frust, der sich die letzten Jahre über in ihm aufgestaut hatte und der sich jetzt Luft verschaffte, hinderte ihn daran, mir auch nur ein Wort zu glauben. Dennoch, irgendwie würde ich es hinbekommen und dann würde die Mauer, die er um sich aufgebaut hatte, wie ein Kartenhaus einstürzen und den Chris zum Vorschein bringen, den ich kannte – und noch immer gerne hatte. „Immer positiv denken", sprach ich mir Mut zu, grinste mich selbst ein letztes Mal an und begann mich abzutrocknen.
Bereits jetzt fieberte ich der nächsten Begegnung mit meinem Bruder entgegen. Heute Abend würde ich erneut die Chance nutzen, um ihm ins Gewissen zu reden und vielleicht bekam ich ihn ja so weit, dass er mich gehen ließ. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich jedoch noch nicht, dass er viel zu aufgekratzt sein würde, um sich meine Version der damaligen Geschehnisse anzuhören.

Fortsetzung folgt...
Chapter 17 by Michi
Washington D.C.
Kurz nach Mittag


Es war unglaublich wie schnell die Zeit verging, wenn man damit beschäftigt war, einen Mörder zu finden. Seit Stunden waren alle dabei, sich durch die gesamten Akten zu wühlen, die es über die verschiedensten Angestellten des Navystützpunktes in Quantico gibt und die etwas mit Commander Emmerson zu tun gehabt hatten - genauso wurden Verwandte, Freunde und Bekannte überprüft. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass es kein Affektmord gewesen war und der mittlerweile Verstorbene den Einbrecher nicht überrascht hatte, hatte Gibbs seinen Leuten befohlen, sich auf das direkte Umfeld des Toten zu konzentrieren. Für Fremde war es schwer, sich auf dem Gelände des Stützpunktes aufzuhalten, also musste es jemand sein, der dort arbeitete oder wohnte und noch dazu den Commander kannte, oder besser gesagt, gekannt hatte. Irgendetwas musste in der Vergangenheit des Mannes passiert sein, dass jemand so wütend auf ihn war, ihm mit einem Baseballschläger den Kopf einzuschlagen, das gesamte Wohnzimmer zu zertrümmern und alles wie einen Einbruch aussehen zu lassen. Aber der Plan war nicht aufgegangen, der Täter hatte etwas übersehen und es war das offene Fenster, das ihm zum Verhängnis werden würde, genauso wie die DNA, die Abby auf dem Messer gefunden hatte.

McGee hatte mit der Witwe gesprochen und erfahren, dass ihrem Gatten am Morgen sein Frühstücksspeck angebrannt war und er deshalb frische Luft einlassen wollte, um den nicht gerade angenehmen Geruch wieder aus dem Haus zu entfernen. Jedenfalls war das Fenster offen gewesen, als sie sich auf dem Weg zu ihrer Freundin gemacht hatte. Gleich darauf war sie erneut in Tränen ausgebrochen und hatte Tim die Ohren voll geheult, der nur an seinem Schreibtisch gesessen hatte und sich das Geschluchze anhören musste, wobei ihm keine passenden Worte eingefallen waren, um sie zu trösten. Deshalb hatte er ihr einfach gedankt und aufgelegt, in dem Wissen, dass das nicht gerade nett gewesen war, aber sonst würde er jetzt noch da sitzen, den Telefonhörer in der Hand und eine trauernde Ehefrau am anderen Ende der Leitung zuhören, wie sich ein Schluchzer nach dem anderen aus ihrer Kehle löste.

Während seine Agenten eine Akte nach der anderen durchgingen, saß Gibbs an seinem Schreibtisch, trank bereits seinen fünften Becher Kaffee und hatte seine Aufmerksamkeit auf Tony gerichtet, der mit einer für ihn ungewöhnlichen Geschwindigkeit Ordner für Ordner durchging, auf der Suche nach Informationen, die schlussendlich dem Täter das Genick brechen würden. Seit sie den Fahrstuhl wieder verlassen hatten, war er wieder ganz der Alte. Nichts erinnerte mehr daran, dass er noch vor Stunden mit seinen Gedanken in der Vergangenheit gewesen war, die nicht gerade angenehm gewesen sein musste. Jethro konnte sich jetzt besser vorstellen, weshalb Anthony lieber Vollwaise hatte sein wollen. Die Worte, dass ihn seine Eltern nicht geliebt hatten, hatten ihn ein wenig geschockt und tief in seinem Inneren gerührt. Der Gedanke, dass jemand sein Kind nicht liebte, war entsetzlich und dennoch schien es passiert zu sein. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Tony ständig danach gierte, Aufmerksamkeit zu erregen und alles richtig zu machen, um ein wenig Lob von seinem Boss zu bekommen. Der kurze Moment, in dem DiNozzo seine Fassade des gut gelaunten und zu jedem Spaß aufgelegten Sonnyboys fallen gelassen hatte, hatte ausgereicht, um Gibbs vor Augen zu führen, dass diese im Prinzip ein Schutzmechanismus war, um zu verhindern, dass er erneut verletzt wurde. Obwohl er allen immer weiß machen wollte, dass er stark war und dass ihn nichts aus der Bahn werfen konnte, so war auch er nur ein Mensch mit Gefühlen, der genauso Angst hatte, auch wenn er es nie zeigte, wobei das kein Zeichen der Schwäche war, jedenfalls sah das Gibbs so. Zu wissen, dass Tony nie die Liebe seiner Eltern erhalten hatte, die er eigentlich bekommen hätte sollen, brachte Licht in sein gestriges Verhalten. Aber ihn interessierte brennend, weshalb die Sache jetzt an die Oberfläche kam, was der Auslöser dafür gewesen war. War es wirklich der Mord gewesen oder steckte etwas anderes dahinter? Hatte er vielleicht einen Anruf erhalten, der ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte? Oder war eine Person aufgetaucht, die ihn an seine Kindheit erinnerte? Aber egal was es war, sein Agent schien es unter Kontrolle zu haben – jedenfalls für den Moment. Aber Jethro hatte die Befürchtung, dass es noch nicht ausgestanden war und dass Anthony weiterhin in Gedanken versinken würde, auch wenn er jetzt den Anschein erweckte, alles hinter sich gelassen zu haben. Aber das war nur wieder die dicke Mauer, die er aufgebaut hatte, um seine Vergangenheit von der Gegenwart abzuschirmen. Irgendwann würde alles über ihn hereinbrechen und ihn überschwemmen. Manchmal war es einfach besser, sich jemandem anzuvertrauen, anstatt alles in sich hineinzufressen. Obwohl Gibbs kein Mann war, der gerne sein Innerstes offenbarte, so war er doch dazu bereit, sich die Sorgen anderer anzuhören, vor allem wenn es um seine Agenten ging. Auch wenn er es nicht oft zeigte, so mochte er doch jeden einzelnen, egal welche Fehler dieser haben mochte. Und er konnte es nicht leugnen, dass er zu Tony ein besonderes Verhältnis hatte. Selbst wenn er sich wieder einmal wie ein pubertierender Teenager verhielt, so war Jethro doch froh, dass er in seinem Team war. Er war unbestreitbar der beste Agent den er hatte und wenn ihn etwas bedrückte, so sollte er doch wissen, dass er immer zu seinem Boss kommen konnte, um ihm sein Herz auszuschütten. Vielleicht sollte er das Anthony klar machen und ihm sagen, dass er ihm seine Probleme anvertrauen konnte – ohne eine Kopfnuss zu kassieren. Zufrieden mit sich, trank Gibbs seinen Kaffee aus und warf den Becher in den Mülleimer, der neben seinem Schreibtisch stand. Anschließend sah er zu Tony, der an seinem Platz saß und Akte um Akte durchging, ohne jedoch auf ein zufriedenes Ergebnis zu kommen. Also beschloss der Chefermittler, die Taktik zu ändern und stand auf. Es war an der Zeit, die Offensive zu ergreifen – was den Fall und seinen Agent betraf.

Seit ein paar Minuten las Chris immer dieselbe Akte, ohne jedoch richtig mitzubekommen, was auf den Papieren stand. Das Leben der Personen, die etwas mit dem Commander zu tun gehabt hatten, war nicht sonderlich aufregend. Bis auf ein paar Ausnahmen, hatten sämtliche Personen eine reine Weste und schienen keiner Fliege etwas zu leide tun zu können. Aber irgendwo in dem ganzen Berg aus Schriftstücken war der Mörder verborgen, das spürte er ganz genau. Wenn es um Verbrechen ging, hatte er im Laufe der Jahre in den Straßen von L.A. einen sechsten Sinn entwickelt, um überleben zu können. Er konnte jemandem sofort ansehen, wenn dieser etwas ausgefressen hatte, egal wie hartnäckig er versuchte, es zu verbergen. Aber diese Akten zu wälzen, würde Chris nicht auf die richtige Spur bringen, dazu müsste er dem Täter gegenüberstehen, um seine Reaktionen mit eigenen Augen erfassen zu können, wenn er ihn mit dem Mord konfrontierte. Vielleicht wäre es besser, Gibbs zu sagen, sie sollten diese Männer direkt verhören, auch wenn es lange dauern sollte, immerhin waren es sicher gut 40 Personen. Obwohl nichts wirklich darauf hinwies, so glaubte er, dass die Tat etwas mit der Vergangenheit des Commanders zu tun hatte. Irgendetwas musste damals in Norfolk passiert sein, das ihn dazu veranlasst hatte, sich versetzen zu lassen, ungeachtet dessen, dass er sich mit seinen dortigen Kameraden hervorragend verstanden und sich nie etwas zu schulden kommen hatte lassen. Es gab insgesamt 18 Marines, die zu demselben Zeitpunkt in Norfolk gewesen waren wie der Commander und vielleicht sollten sie sich auf diejenigen konzentrieren.

Chris schloss die Akte vor sich und streckte sich genüsslich. Dabei fiel sein Blick auf Gibbs, der seinen Kaffee austrank, den Becher entsorgte und ihn direkt ansah. Unwillkürlich zuckte er zusammen und ließ seine Arme wieder sinken – er wollte nicht den Eindruck erwecken, zu faulenzen. Er wusste, dass ihn der andere, seit sie den Fahrstuhl verlassen hatten, ständig im Auge behielt, auf der Suche nach einem Anzeichen, dass er wieder in Gedanken versunken war. Aber Chris hatte aufgepasst. Obwohl die Erinnerungen an Amy ständig an die Oberfläche kamen, so drängte er sie immer wieder zurück und konzentrierte sich auf den Fall, der eine willkommene Ablenkung darstellte.
In der kleinen Kabine hatte er für ein paar Sekunden seine Fassade fallen gelassen und Jethro einen Einblick in seine Seele gegeben, aus dem Bedürfnis heraus, sich jemandem anzuvertrauen und es hatte sich gut angefühlt, etwas von dem Frust abzulassen, den er die ganzen Jahre über mit sich herumgetragen hatte und wahrscheinlich auch noch länger mit sich herumtragen würde. Aber er würde sich diesem Mann nie ganz anvertrauen können, da er wusste, wenn er herausfand, dass es nicht Tony war, der in an diesem Schreibtisch saß, konnte er gleich einen Fahrschein in den Knast einlösen. Es war ihm bereits gestern klar geworden, dass Gibbs jeden seiner Mitarbeiter mochte und alles tun würde, um sie zu beschützen und wenn er entdeckte, dass Chris Anthony entführt hatte, dann wäre er nicht einmal mehr am Nordpol sicher.

Er schüttelte seinen Kopf, um die nicht gerade rosigen Gedanken, was seine Zukunft betraf, zu verdrängen und wollte sich die nächste Akte vornehmen, als der Chefermittler aufstand. Obwohl er keinen Ton von sich gegeben hatte, hatte er sofort alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Es bringt nichts, wenn wir weiter diese Akten durchgehen", sagte er schließlich und fuhr sich mit einer Hand durch seine Haare. „Na, das höre ich doch gerne", meinte Chris und zuckte gleich darauf zusammen, als ihn ein funkelnder Blick aus blauen Augen traf. Er war noch nie jemand gewesen, der einfach seinen Mund gehalten hatte, aber jetzt kam ihn in den Sinn, dass es an der Zeit war, das zu lernen, wollte er seinen Kopf behalten.
Gibbs ging aber nicht weiter darauf ein und fuhr fort: „Ziva und McGee, ihr fahrt zu Mrs. Emmerson und fragt sie, was damals in Norfolk passiert ist. Ich will wissen, weshalb sich ihr Mann versetzen lassen wollte. Ich habe so das Gefühl, dass der Mord etwas damit zu tun hat. Wenn ihr wieder zurück seid, will ich Antworten haben." „Verstanden, Boss", erwiderte Tim sofort, ganz der untergebene Agent.
„Kann das McGee nicht alleine machen?" wollte Ziva wissen und griff widerwillig nach ihrer Waffe. Sie hatte es von jeher nicht ausstehen können, mit Opfern zu sprechen und konnte auch nicht gut mit Menschen umgehen, außer wenn es darum ging, sie zu verhören und ihnen ein Geständnis zu entlocken. Aber mit einer trauernden Frau zu reden, fiel nicht gerade in ihr Spezialgebiet und sie kam sich jedes Mal unbeholfen vor. „War an meinem Befehl etwas misszuverstehen, Officer David?" fragte Gibbs mit einem Ton in der Stimme, der jeden Kriminellen sofort in ein Mauseloch getrieben hätte, aber die junge Frau ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Dennoch hielt sie es für klüger, nicht weiter zu widersprechen und folgte McGees, der bereits aufgestanden war und auf sie wartete.

„Tony, du kommst mit mir", sagte Jethro und nahm sich ebenfalls seine Waffe. „Wo fahren wir hin?" wollte Chris wissen, der sich plötzlich ein wenig unbehaglich fühlte. Es gefiel ihm gar nicht, schon wieder alleine mit dem anderen zu sein und sei es nur für ein paar Minuten. Das letzte Gespräch unter vier Augen hatte er noch gut in Erinnerung und er konnte gut und gerne darauf verzichten, dieses zu wiederholen. Die Gefahr war einfach zu groß, dass ihm irgendetwas herausrutschte, das den Verdacht erregte, dass etwas nicht stimmte und Gibbs war sowieso schon die ganze Zeit misstrauisch. Aber er wusste, ihm blieb nichts anderes übrig als dem Chefermittler zu folgen, wollte er seinen Kopf behalten. Deshalb schnappte er sich seine Waffe und stand auf.
„Wir beide fahren nach Quantico und befragen die Kameraden von Commander Emmerson." „Etwa alle? Weißt du eigentlich, wie viele das sind? Da sitzen wir ja bis morgen dort fest." Jethro kam nahe zu ihm heran, so nahe, dass Chris seinen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. „Hast du ein Problem damit, DiNozzo? Wenn ja, kannst du auch gerne hier bleiben und weiter Akten durchgehen oder vielleicht suchst du dir gleich einen neuen Job?" Der Jüngere schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und hatte sichtlich Mühe, dem stechenden Blick standzuhalten. Wie er es hasste, sich klein wie ein Junge zu fühlen, wenn ihn der andere derart ins Visier nahm. Kein Wunder, dass jeder sofort machte, was er wollte. Es war nicht gerade angenehm, sich seinen Zorn auf sich zu ziehen. Da er seiner Stimme nicht ganz traute, schüttelte er schließlich seinen Kopf und war erleichtert, als Gibbs zurücktrat und meinte: „Das habe ich auch nicht gedacht."
Chris räusperte sich und nahm seinen Rucksack vom Boden. „Wäre es nicht sinnvoller, wenn wir uns auf diejenigen konzentrieren, die zur selben Zeit in Norfolk waren wie der Commander? Wie du vorher erwähnt hast, hat es sicher etwas mit der Sache vor fünf Jahren zu tun und ich denke, es wäre sinnvoller, in dieser Richtung zu suchen. Außerdem wären wir schneller fertig, da wir nicht so viele verhören müssen." Gleich darauf biss er sich auf die Zunge, da er dachte, eine Grenze überschritten zu haben. Aber zu seiner Verblüffung bildete sich auf Gibbs' Lippen ein kleines Lächeln, was McGee und Ziva dazu veranlasste, verwunderte Blicke auszutauschen.
„Ob du es glaubst oder nicht, DiNozzo, genau das hatte ich vor. Und damit du auf der Fahrt etwas zu tun hast, nimmst du dir die gesamten Akten mit und suchst jeden einzelnen heraus, der damals in Norfolk war. Und jetzt beweg endlich deinen Hintern. Ich will hier nicht übernachten." Ohne zu zögern schnappte sich Chris den Stoß und eilte den anderen nach, die bereits vor dem Fahrstuhl standen. Er konnte nicht verhindern, dass ihn Nervosität überkam, immerhin war es das erste Mal, dass er jemanden verhören sollte. Zwar hatte er in den letzten Jahren viele Krimis im Fernsehen gesehen und auch zahlreiche gelesen, aber er wusste, die Realität sah ganz anders aus. Die Menschen verhielten sich nie wie in einer Serie oder in einem Roman und ihm war nur allzu deutlich bewusst, dass er es an diesem Nachmittag versauen konnte. Aber er hatte jetzt immerhin die Chance, dem Mörder von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten und wenn es soweit war, konnte er nur hoffen, dass ihn sein sechster Sinn nicht im Stich lassen würde.

Die Autofahrt nach Quantico verlief größtenteils schweigsam. Chris war damit beschäftigt, die Akten zu sortieren, wobei er dazu nur etwa 15 Minuten brauchte. Um zu verhindern, dass Gibbs ihn in ein Gespräch verwickelte, kontrollierte er zweimal, ob er sich nicht vertan hatte, bevor er die Ordner in seinem Rucksack verschwinden ließ. Anschließend warf der dem Chefermittler einen Blick zu und stellte erleichtert fest, dass sich dieser auf den Verkehr konzentrierte, anstatt auf ihn. Seine Miene war wie eh und je verschlossen und es war unmöglich zu erraten, woran er gerade dachte, was ihn aber nicht daran hinderte, 20 Meilen pro Stunde schneller zu fahren als erlaubt wäre. Es schien ihn nicht einmal zu stören, dass es andere Autos auf der Straße gab, die sich an die Regeln hielten und er sie gnadenlos überholte, bevor er Gefahr lief, mit deren Stoßstangen zu kollidieren.
Diesmal störte sich Chris jedoch nicht an dem rasanten Fahrstil, sondern war eher froh darüber, immerhin bedeutete es, dass sie schneller an ihrem Ziel waren. Er riss seinen Blick von Jethro los und sah durch das Seitenfenster nach draußen, wo die Umgebung in atemberaubender Geschwindigkeit vorbeirauschte. Unwillkürlich fragte er sich, ob Tony es etwas ausmachte, wenn Gibbs so schnell unterwegs war, jede noch so kleine Verkehrsregel missachtend. Er wusste genau, was er seinem Bruder damit antat, ihm die Freiheit zu rauben und mittlerweile war er sich nicht mehr so sicher, das Richtige zu machen. Die Wut, die er seit Jahren mit sich herumschleppte, begann allmählich abzuflauen. Seit er Anthony nach so langer Zeit wieder gesehen und mit ihm gesprochen hatte, war ihm bewusst geworden, wie sehr er ihn im Grunde vermisst hatte. Er war der einzige Mensch gewesen – neben Lucille und seinem Großvater – der immer zu ihm gestanden und ihn unterstützt hatte. Und je älter sie geworden waren, desto häufiger hatte er sich auf seine Seite geschlagen, in dem Bewusstsein, den Zorn ihres Vaters auf sich zu ziehen. Damals hatte er deswegen sooft Hausarrest kassiert, dass er eigentlich öfters zu Hause gewesen war als unterwegs. Tony war sein Beschützer gewesen und wie dankte er es ihm? Chris hatte ihn entführt und ihn in einem Keller eingesperrt, um sein Leben zu übernehmen. Unwillkürlich zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen und zum ersten Mal seit langer Zeit begannen Schuldgefühle an ihm zu nagen. In einer hilflosen Geste ballte er seine Hände zu Fäusten und am liebsten hätte er auf irgendetwas eingeschlagen. Wut darüber, dass er begann, sich schuldig zu fühlen, stieg in ihm auf und nur mit Mühe unterdrückte er den Impuls, laut loszuschreien. Er hatte gedacht, die Begegnung mit Tony würde ihn kalt lassen, würde ihn nur noch mehr in seinem Plan bestärken, aber jetzt? Jetzt begann er ernsthaft darüber nachzudenken, ob es nicht ein Fehler gewesen war. Das Ereignis vor 15 Jahren kam ihm wieder in den Sinn, der Abend, der sie auseinandergerissen hatte, aber die Wut von damals wollte in diesem Moment nicht an die Oberfläche kommen. Chris spürte förmlich, wie er begann, Tony zu verzeihen und es war diese Tatsache, die ihn einen Entschluss fassen ließ. Und er wusste, er würde seit langer Zeit wieder etwas richtig machen und vielleicht würde er dann endlich Frieden finden.

Gibbs beobachtete seinen Agent aus den Augenwinkeln und ihm entging natürlich nicht, dass dieser abwesend aus dem Fenster starrte und über irgendetwas nachdachte, genauso wenig entgingen ihm seine Hände, die zu Fäusten geballt waren, sich aber gleich darauf wieder öffneten. Die gesamte Körperhaltung des Jüngeren entspannte sich und auf seinen Lippen bildete sich ein kleines Lächeln. Es war unübersehbar, dass er gerade einen inneren Kampf ausgefochten hatte und dass er mit dem Ergebnis zufrieden war. Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass er so richtig entspannt war und Jethro hatte den Eindruck, dass er mit sich ins Reine gekommen war. Erleichterung überkam ihn, aber dennoch hatte er die Befürchtung, dass Tony erneut in Grübeleien versinken würde, dass ihn erneut Erinnerungen an seine Eltern überschwemmen würden. Deshalb bremste er vor einer Ampel ab, die gerade auf gelb umschaltete, obwohl er normalerweise die Kreuzung noch überquert hätte.
„Alles in Ordnung?" fragte er und drehte sich zu seinem Agent um, der seinen Blick vom Seitenfenster losriss und ihn direkt ansah, wobei in seinen grünen Augen ein glückliches Funkeln getreten war. „Ja, alles bestens", erwiderte dieser und Gibbs spürte, dass es die Wahrheit war. „Hör zu, Tony", sagte er mit leiser Stimme und beugte sich ein wenig vor. „Wenn du Probleme hast, egal welche, du kannst immer zu mir kommen. Du weißt, meine Tür steht für dich offen und du kannst mit mir über alles reden."
Chris sah ihn für ein paar Sekunden schweigend an. Der harte Chefermittler war verschwunden und hatte einem sanfteren Platz gemacht. Aber so gerne er sich alles von der Seele geredet hätte, würde es ihn doch nur ins Gefängnis bringen, dass war so sicher wie die Tatsache, dass die Erde rund und keine Scheibe war. Und er würde garantiert nicht in den Knast gehen, dass hatte er sich geschworen, da würde er lieber den Tod in Kauf nehmen, als sich in eine kleine Zelle sperren zu lassen – noch ein Grund, der seine Entscheidung von vorhin festigte. Aber bevor er diese umsetzte, würde er mithelfen, einen Mörder zu finden.
„Danke für das Angebot", sagte Chris schließlich. „Vielleicht werde ich einmal darauf zurückkommen." Er wusste, dass das nie der Fall sein würde, aber alleine das Gefühl, dass es jemanden gab, der ihm zuhören würde, war einfach großartig. Ein breites Grinsen bildete sich auf seinen Lippen, unfähig es zurückzuhalten, obwohl er wusste, was es ihm einbringen würde. „Ich habe schon immer gewusst, dass unter dieser harten Schale ein weicher Kern steckt und du mich tief in deinem Inneren richtig gerne hast." Die flache Hand, die eine Sekunde später ihren Weg zu seinem Hinterkopf fand und ihm einen saftigen Klaps verpasste, bestätigte ihn nur in seiner Vermutung und ließ ihn noch breiter grinsen. In diesem Moment wurde Chris klar, welches Glück Tony hatte, Gibbs als Freund zu haben und er wünschte sich innerlich, dass ihn dieser Mann irgendwann genauso behandeln würde, ungeachtet dessen, wer er war und was er angestellt hatte.

Fortsetzung folgt...
Chapter 18 by Michi
Quantico
15:39 Uhr


Der Raum, in dem Chris auf dem Stützpunkt in Quantico seit etwa drei Stunden saß, war äußerst spärlich möbliert. Sonnenlicht kam nur durch ein kleines Fenster, vor dem zusätzlich eine Jalousie angebracht worden war, die das Licht in Streifen auf den grauen, rechteckigen Tisch warf, der in der Mitte des Zimmers stand. Sonst gab es noch zwei äußerst ungemütliche Metallstühle und eine vertrocknete Topfpflanze in einer Ecke, die ihre einstmals grünen Blätter – die jetzt braun waren - traurig nach unten hängen ließ und nicht gerade dazu beitrug, die Atmosphäre aufzuhellen, sondern sie eher noch trostloser machte. Aber das störte Chris nicht – im Gegenteil. Er fand, dass es die passende Umgebung war, um Männer zu verhören, die eventuell einen Mord begangen hatten. Die leichte Dämmrigkeit machte sie leicht unruhig und es kam nicht selten vor, dass jemanden der Schweiß auf der Stirn ausbrach. Dennoch war dieser Raum noch freundlicher als der Ort, an dem der junge Mann vor Jahren einmal selbst in L.A. vernommen worden war, nachdem man ihn bei einem Einbruch erwischt hatte. Noch heute konnte er den abgestandenen Kaffee, die körperlichen Ausdünstungen und die Angst der Verhafteten riechen, die vor ihm in dem Raum unerbittlich weichgeklopft worden waren, so lange, bis sie ein Geständnis abgelegt hatten. Damals war es nicht die Sonne gewesen, die ihm ins Gesicht geschienen hatte, sondern das Licht einer nackten Glühbirne, die alles kalt und leblos gemacht hatte. Und noch dazu war es ein alter Detective gewesen, der ihn verhört hatte und dessen Bauch über seine abgewetzte Hose gequollen war. Während er immer dieselben Fragen gestellt hatte, hatte er sich einen Donut nach dem anderen in den Mund gestopft und Kaffee aus einer Tasse getrunken, die ausgesehen hatte, als ob sie schon länger nicht mehr gespült worden war. Das aufgedunsene und teigige Gesicht des Polizisten hatte Chris noch immer deutlich im Gedächtnis und erinnerte ihn daran, dass er Menschen, die diesen Beruf ausübten, eigentlich nicht ausstehen konnte – bis er gestern drei Bundesagenten kennengelernt hatte, die so ganz anders waren als die sonstigen Gesetzeshüter. Und jetzt saß er in Quantico und war dabei, selbst Verhöre durchzuführen, um einen Mörder zu überführen. Ein weiterer Beweis, dass das Leben Wendungen nahm, mit denen man ursprünglich nicht rechnete. Aber er war sich mehr als bewusst, dass er nur vorgab, ein Bundesagent zu sein und dafür, dass er solche Befragungen noch nie gemacht und sie nur im Fernsehen in verschiedensten Filmen und Serien mitverfolgt hatte, schlug er sich gar nicht so schlecht – abgesehen davon, dass sein sechster Sinn bis jetzt noch nicht reagiert hatte.

Acht Männer hatte Chris in den letzten drei Stunden vernommen - wobei er bei dem Ersten ungewohnt nervös gewesen war, dass sich aber rasch wieder gelegt hatte – und das Einzige was es ihm eingebracht hatte, waren schmerzende Muskeln, die bereits gegen den unbequemen Stuhl protestierten. In seinem Kopf begann es unangenehm zu pochen, sein Magen forderte langsam sein Recht auf Nahrung ein und zusätzlich spürte er, wie er müde wurde, etwas was ihn keineswegs wunderte. Immerhin hatte er letzte Nacht nicht viel geschlafen und die fehlende Ruhe forderte ihren Tribut. Aber er hatte noch ein Verhör vor sich und der Feierabend schien in weiter Ferne zu sein. Chris wusste nicht, wie weit Gibbs war, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser bereits fertig war. Die beiden hatten sich die insgesamt 18 Männer aufgeteilt und jeder nahm sich neun vor, in der Hoffnung, so schneller fertig zu sein. Trotzdem saß er schon seit geraumer Zeit in diesem kleinen Raum und sehnte sich nach frischer Luft, einem großen Hamburger und ein kühles Bier. Stattdessen musste er sich mit einem Glas Wasser begnügen, gepaart mit Marines, deren Leben nicht gerade aufregend war. Keiner der acht Männer, die er verhört hatte, schien etwas mit dem Mord an dem Commander zu tun zu haben und sie machten auf ihn auch nicht den Eindruck, besonders gewalttätig zu sein. Strafzettel wegen falschem Parken oder zu schnellem Fahren waren die einzigen Vergehen, die sie sich geleistet hatten, wobei das nur auf vier der Männer zutraf. Die anderen hatten so weiße Westen, als ob sie gerade aus der Reinigung gekommen wären und der Letzte auf der Liste schien sich ebenfalls nichts zu schulden gekommen lassen zu haben.

Chris seufzte leise und betrachtete die Akten und Notizen, der er sich gemacht hatte. Im Fernsehen sah das Ganze immer viel spannender aus, als es in Wirklichkeit war. Und irgendwie schien sich keiner einen Reim darauf machen zu können, weshalb jemand den Commander umbringen hätte sollen und keiner der acht Männer hatte ihn in Norfolk gekannt – jedenfalls behaupteten sie das. Chris hatte jedoch gespürt, dass sie die Wahrheit gesagt hatten, wobei ihn das ein wenig entmutigt hatte. Wieso konnte nicht jemand ein Schild auf dem Rücken kleben haben, auf dem Ich bin der Mörder stand? Es würde die ganze Sache einfacher machen und er könnte endlich aus diesem Raum verschwinden.
Ein Gähnen bahnte sich seinen Weg an die Oberfläche und ließ ihn den Mund aufreißen, den er jedoch sofort wieder zuklappte, als es leise klopfte und eine Sekunde später ein junger Mann eintrat, der das kleine Zimmer gleich noch viel kleiner erschienen ließ. Er war fast zwei Meter groß und seine muskulöse Brust sprengte beinahe das Hemd seiner Uniform, dessen Knöpfe gefährlich gespannt waren. Die Hände waren riesig und erinnerten Chris ein wenig an die Größe von Mülleimerdeckeln. Gespannt beobachtete er den Neuankömmling, wie er die Türe leise schloss und sich auf dem Stuhl niederließ, wobei er einen leisen Pfeiflaut von sich gab, so als ob es ihm Mühe bereitete, seinen muskulösen Körper zu bewegen. Graue Augen musterten ihn von oben bis unten, schienen sich jeden Zentimeter von ihm einzuprägen. Die dunklen Haare des Mannes waren kurz geschnitten und ließen ihn älter wirken als er war. Das breite Gesicht wurde von einer krummen Nase dominiert, die irgendwann einmal gebrochen worden aber nicht wieder richtig zusammengewachsen war.

„Petty Officer First Class Theodore Diggs?" fragte Chris, obwohl er genau wusste, wen er vor sich hatte – immerhin hatte er die Akte vor ein paar Minuten überflogen, um sich mit den Daten des Mannes vertraut zu machen. „Der bin ich, Sir", erwiderte dieser, faltete seine Hände zusammen und legte sie auf den Tisch, wobei für einen kurzen Moment ein tiefer Schnitt am Mittelfinger zu erkennen war, der noch ganz frisch und nicht verheilt war. Es dauerte nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde, aber es reichte aus, um Chris' Herz schneller schlagen zu lassen. Seine Muskeln spannten sich unwillkürlich an und Adrenalin begann durch seinen Körper zu strömen. Vergessen war die Müdigkeit, die Langeweile und der Hunger. Stattdessen ergriff ihn Aufregung und er musste aufpassen, damit man nicht auf seinem Gesicht ablesen konnte, was gerade in ihm vorging. Obwohl er mit dem Verhör noch gar nicht angefangen hatte, so wusste er bereits, dass er einen Treffer ins Schwarze gelandet hatte. Sein Instinkt sagte ihm laut und deutlich, dass vor ihm der Mörder des Commanders saß, auch wenn er es zu diesem Zeitpunkt nicht beweisen konnte. Die Verletzung am Finger konnte sich dieser überall zugezogen haben, aber dennoch war sich Chris sicher, dass der Schnitt entstanden war, als sein Gegenüber dem Opfer das Messer in das Herz gerammt hatte. Er wusste, dass er jetzt vorsichtig vorgehen musste – das zerstörte Wohnzimmer und der eingeschlagene Schädel hatten sich deutlich genug in sein Gehirn eingebrannt, um ihm zu sagen, dass der Mann vor ihm gewalttätig war und mit seinen großen Händen ihn locker mit einem Schlag ins Reich der Bewusstlosigkeit befördern konnte, etwas, vorauf er gut und gerne verzichten konnte.

Deshalb setzte er eine freundliche Miene auf und zwang seine Muskeln, sich wieder zu entspannen. Mit ein wenig Glück hatte Diggs nichts mitbekommen, wobei er sich vorstellen konnte, dass diesen grauen Augen nichts entging. „Ich bin Special Agent DiNozzo", stellte er sich vor, sich an seine guten Manieren erinnernd. Die Worte hinterließen jedoch einen faden Geschmack in seinem Mund, als ihm klar war, dass er dies in Wirklichkeit nicht war. Eigentlich sollte sein Bruder jetzt hier sitzen, um den Mann zu verhören und nicht er. Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich Gedanken über Tony zu machen und somit konzentrierte er sich wieder auf die Gegenwart.
Chris schlug die Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag, auf und überflog noch einmal die Informationen, obwohl er sie bereits auswendig kannte. „Sie sind seit zwei Jahren hier in Quantico?" fragte er, darauf bedacht, zuerst nette Konversation zu machen und den anderen in Sicherheit zu wiegen. „Das ist richtig, Sir", antwortete dieser sofort, rutschte aber etwas nervös auf dem Stuhl umher. „Und vorher waren Sie in Norfolk?" „Das war ich. Allerdings habe ich mich nicht sonderlich mit meinem Vorgesetzten verstanden, weshalb ich um Versetzung angesucht habe." „Haben Sie angegeben, dass Sie nach Quantico wollten?" fragte Chris und schlug die Akte wieder zu. Er beobachtete genau, wie sein Gegenüber hart schluckte, wobei dessen Adamsapfel wild auf und ab hüpfte. „Ja, habe ich", erwiderte er nach ein paar Sekunden Überlegung. „Wieso gerade Quantico und nicht irgendwo anders?" bohrte er weiter, sich der steigenden Nervosität des anderen nur allzu bewusst. Dafür, dass er kaltblütig jemanden ermordet hatte, hatte er sich nicht gerade unter Kontrolle. Diggs warf einen flüchtigen Blick aus dem kleinen Fenster, bevor er sich wieder auf die Befragung konzentrierte. Die etwas düstere Atmosphäre schien ihm gar nicht zu behagen und langsam begann sich Schweiß auf seiner Oberlippe zu bilden. „Keine Ahnung", meinte er schließlich und sah Chris fest in die Augen. „Ich wollte nur von Norfolk weg. Es war mir egal, wo hin ich komme. Quantico ist mir damals spontan eingefallen." Der Ältere nickte und machte sich ein paar Notizen, obwohl er jedes einzelne Wort in seinem Gehirn abspeicherte. Der fehlende Grund – er glaubte dem Mann keine Sekunde, dass es etwas mit seinem Vorgesetzten zu tun gehabt hatte - weshalb der Petty Officer von Norfolk wegwollte, bestärkte ihn in der Vermutung, dass er sich nur wegen dem Commander hierher versetzen hatte lassen. Aber weshalb? Wo war das Motiv?

„Ist Ihnen heiß?" fragte Chris unvermittelt und blickte zu dem Petty Officer, der mittlerweile seine Finger wieder entfaltet hatte und damit lautlos auf der Tischplatte herumtrommelte. „Sie können sich ruhig etwas zu trinken nehmen, wenn Sie wollen." Dabei zeigte er auf den Krug mit Wasser und auf ein frisches Glas. Diggs entspannte sich ein wenig und raffte sich zu einem Lächeln auf, bevor er das Angebot annahm, sich ein Glas füllte und es mit wenigen Schlucken um die Hälfte leerte. Chris unterdrückte mit Mühe ein Grinsen, immerhin hatte er ihm nicht ohne Hintergedanken etwas zu trinken angeboten. Abby würde es ein Leichtes sein, eine DNA Probe zu nehmen, um sie mit dem Blut zu vergleichen, das sie auf dem Messer gefunden hatte.
„Wie sind Sie mit Commander Emmerson ausgekommen? Gab es irgendwelche Probleme?" brachte er das Gespräch wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. Der Petty Officer schüttelte den Kopf, bis er sich darauf besann, dass es klüger wäre, die Frage mit Worten zu beantworten. „Nein, gab es nicht. Das heißt, ich bin gut mit dem Commander ausgekommen. Er war ein fairer Mann und hat jeden respektiert. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ihn jemand ermordet hat." Bei diesen Worten setzte er einen betroffenen Gesichtsausdruck auf und er schaffte es sogar, dass in seine grauen Augen eine Spur Trauer trat. ‚Wirklich gut', dachte Chris und klopfte mit dem Kugelschreiber auf dem Tisch herum. ‚Aber nicht gut genug.' In den letzten 15 Jahren hatte er so viele Menschen getroffen, die ihm falsche Gefühle vorgegaukelt hatten, dass er Lügen mittlerweile eine Meile gegen den Wind riechen konnte. Der Mann vor ihm war ein hervorragender Schauspieler – sah man davon ab, dass er nervös mit dem Glas herumspielte – aber trotzdem wusste er, dass er nicht die Wahrheit sagte. Chris ließ sich nicht anmerken, dass er ihm nicht glaubte, sondern nickte verständnisvoll und machte sich erneut ein paar Notizen. Aus den Augenwinkeln bekam er mit, wie der andere immer wieder zu dem Fenster sah und dann zur Tür, so als ob er nur eine günstige Gelegenheit abwarten würde, um zu fliehen. Selbst ein Blinder würde bemerken, dass dieser Mann Dreck am Stecken hatte und er stellte sich nicht gerade geschickt an, um es zu verbergen. Im Fernsehen waren die Mörder immer viel schlauer, jedenfalls wirkten sie dort nie so nervös. Also beschloss Chris, seine Taktik ein wenig zu ändern.

„Geht es Ihnen nicht gut, Petty Officer?" fragte er freundlich und setzte eine besorgte Miene auf. Diggs zuckte leicht zusammen, bevor er ratlos seine Augenbrauen hob. „Wie bitte?" „Ich habe gefragt, ob es Ihnen nicht gut geht. Sie machen auf mich den Eindruck, als ob Ihnen ein wenig übel wäre." „Nein, mir geht es gut", erwiderte er ohne zu zögern, aber der große Schluck Wasser, den er gleich darauf trank, strafte seine Worte Lügen. „Es ist nur ein wenig heiß hier drinnen." „Leider klemmt das Fenster und lässt sich deswegen nicht öffnen. Es war auch kein anderer Raum frei, also müssen wir wohl oder übel mit diesem hier Vorlieb nehmen." Theodore nickte abwesend und zupfte ein wenig am Kragen seines Uniformhemdes herum. „Weshalb sind Sie so nervös, Petty Officer?" wollte Chris wissen und beugte sich ein wenig vor. „Ich… ich bin nicht nervös", antwortete der andere stotternd und fing erneut an, mit dem Glas zu spielen. „Da habe ich aber einen anderen Eindruck. Man könnte glatt annehmen, dass Sie mehr wissen, als Sie zugeben." „Was?" Erschrocken weitete der Mann seine Augen und hätte um ein Haar das Glas umgeworfen. „Ich weiß gar nichts."
„Hatten Sie Probleme mit dem Commander, Petty Officer?" fragte Chris erneut, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und drehte den Kugelschreiber, den er in seinen Fingern hielt, hin und her. „Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt und Sie haben es sich sogar notiert!" Seine Stimme wurde immer lauter und Wut ließ ihn seine Hände zu Fäusten ballen. „Beantworten Sie einfach die Frage", meinte Christopher ruhig, obwohl sein Herz ein wenig schneller schlug, als ihm bewusst wurde, dass er den Mann gegen sich aufbrachte. Dieser schüttelte den Kopf und zischte: „Nein, habe ich nicht! Ich hatte keine Probleme mit dem Commander! Sind Sie jetzt zufrieden?!" „Ich wollte nur sicher gehen. Vielleicht hätten Sie ja Ihre Aussage von vorhin ändern wollen. Wo waren Sie gestern zwischen sieben und neun Uhr morgens?" „Wollen Sie mir etwa unterstellen, ich hätte den Commander ermordet?!" Diggs erhob sich ein wenig, stützte seine Hände auf den Tisch und beugte sich weit vor, aber Chris ließ sich nicht einschüchtern. Stattdessen drehte er weiter den Kugelschreiber in seinen Fingern und bemühte sich, nicht ebenfalls laut zu werden. „Ich unterstelle Ihnen rein gar nichts. Es ist eine Routinefrage, die wir jedem stellen. Also, wo waren Sie gestern zwischen sieben und neun Uhr morgens?"
Der Petty Officer ließ sich wieder auf seinen Stuhl zurücksinken und fuhr sich mit einer seiner großen Hände über sein Gesicht. „Ich war bei mir zu Hause. Meine Schicht hat erst um 12 Uhr angefangen." „Gibt es irgendwelche Zeugen, die bestätigen können, dass Sie zu Hause waren?" Chris beugte sich wieder vor und machte sich ein paar Notizen. „Mein bester Freund hat bei mir übernachtet. Wir waren die gesamte Nacht und auch den Morgen über zusammen. Sie können ihn gerne fragen." „Das werde ich auch tun. Wie heißt Ihr Freund?" „Harold Paulsen. Er ist ebenfalls Petty Officer und seit einem halben Jahr hier in Quantico. Wir kennen uns aber schon seit der High School und ich habe ihn dazu überredet, zu den Marines zu gehen." Diggs entspannte sich wieder und seine Wut von vorhin war verschwunden.

Chris jedoch presste für einen kurzen Moment seine Kiefer zusammen, als ihm klar wurde, dass dieser Mann anscheinend ein hieb und stichfestes Alibi hatte. Aber weshalb sagte ihm sein Instinkt dann, dass er der Mörder war? Konnte es sein, dass sein Freund ebenfalls in der Sache mit drinnen steckte? „Wie kann ich Petty Officer Paulsen erreichen?" Diggs nannte ihm eine Telefonnummer, mit dem Hinweis, dass Harold heute seinen freien Tag hatte und wahrscheinlich in seiner Wohnung zu erreichen sei. „Kann ich jetzt gehen?" Chris hob seinen Kopf und fixierte den anderen mit seinen Augen. Am liebsten würde er nein sagen, würde ihn hier festhalten, so lange, bis er das Alibi überprüft hatte und dessen Schwachstelle gefunden hatte, um ihn dann wegen Mordes zu verhaften. Aber momentan sah er einfach keine Möglichkeit, ihm ein Geständnis zu entlocken, deshalb nickte er einfach. „Ja, Sie können gehen. Aber halten Sie sich vor Verfügung, für den Fall, dass ich noch weitere Fragen habe." Die Erleichterung stand seinem Gegenüber förmlich ins Gesicht geschrieben, als er sich erhob. „Eines noch, Petty Officer", meinte Chris und legte seine Hände auf den Tisch. „Wie haben Sie sich den Schnitt an Ihrem Finger zugezogen?" Diggs zuckte zusammen und blickte leicht erschrocken auf seine Verletzung, aber eine Sekunde später hatte er sich wieder gefasst. „Ich habe mich vorgestern Abend geschnitten, als ich mir Essen zubereitet habe. Wieso?" „Nur so aus Interesse", erwiderte er, hob eine Augenbraue und ließ den anderen damit wissen, dass er ihm kein Wort glaubte. Der Mann drehte sich um, riss die Tür auf und stürmte hinaus, wobei er beinahe Gibbs über den Haufen gerannt hätte, der draußen gewartet hatte, einen Becher Kaffee in der Hand haltend. Kopfschüttelnd sah er ihm nach, wobei sich ein Lächeln auf seine Lippen stahl, bei dem Gedanken, dass sein Agent den anderen wohl ziemlich auf die Palme gebracht haben musste – ein Gefühl, das er selbst nur zu gut kannte.

„Und, wie ist es gelaufen?" fragte er und betrat den Raum. „Bestens", erwiderte Chris, bückte sich und holte ein Paar Latexhandschuhe - die er sich rasch anzog - aus seinem Rucksack, bevor er das benutzte Glas nahm, aufstand und zu der verkümmerten Pflanze in der Ecke ging. Darauf bedacht, die DNA Spuren nicht zu vernichten, leerte er das Wasser in die trockene Erde, die wahrscheinlich seit Wochen dadurch wieder etwas Flüssigkeit bekam. Anschließend kehrte er zum Tisch zurück und beförderte einen Beweismittelbeutel zu Tage. „Ich schwöre dir, das ist unser Mann", fuhr er fort und tütete das Glas ein. „Petty Officer Theodore Diggs ist der Mörder von Commander Emmerson."
Gibbs drehte sich um und blickte zur Tür hinaus, aber derjenige, der ihn beinahe gerammt hätte, war nicht mehr zu sehen. „Wie kommst du darauf, dass er der Mörder ist, DiNozzo?" wollte er wissen und nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee. „Mein Instinkt sagt es mir", antwortete Chris und begann, die gesamten Akten zu einem Stoß aufzutürmen. „Ich schwöre dir, er ist es. Zwar behauptet er, ein Alibi zu haben und gestern mit seinem besten Freund zusammengewesen zu sein, aber…" „Aber du glaubst ihm nicht", vollendete der Chefermittler den Satz. „Nicht eine Sekunde lang. Du hättest ihn mal sehen sollen. Er hat mehr geschwitzt als ein Marathonläufer auf der Zielgeraden und er war ziemlich nervös, so als ob er gewusst hätte, das ich weiß, dass er der Mörder ist." „Na schön", meinte Gibbs und fuhr sich mit einer freien Hand durch seine Haare. „Und wie willst du deine Theorie beweisen?" Chris grinste breit und hob die Beweismitteltüte mit dem Glas hoch. „Ganz einfach. Ich habe den Petty Officer dazu gebracht, ein Glas Wasser zu trinken, was bedeutet, wir haben seine DNA. Abby kann überprüfen, ob sie mit derjenigen von dem Blut übereinstimmt."
Jethro trank seinen Kaffee aus und warf den Becher in einen Mülleimer, bevor er kritisch das Glas betrachtete. „Dir ist aber schon klar, dass dieser Beweis vor Gericht nicht zugelassen wird, da du kein Einverständnis von dem Petty Officer erhalten hast, eine DNA Probe zu nehmen." „Das ist mir durchaus bewusst. Ich bin mir jedoch sicher, dass er gestehen wird, wenn wir ihn damit konfrontieren, dass seine DNA mit der auf dem Messer übereinstimmt. Und vielleicht bekommen wir auch seinen Freund dazu auszusagen, dass er ihm ein Alibi beschafft hat." „Und alles nur, weil dein Instinkt dir sagt, dass Diggs der Mörder ist?" Chris kniff seine Augen zusammen und krampfte seine Finger um das Beweisstück. „Ich weiß, wie das klingt, Boss, aber ich schwöre dir, er ist der Mörder. Meinem Instinkt konnte ich schon immer vertrauen und er hat mich nie im Stich gelassen. Lass uns dieser Spur einfach folgen."

Gibbs betrachtete den jungen Mann genau und er wusste nur zu genau, dass man sich auf sein Bauchgefühl verlassen sollte. Außerdem war es wirklich der einzige Hinweis, dem sie nachgehen konnten. Seine Verhöre mit den anderen neun Männern waren nicht erfolgreich gewesen. Von daher hatte er gehofft, dass Tony mehr Erfolg gehabt hatte und dass schien auch der Fall zu sein. Innerlich war er sogar stolz auf ihn, dass er so weit gedacht hatte und Diggs dazu gebracht hatte, etwas zu trinken, damit sie seine DNA hatten, die jedoch vor Gericht nicht verwertbar sein würde. Deshalb mussten sie dem Petty Officer ein Geständnis entlocken, um ihn überführen zu können. Und dafür mussten sie sein Alibi zum Einsturz bringen. Aber Jethro war bewusst, dass sie so lange warten mussten, bis Abby die Ergebnisse der DNA Überprüfung hatte, was wiederum bedeutete, dass das bis morgen dauern würde. Auch wenn er nicht allzu viel von Forensik verstand, so hatte er mittlerweile mitbekommen, dass Wissenschaft Zeit brauchte und man eine DNA Analyse nicht innerhalb von wenigen Stunden durchführen konnte.
„Na schön, da es die einzige Spur ist, die wir haben, werden wir ihr auch nachgehen", sagte Gibbs schließlich und schenkte Chris ein anerkennendes Nicken. Dieser konnte nicht anders als breit zu grinsen. Zu wissen, dass sie bald des Rätsels Lösung haben würden, erfüllte ihn mit Befriedigung, aber gleichzeitig auch mit ein wenig Wehmut, als er an seine Entscheidung dachte, die er auf der Fahrt hierher gemacht hatte. Auch wenn es ihn ein wenig schmerzte, als er daran dachte, die Menschen zu verlassen, durch die er nach so langer Zeit erfahren hatte, was es hieß, sich geborgen zu fühlen und respektiert zu werden, wusste er, dass es die richtige Entscheidung war, Tony sein Leben wieder zurückzugeben, Washington den Rücken zuzukehren und sich irgendwo anders eine neue Existenz aufzubauen, in der Hoffnung, endlich den ganzen Hass und Frust - die Gefühle, die ihn seit Jahren von innen heraus zerfraßen - hinter sich zu lassen.

Fortsetzung folgt...
Chapter 19 by Michi
Washington D.C.
Kurz vor 19 Uhr


Seit geraumer Zeit blickte Chris immer wieder auf seine Uhr. Es war fast sieben, die Sonne begann langsam unterzugehen und Gibbs hatte ihnen immer noch nicht erlaubt, Feierabend zu machen. Hatte er sie gestern noch vor sechs nach Hause geschickt, so schien er heute die verlorene Zeit wieder reinholen zu wollen. Es könnte allerdings auch daran liegen, dass es endlich eine konkrete Spur gab, was den Mord an Commander Emmerson betraf. Der Chefermittler hatte seine Kollegen nicht einmal eine Minute zum Luft holen gelassen, als er mit Chris von Quantico zurückgekommen war. Die sanftere Seite an ihm, die er dem jungen Mann sowohl am Morgen im Fahrstuhl als auch bei der Autofahrt gezeigt hatte, war wieder verschwunden und hatte dem knallharten Agent Platz gemacht, der er war. Mit einem Becher voll Kaffee hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt und McGee und Ziva knapp aufgefordert zu berichten, was sie von Mrs. Emmerson erfahren hatten - was nicht sehr viel gewesen war. Das einzig Interessante war, dass sie angenommen hatte, ihr Mann hätte sich auf Grund von unüberwindbaren Differenzen mit seinem Vorgesetzten versetzten lassen. Wie das Team aber am Vortag von diesem erfahren hatte, hatten sie sich super miteinander verstanden und es gab nicht ansatzweise irgendwelche Probleme. Was wiederum bedeuten musste, das etwas geschehen war, dass den Commander dazu veranlasst hatte, seine Frau anzulügen. Und an dieser Stelle kam Petty Officer First Class Theodore Diggs ins Spiel.

Gibbs hatte Ziva und McGee von Chris' Verdacht erzählt und ohne Umschweife befohlen, so viele Informationen wie möglich über den Marine und seinen Freund Harold Paulsen herauszufinden, der ohne zu zögern das Alibi bestätigt hatte. Aber dennoch blieb das Gefühl, dass beide etwas mit dem Mord zu tun hatten, aufrecht und die DNA Analyse, die Abby gerade durchführte, würde das hoffentlich bestätigen. Allerdings mussten sie bis morgen Mittag warten, bis ein Ergebnis vorliegen würde. So super die moderne Wissenschaft auch war, war es doch mehr als nervenaufreibend, dass sie manchmal derart viel Zeit in Anspruch nahm.
Um zu verhindern, dass die beiden Verdächtigen während dieser Stunden das Weite suchten, hatte Gibbs eine Überwachung angeordnet – natürlich, ohne dass sie etwas davon merkten. Vielleicht bekamen die Ermittler auch so schon einen Hinweis, der ihnen verriet, ob die Marines Dreck am Stecken hatten.
Jethro wusste, alleine durch ein Bauchgefühl konnte mein keinen Mörder entlarven – dazu brauchte man hieb und stichfeste Beweise – aber er hatte gelernt, darauf zu hören. Bereits in Quantico hatte er beschlossen, dem Instinkt seines Agents zu vertrauen. Zwar bestand immer die Möglichkeit, dass sich dieser Verdacht als unbegründet herausstellte, aber je länger der Chefermittler darüber nachdachte, desto deutlicher sagte ihm seine innere Stimme, dass sie auf der richtigen Spur waren. Jetzt mussten sie nur noch beweisen, dass das Alibi gefälscht war und die beiden jungen Männer so weit in die Enge treiben, bis sie endlich mit der Wahrheit herausrückten. Wie sie das anstellen sollten, wusste Jethro zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich, aber ihm würde sicher eine Taktik einfallen – später, wenn er alleine war und an seinem Boot weiterbauen konnte, gepaart mit ein oder zwei Gläsern guten Bourbon. Es ging doch nichts über das Abschleifen von Holz, um sich dabei Gedanken über einen Mordfall zu machen. Aber bis es so weit war, wollte er sich noch die Informationen anhören, die seine Agens über die beiden Marines gesammelt hatten. Deshalb trank er seinen Kaffee aus, entsorgte den Becher im Mülleimer und stand auf, mit der Gewissheit, dass er damit die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Der untere Teil des Computerbildschirms hatte auf Chris in den letzten Minuten eine gewaltige Anziehungskraft gehabt. Mittlerweile hatte er bereits das fünfte Mal auf die Uhr gesehen und die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Inzwischen war es kurz nach sieben und er konnte nur mit Mühe dem Drang widerstehen, unruhig auf seinem Stuhl herumzurutschen. Wie er Tony kannte, hatte er sicher schon einen so großen Hunger, dass er alles essen würde, was man ihm vor die Nase setzte und je länger er hier im Büro war, desto länger musste dieser auf Nahrung warten. Und er kannte seinen Bruder gut genug, um mit Sicherheit sagen zu können, dass er gerade jetzt nicht in allerbester Laune war, da sein Magen ein riesiges Loch aufwies. Es hatte ihn schon immer verwundert, wie viel dieser essen konnte, ohne jedoch sichtlich an Gewicht zuzunehmen. Chris konnte ebenfalls große Mengen verschlingen, aber bei weitem nicht so viel wie Anthony. Obwohl, wenn er darüber nachdachte, hatte er den Schokoriegelvorrat in dem Schreibtisch in den letzten beiden Tagen ziemlich schrumpfen lassen und es waren nicht mehr viele übrig. Noch eine Sache, die er auf die Liste der Dinge setzte, die er einkaufen wollte, bevor er Tony wieder frei ließ. Dieser sollte am Montag immerhin keine leere Schublade vorfinden, wenn er sich einen seiner Riegel gönnen wollte. Vielleicht sollte er noch eine Schachtel Doughnouts mit Vanille dazulegen, als kleine Entschädigung. Aber Chris wusste, es brauchte schon mehr als Süßigkeiten, damit ihm sein Bruder verzeihen würde, dass er ihn in einem Keller eingesperrt und sein Leben übernommen hatte. Noch vor Tagen hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht, hatte geglaubt, er würde sein Recht auf das Leben einfordern, dass eigentlich ihm zustand, aber mittlerweile hatte er eingesehen, dass er auf dem totalen Holzweg gewesen war. Anthony war nicht derjenige, der Schuld daran hatte, dass er der erstgeborne Sohn oder dass er mehr geliebt worden war. Nein, die Schuldigen waren ihre Eltern, die sich mehr um ihre Karriere und um das Geld gekümmert hatten, als um ihre Kinder. Und er musste erst zum Kidnapper werden, um das herauszufinden. Vorher war er vor Wut und Hass einfach blind gewesen, hatte das Offensichtliche nicht gesehen und seinem Bruder die ganze Schuld in die Schuhe geschoben.

Jetzt, etwa 48 Stunden später, nachdem er angefangen hatte, seinen Plan umzusetzen, wünschte er sich, er hätte es nie getan. Allerdings musste Chris zugeben, dass es ein wunderbares Gefühl war, andere helfen zu können und dabei mitzuwirken, einen Mörder zu fangen, hatte einen gewissen Reiz. Hatte er noch vor kurzem die Arbeit von Gesetzeshütern verachtet, so hatte er mittlerweile Einblick in das Ganze gewonnen und es war irgendwie toll, einen Teil beizutragen, um die Straßen sicherer zu machen und einen Mörder hinter Gitter zu bringen. Der Adrenalinkick, den man bekam, wenn man des Rätsels Lösung immer näher kam, war besser als jeder noch so heftige Rausch und es erfüllte ihn mit Befriedigung. Er wusste, endlich würde er etwas richtig machen, tat etwas für die Gesellschaft, bevor er bald wieder von der Bildfläche verschwinden würde – möglichst weit weg von Washington, weit weg von den schmerzhaften Erinnerungen an seine Kindheit und weit weg von Tony. Erst jetzt war ihm so richtig klar geworden, wie sehr er ihn vermisste und wie gerne er noch immer in seiner Nähe war, aber je länger er hier bleiben würde, desto schwieriger wäre es für ihn, aus dieser Stadt zu verschwinden. Aber er musste einfach raus, musste allem den Rücken kehren, musste seine Vergangenheit hinter sich lassen, um sich endlich ein neues Leben aufbauen zu können - und diesmal nicht mit illegalen Geschäften.
Allerdings war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über seine Zukunft nachzudenken – schon gar nicht, da Gibbs aufgestanden war und damit unmissverständlich klar machte, dass er Informationen hören wollte. Später, wenn Chris alleine wäre, hatte er noch genug Zeit, um sich Gedanken über den Rest seines Lebens zu machen. Vorher galt es jedoch, die Aufmerksamkeit wieder auf den Fall zu lenken.

„Was habt ihr?" fragte Jethro knapp und stellte sich vor den großen Plasmabildschirm. McGee sprang wie ein übereifriger Schüler, der die richtige Antwort kannte, auf, nahm sich die Fernbedienung und holte das Bild von Theodore Diggs auf den Schirm. „Petty Officer Theodore Diggs", begann er und hielt für eine Sekunde inne, um sich die wichtigsten Details aus seinem Gedächtnis zu suchen, um nicht Gefahr zu laufen, um den heißen Brei herumzureden – etwas, was der Chefermittler nicht ausstehen konnte und meistens mit einem ruppigen Kommentar oder einer Kopfnuss bestrafte.
„25 Jahre alt, wurde in Norfolk geboren und wuchs am dortigen Stützpunkt auf, da sein Vater ein Marine war, genauer gesagt ein Corporal. Diggs' Mutter war Hausfrau und kümmerte sich um ihren Sohn. Sie starb allerdings an Leukämie, als dieser 10 Jahre alt war. Theodore wurde schließlich alleine von seinem Vater, Kurt Diggs, aufgezogen, welcher wahrscheinlich ziemlich viel Einfluss auf seinen Sprössling gehabt hatte, weshalb dieser ebenfalls dem Marine Corp beigetreten ist, als er die High School abgeschlossen hatte. Und das, obwohl er ein Stipendium für Harvard in der Tasche gehabt hatte. Keine Ahnung, wie man sich so eine Chance entgehen lässt. Hätte ich die Wahl…" Tim brach aber ab, als er den leicht verärgerten Blick von Gibbs auf sich spürte und seine Wangen überzogen sich mit einem Hauch von Rot.

„Harold Paulsen wurde in Washington geboren", nahm Chris den Faden auf und versuchte sich ein Grinsen zu verkneifen. Um McGee jedoch aus seiner Verlegenheit zu befreien, bedeutete er ihm mit einem Kopfnicken, dass er das Bild des jungen Mannes auf den Bildschirm holen sollte, was dieser auch tat – dankbar, etwas machen zu können, was ihn von der Röte auf seinen Wangen ablenkte. „Sein Vater war ein Lieutenant und in Quantico stationiert. Er wurde aber nach Norfolk versetzt, als Harold 14 Jahre alt gewesen war. Er kam auf dieselbe High School wie Theodore Diggs, wo sie sich nach dessen eigener Aussage auch kennengelernt hatten. Paulsen hatte eine kleine Schwester, die mit 19 Jahren Selbstmord beging. Das war einen Monat bevor Commander Emmerson nach Quantico gezogen war. Ich denke, dass das kein Zufall sein kann." „Du denkst, DiNozzo?" wandte sich Gibbs an den Jüngeren und fixierte ihn mit seinen stechend blauen Augen. Chris widerstand dem Drang, einen Schritt zurückzutreten, nur um diesem Blick auszuweichen, blieb aber mutig auf dem Fleck stehen. „Nun ja", fuhr er etwas zögernd fort und sah für ein paar Sekunden auf die Akte, die er in den Händen hielt, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. „Theodore Diggs und Karen Paulsen, also die Schwester von Harold, waren damals in Norfolk ein Paar, jedenfalls habe ich das von ihrer Mutter erfahren." Er räusperte sich kurz und schloss den Ordner, bevor er seine Theorie aussprach. „Ich würde sagen, dass Commander Emmerson irgendetwas mit dem Ganzen zu tun gehabt hat. Weshalb sonst hätte er sich ohne einen ersichtlichen Grund nach Quantico versetzen lassen sollen? Und Diggs war anzusehen, dass er mir etwas verheimlichte. Glaub mir Gibbs, mir sind in meinem Leben bereits so viele Menschen begegnet, die versucht haben, mich anzulügen, dass ich mittlerweile ein Gefühl dafür entwickelt habe, wenn jemand nicht die Wahrheit sagt. Und der Petty Officer hat gelogen bis sich die Balken gebogen haben."

Der Chefermittler kniff die Augen zusammen und war von den Worten seines Agents ein wenig verwundert. So weit er sich erinnerte, hatte dieser noch nie gemeint, dass er eine Lüge ohne weiteres von der Wahrheit unterscheiden hatte können und die Hartnäckigkeit, mit dem er seinen Standpunkt verteidigte, war ein wenig seltsam. Aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern meinte nur: „Ob er gelogen hat, dass werden wir morgen herausfinden. Ziva, McGee, ihr holt Diggs und Paulsen gegen Mittag zum Verhör. Bis dahin sollten uns die Ergebnisse der DNA Analyse vorliegen." „Geht klar", erwiderten die beiden synchron und machten damit den Eindruck, dass sie nur auf diesen Befehl gewartet hatten. „Habt ihr sonst noch etwas Wichtiges?" fragte Gibbs und sah einen nach dem anderen an. Tim schüttelte den Kopf, Chris begnügte sich mit einem Schulterzucken und Ziva sagte: „Nein. Ich habe vor ein paar Minuten die zwei Teams kontaktiert, die unsere beiden Verdächtigen im Auge behalten. Bis jetzt ist alles ruhig."
Jethro nickte und fuhr sich mit einer schnellen Bewegung durch seine Haare. Zu diesem Zeitpunkt konnten sie nichts weiter machen als abzuwarten und es war gerade das, was er nicht gerne tat. Er spürte genau, dass sie kurz davor standen, den Fall aufzuklären und am liebsten würde er die beiden des Mordes verdächtigen noch heute verhören und sie so lange weichklopfen, bis sie gestanden. Aber er wollte stichhaltige Beweise haben, mit denen er sie konfrontieren konnte, um sie so weit in die Ecke zu drängen, dass sie keinen anderen Ausweg mehr hatten, als zu gestehen.
„Na schön. Ihr könnt jetzt Feierabend machen. Tony, bevor du gehst, schreibst du deinen Bericht von den Verhören fertig. Ich will ihn in 20 Minuten auf meinem Tisch haben." Chris, der bei dem Wort Feierabend bereits ein breites Grinsen auf dem Gesicht gehabt hatte, erstarrte augenblicklich und sah ungläubig zu Gibbs. So knapp war er dran gewesen, endlich aus dem Büro verschwinden zu können. Aber nein, jetzt musste er auch noch einen Bericht fertig schreiben. Ungeduldig blickte er auf seine Uhr – es war fast halb acht. Sein Bruder war bestimmt schon am Verhungern und so wie es im Moment aussah, musste er wohl noch länger auf sein Essen warten. Gestern wäre es ihm noch egal gewesen, wenn Anthony hungern hätte müssen, aber heute hatte sich die Sache mehr als geändert. Die Erkenntnis, dass nicht er schuld an Chris' verkorkster Kindheit war, hatte sein Gewissen, von dem er gedacht hatte, er hätte es verloren, wieder an die Oberfläche geholt und er wollte Tony den restlichen Aufenthalt in dem Keller, bevor er wieder in die Freiheit entlassen wurde, erträglicher machen. Und hungern zählte ganz bestimmt nicht dazu.
„Das ist nicht dein Ernst, Boss", sagte er deshalb und blickte ihn eine Spur flehend an. „Sehe ich vielleicht so aus, als ob ich scherzen würde?" fragte Gibbs und kam auf den Jüngeren zu, wodurch dieser schnell ein paar Schritte nach hinten machte. „Ähm, nein", erwiderte er und da er an seinem Leben hing, hielt er es für klüger, sich auf seinen Stuhl zu setzen. Frustriert knallte er die Akte auf den Tisch und grummelte vor sich hin.
„Tja, da muss deine Freundin wohl ein wenig länger auf dich warten", meinte Ziva grinsend und schnappte sich ihre Sachen. „Ich werde jetzt einmal etwas essen gehen und mich anschließend schön entspannen. Viel Spaß mit dem Bericht." Und bevor Chris auch nur die Möglichkeit hatte, etwas zu erwidern – oder ihr einen Papierball hinterher zu schleudern - war sie schon bei den Fahrstühlen. Auf McGees „Schönen Abend noch", reagierte er gar nicht, sondern konzentrierte sich auf seine Arbeit. Egal wie verärgert er war, dass er länger bleiben musste, aber je schneller er fertig war, desto eher konnte er endlich Feierabend machen. In dem Bewusstsein, dass ihn Gibbs beobachtete, begann er zu tippen, während er versuchte, seinen immer größer werdenden Hunger zu ignorieren.

Genau 35 Minuten später betrat Chris einen Imbiss mit dem sehr aussagekräftigen Namen „Rays Imbiss", der gerade einmal fünf Blocks vom Hauptquartier entfernt war. Das Lokal war in einem ebenerdigen Gebäude mit gelber Fassade – die bereits ein wenig bröckelte und von feinen Rissen durchzogen wurde – untergebracht. Von außen wirkte es ein wenig heruntergekommen und schmuddelig, aber öffnete man die Glastür, auf der die Öffnungszeiten vermerkt waren, fand man sich in einer komplett anderen Atmosphäre wieder. Der Raum, den man betrat, war überraschend groß und nahm den größten Teil der Etage ein. Der Boden war mit hellen Fliesen, die in dem sanften Licht leicht glitzerten, ausgelegt. An der Fensterfront waren rechteckige Tische aufgestellt worden, auf denen saubere rote und weiße Decken ausgebreitet waren, um das Holz zu schützen. Genau in der Mitte befanden sich jeweils ein Serviettenständer, Gewürze und Salz- und Pfefferstreuer.
Zu linker Hand war ein langer Tresen aufgestellt worden, dessen dunkles Holz mit viel Mühe poliert worden war und keinen einzigen Kratzer zu haben schien. Davor standen zahlreiche Hocker mit einer dicken schwarzen Polsterung, die einen geradezu zum Verweilen einluden. Hinter der Theke war an der Wand ein langes Regal befestigt worden, das Gläser in allen Formen und Größen enthielt, genauso wie verschiedenste alkoholische Getränke. Eine Schwingtüre führte in die Küche, aus der herrliche Essensdüfte in den Speiseraum strömten und Chris' Magen mit Vorfreude knurren ließ.
Das Lokal war um diese Uhrzeit bestens besucht und dementsprechend war es laut und hektisch. Die Musik, die aus den kleinen Boxen erklang, die an der Decke angebracht worden waren, hörte man fast nicht, unterstrich aber die gemütliche Atmosphäre. In einer Ecke hing ein Fernseher, dessen Ton jedoch ausgeschaltet war und der ein Footballspiel zeigte. Ein paar der Gäste sahen wie gebannt auf das Gerät, während sie an ihrem Bier schlürften oder sich mit großen Hamburgern vollstopften. Zwischen den Tischen liefen junge Frauen in kurzen schwarzen Kleidern mit weißer Schürze herum und bedienten die zahlreichen Kunden. Normalerweise hätte Chris jetzt den Kellnerinnen ihre Aufmerksamkeit geschenkt und vielleicht sogar mit einigen von ihnen geflirtet, aber sein Interesse galt einer anderen Frau, die am Tresen auf einem der Hocker saß und sich ihre Finger gerade an einer Serviette abwischte. Vor ihrer Nase stand ein leerer Teller - auf dem noch Überreste von Ketchup klebten - und eine Flasche Bier, die zur Hälfte geleert worden war. Sein Herz machte unverhofft einen großen Hüpfer und der Ärger, dass er länger im Büro hatte bleiben müssen, um seinen Bericht fertig zu schreiben, verflog innerhalb eines Sekundenbruchteils. Auf seinen Lippen breitete sich ein breites Grinsen aus und bevor er es sich wieder anders überlegen konnte, setzte er sich rasch in Bewegung und war mit wenigen Schritten bei Ziva angelangt, die gerade einen großen Schluck aus der Flasche nahm. Sie hatte Chris natürlich bereits bemerkt und kniff ihre Augen zusammen, um ihm damit zu signalisieren, dass sie lieber alleine sein möchte. Aber er ignorierte diese Geste und setzte sich auf den freien Barhocker links neben ihr.

„Verfolgst du mich etwa?" fragte sie und stellte die Flasche etwas zu heftig auf dem Tresen ab, weswegen das Geräusch trotz der lauten Stimmen zu hören war. Sie legte ihren Kopf schief, wobei ihr eine Haarsträhne auf die Wange fiel und Chris konnte nur knapp dem Drang widerstehen, sie ihr hinter das Ohr zu streichen. Das Licht ließ ihre braunen Augen glitzern und ihre langen Locken verführerisch schimmern, wodurch sie erneut verblüffende Ähnlichkeit mit Amy aufwies. In seinem Hals bildete sich ein großer Kloß und er musste mehrmals schlucken, um überhaupt ein Wort hervorzubringen.
„Mache ich etwa den Eindruck, als ob ich dich verfolgen würde, Zivaaaa?" wollte er wissen, wobei er den letzten Buchstaben ihres Namens in die Länge zog. „Hast du schon vergessen, dass mich Gibbs dazu verdonnert hat, den Bericht fertig zu schreiben? Wie hätte ich da wissen sollen, dass du hier etwas essen wolltest? Zufällig hatte ich großen Appetit auf einen Hamburger und da dachte ich mir, ich schaue hier vorbei." Sie spitzte ihre Lippen und schien über seine Worte nachzudenken. Schließlich nickte sie zufrieden und griff erneut nach ihrer Flasche. „Hast du denn heute keine Verabredung mit einer deiner zahlreichen Freundinnen?" fragte sie und trank einen Schluck. Chris schüttelte seinen Kopf und verkniff sich gerade noch ein Grinsen. Er hätte es wissen müssen, dass sein Bruder ein wahrer Schürzenjäger war. Schon damals, als er ein Teenager gewesen war, hatte er seine Augen nicht von den hübschen Mädchen lassen können, genauso wie von…
Nein, er würde jetzt nicht daran denken. Schon gar nicht in der Gegenwart von Ziva. „Nein, habe ich nicht." Bevor er jedoch zu einer Erklärung ansetzen konnte, trat ein großer Mann in sein Blickfeld, dessen weißes T-Shirt sich um seine breite Brust spannte, wodurch die Nähte beinahe zu platzen schienen. Sein Schädel war kahl rasiert und die Kopfhaut schimmerte poliert in dem Licht des Lokals. Um seine Taille war eine Schürze gebunden und nur die Tatsache, dass er einen kleinen Block in seinen riesigen Händen hielt und dass er hinter dem Tresen stand, wiesen daraufhin, dass er hier arbeitete.

„Was kann ich Ihnen bringen?" wollte er mit tiefer Stimme wissen, die jedoch überraschend freundlich klang. Man hätte ihn eher für einen Rausschmeißer als für einen Kellner halten können. „Zwei große Hamburger mit allem drum und dran zum Mitnehmen", antwortete Chris ohne nachzudenken und beobachtete, wie der Mann sich seine Bestellung notierte, nickte und in der Küche verschwand.
„Erzähl mir jetzt nicht, dass du das alles selbst essen willst", sagte Ziva und hob eine Augenbraue. „Was?" Verwirrt runzelte er die Stirn, nicht so recht wissend, wovon die junge Frau sprach. „Die zwei Hamburger", wiederholte sie eine Spur ungeduldig. „Nicht einmal du würdest die alleine schaffen. Hast du vielleicht doch noch ein heißes Date mit einer Frau, die gerne auf Fastfood steht?" Chris lachte leise und schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Der eine Burger ist für mich, der andere für meinen Br…" Bevor er jedoch das letzte Wort komplett aussprechen konnte, unterbrach er sich hastig. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und er wäre ganz schön in Erklärungsnot gekommen. Irgendwie schien er in Zivas Gegenwart schneller zu reden als zu denken. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass sie Amy ähnlich sah oder an dem dezenten Duft, der von ihren Haaren ausging, durch die er gerne einmal mit seinen Händen fahren würde.

Chris räusperte sich und setzte ein unschuldiges Grinsen auf. „Ich meine, meinen besten Freund", korrigierte er sich schnell, wobei er der jungen Frau ansehen konnte, dass sie ihm nicht wirklich glaubte. „Deinem besten Freund?" Erneut legte sie ihren Kopf schief und sah ihn zweifelnd an. „Ja. Wir treffen und nachher. Du weißt schon, ein richtiger Männerabend." Irgendwie tat es ihm weh, Ziva anlügen zu müssen, aber würde sie die Wahrheit kennen, würde sie ihm wahrscheinlich hier mitten in dem Lokal ohne zu zögern Handschellen anlegen. Dass er in Wirklichkeit vorhatte, Tony zu treffen, brauchte sie nicht wissen - jedenfalls noch nicht.
„Ah, ich verstehe", erwiderte sie und auf ihren Lippen erschien ein breites Grinsen. „Männerabend. Was bedeutet, ihr guckt euch schmutzige Filme an und redet über heiße Frauen, habe ich Recht?" Chris konnte nicht anders als zu lachen. Es war lange her, dass er sich so unglaublich entspannt gefühlt und dass ihn jemand so viel zum Lachen gebracht hatte. Hatte er Ziva vor mehr als einer halben Stunde am liebsten einen Papierball an den Kopf werfen wollen, so wollte er sie jetzt so lange küssen, bis sie beide keine Luft mehr bekamen. Bei dem Gedanken wurde ihm ganz heiß und er wünschte sich unwillkürlich, er hätte sich ein kaltes Bier bestellt, mit dem er sich abkühlen hätte können. Er zwang sich, nicht auf ihre Lippen zu starren, sondern weiter in ihre braunen Augen. Sein Herz klopfte wie verrückt in seiner Brust und sein Hals wurde staubtrocken. Nach außen hin ließ er sich jedoch nichts anmerken und grinste. „Du schätzt mich vollkommen falsch ein, Ziva. Ich sehe mir keine schmutzigen Filme an." „Wer es glaubt, wird heilig." „Selig." „Was?" „Es heißt: wer es glaubt, wird selig." Sie schnaubte und schüttelte ihren Kopf. „Schon wieder so eine dämliche Redewendung. Und hör auf, mich ständig zu verbessern."

Für einen kurzen Moment versank sie in den grünen Augen, in denen es humorvoll funkelte. Seit gestern hatte sie ihren Kollegen nicht mehr derart entspannt gesehen und war sie vorhin noch verärgert gewesen, dass er sich einfach ohne zu fragen neben sie gesetzt hatte, so musste sie sich eingestehen, dass sie seine Gegenwart mittlerweile ein wenig genoss. Irgendwie kam er ihr noch immer verändert vor, so als ob sie einen anderen Tony vor sich hätte. Äußerlich war er wie immer, aber etwas an ihm war anders. Sie konnte es jedoch nicht mit Worten ausdrücken – es war eher ein Gefühl. Was auch immer es war, es gefiel ihr jedenfalls. Ziva schluckte und zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung, aber ihr Herz begann bereits viel zu schnell zu schlagen. Auf einmal kam ihr der große Raum viel zu eng vor und die körperliche Nähe von DiNozzo wurde ihr nur allzu bewusst. Um sich abzulenken, nahm sie einen Schluck aus der Flasche und bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Tony hatte noch nie so eine Wirkung auf sie gehabt. Wieso ausgerechnet jetzt?
„Was machst du heute noch so?" fragte Chris neugierig, bemüht, nette Konversation zu machen und seinen Herzschlag wieder zu beruhigen. „Ich weiß nicht", antwortete Ziva wahrheitsgemäß. „Vielleicht nehme ich ein langes Bad." „Alleine?" Sie hob eine Augenbraue und erst jetzt wurde ihm bewusst, was er da gefragt hatte. Er spürte, wie Hitze in seine Wangen schoss – etwas, das ihm schon seit Jahren nicht mehr passiert war. „Ja, alleine, Tony", erwiderte sie mit einem Nachdruck in der Stimme, die ihn erschauern ließ. Gleichzeitig durchströmte ihn Erleichterung, da sie anscheinend keinen festen Freund hatte. Allerdings wurde sein Herzschlag dadurch nicht langsamer – im Gegenteil. Ihm wurde ganz schwummrig zu Mute und in seinem Magen begann eine Horde von Schmetterlingen herumzuschwirren.

Ohne darüber nachzudenken, beugte er sich vor, sodass ihm erneut Zivas zarter Duft in die Nase stieg. Ihre braunen Augen weiteten sich unmerklich, aber sie wich nicht zurück, obwohl sie es gerne getan hätte, aber ihre Muskeln schienen auf einmal verlernt zu haben, wie sie sich bewegen konnten.
Chris vergaß, dass sie sich in einem Imbiss befanden. Die Stimmen der anderen Gäste waren nicht mehr wichtig und er hörte nur mehr die sanfte Musik im Hintergrund, die leise aus den Lautsprechern rieselte. Langsam näherte er sich Zivas Gesicht, verringerte den Abstand Zentimeter für Zentimeter, bis sie nur noch ein Hauch von Luft voneinander trennte. „Ziva", flüsterte er beinahe tonlos, bevor er die letzte Distanz überbrückte und seinen Mund sanft auf den ihren presste. Ein Stromschlag schien seinen gesamten Körper zu durchfließen, als er ihre weichen Lippen spürte. Das Blut rauschte laut in seinen Ohren und im hintersten Winkel seines Gehirns sagte eine Stimme, dass es ein Fehler war, was er hier machte. Aber es war zu spät, um den Rückzug anzutreten – was er auch gar nicht wollte.
Chris hob seine Hand, um sie in Zivas Haaren zu vergraben, aber da zog sie bereits blitzschnell ihren Kopf zurück und sah ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Ärger an. Ihr Atem ging in für sie untypischen raschen Stößen und für ein paar Sekunden war sie sprachlos.

Sie konnte einfach nicht glauben, was da gerade eben passiert war. Es war doch eine ganz normale Unterhaltung gewesen, aber irgendetwas hatte sich plötzlich zwischen ihnen verändert. Sie konnte nicht genau sagen, was es gewesen war, aber auf einmal war alles andere unwichtig gewesen. Und als Tony seinen Kopf immer weiter vorgebeugt hatte, war sie einfach starr sitzen geblieben, unfähig sich bewegen zu können. Für einen kurzen Moment war sie in seinen grünen Augen versunken und bevor sie auch nur ansatzweise reagieren hatte können, hatte sie schon seine Lippen auf den ihrigen gespürt. Diesmal war es anders als bei ihrem Undercovereinsatz gewesen, wo sie ein Ehepaar gespielt hatten. Damals war der Kuss im Prinzip nur gespielt und nicht annähernd zärtlich gewesen, aber heute war er es gewesen. Es war diese Tatsache, die Ziva wieder in die Realität zurückgeholt und ihr bewusst gemacht hatte, was sie hier überhaupt machte, was für einen Fehler sie beging. Ihr Herz hämmerte laut in ihrer Brust und ihre Knie waren ungewohnt weich. Gerade deswegen stieg in ihr plötzlich Wut auf, Wut darüber, dass sie auf DiNozzo derart heftig reagierte.

Chris konnte Ärger in Zivas Augen aufblitzen sehen und er wusste, er war zu weit gegangen, aber er hatte einfach nicht widerstehen können. Das Bedürfnis, sie zu küssen, war übermächtig geworden und hatte alles andere in den Hintergrund verdrängt. Allerdings stürzte die Umgebung jetzt wieder auf ihn ein und erinnerte ihn daran, dass sie sich mitten in einem Lokal befanden, wo sie jeder beobachten konnte. Ihm wurde klar, dass er eine Grenze überschritten hatte und dafür hätte er sich selbst von dem höchsten Wolkenkratzer der Welt stürzen können. Dennoch war er noch immer ein wenig in dem Zauber des kurzen Kusses gefangen, konnte noch immer ihre weichen Lippen spüren und ihren Duft riechen.

„Ziva, ich…" Chris setzte zu einer Entschuldigung an, aber er kam nicht einmal annährend dazu, sie auszusprechen. Ihre Hand schnellte vor, packte seinen Hemdkragen und zog sein Gesicht nahe an ihres, das jetzt vor Wut verzerrt war. „Wenn dir dein Leben lieb ist", zischte sie und verstärkte ihren Griff noch mehr, „dann mach das nie wieder." Sie betonte jedes einzelne Wort und funkelte ihn derart kalt an, dass er sich wunderte, nicht zu einer Eisskulptur zu erstarren. Abrupt ließ sie ihn los, holte ein paar Dollarscheine aus ihrer Hosentasche, schmiss sie auf den Tresen und glitt vom Hocker. Ohne ihn auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, stürmte sie aus dem Lokal.
„Ziva, warte!" rief er, aber sie war schon verschwunden. „Verdammt!" Mit der Faust schlug er auf das Holz ein, in dem Bewusstsein, dass er es mächtig vergeigt hatte. Und noch dazu glaubte sie, Tony hätte sie geküsst. Am liebsten würde er ihr jetzt nachlaufen und alles aufklären, ihr erzählen, wer er war und was er hier machte. Aber wahrscheinlich würde sie ihn eher erschießen, anstatt ihm zuzuhören. Wenn er ehrlich war, konnte er froh sein, überhaupt noch zu leben.
„Das war wohl nichts." Die Stimme des Barkeepers riss Chris aus seinen Gedanken und er blickte in das Gesicht des Riesen. Dessen Augen sahen ihn mitfühlend an und er stellte die Tüte mit den Hamburgern auf den Tresen ab. „Ich schätze, ich habe es vermasselt", erwiderte er und kramte nach ein wenig Geld. Wenn er ehrlich war, war ihm der Hunger vergangen, was aber nicht bedeutete, dass er seinen Bruder nichts zu Essen bringen würde. Er sollte nicht für seinen dämlichen Fehler leiden.
„Bloß nicht den Kopf hängen lassen", sagte der Mann und nahm das Geld entgegen. „Frauen machen doch immer so einen Aufstand. Eigentlich wollen sie nur umgarnt werden. Versuchen Sie es einmal mit Blumen." Chris lachte freudlos auf. „Ziva ist nicht gerade der Blumentyp." Aber vielleicht sollte er ihr ein neues Messer kaufen, als kleine Wiedergutmachung – in der Hoffnung, sie würde es nicht verwenden, um es ihm ins Herz zu rammen. „Aber danke für den Tipp." Er nahm die Tüte mit den Hamburgern und rutschte vom Barhocker. Der Riese nickte und lächelte ihn aufmunternd an. „Das wird schon! Nur nicht locker lassen!" rief er ihm auf dem Weg hinaus hinterher.
Chris atmete erleichtert die milde Frühlingsluft ein, als er wieder nach draußen trat. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden, hinterließ aber am Himmel noch ein blutrotes Licht. Wie in Trance ging er zu seinem Wagen, sich ständig einen Idioten schimpfend. Was hatte er sich dabei nur gedacht, Ziva zu küssen? „Du hast gar nicht gedacht. Jedenfalls nicht mit deinem Gehirn", murmelte er vor sich hin und verfluchte sich für seine Dummheit, dass er es so weit hatte kommen lassen. Und jetzt musste er es irgendwie schaffen, aus dem knietiefen Tümpel herauszukommen, in den er sich selbst hineinmanövriert hatte. Vielleicht wusste Tony ja einen Rat…

Fortsetzung folgt...
Chapter 20 by Michi
Etwas außerhalb von Washington
21:17 Uhr


Noch nie zuvor war die Zeit so langsam verronnen wie jetzt. Innerhalb der letzten fünf Minuten hatte ich sicher gut und gerne 10 Mal auf die Uhr gesehen, wobei ich jedoch beim fünften Mal aufgehört hatte zu zählen. Ich war halb am Verhungern, mir war sterbenslangweilig, ich vermisste das Sonnenlicht und vor allem Bewegungsfreiraum. Seit ein paar Stunden hatte ich das Gefühl, die Wände würden immer näher rücken, mich langsam erdrücken und mir die Luft zum Atmen nehmen. Ich konnte nicht einmal mehr ruhig sitzen bleiben und lief seit etwa einer viertel Stunde ständig auf und ab, in dem Bestreben, so meinen Tatendrang ein wenig zu bezähmen. Hätte ich mich vor ein paar Tagen noch maßlos darüber aufgeregt, wenn mich Gibbs an einem Tatort von einem Ende zum anderen gescheucht hatte, so hätte ich das jetzt gerne willkommen geheißen. Wahrscheinlich hätte ich sogar irgendwelche Botendienste übernommen, nur um diesem Nichtstun zu entkommen. Nicht einmal zum Fernsehen hatte ich mehr Lust und er lief eigentlich nur, um diese sonst drückende Stille zu durchbrechen. Selbst lesen mochte ich nichts mehr, da die Buchstaben sofort vor meinen Augen verschwammen, wenn ich auch nur ein Buch aufschlug. Die Anzeichen, dass ich wohl bald durchdrehen würde, waren mehr als eindeutig.

Wenn ich bei meiner Wanderung durch den Raum an der verschlossenen Tür vorbeikam, verspürte ich jedes Mal den fast unwiderstehlichen Drang, mit einem Fäusten dagegen zu schlagen und mir die Seele aus dem Leib zu schreien, in der Hoffnung, dass mich vielleicht jemand hören würde. Selbst Liegestütze oder Sit-ups hatten nicht geholfen, dass es mir wieder besser ging. Um nicht den Verstand zu verlieren, brauchte ich unbedingt frische Luft, den Anblick des Himmels, etwas zu Essen und vor allem jemanden mit dem ich mich unterhalten konnte. Ich würde sogar Duckys lange Geschichten ertragen, nur damit ich ein wenig Gesellschaft hätte oder sogar Gibbs auf Koffeinentzug. Alles war besser als diese trostlosen Betonwände, durch die kein einziger Lichtschimmer von draußen drang.
Rastlos fuhr ich mir mit meinen Händen durch meine Haare, während ich weiter in meinem Gefängnis auf und ab ging, wobei ich das Gefühl hatte, dass die Mauern schon wieder näher gekommen waren und die Umgebung verschwamm ein wenig vor meinen Augen, bevor sie sich wieder manifestierte. „Na toll", murmelte ich und selbst meine eigene Stimme kam mir fremd vor. „Nicht mehr lange und du bekommst einen Kellerkoller oder wie das auch immer heißen mag." Gleich darauf verspürte ich das Bedürfnis loszulachen, hielt mich aber zurück. „Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen", sagte ich vor mich hin und wiederholte die Worte jedes Mal, wenn ich eine Kehrtwende machte. Ich zwang mich, tief Luft zu holen und langsam ebbte die Panik, die in mir aufgestiegen war, wieder etwas ab, blieb aber weiterhin präsent.

Meine Hände wanderten von den Haaren zu meinem Magen und rieben darüber, in der Hoffnung, ihn so etwas zu beruhigen. Der Essvorrat, den mir Chris dagelassen hatte, war bereits geschrumpft und fast vernichtet. Ich wusste nicht, wie lange er mich noch festhalten wollte, aber wenn er mir nicht bald Nachschub brachte, würde ich sicher verhungern. Unwillkürlich kam mir unser Streit von gestern wieder in den Sinn und ich fragte mich, ob er überhaupt auftauchen würde. Was wäre, wenn er einfach beschloss, mich nicht sehen zu wollen aus der Befürchtung heraus, ich könnte erneut anfangen, ihn über die letzten 15 Jahre auszufragen? Was wäre, wenn es ihm so gefiel ich zu sein, dass er beschloss, mich hier einfach versauern zu lassen?

„Hör auf den Teufel an die Wand zu malen. Chris wird dich schon nicht sterben lassen." Aber weshalb kam er nicht zu mir, um mir etwas zu Essen zu bringen, so wie er es gestern getan hatte? War ihm vielleicht etwas passiert, als er auf dem Weg hierher war? Oder hatte Gibbs herausgefunden, dass in den letzten beiden Tagen jemand anderes an meinem Schreibtisch gesessen hatte und nicht ich? Hatte er meinen Bruder vielleicht in einen Verhörraum gesteckt und versuchte herauszufinden, wo ich war? Aber gleich darauf verneinte ich die letzte Frage. Ich spürte genau, dass meine Freunde noch immer ahnungslos waren.
Erneut blickte ich auf die Uhr, die auf dem Fernsehbildschirm unten rechts eingeblendet war. Zwei Minuten waren vergangen, seit ich das letzte Mal darauf gesehen hatte und mir war es wie zwei Stunden vorgekommen. Meiner Kehle entrang sich ein frustriertes Knurren und ich legte in einer hilflosen Geste meinen Kopf in den Nacken, nur um festzustellen, dass die Betondecke über mir einen feinen Riss hatte, den ich noch gar nicht entdeckt hatte. Ob sie wohl in nächster Zeit herabstürzen würde, um mich darunter zu begraben? Ich spürte, wie ich langsam die Kontrolle über mich verlor und so ging ich zum Sofa und ließ mich in die Polster fallen. Das rastlose hin und her Wandern hatte meine Situation eher noch verschlimmert, anstatt zu verbessern.

Ich zog meine Knie bis zu meinem Kinn hoch, legte meine Stirn darauf, zählte bis 50 und stieß schließlich einen langen Seufzer aus, als sich mein Herzschlag wieder etwas beruhigte und ich wieder ein wenig klarer denken konnte. Es war immerhin nicht das erste Mal, dass ich irgendwo eingesperrt war, mit dem Unterschied jedoch, dass es diesmal mein eigener Bruder war, der mich gefangen hielt. War ich gestern noch wütend auf ihn gewesen, so hatte sich diese Wut mittlerweile verflüchtigt und hatte das Bedürfnis hinterlassen, den alten Chris wieder zum Vorschein zu bringen. Und bis jetzt hatte ich noch immer keine Ahnung, wie ich das schaffen sollte – nicht, wenn er ständig mauerte und aus der Haut fuhr, wenn ich von der Vergangenheit anfing.
Ich schloss meine Augen und versuchte mich zu entspannen. Die Stimmen der Nachrichtenmoderatoren taten schließlich ihr übriges und ich dämmerte langsam weg. Die Zeit spielte keine Rolle mehr und ich war in einem Stadium zwischen wach sein und schlafen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich so dagesessen war, meine Stirn auf meine Knie gebettet und mich in einer Art Trancezustand befindend, als mich das überdeutliche Geräusch eines Schlüssels, der in ein Schloss gesteckt wurde, erschreckte. Ich fuhr so schnell herum, dass ich beinahe vom Sofa gefallen wäre, hätte ich nicht eine akrobatische Nummer hingelegt, um nicht auf dem Boden zu landen. Gerade als die Tür sich öffnete, schaffte ich es mich wieder in eine normale Position aufzurichten und blickte zu Chris, der mit einem ungewohnt breiten Grinsen den Raum betrat und eine große Tüte in seiner rechten Hand hin und her schwenkte. „Essen ist da", sagte er fröhlich und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich einen anderen Mensch vor mir hatte. Etwas war anders an ihm und er kam mir viel entspannter als gestern vor, obwohl er momentan ein wenig durch den Wind wirkte, trotz des freundlichen Grinsens. Mit großen Schritten kam er auf mich zu und ließ sich wie am Vorabend auf den gemütlichen Stuhl fallen, stellte die Tüte auf den Tisch und begann sie auszupacken. „Tut mir leid, dass ich dich so lange habe warten lassen", fuhr er fort und brachte zwei große Hamburger mit Pommes, zwei Flaschen Cola, eine große Schachtel Doughnouts, zwei Packungen Schokokekse, ein paar Äpfel und jede Menge Weintrauben zum Vorschein. Mir fiel der Unterkiefer nach unten, ob bei dem Anblick von dem vielen Essen oder weil sich Chris entschuldigt hatte, dass er mich so lange hatte warten lassen, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich einen völlig veränderten Menschen vor mir hatte. Keine Spur war mehr von dem Mann zu sehen, der mich noch gestern voller Hass angesehen und angebrüllt hatte. Es war so, als ob er einen plötzlichen Sinnungswandel durchgemacht hätte und seit langem sah ich wieder meinen Bruder vor mir, so wie ich kannte. Mein Herz begann vor unerwarteter Freude schneller zu schlagen und ich vergaß, dass ich kurz davor gestanden war, meinen Verstand zu verlieren.

„Ich war noch nie so froh, dich zu sehen", brachte ich schließlich hervor und schnappte mir einen der Hamburger, die einen verführerischen Duft verbreiteten. Gierig wickelte ich ihn aus und sog erst einmal den herrlichen Geruch ein, der meinen Magen sofort laut knurren ließ und mich daran erinnerte, dass ich besser einen großen Bissen nehmen sollte – was ich gleich darauf auch machte. Genießerisch schloss ich meine Augen und seufzte zufrieden.
„Ich hätte nie gedacht, diese Worte je wieder aus deinem Mund zu hören", entgegnete Chris, weshalb ich ihn anblickte und mit den Schultern zuckte. „Wenn man halb am Verhungern ist, würde ich mich über jeden Menschen freuen, der mir nur was zu Essen bringen würde. Noch dazu so viel", fügte ich hinzu und schielte auf den Berg an Nahrungsmitteln, der auf dem Tisch vor mir lag. Meine Sorge, dass ich nichts mehr zu futtern hätte, hatte sich mit einem Mal in Luft aufgelöst. „Ich kenne dich doch, Tony. Du hast ständig Hunger und da dachte ich mir, ich besorge dir ein wenig mehr, bevor du mir noch vom Fleisch fällst." Unwillkürlich legte ich meinen Kopf schief und sah zu meinem Bruder, der sich eine Cola schnappte, die Flasche öffnete und einen großen Schluck nahm. Das Lächeln von vorhin war verschwunden und hatte einem nachdenklichen Gesichtsausdruck Platz gemacht. Meine Annahme, dass er etwas durch den Wind war, bestärkte sich dadurch. „Ich hatte schon gedacht, ich würde heute gar nicht mehr aus dem Büro rauskommen", sagte Chris schließlich nach ein paar Sekunden und ließ sich in den Sessel zurückfallen. Diese Worte erinnerten mich wieder daran, weshalb ich hier in diesem Keller war – für kurze Zeit hatte ich das doch tatsächlich vergessen. Äußerlich ließ ich mir jedoch nichts anmerken, sondern nahm noch einen Bissen von dem köstlichen Hamburger. „Gibbs kann ein Sklaventreiber sein", erwiderte ich mit vollem Mund und verspürte eine leichte Schadenfreude darüber, dass es mein Bruder nicht leichter als ich hatte. „Und was für einer", meinte er und nahm noch einen Schluck von der Cola. „Hat die anderen Feierabend machen lassen und ich durfte noch einen Bericht fertig schreiben." Ich konnte nicht anders als breit zu grinsen. „Das ist auch der Grund, weshalb ich so spät komme. Ich wäre schon viel früher da gewesen, aber dann habe ich…" Chris unterbrach sich und blickte auf seine Hände. Verwirrt runzelte ich die Stirn, ließ ihm aber Zeit, sich zu sammeln. Wenn ich es schaffen wollte, ihn davon zu überzeugen, dass es ein Fehler war, was er mit mir machte und wenn ich ihn wieder zurückhaben wollte, so musste ich lernen, mich in Geduld zu üben. Er musste von sich aus weiterreden. Zudem hatte ich Angst, dass er mich wieder anschreien würde, würde ich ihn drängen, mir etwas zu erzählen.

Mit einer heftigen Bewegung stellte er die Flasche auf dem Tisch ab, stand auf und begann, so wie ich vor ein paar Minuten, auf und ab zu gehen. Jetzt war es an ihm, rastlos zu sein und wenn ich ehrlich war, kannte ich ihn so gar nicht. Von uns beiden war er es immer gewesen, der stundenlang still sitzen hatte können, ohne das Bedürfnis zu verspürt zu haben, herumzurennen. „Ich habe es vermasselt", sagte er schließlich und drehte sich zu mir um, die offene Tür in seinem Rücken, die in die Freiheit führte. Aber das interessierte mich im Moment nicht, sondern ich konzentrierte mich auf Chris, der sich mit seinen Händen durch seine Haare fuhr. „Was hast du vermasselt?" wollte ich wissen und kaute nachdenklich an meinem Hamburger. Ich war mir sicher, dass er damit nicht meinte, dass sein falsches Spiel aufgeflogen war, sonst würde er nicht hier sein, oder Gibbs würde bereits in den Raum stürmen. Aber da das nicht der Fall war, musste ihm etwas anderes auf dem Herzen liegen. Ungläubig beobachtete ich, wie er sich verlegen am Kopf kratzte und sich wieder in den Sessel fallen ließ. Seine Finger klopften unruhig auf seinem Oberschenkel und er seufzte leise. „Als ich die Hamburger geholt habe, da traf ich Ziva in dem Imbiss", sagte er schließlich und er musterte intensiv die Tischplatte, so als ob er nach Kratzern suchen würde. „Wir haben uns normal unterhalten und dann habe ich…" Er räusperte sich und holte tief Luft, bevor er fortfuhr: „Und dann habe ich Ziva geküsst." Der Hamburger verharrte auf halbem Weg zum meinem Mund, der mir ein zweites Mal innerhalb von wenigen Minuten aufklappte und ich brauchte ein paar Sekunden, um überhaupt zu realisieren, was ich da gerade gehört hatte. Meine Augen weiteten sich und ich konnte einfach nur dasitzen und meinen Bruder sprachlos anstarren. Dieser hob, da ich nichts sagte, seinen Kopf und als er mein Gesicht sah, grinste er verlegen. „Du hast was?" brachte ich irgendwie hervor, wobei meine Stimme unnatürlich hoch war. „Du hast Ziva geküsst? Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?" Vergessen war der Hamburger und mein Hunger. „Ich sage es ja: ich habe es vermasselt." „Du hast es mehr als vermasselt", erwiderte ich ziemlich laut, was ihn aber nicht zu stören schien. „Mich wundert es, dass du überhaupt noch lebst", fuhr ich etwas ruhiger fort und ich konnte mich gerade nicht entscheiden, ob ich lieber schreien oder lachen sollte – wahrscheinlich beides. Lachen, weil ich es mehr als komisch fand, wie Chris vor mir saß, sein Gesicht vor Verlegenheit mit einem Hauch Rot überzogen und schreien, weil Ziva glaubte, ich wäre es gewesen, der sie geküsst hatte und nicht mein Bruder. Was für eine verzwickte Situation.

„Das wundert mich auch", meinte er und stieß einen langgezogenen Seufzer aus. „Ich dachte, sie würde mich erwürgen. Hat mich am Kragen gepackt und gesagt, wenn mir mein Leben lieb ist, solle ich das nie wieder machen." Das Lachen gewann über das Schreien die Oberhand. „Das ist nicht witzig", sagte er und funkelte mich böse an, aber ich konnte einfach nicht anders. „Für mich irgendwie schon", brachte ich atemlos hervor, als ich mich ein wenig beruhigt hatte. „Das hätte ich zu gerne gesehen. In dem Imbiss gibt es nicht zufällig eine Überwachungskamera, die das aufgenommen hat?" „Hör auf, Tony. Meinst du etwa, für mich wäre das jetzt leicht? Verdammt, Ziva denkt, du wärst es gewesen, die sie geküsst hat. Sie hat ja nicht einmal eine Ahnung, dass ich überhaupt existiere!" Seine Stimme war immer lauter geworden und vertrieb mir das Grinsen aus dem Gesicht. Schuldgefühle übermannten mich, als ich daran dachte, dass ich nie erwähnt hatte, dass ich einen Zwillingsbruder hatte. Chris hatte Recht. Keiner meiner Kollegen wusste, dass es ihn gab und das stimmte mich ein wenig traurig. Innerlich hoffte ich jedenfalls, dass sie es irgendwann erfahren würden und dass sie ihn so akzeptierten, wie er war.

„Es tut mir leid. Ich hätte nicht…" begann ich mich zu entschuldigen, wurde aber von einem energischen Schlenker seiner Hand unterbrochen. „Schon in Ordnung." Erleichtert stellte ich fest, dass seine Stimme wieder ruhiger war und sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen stahl. „Es war mein Fehler und nicht deiner. Und jetzt muss ich es wieder ausbaden. Nur habe ich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll." „Da musst du durch", meinte ich schulterzuckend und nahm mir wieder den Hamburger. „Ich an deiner Stelle würde die Sache ganz schnell aus der Welt schaffen. Ziva kann ganz schön nachtragend sein und du solltest vor allem aufpassen, dass es Gibbs nicht erfährt. Immerhin hast du gegen die heiligste seiner Regeln verstoßen." „Welche Regeln?" wollte er perplex wissen. „Du kennst ihn jetzt schon seit zwei Tagen und dann weißt du nichts von seinen Regeln? Kaum zu glauben." Ich schüttelte meinen Kopf und biss von dem Burger ab. „Welche Regeln?" wiederholte Chris seine Frage, diesmal eine Spur ungeduldig. Ich seufzte, schnappte mir die offene Colaflasche und nahm einen großen Schluck, bevor ich antwortete: „Gibbs hat Regeln. So weit ich weiß, sind es insgesamt 50. Ich kenne nicht einmal annähernd alle, aber Regel 12 ist eine der Wichtigsten. Fange nie etwas mit einem Arbeitskollegen an. Und Gibbs wird ziemlich sauer, wenn man sich nicht daran hält." „Oh", gab er von sich und starrte wieder auf seine Hände, aber gleich darauf blickte er mich wieder an, mit einem Funkeln in den Augen, das mir ein wenig unheimlich war. „Aber keine Bange, Tony. Ich werde das schon klären, bevor ich…" Er brach ab und setzte sich aufrechter hin. Neugierig geworden, stopfte ich mir den letzten Rest des Burgers in meinen Mund, spülte ihn mit Cola hinunter, stellte die Flasche auf den Tisch zurück und rückte an die Kante des Sofas. „Bevor du was?" fragte ich nach und kniff meine Augen zusammen, so als ob ich ihn alleine durch meine Willenskraft zum Weiterreden bringen wollte.

Chris entspannte sich, beugte sich nach vorne, legte seine Unterarme auf seine Oberschenkel und sah mich direkt an. „Ich habe nachgedacht", begann er leise. „Über das hier." Mit einem kurzen Schlenker seiner Hand deutete er auf den Raum, bevor er sie wieder auf seinem Bein platzierte, mich weiterhin fixierend. Mein Atem wurde schneller, genauso wie mein Herzschlag und ich rückte noch näher an die Sofakante, bis ich beinahe hinunterfiel. Aufregung breitete sich in meinem Inneren aus und ich wartete gespannt, bis er weitersprach.
„Die letzten Jahre war ich blind vor Hass. Ständig habe ich dir die Schuld gegeben, dass mich Mom und Dad nicht so geliebt haben wie dich. Und das hat sich auch auf mein Leben ausgewirkt. Ich war so verbittert, dass ich niemanden an mich herangelassen habe, egal wie sehr ich ihn gemocht habe. Irgendwann habe ich den Entschluss gefasst, mir endlich das zu holen, was mir zusteht. Dein Leben." Chris hielt inne und in seine Augen trat ein trauriger Ausdruck, der in mir den Wunsch erweckte, ihn fest in meine Arme zu nehmen und ihn wie ein kleines Kind hin und her zu wiegen. Er holte tief Luft, bevor er fortfuhr: „Ich dachte, ich mache das Richtige, als ich dich hier eingesperrt habe. Endlich war ich am Ziel, aber dann lernte ich deine Kollegen kennen. Sie waren die ersten, die mich seit langem respektiert haben und die mir ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt haben. Aber sie denken ja, dass du es wärst, der mit ihnen zusammen ist und nicht ich und deswegen habe ich angefangen, mir alles durch den Kopf gehen zu lassen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nicht ewig so weitermachen kann, auch wenn es sich herrlich anfühlt, nach so langer Zeit wieder richtige Freunde zu haben. Weißt du eigentlich, wie viel Glück du hast, deine Teamkollegen als Freunde zu haben? Und Abby und Ducky? Ihr alle haltet wie Pech und Schwefel zusammen und da passe ich einfach nicht rein." Chris' Stimme wurde immer leiser, bis er schließlich ganz aufhörte zu reden. Bei seinen letzten Worten keimte in mir Hoffnung auf, aber gleichzeitig fürchtete ich mich ein wenig vor seiner Entscheidung. „Bedeutet das etwa, dass du…" „Ja, genau das bedeutet es", unterbrach er mich und schenkte mir ein kleines trauriges Lächeln, das mir einen Stich versetzte. „Wenn der jetzige Fall gelöst ist, was morgen wahrscheinlich so weit sein wird, werde ich dich rauslassen und werde anschließend von hier verschwinden. Ob du nachher deinen Freunden von mir erzählst und dass ich es gewesen bin, der in den letzten Tagen bei ihnen gewesen ist, überlasse ich dir. Es wird auch nichts bringen, nach mir zu suchen. Ich habe mittlerweile Übung darin, meine Spuren zu verwischen."

Wir saßen uns gegenüber und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Chris wollte mich tatsächlich frei lassen, wollte mich hier rauslassen, damit ich wieder in mein normales Leben zurückkehren konnte? Es war das, was ich mir die ganze Zeit gewünscht hatte, aber wider Erwarten stieg keine Freude in mir auf – im Gegenteil. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich daran dachte, dass er für immer verschinden wollte und ich wusste, ich würde ihn dann wahrscheinlich nie wieder sehen. Chris hatte mich entführt, mich hier eingesperrt, nicht wissend, was mit mir passieren sollte, aber er war immer noch mein Bruder. Und der Teufel sollte mich holen, wenn ich einfach so zulassen würde, dass er sich erneut aus dem Staub machte, so wie er es vor 15 Jahren schon einmal getan hatte. Diesmal würde ich ihn nicht einfach so abhauen lassen – nicht nachdem wir nach dieser langen Zeit endlich anfingen, wieder zueinander zu finden.
„Wieso bleibst du nicht einfach hier?" fragte ich leise, aber dennoch zuckte er wie bei einem Peitschenhieb unter meinen Worten zusammen. Er starrte mich ungläubig an, da er anscheinend nicht mit dieser Reaktion gerechnet hätte. „Das kann ich nicht", antwortete er schließlich und wich meinem Blick aus. „Wieso nicht? Verdammt, Chris! Glaubst du wirklich, du kannst einfach wieder so abhauen wie vor 15 Jahren?!" Ich schüttelte frustriert meinen Kopf und ließ mich in die Polster zurücksinken. „Wieso gehen wir jetzt nicht einfach zusammen aus diesem Keller raus und ich werde dich allen vorstellen?" Meine Stimme wurde wieder ruhiger und da er nichts erwiderte, nutzte ich die Chance, um ihn weiter zu bearbeiten. Das kurze hoffnungsvolle Funkeln in seinen Augen gab mir Mut, dass er sich seiner Sache nicht so sicher war, wie er es mir vormachte. „Warum bis morgen warten, bis du mich frei lässt? Weißt du eigentlich, wie super es sein könnte, wenn du nicht mehr vorgeben musst, ich zu sein? Wenn dich alle als Christopher DiNozzo kennen lernen, als meinen Zwillingsbruder?" Er schüttelte seinen Kopf und sah mich weiterhin traurig an. „Wenn Gibbs erfährt, dass ich dich entführt habe, steckt er mich doch gleich in den Knast. Vergiss es, Tony. Egal was du auch sagst, du wirst mich nicht umstimmen können." Ehe ich auch nur reagieren konnte, stand er auf und Panik überkam mich. Er durfte mich nicht wieder einsperren. Die Erinnerung daran, wie die Wände vor nicht allzu lange Zeit auf mich zugekommen waren, um mich zu erdrücken, kamen wieder hoch und ich wusste, noch ein paar Stunden hier in diesem Raum und ich würde durchdrehen.

„Chris, bitte, geh nicht. Lass uns darüber reden." Meine Stimme nahm einen flehenden Tonfall an, wogegen ich aber nichts machen konnte. „Tut mir leid. Aber meine Entscheidung steht fest. Morgen bist du ein freier Mann und kannst deinen Platz dort draußen wieder einnehmen." „Und was ist, wenn ihr den Fall nicht löst? Wirst du mich dann so lange hier festhalten, bis ihr den Täter geschnappt habt?" An seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er darüber noch gar nicht nachgedacht hatte. Er seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Dann lasse ich dich trotzdem frei. Aber der Fall wird morgen garantiert gelöst sein, da bin ich mir sicher. Gib mir einfach die Chance, einmal etwas richtig zu machen. Außerdem muss ich das mit Ziva noch in Ordnung bringen, bevor du wieder auf sie triffst." Chris ging auf die Tür zu und holte bereits den Schlüssel heraus. Voller Panik sprang ich auf und eilte ihm nach. „Sperr mich nicht wieder ein!" schrie ich ihn an. „Noch ein paar Stunden mehr hier drinnen und ich drehe durch! Wenn du unbedingt den einen Tag haben willst, dann nimm ihn dir, aber lass wenigstens die Tür offen! Ich schwöre dir, ich werde nicht abhauen und dir die Chance damit nehmen, die du haben willst! Ich gebe dir mein Wort, aber bitte, sperr mich nicht wieder ein!" In diesem Moment war es mir sogar egal, dass ich anfing – obwohl es gegen meine Natur war - ihn anzuflehen. Ich wusste, ich würde es keine Minute mehr aushalten, sollte er die Tür wieder abschließen. Die Decke würde mir einfach auf den Kopf fallen und in dem Versuch, rauszukommen, würde ich mich wahrscheinlich selbst verletzen.

Chris sah mich verblüfft an, trat aber einen Schritt zurück, als ich ihn an den Schultern packen wollte und schüttelte seinen Kopf. „Du meinst, ich glaube dir, dass du nicht abhauen wirst, wenn ich nicht abschließe? Das kannst du vergessen." Mein Herz zog sich zusammen und ich war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. „Ich gebe dir mein Wort", sagte ich leise, da ich mit Schreien anscheinend nicht weiter kam. „Bitte, Chris, vertrau mir. Vertrau mir einfach." Ich hielt meinen Atem an und wartete, wie er reagieren würde. Für ein paar Sekunden stand er einfach auf dem Fleck, musterte mich von oben bis unten und schüttelte seinen Kopf. Ehe ich reagieren konnte, drehte er sich wortlos um, eilte auf den Gang hinaus und schmiss die Tür mit einem Krachen ins Schloss. Unfähig mich zu rühren, starrte ich auf das Hindernis, das mir die Freiheit verwehrte und wartete darauf zu hören, wie sich der Schlüssel drehte und mich erneut hier einsperrte – aber es blieb aus.
Mit laut klopfendem Herzen blieb ich eine ganze Minute starr stehen, bevor ich mich endlich wieder bewegen konnte und schließlich langsam auf die Tür zu ging. Ich legte meine zitternde Hand auf die Klinke und flüsterte: „Bitte, bitte." Vorsichtig, so als ob sie mit einem Sprengsatz verbunden wäre, drückte ich sie hinunter und einen Augenblick lang hatte ich die Befürchtung, dass sie Chris wirklich abgeschlossen und ich es in meiner Panik nicht mitbekommen hatte. Aber die Tür schwang lautlos nach innen auf und gab den Blick auf den Betongang frei, an dessen Ende Stufen nach oben führten. Von meinem Bruder war nichts mehr zu sehen, aber etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Auf meinem Gesicht bildete sich ein erleichtertes Lächeln und ich atmete tief durch, bis die Panik in meinem Inneren verebbte.
„Dafür hast du was gut bei mir", murmelte ich und betrat den Flur, um ihn entlangzueilen, vorbei an drei weiteren Türen, die in andere Kellerräume führten. Mit schnellen Schritten ließ ich mein Gefängnis hinter mir, lief die Treppe hinauf und stieß die Holztür auf – und fand mich ein einem freundlich eingerichteten Vorraum wieder. Sanftes Licht kam von einer Deckenlampe und ließ den Parkettboden schimmern, der vor kurzem poliert worden war. Die Wände waren cremefarben und darauf waren Bilder von Landschaften aufgehängt worden, die die Atmosphäre viel freundlicher machten.
Staunend drehte ich mich einmal im Kreis und nahm die Umgebung in mich auf. Neben der Eingangstür stand ein kleiner Tisch, auf dem sich eine Vase mit frischen Blumen befand. Linkerhand führte eine Treppe, die mit einem dunkelblauen Teppich ausgelegt war, in das Obergeschoss. Das Holzgeländer war genauso so sauber poliert wie der Fußboden. Rechts lag das Wohnzimmer, aber bevor ich es betrat, wandte ich mich der Eingangstür zu. Zu meiner größten Verblüffung ließ sie sich problemlos öffnen und herrlich frische Luft kam mir entgegen. Am nächtlichen Himmel blinkten abertausende Sterne und umrahmten einen Mond, den ich noch nie so schön gefunden hatte. Gierig atmete ich tief ein und trat ein paar Schritte nach draußen, nur um mich gleich wieder umzudrehen. Der Keller, in dem ich zwei Tage eingesperrt gewesen war, befand sich in einem kleinen einstöckigen Familienhaus, dessen Fassade sauber verputzt war und eine weiße Farbe hatte. Der Rasen davor war kurz und roch einfach herrlich. Der Weg, der von der Auffahrt zu der Tür führte, war mit großen quadratischen Platten verlegt und kein einziges Unkraut lugte durch die Ritzen. Blumen waren am Rand gepflanzt worden und verströmten einen schweren Duft. Es war unverkennbar, dass Chris hier lebte, hatte er doch schon immer darauf geachtet, dass alles sauber und ordentlich war.
Neugierig ließ ich meinen Blick über die Umgebung schweifen und ich erkannte, dass das Haus ziemlich weit abgelegen war. Es gab nichts weiter als endlos lange Wiesen und Felder. Irgendwo in der Ferne konnte ich ein kleines Licht erkennen, das von einem entfernten Nachbarn stammen musste.

Die Versuchung, einfach die Auffahrt hinunterzugehen, weiter bis zur Straße, um ein Auto aufzuhalten, war verführerisch, aber ich hatte meinem Bruder mein Wort gegeben. Auch wenn es nicht so ausgesehen hatte, so hatte er anscheinend großes Vertrauen in mich, wenn er nicht einmal die Haustüre absperrte. Gleich darauf kam mir jedoch der Gedanke, dass ich auch aus einem Fenster hätte klettern können, um zu entkommen und Chris war das dem Anschein nach mehr als klar. Ein herrlich warmes Gefühl strömte von meinem Herzen in meinen gesamten Körper aus und ich konnte einfach nicht anders als breit zu grinsen. Glücklich – und noch immer überrascht über die Wendung – ging ich in das Haus zurück und schloss leise die Tür. Ich war nicht länger ein Gefangener, sondern konnte mich frei bewegen und sogar endgültig in die Freiheit entfliehen, aber ich würde das Vertrauen, das er in mich setzte, nicht missbrauchen. Er hatte eine Chance verdient und diese wollte ich ihm geben. Diesen einen Tag sollte er noch ich sein dürfen und einen Mörder hinter Gitter bringen können. „Ich bin stolz auf dich, Kleiner", murmelte ich und konnte es immer noch nicht glauben, welche Wandlung er in den letzten beiden Tagen durchgemacht hatte. Von seinem Hass auf mich war anscheinend nichts mehr übrig geblieben, etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Mein Bruder schien endlich damit zu beginnen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach vorne zu sehen. Und wenn ich dafür noch etwas länger in diesem Haus bleiben musste, sollte es mir Recht sein, solange ich nicht wieder in den Keller gesperrt wurde. Glücklich wie schon lange nicht mehr, betrat ich das freundlich eingerichtete Wohnzimmer, in dem Bewusstsein, dass der alte Chris, so wie ich ihn kannte, wieder da war und der mir vorbehaltlos vertraute – so wie er es früher getan hatte. Und während ich das Haus erkundete und mir ein Bild davon machte, wie er in der letzten Zeit gelebt hatte, überlegte ich mir, wie ich ihn dazu bewegen konnte, in Washington zu bleiben – oder besser gesagt: um bei mir zu bleiben.

Fortsetzung folgt...
Chapter 21 by Michi
Washington D.C.
Anacostia Park
Donnerstag, 14. Mai
06:00 Uhr


Die Sonne stieg langsam über den Horizont, tauchte den Himmel im Osten in ein blutrotes Licht und verdrängte die Sterne und den Mond vom Firmament. Noch war die Luft kühl, aber es versprach ein weiterer warmer Frühlingstag zu werden, der einen gerade dazu verlockte, die Zeit im Freien zu verbringen. Obwohl es bereits hell wurde, hatte die Dämmerung weiterhin die Oberhand und schaffte eine unheimliche Atmosphäre im Anacostia Park, dessen Bäume wie schwarze Schatten wirkten. Das Laub bewegte sich leicht in dem sanften Wind und verursachte leise, raschelnde Geräusche. Hin und wieder hörte man das Aufheulen eines Motors, wenn ein Auto in der Ferne vorbei fuhr oder eine Sirene eines Einsatzfahrzeuges den friedlichen Morgen störte. Je weiter die Sonne über den Horizont kletterte, desto mehr Vögel erwachten aus ihrem Schlaf und begrüßten den neuen Tag mit ihrem üblichen Konzert.
Die ausgedehnten Wiesen des Parks glänzten, dank des Taus, in dem Licht der Laternen feucht und verströmten einen herrlichen Geruch nach Gras. Bunte Blumen säumten die Wege, die sich durch die Grünanlage schlängelten und warteten darauf, ihre farbenprächtigen Blüten zu öffnen, um die ersten Sonnenstrahlen einzufangen.
Um diese frühre Uhrzeit war der Park bis auf vereinzelte Jogger und Menschen, die ihre Hunde ausführten, bevor sie in die Arbeit mussten, verwaist. Es gab kein lautes Kindergekreische, so wie es am Tage üblich war oder angeregte Unterhaltungen, um den neuesten Tratsch und Klatsch auszutauschen. Die zahlreichen Picknicktische waren unbesetzt, genauso wie die Bänke, die in regelmäßigen Abständen im Park aufgestellt worden waren, damit man sich von langen Spaziergängen erholen, oder sich mit anderen Personen unterhalten konnte. Nichts deutete daraufhin, dass es in einer oder zwei Stunden bereits wieder von Einwohner Washingtons oder Touristen wimmeln würde, die auf der Suche nach neuen Motiven waren, um damit die Filme in ihren Kameras zu füllen.

Mit gemächlichen Schritten, so als ob er alle Zeit der Welt hätte, ging Chris einen der asphaltierten Wege entlang, den Blick starr geradeaus gerichtet und nicht auf die Umgebung achtend. Das Hemd, das er trug, schützte nicht wirklich gegen die morgendliche Kälte, aber er registrierte nicht einmal den frischen Wind, der jeden hätte frösteln lassen, der keine Jacke angehabt hätte. Seine Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben, spazierte er ziellos durch den großen Park. Seine Augen registrierten zwar die langsam aufgehende Sonne, die bunten Blumen und die vielen Bäumen, in deren Schatten man wunderbar ein Nickerchen hätte abhalten können, aber ihn interessierte dieses Stück Natur mitten in der Großstadt nicht wirklich. Er war hierher gekommen, weil ihm die Decke sonst auf den Kopf gefallen wäre. In dieser Nacht hatte er nur wenig Schlaf gefunden, vielleicht zwei Stunden, wenn er alle Minuten zusammenzählte, in denen er nicht wach gewesen war. Die meiste Zeit hatte er sich ruhelos in dem Bett herumgewälzt, jede Position unbequemer als die vorhergehende. Und wenn er einmal eingeschlafen war, so war er von wirren Träumen heimgesucht worden, eine Mischung aus seiner Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Bilder von seinen Eltern hatten sich in rasender Geschwindigkeit mit denen von Amy, Ziva und Tony abgewechselt, bevor er sich selbst in einer kleinen, dunklen Zelle eines Gefängnisses wiedergefunden hatte, in die ihn Gibbs höchstpersönlich verfrachtet hatte, nachdem er herausgefunden hatte, wer er war und was er in Washington machte.
Obwohl Chris' Körper sich nach Schlaf sehnte, hatte er es schließlich gegen fünf Uhr aufgegeben und war aufgestanden. Eine kalte Dusche und einen starken Kaffee später hatte er wenigstens wieder klar denken können und die Träume, die ihn in den vergangenen Stunden gequält hatten, waren nur mehr formlose Schatten in seinem Gehirn. Rastlos war er schließlich durch Tonys Haus getigert und hatte die Sachen zusammengesucht, die er mitgebracht hatte und die er schließlich wieder in eine große Tasche verstaut hatte, um am Abend möglichst schnell verschwinden zu können und nicht Zeit mit packen verbringen zu müssen. Die Entscheidung, dass er Washington den Rücken zukehren würde, stand fest, obwohl ihm eine innere Stimme sagte, dass er hier bleiben sollte - dass er bei seinem Bruder bleiben sollte. Während der Zeit, die er in den letzten beiden Tagen mit Anthony verbracht hatte, hatte er sich wider Erwarten geborgen gefühlt und es war alles so vertraut gewesen. Tonys Präsenz, sein Gesicht, seine Stimme, seinen Humor und vor allem die Art, wie er Chris immer wieder zum Lachen brachte, hatte er schrecklich vermisst und es war gerade das, was ihn traurig stimmte und ihn an seiner Entscheidung, die Stadt zu verlassen, zweifeln ließ. Durch den Zwiespalt in seinem Inneren hatte er schließlich das Gefühl gehabt, die Decke würde ihm auf den Kopf fallen und er war nach draußen geflüchtet, war ziellos durch Washington gefahren und war schließlich im Anacostia Park gelandet.

Seine leisen, knirschenden Schritte auf dem Asphalt, die Vögel mit ihrem Gezwitscher und das regelmäßige Tap Tap der Schuhe eines Joggers, der ihm entgegenkam, durchbrachen die friedliche Idylle des Morgens. Der Läufer war groß wie eine Bohnenstange und sein grauer, ein wenig altmodisch wirkender Trainingsanzug, schlotterte an dem mageren Körper, der den Eindruck erweckte, gleich in der Mitte durchzubrechen. Die blonden Haare des Mannes waren schulterlang und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der im Takt seines Laufschrittes auf und ab wippte. Als sie auf gleicher Höhe waren, warf er Chris einen kurzen Blick zu, der diesem für eine Sekunde begegnete, seine Augen aber gleich darauf wieder starr nach vorne richtete. Gleich darauf verschwand der Jogger aus seinem Sichtfeld und somit aus seinem Gehirn. Er würde eine weitere anonyme Person bleiben, genauso wie er bald selbst in die Anonymität verschwinden würde, um für alle unaufspürbar zu sein.
Ein beinahe unhörbarer Seufzer kam über seine Lippen und verhallte in der kühlen Morgenluft, die sich nun doch ein wenig bemerkbar machte. Auf Chris' Armen bildete sich eine leichte Gänsehaut und ließ ihn ein wenig zittern. Aber dennoch machte er nicht kehrt oder erhöhte sein Tempo, um Wärme zu erzeugen. Die Kälte vertrieb die Müdigkeit aus seinem Körper und ließ seine Muskeln nicht mehr ganz so träge arbeiten. Obwohl er sich physisch jetzt besser fühlte, so war er psychisch noch weit davon entfernt. In seinem Inneren spürte er Wehmut, etwas, das nur selten der Fall gewesen war. Sein Instinkt sagte ihm, dass es nicht richtig war einfach zu verschwinden, sondern dass er sich den Konsequenzen stellen sollte, die unweigerlich auf ihn zukommen würden, wenn herauskam, dass er seinen eigenen Bruder entführt hatte. Andererseits war dieser mittlerweile kein Gefangener mehr und konnte sich in dem Haus frei bewegen.
Chris konnte es immer noch nicht glauben, dass er die Tür zu dem Kellerraum wirklich offen gelassen hatte. Als Tony geschrieen hatte, dass er durchdrehen würde, hatte er angenommen, es wäre nur eine Finte, um ihn reinzulegen. Aber dann hatte er den Ausdruck von Panik in seinen Augen gesehen, von dem er instinktiv gewusst hatte, dass dieser nicht gespielt gewesen war. Die ganze Körpersprache von seinem Bruder hatte seine Worte unterstrichen, aber dennoch hatte er gezögert. Irgendwie hatte er immer noch gedacht, es wäre nur ein Trick, damit der andere einfach abhauen konnte, deswegen hatte er sich einfach umgedreht und die Tür ins Schloss geworfen, mit so einem lauten Krachen, dass er es sogar jetzt noch hören konnte, wenn er sich an die Szene zurückerinnerte. Er hatte den Schlüssel bereits in der Hand gehabt, um zuzusperren, aber irgendetwas hatte ihn davon abgehalten. Sekundenlang war er am Fleck gestanden und hatte seinen Arm nicht rühren können, so als ob dieser verlernt hätte, wie er sich bewegen sollte. Dann hatte er Tonys Gesicht wieder vor sich gesehen, die Angst und Panik in seinen grünen Augen, die normalerweise voller Humor glitzerten. Selbst in seiner Stimme hatte man die beiden Gefühle heraushören können. Noch nie hatte er seinen Bruder so erlebt, kurz davor, den Verstand zu verlieren und es war diese Tatsache gewesen, weshalb sich sein Herz schmerzhaft zusammengezogen und ihm befohlen hatte, diese Tür offen zu lassen. Außerdem hatte Anthony geschworen nicht abzuhauen und bereits früher hatte man sich auf sein Wort verlassen können. Obwohl Chris gedacht hatte, Tony niemals wieder so viel Vertrauen entgegen zu bringen – nicht seit dem einen Abend vor 15 Jahren - hatte er es aus einem ihm unbekannten Grund dennoch getan. Eine innere Stimme hatte ihm gesagt, dass er ihm vertrauen konnte, dass er Wort halten und nicht flüchten würde. Er würde ihm den einen Tag geben und die Erkenntnis, dass ihm sein Bruder wirklich die Chance lassen würde, hatte ihn schließlich eine Entscheidung treffen lassen.
Ohne weiter zu zögern, hatte er der Tür den Rücken zugekehrt, war die Stufen hinaufgeeilt und aus dem Haus gestürmt, um nicht weiter in der Nähe der Person zu sein, die ihm nach all der Zeit noch immer sehr viel bedeutete. Chris war sich bewusst, wenn er noch länger mit Anthony zusammen sein würde, würde dieser ihn überreden können, in Washington zu bleiben. Als er diesen Vorschlag gehört hatte, hatte sein Herz bei der Aussicht, dass alles wie früher werden könnte, schneller angefangen zu schlagen. Aber dann war ihm wieder eingefallen, dass ihn die Wahrheit ins Gefängnis bringen würde und Ziva würde ihm sicher den Kopf abreißen, wenn sie erfahren sollte, dass nicht Tony sie geküsst hatte, sondern sein Zwillingsbruder, von dessen Existenz keiner der Agenten etwas wusste. Es war besser, einfach zu verschwinden und somit allen Komplikationen vorzubeugen.
Eine der Ursachen, weshalb Chris in der Nacht nicht hatte schlafen können, war der Zwiespalt in seinem Inneren gewesen, die andere die Befürchtung, dass jede Minute Gibbs vor seiner Tür stehen konnte, um ihn zu verhaften. So sehr er auch Anthony vertraute, hatte er doch nicht verhindern können, sich Gedanken darüber zu machen, was passieren würde, wenn er wirklich abhauen würde. Aber nichts dergleichen war geschehen, niemand war gekommen, um ihn ins Gefängnis zu stecken, weshalb er sich mittlerweile sicher war, dass Tony in dem Haus geblieben war, um ihm die Chance zu lassen, die er haben wollte.
Chris blinzelte und tauchte zum ersten Mal, seit er den Park betreten hatte, aus seinen Gedanken auf. Die Sonne hatte die Dämmerung so weit vertrieben, dass es nun ihr Licht war, die den Weg beleuchtete und nicht mehr die Laternen. Die Wiesen hatten die graue Farbe abgeworden und ein sattes Grün angenommen. Tausende kleine Tautropfen glitzerten vor sich hin, nur um bald zu verdunsten. Die Temperatur war gestiegen und hatte seine Gänsehaut vertrieben, um eine wohlige Wärme zu hinterlassen, was aber vielleicht auch damit zu tun hatte, dass es endlich wieder jemanden gab, dem er vertrauen konnte, ohne gleich Angst haben zu müssen, dass er hintergangen wurde. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass ihm Tony irgendwann verzeihen würde, dass er ihn in diesen Keller eingesperrt hatte.

Chris setzte auf eine der Bänke, die am Wegrand standen und ließ sich gegen die Lehne sinken. Das Holz war von der Nacht noch kühl und leicht feucht, aber ihn störte das nicht sonderlich. Ein wenig verträumt beobachtete der die Vögel, die auf der gegenüberliegenden Wiese mit ihren kurzen Beinchen herumhüpften und die Schnäbel in die Erde steckten, um nach Würmern zu suchen. Schon immer hatte es ihn beruhigt, diese Tiere zu beobachten, sowohl am Boden als auch in der Luft. Früher hatte er oft im Freien gesessen, die kräftigen Flügelschläge verfolgt und sich gewünscht, genauso frei zu sein wie die Vögel, um seinem Leben und Verpflichtungen zu entfliehen. Jedes Mal, wenn er so dagesessen war, hatte er sich gefragt, weshalb ihn seine Eltern nicht so liebten wie Tony. Was hatte er nur getan, dass er oft links liegen gelassen worden war, außer wenn es darum gegangen war, für einen Fehler bestraft zu werden. Als kleiner Junge hatte er oft darüber nachgedacht, aber sein kindliches, noch nicht komplett entwickeltes Gehirn hatte ihm keine Antwort liefern können. Je älter er geworden war, desto weniger hatte er sich darum gekümmert und als er Amy getroffen hatte, war es ihm immer mehr egal gewesen, dass ihn seine Eltern nicht so liebten wie sie eigentlich sollten. Er hatte eine Person gehabt, die ihm das geschenkt hatte, was ihm jahrelang vorbehalten worden war und zum ersten Mal war er wirklich glücklich gewesen. Sie hatte sein Leben ausgefüllt und nichts hatte seine gute Laune trüben können. Chris hatte damals gedacht, dass alles gut werden würde und als er im Mai vor 15 Jahren den Sieg im Football geholt hatte, war er plötzlich der Held der Schule gewesen und jeder hatte ihn respektiert. Alles war perfekt gewesen – bis eine Woche später das Schicksal unbarmherzig zugeschlagen und alles ins Gegenteil gekehrt hatte. An einem einzigen Abend hatte sich alles verändert, war alles auf ihn eingestürmt und hatte dazu geführt, dass er in alle Menschen das Vertrauen verloren hatte.
Chris legte seinen Kopf in den Nacken, blickte in den blauen Himmel, bevor er seine Augen schloss und die Erinnerungen zuließ, die er seit Jahren verdrängt hatte, die nun aber an die Oberfläche strömten. In seinem Gehirn entstand das Bild eines heißen und schwülen Maiabends, er erinnerte sich an die schweren Düfte der zahlreichen Blumen, die es überall im Garten des Anwesens gegeben hatte und wahrscheinlich noch heute gab, und er hörte erneut das Gespräch seines Vaters, der sich in seinem Arbeitszimmer mit einem jahrelangen Freund und Geschäftspartner unterhalten hatte – ein Gespräch, von dem er wünschte, er hätte es nie mitbekommen…

Obwohl es beinahe 21 Uhr war, betrug die Temperatur noch immer 25 Grad. Die Luft war unerträglich schwül und wenn man atmete, hatte man das Gefühl, dass es Sirup sei und nicht Sauerstoff. Es wehte nicht einmal eine kleine Brise, die vielleicht ein wenig Linderung hätte bringen können. Die Vorhänge vor den hellerleuchteten Fenstern der DiNozzovilla hingen schlaff herunter und bewegten sich keinen Millimeter. Die Zimmerpflanzen ließen ihre Blätter traurig nach unten hängen, obwohl sie regelmäßig gegossen wurden, was aber nicht viel zu helfen schien. Die Wurzeln sogen das Nass schnell auf und hinterließen nur trockene Erde. Selbst der sonst so saftige grüne Rasen des großen Gartens litt sichtlich unter dem Wetter und die Angestellten hatten Mühe, ihn genügend zu bewässern. Die Blumen, die es überall gab, ließen langsam aber sicher ihre Köpfe hängen und boten einen traurigen Anblick.
In der Villa gab es keinen Platz, an dem es erträglich kühl wäre, ausgenommen den Keller. Dieser hatte keine Fenster und war aus dicken Betonmauern aufgebaut worden, weshalb es dort nicht warm war. Aber dadurch, dass es kein Tageslicht gab, sondern nur von Glühbirnen erzeugte Helligkeit, war es kein angenehmer Platz, wo man Zeit verbringen wollte. Da ertrug man noch eher die Hitze, die sich überall ausbreitete und sich langsam auf die Gemüter niederschlug.
Die Kriminalitätsrate in Washington stieg immer mehr an, da viele Menschen ihre Aggressionen durch Morde, Überfälle und andere Straftaten abbauten. Gefängnisse waren genauso wie Krankenhäuser überbelegt, in denen es von Patienten wimmelte, die die hohe Luftfeuchtigkeit nicht vertrugen.
Es war der wärmste Mai an den man sich erinnern konnte und obwohl es schwül war, war kein Gewitter in Sicht, das Abkühlung gebracht hätte. Die Menschen sehnten sich nach niedrigeren Temperaturen und flohen in klimatisierte Gebäude oder in Freibäder, um so etwas Erleichterung zu finden. Geschäfte, die Ventilatoren verkauften, sackten fette Gewinne ein, genauso wie die Besitzer von Eissalons, deren Köstlichkeiten während des Tages bis auf den letzten Rest über die Ladentheke wanderten. Laut Wettervorhersage würde es bis Montag dauern, bis endlich ein wenig Regen in Sicht war, der jedoch nicht sehr viel Abkühlung bringen würde.

Fröhlich vor sich hinsummend verließ Chris die Küche, in die er gerade das Tablett abgestellt hatte, auf dem sich das Geschirr des Abendessens befand, das er soeben mit Amy auf seinem Zimmer genossen hatte. Den Temperaturen angepasst, hatte er dafür gesorgt, dass es nur leichte Kost gewesen war und vor allem nichts Heißes. Der Schweiß rann ihm auch so schon über den Rücken und ließ sein T-Shirt unangenehm auf seiner Haut kleben. Seine sonst immer gestylten Haare schienen plötzlich immun gegen jeden noch so kleinen Angriff der Bürste zu sein und standen folglich in alle Richtungen ab. Zwar hätte er Gel benützen können, so wie er es immer machte, wenn er ausging, aber eine klebrige Substanz in seinen Haaren war das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte.
Mit einer Hand wischte Chris sich über die Stirn und schüttelte sich leicht, als er den Schweiß auf seinen Fingern fühlte. Dabei hatte er erst vor kurzem geduscht, aber das hatte nicht viel geholfen. Obwohl er warmes Wetter durchaus mochte, machte ihm diese hohe Luftfeuchtigkeit dennoch zu schaffen. Es war eine Qual, etwas für die Schule zu lernen, da man bei dieser Hitze nicht wirklich denken konnte und jede noch so kleine Bewegung hatte einen Schweißausbruch zur Folge. Es wurde wirklich Zeit, dass endlich ein wenig Regen fiel. Seine Mutter klagte bereits, dass ihre Rosen noch eingehen würden, würde es nicht bald kühler werden.
Die Fenster in dem langen Flur, der von der Küche in die Vorhalle führte, waren allesamt geöffnet, aber kein Windhauch verdrängte die stickige Luft, die durch den schweren Duft der Blumen, der von draußen in das Innere strömte, noch verstärkt wurde. Für einen kurzen Augenblick blieb Chris an einem der Fenster stehen und sah nach draußen. Die Sonne war bereits vollkommen untergegangen und hatte einen schwarzen Himmel hinterlassen, an dem abertausende Sterne glitzerten. Der Mond schickte sein fahles Licht zur Erde und verlieh dem Rasen einen leicht silbrigen Schimmer. Eine romantische Stimmung überkam den 17-jährigen Jungen und er verspürte den plötzlichen Wunsch, mit Amy einen Spaziergang zu machen. Er sah sie beide Hand in Hand die Straße hinunterschlendern, sich verliebte Blicke zuwerfend und eine harmlose Unterhaltung führend. Sein Herz machte unverhofft einen Hüpfer und begeistert von der Idee, wie er diesen Abend verbringen würde, löste er sich von dem Fenster und wollte bereits weiter gehen, als ihn eine vertraute Stimme innehalten ließ. Sie kam deutlich aus einem Raum, der linkerhand lag und dessen Tür nur angelehnt war. Heller Lichtschein fiel in den Flur hinaus und beleuchtete einen kleinen Abschnitt des Teppichs, der ausgelegt worden war, um keinen Kratzer auf dem Parkettboden zu hinterlassen.

Der Stimme folgte ein leises Klirren, als zwei Gläser gegeneinandergestoßen wurden, begleitet von zufriedenen Seufzern. Chris wusste, wer sich in dem Raum befand, handelte es sich doch um das Arbeitszimmer seines Vaters. Dieser saß sicher auf der schwarzen Ledercouch, die unter einem teuren Gemälde stand, welches bereits seit Ewigkeiten an der Wand hing. Gegenüber in einem ebenfalls schwarzen Ledersessel hatte ohne Zweifel sein langjähriger Freund und Geschäftspartner Daniel Jamieson Platz genommen, der an diesem Abend zum Essen gekommen war, an dem nur die beiden teilgenommen hatten. Tony hatte sich wieder einmal Hausarrest eingefangen und war deshalb nicht gut auf seinen Vater zu sprechen, Chris hatte Besuch von Amy und ihre Mutter war mit einer Freundin unterwegs. Aber ihm sollte es nur Recht sein, wenn er bei diesem Essen nicht hatte dabei sein müssen. Er vermied die Nähe seines Erzeugers sooft es ging.
Deshalb schlich er jetzt auch auf Zehenspitzen an dem Raum vorbei, in dem Bemühen, kein Geräusch zu verursachen. Auf eine Zurechtweisung, dass er die Unterhaltung wegen zu lauten Gehens gestört hatte, konnte er gut und gerne verzichten. Außerdem war offensichtlich, dass das Familienoberhaupt getrunken hatte, weshalb er öfters dazu neigte, jemanden anzuschreien.
„Wie geht es deinen Söhnen?" fragte eine tiefe Stimme, die eindeutig Jamieson gehörte. Obwohl Chris' Instinkt sagte, dass er ganz schnell weitergehen sollte, hörten seine Beinmuskeln nicht auf den Befehl seines Gehirns. So als ob er von einer fremden Macht ferngesteuert wurde, bewegte er sich auf die Tür zu und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand daneben – vergessen war, dass oben das Mädchen wartete, das er über alles liebte. Dies war eine der Gelegenheiten, um herauszufinden, was sein Vater wirklich von seinem Nachwuchs hielt und da er dachte, dass niemand in der Nähe war, würde er auch die Wahrheit sagen und nicht lügen, so wie er es gerne tat, um die Familie in der Öffentlichkeit gut dastehen zu lassen.

Chris hielt seine Luft an und lugte durch den Spalt der angelehnten Tür in das Arbeitszimmer, das von einem wuchtigen Schreibtisch dominiert wurde, der ordentlich aufgeräumt und blank poliert war. Dahinter befand sich ein langes Regal, das mit Büchern gefüllt war, nach dem Alphabet geordnet. Das breite Fenster stand offen und ließ stickige Luft in den Raum. Wie erwartet, hatten es sich die beiden Männer auf der Sitzgruppe gemütlich gemacht. Zwischen ihnen befand sich ein runder, aus teurem Marmor bestehender Tisch, auf dem eine Karaffe Whiskey und zwei Gläser standen, die bis zur Hälfte gefüllt waren.
DiNozzo hatte sich seiner Anzugsjacke entledigt, die Krawatte gelockert und die Hemdsärmel aufgerollt. Unter seinen Achseln hatten sich leichte Schweißflecke gebildet – der einzige Hinweis, dass ihm heiß war. Jede einzelne Strähne seines braunen Haares lag an seinem Platz und schimmerte in dem Licht der Lampe, die genau in der Mitte der Zimmerdecke angebracht worden war. Er sah wie aus dem Ei gepellt aus, was man von seinem Gesprächspartner nicht sagen konnte. Daniel Jamieson war ein kleiner, dicker Mann, dessen Haut teigig glänzte. Seine Oberlippe zierte ein schmaler Schnurrbart, der jedoch lächerlich wirkte. Das Doppelkinn wabbelte ein wenig, wenn er schluckte und er ächzte leise, als er sich vorbeugte und seine kurzen Finger um das Whiskeyglas legte. Die Haare des Mannes waren schwarz, mit grauen Strähnen durchzogen und zeigten bereits lichte Stellen am Hinterkopf. Genauso wie DiNozzo hatte er seine Anzugsjacke ausgezogen und seine Krawatte gelockert, jedoch war sein Hemd nass vor Schweiß und zerknittert, so als ob er darin geschlafen hätte. Viele ließen sich von dem schlampigen Äußeren täuschen und übersahen die Tatsache, dass er überdurchschnittlich intelligent war. Seine grauen Augen waren hellwach und registrierten jedes noch so kleine Detail, weshalb er auch ein unglaublich guter Geschäftsmann war.
Daniel nahm einen großen Schluck des Alkohols und wartete gespannt auf eine Antwort, die er auch ein paar Sekunden später bekam. „Meinen Söhnen geht es gut", sagte der Italiener schließlich, wobei das Wort Meine gepresst über seine Lippen kam. „Anthony ist echt ein prima Junge, auch wenn er momentan aufsässig ist und ständig Ärger mit mir sucht. Keine Ahnung, weshalb er sich plötzlich so auflehnt." Jamieson kicherte leise und schlug seine kurzen Beine übereinander. „Er ist ein Teenager. Die Aufgabe von denen ist es doch, ihre Eltern in den Wahnsinn zu treiben. Das ist nur die Pubertät. Diese Phase wird auch wieder vorbeigehen." DiNozzo seufzte laut und griff nach seinem Glas. „Das hoffe ich. Aber er ist der Sohn, den ich mir gewünscht habe. Fleißig, gewissenhaft und gibt sich Mühe in der Schule. Wenn ich einmal in Rente gehe, kann ich ihm unbesorgt mein Unternehmen überschreiben. Anthony ist genau der Richtige dafür. Aus ihm wird sicher ein knallharter Geschäftsmann werden, genauso wie sein Vater." Mit einem breiten Lächeln, das weiße Zähne enthüllte, bedachte er seinen Freund und nahm schließlich einen Schluck des Whiskeys.
„Und was ist mit deinem anderen Jungen, Christopher? Ich hatte immer den Eindruck, dass er mehr Interesse an deinem Unternehmen gezeigt hat, als sein Bruder."
Chris lauschte angestrengt und versuchte seinen Herzschlag, der laut in seinen Ohren hallte, zu beruhigen. Für ihn war es nichts Neues, dass sein Vater Tony die Firma geben wollte, obwohl sich dieser mehr für Sport als für Zahlen interessierte. Es erfüllte ihn mit Wut, dass sein Erzeuger mehr auf seine Bedürfnisse schaute, als auf die seiner Kinder. Er wusste genau, dass Anthony nicht interessiert war, sein Unternehmen zu leiten, aber er ignorierte diese Tatsache einfach.

„Chris ist eine andere Sache", erwiderte DiNozzo schließlich und der ganze Stolz, den er vorher in seine Stimme gelegt hatte, verschwand wieder. Er setzte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf und drehte das Glas in seinen Händen. „Der Junge macht nur Probleme und glaubt, mit seiner aufsässigen Art erreicht er etwas bei mir. Er hört nicht darauf, was ich sage, sondern macht immer das Gegenteil und er bildet sich ein, in Football ein Ass zu sein. Dabei würde es ihm nicht schaden, seine Nase in Bücher zu stecken."
Chris ballte in hilflosem Zorn seine Hände zu Fäusten und widerstand nur knapp dem Drang, in das Zimmer zu stürmen und seinen Vater bei den Schultern zu packen und ihn anzuschreien. Seine Leistung im Football wurde von jedem anerkannt, nur nicht von seinem Erzeuger. Aber er wettete alles darauf, dass er stolz wäre, hätte Tony an dem Spiel teilgenommen und den Sieg geholt.
Obwohl er eigentlich genug gehört hatte, blieb er stehen, unfähig, seine Muskeln zu rühren. Er wusste, er sollte sich schnellstens aus dem Staub machen und zu Amy hinaufgehen, aber er konnte nicht – musste einfach hören, was sein Vater noch zu sagen hatte.
„Mein Dad hat mir immer eingebläut, dass ich mir ja nicht mehr als ein Kind zulegen soll", fuhr DiNozzo schließlich fort und leerte sein Glas in einem Zug, nur um es sich gleich darauf erneut zu füllen. Seine Wangen nahmen eine rote Farbe an und auf seiner Stirn bildete sich Schweiß. „Hat mir immer gesagt: ‚Sohn, ein Erbe reicht völlig. Zwei machen dir nur Schwierigkeiten und brauchen noch dazu doppelt so viel Geld. Also sieh zu, dass du dir eine Frau suchst, die willens ist, nur ein Kind auf die Welt zu bringen.' Das waren seine Worte." Er nahm einen weiteren Schluck und blickte zu Daniel, der ihn gespannt musterte.
„Seit Generationen gibt es in der DiNozzofamilie immer nur einen Erben. Ich war ein Einzelkind, mein Dad war eines, mein Großvater und dessen Vater. So weit ich weiß, geht es noch viel weiter zurück. Alle haben die These vertreten, dass ein Sohn vollkommen ausreicht und ein zweites Kind nur Ballast wäre." Der Alkohol lockerte die Zunge des Italieners und er schien sich endlich etwas von der Seele zu reden, was ihm wohl schon lange durch den Kopf ging.
„Schließlich lernte ich Claire kennen und hielt mein Glück für perfekt. Als sie schwanger wurde, war ich im siebten Himmel, da ich dachte, die Firma würde mich überleben. Ich hatte einen Erben, der dafür sorgen würde, dass weiterhin Geld auf das Bankkonto fließen würde. Und dann stellt sich bei einer Routineuntersuchung raus, dass Claire Zwillinge erwartet. Zwillinge!" Das letzte Wort schrie er frustriert heraus und ließ Chris zusammenzucken. Dieser hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Die Worte, die er soeben gehört hatte, ließen seinen Magen revoltieren und sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er konnte einfach nicht fassen, was er da hörte. Nur weil es scheinbar in allen Generationen nur Einzelkinder gegeben hat, musste er auf die Liebe verzichten, die ihm eigentlich zustand? Was war dass denn für eine verkehrte Welt? Er war nur 10 Minuten jünger als Tony und deswegen hatte er das bittere Los gezogen. Wieso konnte er nicht einfach der Ältere sein? Wieso war er dazu verdammt, der Sündenbock zu sein? Unglaubliche Wut stieg in ihm auf und er spürte, wie sein Gesicht vor Ärger zu brennen anfing. Aber noch immer war er unfähig, sich zu rühren.
DiNozzo trank das nächste Glas erneut in einem Zug aus und wischte sich den Mund ab. „Als ich das erfahren habe, war ich wieder am Boden der Tatsachen zurückgekehrt. Jetzt hatte ich das Problem, vor dem mich mein Vater immer gewarnt hat. Ich hatte zwei Kinder am Hals."
„Wenn du nur eines haben wolltest, wieso habt ihr den Jungen nicht einfach zur Adoption freigegeben?" fragte Jamieson und rülpste leise, nachdem er einen Schluck Whiskey getrunken hatte. „Das war auch mein erster Gedanke", antwortete DiNozzo und krallte seine Finger um das Glas. „Aber Claire wollte nicht und meinte, sie würde ihr eigenes Kind nicht zur Adoption freigeben, egal was mir immer eingetrichtert worden war und ich Narr habe nachgegeben. Tja, und deshalb habe ich jetzt einen Jungen am Hals, der mir nur Probleme beschert."
Schweigen breitete sich aus, als erneut Whiskey in die Gläser gefüllt wurde. Aber Chris achtete nicht darauf. Er lehnte sich gegen die Wand neben der Tür und hatte Mühe, nicht zu laut zu atmen, um damit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sein Körper zitterte, ihm war übel und er fühlte sich, als ob ihm jemand ein Messer ins Herz gestochen hätte. Seine Knie waren butterweich und seit Jahren war es das erste Mal, dass er sich am liebsten irgendwo verkrochen hätte.

Hier hatte er den Beweis, dass sein Vater nichts weiter als ein Geldgieriger, herzloser Bastard war, dem es nur um Profit und sein Unternehmen ging. Es wäre vielleicht das Beste gewesen, wenn sie ihn wirklich zur Adoption freigegeben hätten. Dann würde er zu einer anderen Familie gehören, die ihn so liebte wie er war und ihn nicht wie ein lästiges Anhängsel betrachtete. Aber wieso hatte sich seine Mutter gegen die Adoption gewehrt, wenn sie ihn doch jetzt auch links liegen ließ, anstatt sich um ihn zu kümmern? ‚Weil Dad zu viel Einfluss auf sie hat, deswegen', gab er sich gleich selbst die Antwort und blinzelte die Tränen weg, die ihm in die Augen gestiegen waren.
Chris fühlte sich wie erschlagen und am liebsten hätte er jetzt laut losgeschrieen, seinen ganzen Frust in die Welt hinausposaunt und verkündet, dass sein Vater ein Mistkerl war. Aber wer würde ihm schon glauben? Nach außen hin waren sie eine glückliche Familie und niemand hatte auch nur eine Ahnung, wie es hinter der Fassade aussah. Aber er musste mit jemandem reden, musste jemandem alles anvertrauen - jemand, der ihn verstehen würde. Plötzlich richtete er sich auf und Entschlossenheit breitete sich in seinem Inneren aus, als ihm eine Person einfiel, die ein Recht darauf hatte, zu erfahren, was er soeben gehört hatte. Tony würde es sicher interessieren, was er soeben mitbekommen hatte, auch wenn es nicht für seine Ohren bestimmt war. Sein Bruder hatte immer schon einen Rat für jegliches Problem parat gehabt und auch für diese Sache würde er eine Lösung haben, zumal er sich in letzter Zeit ebenfalls gegen ihren Vater auflehnte und sich auf Chris' Seite schlug.
Noch immer mit zittrigen Knien und darauf bedacht, keinen Laut zu machen, löste er sich von der Wand und schlich den Flur entlang. Das laute Lachen der beiden Männer aus dem Arbeitszimmer verfolgte ihn und als er die Treppe erreicht hatte, rannte er sie hinauf und den Gang entlang, an dessen Ende Anthonys Zimmer lag. Er musste unbedingt alles loswerden und Tony war der einzige Mensch, der ihn verstehen würde und dem er vorbehaltlos vertrauen konnte. Mit seiner Hilfe würde sicher alles gut werden und…
Als Chris die Zimmertür seines Bruders aufriss, blieb er wie angewurzelt stehen. Ungläubig weiteten sich seine Augen, als er die Szene in sich aufnahm, die sich ihm bot. Die Hoffnung, die er noch vor einer Sekunde gehegt hatte, wandelte sich in grenzenlose Wut um, als sein Gehirn realisierte, was er vor sich sah. Und zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Minuten wurde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen und er hatte das Gefühl, in einen bodenlosen, schwarzen Abgrund zu stürzen.


Fortsetzung folgt...
Chapter 22 by Michi
NCIS Hauptquartier
06:45 Uhr


Mit laut klopfendem Herzen betrat Chris den Fahrstuhl, der ihn schnell von der Tiefgarage in die dritte Etage bringen würde. Mit für ihn ungewohnt leicht zitternden Händen drückte er den entsprechenden Knopf und atmete erleichtert aus, als sich die Türen schlossen und somit die Umwelt für ein paar Sekunden aussperrte. Die kurze Zeit würde er benötigen, um sich zu sammeln und seine Gedanken wieder in geordnete Bahnen zu bringen, immerhin hatte er vor, ein Gespräch mit Ziva zu führen, weshalb er auch so bald ins Hauptquartier gekommen war. Es war besser, mit ihr zu reden, bevor Gibbs im Büro auftauchen würde, zumal dieser Ohren wie ein Luchs hatte und alles mitzubekommen schien, selbst wenn er nicht in der Nähe war. Und Tony hatte ihn vorgewarnt, dass es für seine Gesundheit von Vorteil wäre, wenn der Chefermittler weiterhin nicht wusste, dass er die junge Frau geküsst hatte. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass es diese Regel 12 auch wirklich gab, hatte sein Bruder doch keinen Grund mehr in anzulügen. Und vielleicht war das auch der Grund, weshalb Ziva in dem Imbiss derart reagiert und ihm gedroht hatte, ihn umzubringen, sollte er sie noch einmal küssen – etwas, was er durchaus erneut machen wollte, aber er wusste, es wäre besser, wenn er es nicht tun würde. Es würde die Situation noch komplizierter machen. Außerdem müsste dann Tony die Sache zu Recht biegen, obwohl es nicht seine Schuld war. Bevor Chris Washington verließ, wollte er alles regeln, was er nicht richtig gemacht hatte, um am Abend so schnell wie möglich verschwinden zu können - und dann hieß es auf Nimmerwiedersehen.

Er seufzte leise und lehnte sich gegen die Wand des Fahrstuhles, wobei sich ihm der Rucksack unangenehm in den Rücken presste, aber er registrierte das nicht wirklich. Seine Gedanken machten sich wieder einmal selbstständig und wirbelten in rasender Geschwindigkeit durcheinander. In der einen Sekunde waren sie noch bei Ziva gewesen, so wanderten sie jetzt erneut in seine Vergangenheit ab, zu dem Abend im Mai, der alles verändert hatte. Das Gespräch, das er zwischen seinem Vater und seinem Geschäftspartner belauscht hatte, hatte ihn innerhalb eines Sekundenbruchteils auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. War er zu diesem Zeitpunkt noch glücklich gewesen, das er Amy hatte, so hatte sich das ziemlich schnell geändert. Zu erfahren, dass er in Wahrheit von seinem Vater als Ballast angesehen worden war, hatte Chris hart getroffen. Es war noch schlimmer, als wenn er unwissentlich etwas angestellt und damit seinen Ärger auf sich gezogen hätte, aber als lästiges Anhängsel betrachtet zu werden, war hundertmal schmerzhafter. Er war es gewohnt, von seinem Dad nicht geliebt zu werden, aber den Grund direkt aus seinem Mund zu hören, hatte sich angefühlt, als ob ihm jemand ein besonders scharfes Messer mitten ins Herz gerammt und es anschließend genüsslich herumgedreht hatte. Jeder noch so grausamer physischer Schmerz wäre besser gewesen, als der Psychische, der seinen gesamten Körper durchfahren hatte. In diesem Moment hatte er sich wirklich gewünscht, keine Eltern zu haben – alles wäre besser gewesen als das Wissen, das er seit diesem Abend mit sich herumtrug. Wahrscheinlich hätten ihn die Mitarbeiter von städtischen Waisenhäusern noch netter behandelt als sein Vater. Seine Vermutung, dass für ihn nur das Geld zählte und sonst nichts anderes, hatte sich bestätigt und ihn nur mehr darin bestärkt, sich so schnell wie möglich von seiner Familie loszusagen. Er wollte und konnte mit keinem Mann unter einem Dach leben, der ihn nur als lästige Pflicht ansah und nicht als Wesen aus Fleisch und Blut mit Gefühlen.

Und Tony war im Prinzip auch nur ein Mittel zum Zweck gewesen, nur damit das Überleben des DiNozzo Unternehmens gesichert war. Aber Chris hatte bereits damals gewusst, dass sich sein Bruder nicht im Geringsten für die Geschäfte seines Vaters interessiert hatte. Er hatte seine Zeit viel lieber im Freien verbracht, um Sport zu betreiben, anstatt sich mit Zahlen und Wirtschaft auseinanderzusetzen. Aber diese Tatsache war ihrem Erzeuger schlichtweg entgangen oder er hatte es einfach nicht wahrhaben wollen. Zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, seinen Goldjungen – wie er ihn in Gegenwart von Jamieson genannt hatte – dazu zu bewegen, seine eigenen Interessen hintan zu stellen, um zu machen, was ihr Vater wollte. Aber Tony hatte das Stadium, in dem er sich alles sagen hatte lassen, bereits verlassen und dementsprechend hatte es zwischen den beiden öfters gekracht. Und es waren diese Streits, die Chris jedes Mal mit einer gewissen Befriedigung erfüllt hatten. Zu sehen, dass sich keiner etwas von dem Älteren hatte sagen lassen, war einfach ein großartiges Gefühl gewesen – machte doch sonst jeder alles, was er befahl. Aber bei seinen Söhnen hatte er Pech gehabt, auch wenn er dies zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht wirklich registriert hatte, zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, Geld auf das Bankkonto zu bekommen.
Chris hatte sich in den letzten 15 Jahren ständig gefragt, was wohl passiert wäre, hätte er das Gespräch zwischen den beiden Männern nicht belauscht. Dann wäre er sicherlich in sein Zimmer gegangen und nicht in das von seinem Bruder. Er hätte vielleicht niemals erfahren, was dort vorgefallen war, wäre er nicht so versessen darauf gewesen, Tony zu erzählen, was sie in Wirklichkeit für ihren Vater waren. Das Wissen, dass er bei ihm einen Rat finden würde, hatte ihn in den Raum getrieben, nur um gleich darauf zu erkennen, dass er von der Person, der er am meisten vertraut hatte, schamlos hintergangen worden war. An diesem Abend hatte er alles verloren, seinen Vater, Anthony und seine Zukunftsperspektive. Sein gesamtes bisheriges Leben war über ihm zusammengestürzt und hatte ihn unter den Trümmern begraben. Er hatte das Gefühl gehabt, jemand hätte ihm sein Herz und seine Seele mit bloßen Händen herausgerissen, um danach genüsslich darauf herumzutrampeln. Wut und Hass waren in ihm aufgestiegen und hatten ihn dazu veranlasst, Tony zu schlagen, in dem Versuch, ihm genauso wehzutun, ihn spüren zu lassen, welcher Schmerz ihn ergriffen hatte. Dessen Erklärungsversuche hatte er gar nicht mehr hören wollen, hatte er doch sofort gewusst, dass es nur Lügen gewesen wären, die aus seinem Mund gekommen wären. Chris hatte sich nur mehr von seinen Gefühlen leiten lassen und nicht von seinem Verstand. Noch in derselben Nacht hatte er die wichtigsten Sachen eingepackt, Geld von seinem Vater gestohlen, in dem Bewusstsein, dass er ihn damit am Härtesten treffen würde, und hatte die Villa verlassen, mit dem Wissen, sie nie wieder zu betreten. Er hatte alles hinter sich gelassen, mit nichts weiter als dem Wunsch, sich von allen loszusagen, endlich unabhängig zu sein und so viel Raum zwischen ihm und Washington zu bringen wie nur möglich. Den ersten Zug, den er erwischt hatte, hatte ihn nach Los Angeles gebracht, der Stadt, wo er die letzten Jahre gelebt und sich unter falschem Namen eine neue Existenz aufgebaut hatte. Ihn hatte es nicht einmal interessiert, ob nach ihm gesucht worden war, hatte er doch gewusst, dass sie ihn niemals finden würden.

Damals hatte Chris Tony die ganze Schuld an seiner Misere gegeben, hatte ihm alles in die Schuhe geschoben und sich immer vorgestellt, wie es gewesen wäre, wenn dieser der Zweitgeborene gewesen wäre. Irgendwann war das so weit gegangen, dass er sich in der Rolle seines Bruders gesehen hatte und schließlich war der Plan, dessen Leben zu übernehmen, in ihm gereift. Es war nicht sonderlich schwer gewesen, ihn aufzuspüren, aber er war mehr als überrascht gewesen, als er herausgefunden hatte, dass er nicht das Familienunternehmen übernommen hatte, sondern Bundesagent geworden war. Für einen kurzen Moment hatte er sich richtig gefreut, dass ihr Vater nicht das erreicht hatte, was er haben wollte und sich selbst einen Nachfolger suchen musste, aber diese Freude war nur von kurzer Dauer gewesen, als er sich erneut ins Gedächtnis gerufen hatte, was ihm Tony angetan hatte. Chris war sich so sicher gewesen, dass er das Richtige machen würde und jetzt, am dritten Tag in der Rolle seines Bruders war er dabei, seine Zelte wieder abzubrechen. Der Hass, der ihn angetrieben hatte, war verschwunden und sein Verstand hatte die Oberhand zurückgewonnen. Anthony gehen zu lassen, würde seit langem das erste Mal sein, dass er etwas richtig machen würde, aber bevor es so weit war, musste noch ein Mörder seine gerechte Strafe erhalten und er musste die Sache wegen dem Kuss mit Ziva klären.
Chris wusste, dass sie sicher bereits im Büro war, war sie doch immer anwesend gewesen, wenn er erschienen war, was, zugegeben, heute erst das dritte Mal war. Aber sie hatte auf ihn nicht den Eindruck erweckt, zu spät zu kommen.
Während der schlaflosen Nacht hatte er sich zahlreiche Varianten überlegt, um ihr zu erklären, warum er so weit gegangen war und sie geküsst hatte - jede einzelne hatte fadenscheiniger geklungen als die vorherige. Aber die Wahrheit konnte er ihr nicht sagen, musste er doch in dieser Sache wie Tony denken und nicht wie er selbst. Wüsste Ziva, wer sie wirklich geküsst hätte, würde er ihr ohne zu zögern keine Lüge auftischen, aber er hatte sich nun einmal dafür entschieden, nicht länger in Washington zu bleiben und überließ es seinem Bruder, alle von seiner Existenz aufzuklären, wenn er dies überhaupt machen würde. Vielleicht wollte er ja selbst nur vergessen, was ihm in den letzten beiden Tagen widerfahren war und einfach weitermachen wie bisher. Der Gedanke versetzte Chris jedoch einen schmerzhaften Stich, weshalb er ihn ganz schnell wieder verdrängte. Was Anthony bald machen würde, ging ihn nichts mehr an – hatte es in den letzten 15 Jahren schon nicht mehr.

Das leise Pling des Fahrstuhls riss ihn aus seinen Gedanken und brachte ihn mit einem Schlag wieder in die Gegenwart zurück. Die ihm mittlerweile vertraute Hektik des Großraumbüros stürmte auf ihn ein, als er die kleine Kabine verließ und langsam zu seinem Platz ging. Sein Herz fing schneller zu schlagen an, als er die braunen Haare von Ziva erkannte. Mit jedem Schritt, den er machte, kam mehr von ihr in Sicht und er verwünschte den Kloß in seinem Hals, der sich bei ihrem Anblick unwillkürlich gebildet hatte. Selbst von hinten sah sie wunderschön aus und die beige Bluse, die sie heute gemeinsam mit einer dazupassenden braunen Hose trug, betonte ihre schlanke Figur. Sie hatte ihren Kopf über eine Akte gebeugt und schien nicht zu bemerken, dass sie nicht mehr alleine war. Wie er erwartet hatte, waren weder Gibbs noch McGee anwesend, weshalb es ihm leichter machen würde, mit Ziva zu reden – vorausgesetzt, er fand seine Sprache wieder. Irgendwie hatte er auf einmal das Gefühl, dass nur unverständliches Zeugs aus seinem Mund kommen würde, würde er diesen aufmachen.
Ungewohnt nervös setzte er mutig einen Fuß vor den anderen, bis er vor seinem Schreibtisch angelangt war und den Rucksack zu Boden fallen ließ, wo er mit einem plumpen Geräusch landete. Es war nicht sonderlich laut, aber es reichte, um die Agentin aufschrecken zu lassen. Gleich darauf begegnete sie einem Blick aus grünen Augen, der ihr einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. Sie war mehr als überrascht, dass Tony bereits so früh da war, war er doch bekannt dafür, zu spät zu kommen. Allerdings verhielt er sich in den letzten Tagen mehr als seltsam, da sollte es sie nicht wundern, dass er 13 Minuten vor Dienstbeginn hier war. Sie wünschte sich jedoch, er hätte erneut verschlafen, so hätte sie noch mehr Zeit gehabt, über gestern Abend nachzudenken, obwohl sie das in der Nacht und auch heute Morgen bereits gemacht hatte, aber zu keinem zufriedenen Ergebnis gelangt war. Es war mehr als verhext. Sie reagierte plötzlich auf ihren Kollegen, so wie sie es vorher noch nie getan hatte – nicht einmal bei ihrem Undercovereinsatz. Da hatte sie alles nur als Spiel betrachtet, die Liebkosungen und die Spitznamen, mit denen sie sich gegenseitig geneckt hatten, um alles noch glaubhafter zu machen, aber jetzt? Jetzt war alles auf einmal ganz anders. Der kurze Kuss gestern hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen und die Tatsache, dass sie ihn genossen und sich gewünscht hatte, dass er länger gedauert hätte, hatte sie derart wütend gemacht, dass sie Tony beim Kragen seines Hemdes gepackt und ihm gedroht hatte.

Zivas Verstand hatte ihr die ganze Zeit über zu geflüstert, dass es nicht Recht war, wenn sie sich auf mehr einließ, aber ihre Gefühle waren da anderer Ansicht. Bereits vor dem Kuss hatte sie die Nähe des jungen Mannes genossen und nachher waren hunderte von Schmetterlingen durch ihren Magen geströmt und hatten ihren Körper mit einem intensiven Kribbeln überzogen. Es war gerade das, was ihr Angst machte. Sie konnte mit solchen Empfindungen nicht umgehen, da verhörte sie lieber einen verrückten Mörder, als sich über romantische Gefühle den Kopf zu zerbrechen. Aber gestern hatte sie niemanden gehabt, den sie auseinander nehmen hatte können und so waren ihre Gedanken unweigerlich in regelmäßigen Abständen zu Tony gewandert, zu seinen grünen Augen, zu den verstrubbelten Haaren und zu seinem muskulösen Körper. Ziva hatte es mehr als erschreckt, als sie sich vorgestellt hatte, ihre Finger über diese Muskeln wandern zu lassen. Es war das erste Mal gewesen, dass sich solche Bilder in ihrem Gehirn gebildet hatten und sie einfach nicht mehr losließen. Sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, weshalb DiNozzo plötzlich so eine Anziehungskraft auf sie hatte. Am Montag war noch alles wie immer gewesen, sie hatten sich gegenseitig geärgert und nichts hatte darauf hingedeutet, dass da mehr zwischen ihnen sein könnte. Einen Tag später jedoch hatte sich dies geändert. Tony war irgendwie anders gewesen, total durch den Wind und die Tatsache, dass er sich so verhielt, als ob er nicht er selbst wäre, hatte in ihr irgendetwas ausgelöst, von dem sie nicht sagen konnte, was es war. Ziva hatte sich jedenfalls zu ihm hingezogen gefühlt und sie hatte keine Ahnung, weshalb.
Und als er sie gestern unverhofft geküsst hatte, hatte sie ein unglaublich warmes Gefühl durchströmt und sie hatte sich unwillkürlich mehr gewünscht, aber sie wusste, dass es nie so weit kommen durfte, nicht mit DiNozzo. Sie passten doch überhaupt nicht zusammen und außerdem war da noch Gibbs' Regel Nummer 12. Wenn er herausfinden würde, was gestern in dem Imbiss geschehen war, würde er ihnen beiden wahrscheinlich den Kopf abreißen. Es wäre am besten, sie würden so tun, als ob der Kuss nie passiert wäre.
Deshalb riss Ziva ihren Blick von Tony los und versuchte sich auf die Akte vor ihr zu konzentrieren. Allerdings funktionierte das nicht gut, da sie richtig spürte, wie sie die grünen Augen musterten und sie wünschte sich, sie würde nicht schon wieder diese Schmetterlinge in ihrem Bauch spüren. ‚Ruhig bleiben', machte sie sich selbst Mut und versuchte gleichmäßig zu atmen. Bevor sie sich jedoch annähernd beruhigen hatte können, fiel ein Schatten auf ihren Tisch und sie hörte die ihr vertraute Stimme, die ihren Puls prompt in die Höhe schießen ließ.

Chris hatte die junge Frau ein paar Sekunden beobachtet, nachdem sich ihre Blicke getroffen hatten. Den Ausdruck in ihren Augen hatte er nicht entziffern können und seit langem war es das erste Mal, dass er nicht wusste, woran jemand dachte. Er hatte erneut das starke Bedürfnis, sie zu küssen, so lange, bis sie beide außer Atem waren und nicht mehr wussten, wo oben und unten war. Seine Gefühle fuhren buchstäblich Karussell, etwas, was ihm seit Amy nicht mehr passiert war und was hatte es ihm damals eingebracht? Nichts außer grenzenlosem Schmerz. Und diesmal würde er es gar nicht so weit kommen lassen. Am Abend würde er bereits nach Los Angeles zurückkehren und somit würde auch Ziva aus seinem Kopf verschwinden – hoffte er jedenfalls.
Vorsichtig, so als ob er über ein Minenfeld laufen würde, näherte er sich ihrem Schreibtisch und schluckte ein paar Mal, bevor er es wagte, den Mund aufzumachen. „Wir müssen reden", sagte er schließlich und verwünschte seine leicht heisere Stimme. Für die Dauer eines Herzschlages rührte sich keiner der beiden und Chris fragte sich unwillkürlich, ob sie ihn überhaupt gehört hatte, aber dann hob sie ihren Kopf und erneut begegneten sich ihre Blicke. Die Spannung, die zwischen ihnen herrschte, war greifbar und es wunderte ihn, dass man nicht das Knistern hören konnte.
„Worüber?" fragte Ziva kurz angebunden, obwohl sie genau wusste, worum es ging. Ihre Miene war verschlossen, obwohl in ihrem Inneren ein wahrer Gefühlssturm herrschte. Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Musste er jetzt unbedingt von gestern anfangen?
Chris räusperte sich leise und steckte seine Hände in die Taschen seiner Jeans, da er nicht so recht wusste, was er mit ihnen anfangen sollte. Außerdem bewahrte es ihn davor, sie nervös zu kneten. Dass die Agentin so tat, als ob sie nicht wusste, worüber er mit ihr sprechen wollte, versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, aber er versteckte dies hinter einer Maske aus Freundlichkeit und Geduld. Es würde nichts bringen, irgendetwas zu überstürzen. Ein falsches Wort und er würde auf dem Boden liegen, mit einem Messer an seiner Kehle.

„Über gestern Abend", antwortete er schließlich und war erleichtert, dass sie ihm nicht Kopf abriss. Die einzige Reaktion, die sie zeigte, waren zusammengekniffene Augen. Erneut breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus und da sie nichts sagte, fuhr er ganz schnell fort, bevor ihn der Mut verlassen konnte. „Ich möchte dir gerne erklären, weshalb ich dich geküsst habe und…" „Meiner Meinung nach bedarf es keiner Erklärung, warum ein Mann eine Frau küsst. Ich kenne die Geschichte mit den Hummeln und Blumen." „Bienen." „Was?" „Es sind Bienen. Aber egal", fügte er hinzu, als ein ärgerliches Funkeln in ihre braunen Augen trat, in die er stundenlang blicken konnte. Mittlerweile mochte er Zivas Versprecher total gerne, vor allem ihren Gesichtsausdruck, wenn sie korrigiert wurde. Sie verzog dann jedes Mal ihre Lippen, so wie jetzt und erneut überkam ihn das Bedürfnis sie zu küssen, aber dadurch würde er nur mehr in Schwierigkeiten geraten, deshalb zwang er sich, nicht auf ihren Mund zu sehen, um damit seine Gedanken zu verraten. Es war wirklich an der Zeit, die Fronten zu klären, bevor er etwas Unüberlegtes machte.
„Hör zu, Ziva", sagte er leise und kniete sich vor ihren Schreibtisch, damit sie auf gleicher Augenhöhe waren, wodurch sie auf einer besseren Gesprächsebene waren – hoffte er zumindest. Chris war ihr jetzt so nahe, dass er ihr Parfüm riechen konnte, ein Duft, der ihn fast verrückt machte. Ob ihre Haut wohl auch danach schmeckte? Gleich darauf rief er sich innerlich zur Ordnung und setzte ein freundliches Lächeln auf, weshalb es der Agenten ganz heiß wurde. Sie widerstand dem Drang, mehr Raum zwischen ihnen zu schaffen, um nicht Gefahr zu laufen, dass der Mann vor ihr mitbekam, wie schnell ihr Herz schlug.
„Auch wenn du der Meinung bist, dass es keiner Erklärung bedarf, möchte ich es dennoch. Es wäre viel zu schade, wenn unsere Freundschaft jetzt den Bach hinuntergeht. Es gab einen Grund, weshalb ich dich gestern geküsst habe." ‚Der aber eine Lüge ist', fügte er in Gedanken hinzu und wartete auf ihre Antwort. Ziva überlegte ein paar Sekunden lang, bevor sie nickte. „In Ordnung. Dann lass mal hören." Erleichtert darüber, dass sie ihn nicht in die Wüste geschickt hatte, stieß er den Atem aus, legte seine Unterarme auf ihren Schreibtisch und senkte seine Stimme, damit die Agenten, die an ihnen vorüber gingen, nicht mitbekamen, worüber sie sprachen.
„Als ich 17 Jahre alt war, hatte ich eine Freundin. Sie hieß Amy und glaube mir, ich habe sie über alles geliebt. Wie sie mich angelächelt hat, ihre Stimme, ihre Haare, die sich leicht gelockt haben und ihre Lippen, die ich stundenlang anstarren hatte können. Ich habe mein Herz an dieses Mädchen verschenkt." Ziva lauschte gespannt den Worten, ungläubig über den plötzlichen Ernst in seiner Stimme. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass er jemals fähig war, eine Frau zu lieben, nicht mit den zahlreichen Affären, die er ständig hatte. Und dann sah sie den Schmerz in seinen grünen Augen – einen Schmerz, den sie bei ihm noch nie wahrgenommen hatte und der ihr selbst weh tat. Deshalb schluckte sie die gemeinen Worte, die ihr bereits auf der Zunge gelegen hatten hinunter, unfähig, ihn noch weiter zu verletzen.
„Und du hattest kein Glück mit Amy?" fragte Ziva stattdessen ungewöhnlich einfühlsam und verfolgte, wie ihr Gegenüber seinen Kopf schüttelte. Chris war froh, dass sie ihn anscheinend verstand und sie schien auch nicht mehr wütend auf ihn zu sein. „Nein, ich hatte kein Glück mit Amy. Ich war mit ihr fast vier Monate zusammen und dennoch habe ich gewusst, dass sie diejenige ist, mit der ich mein Leben verbringen wollte. Gott, war ich damals naiv." Er fuhr sich mit einer Hand über sein Gesicht und versuchte die Bilder zurückzudrängen, die sich dort seit Jahren festgesetzt hatten und ihn immer wieder heimsuchten.
„Was ist passiert?" wollte Ziva wissen, von sich selbst überrascht, dass sie unbedingt erfahren wollte, was damals passiert war.
„Sagen wir mal so, es ist etwas vorgefallen, worüber ich jetzt nicht sprechen und am besten nie wieder daran denken will. Jedenfalls hat es mir das Herz gebrochen. 15 Jahre sind seit dem vergangen und noch heute habe ich manchmal daran zu knabbern, aber ich kann mittlerweile besser damit umgehen." Die Agentin war ein wenig enttäuscht, da sie nicht die genaueren Umstände erfuhr, was damals geschehen war. Sie bemerkte ganz genau, dass er nicht bereit war, darüber zu reden, würden dadurch wahrscheinlich alte Wunden aufgerissen werden. Obwohl sie mehr als neugierig war, bohrte sie nicht nach, zumal es nichts bringen würde und ihre Foltermethoden, um alles aus ihm herauszubekommen, wollte sie nicht anwenden. Er sah ein wenig verloren aus, so wie er vor ihrem Tisch kniete und noch immer Schmerz in seinen Augen hatte.

„Was hat das alles mit dem gestrigen Kuss auf sich?" durchbrach Ziva schließlich das Schweigen und riss Chris damit aus seinen Gedanken über seine damalige Freundin. Er holte tief Luft und antwortete: „Du hast ihr gestern in dem Imbiss so verblüffend ähnlich gesehen. Die Farbe deiner Augen und die Strähne deines Haares, die dir auf die Wange gefallen war. Das hat mich alles urplötzlich an Amy erinnert und irgendwo in mir drinnen ist eine Sicherung durchgebrannt. Ich habe einfach nicht nachgedacht und habe dich schließlich geküsst." Die Wahrheit jedoch war, dass er gestern in diesem Augenblick gar nicht an Amy gedacht hatte. Chris hatte nur Ziva vor sich gesehen und er hatte sie küssen wollen und nicht Amy. Ihm war vollauf bewusst gewesen, wer da vor ihm saß und wer die Schmetterlinge in seinem Bauch ausgelöst hatte. Nicht das Mädchen vor 15 Jahren, sondern die junge Israelin, die er nur zwei Tage lang kannte, die sich aber bereits einen Weg in sein Herz erschlichen hatte. Sie hatte zwar eine kleine Ähnlichkeit mit Amy, aber das war der nicht Grund, weshalb er gerne in ihrer Nähe war und weshalb er sie geküsst hatte. Der Grund war, dass sie ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf ging und gerade dass war das Problem. Ziva wusste ja nicht, dass sie nicht mit Tony sprach, sondern dachte, dass dieser vor ihrem Schreibtisch kniete. Aber er brachte es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Er wusste, er würde sie damit verletzen, wenn sie herausfand wer er war und wenn sie erkannte, dass es nicht Anthony gewesen war, der sie geküsst hatte.

Ziva saß da und versuchte den Schmerz in ihrem Inneren zu ignorieren. Sie fühlte sich richtig mies und wünschte sich, sie hätte nicht wissen wollen, warum es gestern zwischen ihnen beiden so weit gekommen war. Ein Mädchen aus Tonys Teenagerzeit und ihre Ähnlichkeit mir ihr war also der Grund, weshalb er sie geküsst hatte und nicht etwa, weil er von der Israelin angetan gewesen war. Eigentlich hätte sie jetzt erleichtert sein müssen, aber genau das Gegenteil war der Fall. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich Hoffnungen gemacht hatte, dass zwischen ihnen mehr sein könnte als nur Freundschaft. Sie hatte doch die Spannung gefühlt, das Knistern, das gestern in dem Imbiss geherrscht hatte. Wie hatte sie sich nur so täuschen können?
Zivas Instinkt sagte ihr jedoch, dass noch mehr dahinter steckte. Wenn sie Tony so sehr an seine frühere Freundin erinnerte, weshalb reagierte er erst jetzt darauf? Sie arbeiteten immerhin seit fast einem Jahr zusammen und kein einziges Mal hatte er Andeutungen gemacht, dass er mehr wollte als Freundschaft. Wieso gestern? Hatte es vielleicht damit zu tun, dass er sich in den letzten beiden Tagen so anders benommen hatte? Was war nur los mit ihm? Aber damit würde sie sich später beschäftigen und das Großraumbüro war nicht der richtige Ort, um sich darüber Gedanken zu machen, schon gar nicht, wenn es kurz vor sieben war und es immer lauter zuging.

Chris' Knie schmerzten schon langsam, aber dennoch rührte er sich nicht vom Fleck. Ziva hatte seit seiner Erklärung kein Wort mehr gesagt und er wünschte sich, sie würde irgendeine Reaktion zeigen. Sogar eine saftige Ohrfeige wäre jetzt besser als dieses Schweigen. Weitere Sekunden verstrichen und schließlich legte sie unerwartet eine Hand auf seine, wodurch beide leicht zusammenzuckten. „Ich verstehe, Tony", sagte sie und ihre Stimme ließ nicht darauf schließen, dass sie es überhaupt nicht tat. „Am besten vergessen wir die ganze Sache."
Am liebsten hätte Chris geschrien, dass er das auf gar keinen Fall wollte, aber er hatte keine andere Wahl. Er wünschte sich, dass sie eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft hatten, aber alles was er ihr bis jetzt geboten hatte, waren Lügen und das war keine gute Ausgangsbasis für eine Beziehung.
„Danke, Ziva", erwiderte er schließlich und setzte wieder sein freundliches Lächeln auf, obwohl ihm gar nicht danach zu Mute war. Sie nickte, zog ihre Hand zurück und wünschte sich, er würde endlich aufstehen und mehr Platz zwischen ihnen schaffen, damit sie sich wieder ungestört auf ihre Arbeit konzentrieren konnte und nicht auf den jungen Italiener, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.
„Hast du etwas verloren, DiNozzo?" Gibbs' Stimme ließ beide herumfahren. Dieser stand vor der brusthohen Wand, die Zivas Tisch umgab, einen Becher Kaffee in der Hand und beide aus funkelnden Augen musterte. „Oder bist du neuerdings unter die Putzkolonne gegangen?" Chris stand so schnell auf, dass ihm für zwei Sekunden schwindelig wurde und er den Kopf leicht schütteln musste, bevor er wieder klar sehen konnte. „Ähm… Meine Kontaktlinse ist mir rausgefallen und…" „Du trägst doch gar keine Kontaktlinsen", erwiderte der Chefermittler ungerührt und trank einen großen Schluck des koffeinhaltigen Getränkes, das sein Lebenselixier war. Der Jüngere wand sich unter dem Blick, der ihm zu Teil wurde und verpasste sich innerlich selbst eine Kopfnuss, da ihm nichts Besseres als Kontaktlinsen eingefallen waren. Wo war nur seine Kreativität, was Ausreden betraf, geblieben?
„Mir ist die Akte runtergefallen. Tony war so nett, mir mit dem Zettelchaos zu helfen, das dadurch entstanden ist", meldete sich auf einmal Ziva. Obwohl sie gerne zusah, wie Gibbs ihren Kollegen zu Recht stutzte, so war es doch diesmal eine etwas heiklere Situation, weshalb sie sich entschieden hatte, in die Bresche zu springen und ihm zu helfen.
Chris nickte heftig, so als ob es für ihn nichts Neues war, was er da gehört hatte und als der Chefermittler nichts anderes machte, als erneut einen Schluck Kaffee zu trinken und dann wortlos zu seinem Schreibtisch zu gehen, atmete er erleichtert aus. Zufrieden mit sich, dass er die Situation mit Ziva geklärt hatte und Tony keine Probleme am Montag haben würde, ging er zu seinem Schreibtisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Eine Sekunde später formte er ein lautloses „Danke" in ihre Richtung, was sie mit einem kleinen Nicken zur Kenntnis nahm, um sich anschließend wieder ihrer Akte zu widmen.

Gibbs saß an seinem Schreibtisch und beobachtete seine beiden Kollegen ganz genau, so wie er es vor ein paar Minuten schon einmal getan hatte. Von wegen, Ziva war eine Akte hinunter gefallen, wobei diese Ausrede viel besser als die mit der Kontaktlinse gewesen war. So etwas konnte auch nur DiNozzo einfallen. Bei dieser Aussage hatte er jedoch ein Grinsen unterdrücken müssen, das sich einen Weg an die Oberfläche gebahnt hatte. Der Gesichtsausdruck, als der Jüngere realisiert hatte, was er da gerade von sich gegeben hatte, war einfach zu köstlich gewesen.
Als Jethro das Großraumbüro betreten hatte, hatte Tony bereits vor Zivas Schreibtisch gekniet und sich angeregt mit ihr unterhalten. Die beiden waren so vertieft gewesen, dass sie ihn nicht bemerkt hatten und als die junge Frau Tony ihre Hand auf seine gelegt hatte, hatte er sich gefragt, ob die beiden etwa seine Regel 12 gebrochen hatten. In der Berührung hatte eine Intimität gelegen, die unübersehbar gewesen war und er hatte die Spannung zwischen ihnen förmlich spüren können, obwohl er ein paar Meter abseits gestanden war. Irgendetwas ging da vor sich und während Gibbs seinen Kaffee langsam austrank, beschloss er, die beiden im Auge zu behalten. Und wenn sich wirklich herausstellen sollte, dass zwischen den beiden Agenten mehr war als Freundschaft, musste er sich etwas einfallen lassen. ‚Oder es einfach akzeptieren', fügte er in Gedanken hinzu und entsorgte den Becher mit einem gezielten Wurf im Mülleimer. Vielleicht war es an der Zeit, Regel Nummer 12 ein wenig zu lockern, auch wenn er aus Erfahrung wusste, dass eine Beziehung zwischen Kollegen nicht funktionieren konnte – man brauchte sich nur ihn und Jen ansehen. Aber wenn Liebe im Spiel war, würde seine Regel Tony und Ziva garantiert nicht aufhalten, zumal beide gerne die Vorschriften ignorierten. Am besten war, die ganze Situation einfach zu beobachten und vielleicht würde sich alles von selbst regeln – hoffte er zumindest.

Fortsetzung folgt...
Chapter 23 by Michi
Es war beinahe 12 Uhr mittags und Gibbs hatte Ziva und McGee vor einer halben Stunde losgeschickt, um Theodore Diggs und Harold Paulsen zu einem Verhör zu bringen, das hoffentlich die Wahrheit an Tageslicht bringen würde. Chris hatte die beiden Agenten beobachtet, wie sie zum Fahrstuhl gegangen war, Tim mit einem nicht gerade glücklichen Gesichtsausdruck bewaffnet, da die junge Frau die Wagenschlüssel an sich gebracht hatte. Beide hatten mit Hilfe von Schere-Stein-Papier ausgelost, wer fahren durfte und McGee hatte verloren, was er mit einer sauren Miene zur Kenntnis genommen hatte. Chris fragte sich, weshalb es ihm wohl so viel ausmachte, dass Ziva hinter dem Steuer saß. Sie konnte doch keinen schlechteren Fahrstil als Gibbs haben und der war jedes Mal unterwegs, so als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Wieso konnte der Chefermittler nicht ihn damit beauftragen, mit ihr mitzukommen? Wieso McGee? Nicht, dass er etwas gegen den jungen Mann hatte – in den letzten beiden Tagen war er ihm richtig ans Herz gewachsen – aber so könnte er wenigstens noch ein wenig in der Nähe der Israelin sein, bevor er Washington verließ. Aber vielleicht war es auch ganz gut, dass sie nicht zusammen in einem Auto saßen. Wer wusste schon, was dann passieren würde. Immerhin hatte er es erst vor kurzem geschafft, die Sache mit dem Kuss aus der Welt zu räumen, da wollte er nicht wieder etwas machen, das alles nur noch schlimmer werden ließ. Nach langem Überlegen fand er es mittlerweile besser, hier im Büro zu sitzen, unter der Aufsicht von Gibbs, dessen Blicke er hin und wieder auf sich spüren konnte, während der den dritten Kaffee innerhalb von wenigen Stunden trank. Nicht zum ersten Mal fragte sich Chris, wie es dieser Mann aushielt, so viel Koffein zu konsumieren, ohne einen Herzinfarkt zu bekommen. Den Chefermittler vermisste er jetzt schon, seine teilweise schlechte Laune, diese blauen Augen, die ihn förmlich röntgen, wenn er ihn ansah und die Verbissenheit, mit dem er den jetzigen Fall bearbeitete. Und dann war da noch die sensiblere Seite an ihm, die er gestern kennengelernt hatte, als sie beide ihm Fahrstuhl gewesen waren. Gibbs war seit langem der Erste gewesen, der sich Sorgen um ihn gemacht und ihm angeboten hatte, mit ihm über alles zu reden. Wenn dieser jemals die Wahrheit herausfinden sollte, dann hoffte er, dass er die Beweggründe des Jüngeren wenigstens zu verstehen versuchte und ihn nicht gleich durch sämtliche Bundesstaaten nachjagte, um ihn zu fassen. Aber darüber würde er sich erst Gedanken machen, wenn es wirklich so weit war und vorausgesetzt, sie schafften es, ihn zu finden, was, zugegeben, nicht leicht sein würde. Er würde es schon so einrichten, dass er von der Bildfläche verschwand und keine Spuren hinterließ, die darauf hindeuten würden, wo er sich aufhielt. Nicht einmal er selbst wusste, wo er hin wollte. Aber eines war ihm klar: in L.A. konnte und wollte er nicht bleiben. Nicht, nachdem Tony wusste, dass er dort die letzten Jahre verbracht hatte und diese Stadt würde sicher der erste Ort sein, wo sie nach ihm suchen würden.

Chris seufzte leise und fuhr sich mit einer Hand über seine Augen. Der Schlafmangel machte sich langsam bemerkbar und er sehnte sich nach ein paar Stunden Ruhe. So groß der Drang auch war, seinen Kopf einfach auf die Tischplatte zu legen, wusste er doch, dass ihm Gibbs wahrscheinlich ein paar Sekunden später einen saftigen Klaps verpassen würde, mit den Worten, dass er zu Hause schlafen konnte und nicht im Büro. Oh ja, die rüde Art dieses Mannes würde er garantiert vermissen.
Er unterdrückte ein Gähnen und öffnete eine der Schreibtischschubladen, um sich einen Schokoriegel herauszuholen, dessen Vorrat wieder aufgefüllt war, sogar mehr, als er vorher gewesen war. Da würde es nicht auffallen, wenn eine der Süßigkeiten fehlte. Außerdem brauchte er jetzt unbedingt etwas Zuckerhaltiges, um wieder klarer denken und sich anschließend wieder auf den Fall konzentrieren zu können. Die letzten Stunden hatte er damit verbracht, noch einmal alles Relevante über die beiden Verdächtigen durchzugehen, um sicher zu gehen, dass sie nichts übersehen hatten und nachher bei den Verhören keinen Fehler machten. Vor etwa 30 Minuten hatte er erneut mit der Mutter von Karen Paulsen telefoniert, um möglicherweise etwas Neues über den Hintergrund des Selbstmordes herauszufinden, aber die ältere Frau hatte nur einsilbige Antworten gegeben und ihm deutlich gemacht, dass sie nicht willens war, diese schmerzhafte Erinnerung wieder hervorzukramen. Sie hatte nicht einmal wissen wollen, weshalb sich der NCIS dafür interessierte und hatte einfach aufgelegt, ohne sich zu verabschieden, was Chris' Laune nicht gerade förderlich gewesen war. Aber egal wie wenig er von der Frau erfahren hatte, er würde sich die Chance, den Mörder hinter Gitter zu bringen, nicht nehmen lassen, weshalb er die Müdigkeit in einen hinteren Winkel seines Körpers verbannte, während er den Schokoriegel mit großen Bissen verschlang. Es ging doch nichts über etwas Süßes, damit sich die Stimmung wieder besserte und es schien wirklich gut zu funktionieren. Mit einem gezielten Wurf verbannte er die Verpackung in den Mülleimer, bevor er sich erneut den Akten der beiden Marines widmete. Allerdings blieb ihm nur Zeit, einen kurzen Blick auf das Bild von Theodore Diggs zu erhaschen, als ihn Gibbs' Stimme auffahren ließ und er sich unwillkürlich fragte, ob er etwas falsch gemacht hatte.

„Tony?" „Ja, Boss?" fragte Chris automatisch, hob seinen Kopf und sah zum dem älteren Mann, der ihn schon wieder von oben bis unten zu mustern schien und nicht zum ersten Mal überkam ihn der Gedanke, ob er vielleicht in seinem Gehirn wie in einem offenen Buch lesen konnte. Nun, vielleicht würde er ihn doch nicht so sehr vermissen, wie er vorher geglaubt hatte.
„Geh zu Abby hinunter und sieh nach, ob die Ergebnisse von der DNA Analyse vorliegen", befahl Jethro in bester Chefermittlermanier und konnte sich ein Grinsen nur knapp verkneifen, als der Jüngere sofort aufsprang, aber innehielt, bevor er zum Fahrstuhl ging. „Und was ist, wenn es noch kein Resultat gibt?" wollte Chris wissen und hoffte, nichts Falsches gesagt zu haben, da sich der andere unvermittelt vorbeugte und seine Augenbrauen hob. „Dann bleibst du solange unten, bis es ein Resultat gibt. Und wenn es noch länger als 30 Minuten dauern sollte, dann mach ihr ein wenig Feuer unterm Hintern. Ich will das Ergebnis haben, bevor Ziva und McGee mit den beiden Verdächtigen zurück sind."
„Alles klar", erwiderte Chris und hoffte, dass er nicht allzu lange im Labor bleiben musste. Von allen war Abby diejenige, die am meisten Verdacht geschöpft hatte, dass es nicht Tony war, der die letzten Tage an dem Platz im Büro gesessen hatte. Außerdem konnte er ihren Musikgeschmack nicht leiden, hatte er doch das letzte Mal Stunden gebraucht, um das eine Lied, das er am Dienstag gehört hatte, aus seinem Kopf zu bringen. Um Gibbs jedoch nicht zu verärgern, eilte er ohne ein weiteres Wort zum Fahrstuhl, der nicht lange auf sich warten ließ und ihn innerhalb von ein paar Sekunden in die Forensik hinunterbrachte. Wie bei seinem letzten Besuch konnte man bereits vom Gang aus die lauten Töne eines Songs hören, den man so im Radio nie spielen würde, außer es wäre ein Sender extra für Goths. Aber wofür gab es einen praktischen Stoppknopf an dieser Anlage, mit dem man den Krach abstellen konnte? Für Chris war es ein Rätsel, wie Abby so arbeiten konnte und vor allem, wie sie sich bei so einer Musik konzentrieren konnte. Komischerweise schien sie dadurch noch effizienter und kreativer zu sein. Bald würde er ja nicht mehr hier sein, um sich diese ganzen Songs anhören zu müssen, wobei er jedoch zugeben musste, dass er die Forensikerin wohl ein wenig vermissen würde, obwohl sie ihm gegenüber misstrauisch war. Einfach ihre gesamte Art brachte ihn sofort dazu, seine schlechte Laune zu vergessen und zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht – genauso wie jetzt. Er betrat das Labor, dessen Fenster von der lauten Musik zu vibrieren schienen und konnte nicht anders als zu grinsen. Abby lief wie ein Wirbelwind von einem Gerät zum anderen, wobei ihre Rattenschwänze lustig tanzten und sich ihr weißer Laborkittel aufbauschte. Heute trug sein eine lange schwarze Hose, die ihre Plateauschuhe fast zur Gänze verdeckte, und ein dazupassendes, ebenfalls schwarzes T-Shirt, auf dem er übliche große Totenkopf prangte. Ein Nietenhalsband vervollständigte ihr Outfit, das sie nicht wie eine Laborratte aussehen ließ, sondern eher, als ob sie zu einer wilden Party eingeladen worden wäre.

Wie auch schon beim ersten Mal, war sie derart in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihren Besuch nicht bemerkte, weshalb Chris einfach in den anderen Raum ging und entgegen seinem vorherigen Wunsch, die Musik nur herunterdrehte und nicht ausschaltete. So waren im Hintergrund noch die Instrumente zu hören, jedoch in einem erträglichen Maß und es war allemal besser als gänzliche Ruhe.
Abby, aufgeschreckt durch die plötzliche Stille, wirbelte herum und ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das dank des Make-ups blass wirkte und sich der dunkel geschminkte Mund davon abhob. „Hey, Tony", begrüßte sie den Neuankömmling und er befürchtete bereits, sie würde ihn erneut wie vorgestern stürmisch umarmen, aber diesmal verzichtete sie darauf. „Wie geht's, wie steht's?" fuhr sie fröhlich fort und eilte zu einem der zahlreichen Geräte, das einen langen Piepston von sich gegeben hatte. Ein paar Handgriffe später verstummte es wieder und summte leise vor sich hin.
„Alles bestens", antwortete Chris, als sie sich wieder zu ihm umdrehte und ihn erneut einer eingehenden Musterung unterzog, die noch intensiver war als die von Gibbs. Um nicht zu zeigen, wie unwohl er sich fühlte, setzte er ein entwaffnendes Grinsen auf, lehnte sich mit der Hüfte gegen einen der Tische und umfasste die Kante mit seinen Händen, so als ob er daran Halt suchen würde.

Abby hingegen schaffte es nicht, ruhig stehen zu bleiben, was wohl daran lag, dass sie heute bereits zwei große Becher CafPow getrunken hatte und sich das Koffein schon langsam auswirkte, wodurch sie etwas hibbelig war. Irgendwie fühlte sich ihr Körper an, als ob hunderte Ameisen darüber krabbeln würden, wodurch ihre Haut leicht kribbelte. Oder vielleicht waren es bereits Entzugserscheinungen, da sie seit einer knappen Stunde kein CafPow mehr zu sich genommen hatte. Hätte ihr Tony nicht eines mitnehmen können? Sie brauchte jetzt unbedingt etwas Zuckerhaltiges und so öffnete sie die Dose mit ihren Schleckern, die eine Totenkopfform hatten, und steckte sich einen in den Mund. Für einen kurzen Moment schloss sie genießerisch die Augen, während der süße Geschmack ihre Sinne überflutete und sie glücklich aufseufzen ließ. Aber es war nur ein leidiger Ersatz ihres CafPows. Es war an der Zeit, ihre heiligen Hallen zu verlassen und sich selbst eines zu besorgen, da anscheinend niemand daran dachte, dass sie Bedürfnisse hatte, die befriedigt werden mussten. Da hieß es wohl mal wieder: Selbst ist die Frau.
Mit der Zunge schob Abby gekonnt den Schlecker in ihre linke Mundhälfte, drehte sich wieder um und erneut fiel ihr Blick auf Tony, der an dem Tisch lehnte und sich leicht abwesend in dem Raum umsah. Sie hatte ihn seit Dienstag nicht mehr gesehen, aber sie hatte nicht vergessen, dass er anders gewesen war und auch jetzt ließ sie das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Zwar funkelten seine Augen wie eh und je und auf seinen Lippen lag das ihr allzu vertraute DiNozzolächeln, aber seine Haare waren weiterhin länger als sie es in Erinnerung gehabt hatte und die Bräune seiner Haut war ebenfalls nicht verblasst. Und erst jetzt fiel ihr auf, dass man so eine gesunde Farbe nicht von irgendeinem Sonnenstudio bekommen konnte, sondern nur von viel Zeit im Freien. Und dann war da der leicht ruhelose Blick, den er bereits vorgestern an den Tag gelegt hatte, aber er wirkte wenigstens nicht mehr ganz so bedrückt. Seine Körperhaltung war entspannt und eine Last schien von seinen Schulter genommen worden zu sein. Gibbs hatte ihr nicht erzählt, ob er mit seinem Agent gesprochen hatte und vielleicht sollte sie ihn danach fragen. Ihr silberhaariger Fuchs wusste sicher mehr, was mit Anthony in letzter Zeit los war, zumal ihr McGee erzählt hatte, er hätte ihn auf einmal Tim genannt. Zwar hatte er versucht, dies als Scherz abzutun, aber keiner der beiden hatte wirklich daran geglaubt. Selbst dem jungen Agenten war aufgefallen, dass mit dem Italiener etwas nicht in Ordnung war, aber genauso wie die anderen hatte er keine Ahnung gehabt, was nicht stimmen könnte. Abby hatte noch immer das Gefühl, dass ein anderer Mann vor ihr stand und nicht Tony, aber das war unmöglich, entschied sie eine Sekunde später. Es konnte ihn ja schließlich nicht doppelt geben, weshalb sie ihre Überlegungen auf den Entzug von ihrem Lieblingsgetränk schob. Aber hatte sie sich nicht schon immer auf ihren Instinkt verlassen können, auch wenn sie zuviel oder zu wenig CafPow intus hatte? Obwohl ihr Verstand ihr davon abriet, beschloss sie dennoch, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Es war immerhin leicht feststellbar ob es wirklich DiNozzo war, der sich in diesem Labor aufhielt und würde er ihre Fragen zu ihrer Zufriedenheit beantworten, musste sie wohl oder übel einsehen, dass sie sich zum ersten Mal geirrt hatte. Aber vorher wollte sie herausfinden, weshalb es Tony zu ihr verschlagen hatte, bevor sie anfing ihn auseinanderzunehmen.

Chris beobachtete belustigt, wie Abby ihre schlanken Finger in eine durchsichtige Dose voller Schlecker steckte, einen herausholte und ihn in ihrem Mund verschwinden ließ. Noch immer war es ihm ein Rätsel, wie so jemand Wissenschaftlerin sein konnte, wo sie doch eher auf eine Kostümparty gepasst hätte und nicht in ein Labor. Aber wie er aus Erfahrung wusste, konnte der äußere Schein trügen und die inneren Werte verschleiern. Die Forensikerin war eine der Menschen, die ihr Herz am richtigen Fleck hatte und man sich glücklich schätzen konnte, sie als Freundin zu haben.
Leicht abwesend ließ er seinen Blick durch den großen Raum schweifen und prägte sich jedes Detail ein, damit er alles immer in seinem Gedächtnis behielt und sich daran erinnern konnte, an welchem Ort er seit Jahren endlich wieder einmal so etwas zu Zugehörigkeit gespürt hatte. Sein Instinkt sagte ihm erneut, dass es nicht richtig war, dass er einfach so verschwand, dass er doch hier bleiben und für das einstehen sollte, was er getan hatte und vielleicht würde sich dann alles zum Guten wenden, aber wie sooft in den letzten Tagen ignorierte er seine innere Stimme und blieb bei seinem Plan, den er nicht mehr umändern würde.

„Was hat dich denn zu mir verschlagen?" riss Abby Chris aus seinen Grübeleien und erst jetzt bemerkte er, dass er aufgehört hatte, den Blick im Labor schweifen zu lassen und stattdessen zwei Skelettfiguren anstarrte, die vollkommen identisch waren und neben der großen Dose mit Schleckern standen. Sie waren aus irgendeinem weißen Material – wahrscheinlich Plastik – aufgebaut und grinsten ihn beinahe höhnisch an, jedenfalls kam es ihm so vor. Genauso wie Tony und er glichen sie sich bis ins letzte Detail und wenn sie Namen gehabt hätten, hätte man sie wohl trotzdem nicht auseinanderhalten können. Sie erinnerten ihn ein wenig an die Teddybären, die er und sein Bruder von ihrem Großvater geschenkt bekommen hatten als sie fünf Jahre alt gewesen waren. Diese hatten sich ebenfalls bis aufs Haar geglichen und Chris hatte das Stofftier überall hingeschleppt, auch wenn sein Vater immer behauptet hatte, so etwas gehöre sich für einen Jungen nicht. Und als er fast sieben gewesen war, hatte er seinen Bären während des Besuches auf einem Jahrmarkt verloren und war deswegen untröstlich gewesen. Tony, der sich mittlerweile mehr für irgendwelche Comicfiguren als für Teddys interessiert hatte, hatte ihm seinen geschenkt. Auf dieses Stofftier hatte er besonders Acht gegeben und als er älter geworden war, hatte er es in seinem Schrank aufgehoben. Falls niemand auf die Idee gekommen war, sein Zimmer auszuräumen, müsste der Bär noch immer links hinten hocken, um auf seinen Besitzer zu warten.

„Erde an Tony!" Abby wedelte mit ihrem Totenkopfschlecker vor seinen Augen herum und zog somit komplett die Aufmerksamkeit auf sich. Die Vergangenheit verschwand wieder in einen hinteren Teil seines Gehirnes und er konzentrierte sich auf die Gegenwart. „Entschuldige, ich war ein wenig in Gedanken", erwiderte er schließlich und schenkte der Goth ein, wie er hoffte, entwaffnendes Lächeln, das sie mit einem Nicken zur Kenntnis nahm. „Das war nicht zu übersehen. Also, was hat dich zu mir verschlagen?" wiederholte sie ihre vorherige Frage und lutschte erneut an der Süßigkeit. Für einen kurzen Moment wusste Chris selbst nicht, weshalb er in die Forensik gefahren war, bis ihm der Fall einfiel und Gibbs' Befehl, Abby Feuer unter dem Hintern zu machen, falls die Resultate der Analyse noch nicht vorliegen sollten.
„Der Boss schickt mich, damit ich nachsehe, wie weit du mit dem DNA Vergleich bist und ich soll dich ein wenig antreiben, wenn du noch keine Ergebnisse hast und dir ausrichten, dass du nur mehr eine halbe Stunde hast." Die Forensikerin legte ihren Kopf schief und musterte ihn eingehend, so als ob er Schuld sei, dass sie auf einmal unter Druck stand. „Man kann die Wissenschaft nicht hetzen", meinte sie schließlich streng mit einem erhobenen Zeigefinger und sah für einen Augenblick wie eine Lehrerin aus, der einem unverbesserlichen Schüler klarmachte, wie das Ein mal Eins funktionierte und der es auch nach der dritten Erklärung nicht verstanden hatte.
„Das habe ich Gibbsman bereits hundert Mal gesagt", fuhr sie fort und piekste Chris überraschend fest ihren Finger in seine Brust. „Ähm, ja", erwiderte dieser und rieb sich mit einer Hand über die leicht schmerzende Stelle. Auch wenn Abby nicht so aussah, so schien in ihrem schlanken Körper jede Menge Kraft zu stecken und er wollte lieber nie herausfinden, wozu sie noch fähig war, wenn ein einzelner Stupser mit ihrem Finger bereits weh tat. „Heißt das, du hast noch keine Ergebnisse?" Sie seufzte leise und schüttelte ihren Kopf. „Nein, habe ich nicht. Aber es dauert nicht mehr lange, also keine Bange. Es kann sich nur noch um Minuten handeln." ‚Hoffentlich', dachte er und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er das Resultat am liebsten jetzt schon hätte, immerhin war ihm in den letzten Tagen klar geworden, dass man Gibbs nicht warten lassen sollte, wenn einem etwas an der eigenen Gesundheit lag.

„Sag mal, Tony", meldete sich Abby nach ein paar Sekunden Schweigens wieder zu Wort und drehte den Schlecker, der bereits auf die Hälfte geschrumpft war, in ihrer rechten Hand. Sie hatte sich mit ihrer Hüfte gegen ihren Schreibtisch gelehnt, sodass sie sich jetzt direkt gegenüber standen, etwa zwei Meter Abstand zwischen ihnen, der Chris jedoch viel zu klein war. Sie hatte erneut einen Ausdruck in ihren großen Augen, den er nicht deuten konnte, der ihm aber überhaupt nicht gefiel. Obwohl ihre Stimme einen leichten Plauderton enthielt, war ihm sofort klar, dass das nur eine Finte war – und er sollte Recht behalten.
„Triffst du dich noch hin und wieder mit Doktor Brad Pitt?" fragte sie und setzte eine überzeugend neugierige Miene auf. Und da war er wieder: dieser Blick des Unverständnisses in seinen grünen Augen, den sie bereits vor zwei Tagen gesehen hatte. Sie bemerkte ganz genau, wie der junge Mann die Kante des Tisches fest umkrallte und seine Knöchel dabei weiß hervortraten. Seine gesamte Körperhaltung versteifte sich und er wirkte gespannt wie ein Bogen. Eine Sekunde später war der Spuk jedoch wieder vorbei. Das Lächeln, das sie so sehr an ihm mochte und das sein ganzes Gesicht aufhellte, war wieder da und er verschränkte seine Hände locker vor seiner Brust.
Chris hatte nicht verhindern können, dass er kurz sein Gleichgewicht verloren hatte. Die Frage nach einem gewissen Doktor Brad Pitt war wie aus der Pistole geschossen gekommen und er war sich nicht sicher, ob diese Person überhaupt existierte. Den einzigen Brad Pitt den er kannte, war der Schauspieler und nicht irgendein Arzt – aus welchem Fachgebiet auch immer. Oder war diese Namensgleichheit nur ein Zufall? Oder spielte Abby ein makaberes Spiel mit ihm, da sie ihm gegenüber weiterhin misstrauisch war? Er hätte es wissen müssen, dass sie weiterbohren würde, war sie doch Wissenschaftlerin, deren Aufgabe es war, Antworten auf Ungereimtheiten zu finden und Probleme zu lösen, auch wenn sie noch sie kompliziert waren. Es war definitiv eine gute Entscheidung, bald von hier zu verschwinden und Tony wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückzulassen. Wenn jemand herausfinden konnte, dass dieser nicht in diesem Labor war, sondern jemand anderes, dann war es die Forensikerin, die noch immer darauf wartete, dass er das Wort ergriff.

Chris löste seine Hände von dem Tisch und verschränkte sie locker vor seiner Brust, wobei er erneut das entwaffnende Lächeln aufsetzte. „Sollte ich?" stellte er schließlich eine Gegenfrage, von der er hoffte, dass es nicht die falsche Reaktion war. „Nun ja", erwiderte Abby langsam, lutschte kurz an ihrem Schlecker, bevor sie fortfuhr: „Immerhin war er der Arzt, der dich behandelt hat, als du dir die Lungenpest eingefangen hattest und laut Kate habt ihr euch hervorragend verstanden. Sie hat damals gemeint, ihr wärt richtig dicke Freunde geworden."
Chris konnte nichts gegen seine Augen machen, die sich unwillkürlich weiteten und zusätzlich verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Hatte er das eben richtig verstanden? Tony hatte die Lungenpest gehabt? Er hatte sich eine altertümliche Krankheit, die eigentlich als ausgestorben galt, einfangen und sie überlebt? Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass er im Geschichtsunterricht einmal gehört hatte, dass diese Form der Pest die Schlimmste sei und ganze Städte ausgerottet hatte und sein Bruder sollte es irgendwie geschafft haben, sich damit zu infizieren? Und Chris hatte davon nichts gewusst, hatte nicht gewusst, dass Anthony praktisch dem Tode von der Schippe gesprungen war. Schuldgefühle, dass er nicht bei ihm gewesen war, überkamen ihn und ließen einen großen Kloß in seinem Hals entstehen. War er wirklich so nahe daran gewesen, Tony zu verlieren? Aber gleich darauf fragte er sich, wie sich dieser mit der Lungenpest hatte anstecken können. Man holte sich diese Krankheit nicht mal eben wie eine Grippe. War das Ganze vielleicht doch eine Finte von Abby?
„Jetzt sag nicht, du erinnerst dich nicht mehr daran", sagte sie schließlich, als von ihm keine Reaktion kam, sah von dem geschockten Gesichtsausdruck ab. „Hast du denn wirklich dieses verrückte Miststück vergessen, die den Brief zum NCIS geschickt hat, mit einem Lippenstiftabdruck auf dem Umschlag und in dem jede Menge Pestbakterien enthalten gewesen waren? McGee macht sich heute noch hin und wieder Vorwürfe, dass er dir den Brief überhaupt ausgehändigt hatte. Und was ist mit Kate? Hast du etwa auch vergessen, dass sie die ganze Zeit bei dir geblieben ist, obwohl sie genau gewusst hatte, dass sie sich anstecken hätte können? Sie hat das Risiko auf sich genommen, nur um dir beizustehen, als du angefangen hast, dir die Seele aus dem Leib zu husten. Wir alle haben gedacht, du würdest sterben, Tony! Und du stehst da und siehst mich an, als ob es für dich das erste Mal wäre, dass du gehört hast, dass du die Pest hattest!"

Gegen ihre Angewohnheit war Abby immer lauter geworden, aber gleich darauf zuckte sie innerlich zusammen, als sie den verletzten Ausdruck in den grünen Augen bemerkte. War sie etwa zu weit gegangen? Hatte sie es übertrieben, in dem Bedürfnis herauszufinden, was mit ihrem Freund los war?
Chris war für ein paar Sekunden sprachlos, dass die junge Frau vor ihm tatsächlich angefangen hatte, ihn anzuschreien, aber es bewies ihm, dass es wohl keine Finte war, dass sein Bruder wirklich die Lungenpest gehabt hatte. Würde Abby sonst so reagieren? Gleich darauf kam ihm eine nächste Frage in den Sinn: wer war Kate? Als die Forensikerin den Namen erwähnt hatte, war für einen kurzen Moment Traurigkeit über ihr Gesicht gehuscht, die jedoch von der Wut abgelöst worden war.
„Es tut mir leid", sagte er schließlich leise und blickte betreten zu Boden. „Es ist nur so, dass es ein Abschnitt meines Leben war, an den ich nicht gerne erinnert werde und ihn deshalb am liebsten für immer vergessen würde." Die Lüge kam ihm glatt über die Lippen, aber es fühlte sich nicht richtig an. Es war das erste Mal seit langem, dass er sich beinahe dafür verachtete, nicht die Wahrheit zu sagen. Wie hatte er in den letzten Jahren ständig so unaufrichtig sein können, ohne sich schlecht zu fühlen? Was war nur mit ihm geschehen? Wo war seine Skrupellosigkeit geblieben? Und er hätte schwören können, dass der Schutzschild, den er um sich aufgebaut hatte, Risse bekommen hatte und davor stand, ganz einzustürzen. Wie hatte das nur passieren können?

Abby seufzte leise und beruhigte sich wieder. Der plötzliche Ernst in seiner Stimme ließ die Wut in ihr verpuffen und sie wusste, dass sie ein wenig zu weit gegangen war. Ihr Freund hatte Recht: es war eine Sache, an die wohl keiner gerne erinnert wurde, schon gar nicht sie, war doch kurz danach Kate erschossen worden. Das nannte sie pure Ironie des Schicksals. Da hatte sie das Glück, sich nicht mit den Pestbakterien zu infizieren, wurde aber bald darauf von einer Kugel aus dem Leben gerissen. Und da machte sie ihm Vorwürfe, dass er sich nicht daran erinnern wollte?
„Dir braucht nichts leid zu tun", meinte Abby, steckte sich den Schlecker in ihren Mund, kam auf Chris zu und umarmte ihn fest. „Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Verzeihst du mir?" Er konnte nicht anders, als zu lächeln. Die junge Goth war schon ein Phänomen. Diese Stimmungsschwankungen waren einmalig. „Aber sicher verzeihe ich dir", erwiderte er leise und drückte den schlanken Körper fest an sich, bis sie sich aus der Umarmung löste und einen Schritt zurücktrat.
„Hast du nicht Lust, mit mir Kate zu besuchen? Ich meine, es ist immerhin fast ein Jahr her, seit sie uns verlassen hat. Sie wird sich sicher freuen, uns zu sehen." Abby wusste selbst nicht, warum sie den Vorschlag gemacht hatte, aber irgendwie hatte sie auf einmal das Bedürfnis, zu ihrer Freundin zu gehen und ihr einen großen Strauß schwarzer Rosen mitzubringen. Sie vermisste sie immer noch schrecklich und wünschte sich, diesen einen verhängnisvollen Tag hätte es nie gegeben. Ihnen allen wäre dadurch jede Menge Schmerz erspart geblieben.
Chris wusste einfach nicht, was er sagen sollte, hatte er doch keine Ahnung, wer Kate war. So wie es sich anhörte, war sie ebenfalls eine Agentin gewesen, hatte den NCIS aber verlassen. Aber sie zu besuchen kam für ihn nicht in den Sinn, würde er doch heute Abend aus der Stadt verschwinden, von daher durchforstete er sein Gehirn nach einer passenden Ausrede, als ein eindringliches Piepsen die Stille durchbrach und beide zusammenzucken ließ. Die DNA Analyse hatte sich den passenden Augenblick ausgesucht, um ein Ergebnis auszuspucken und er war mehr als froh darüber. Abby hüpfte sofort zu ihrem Computer und tippte etwas in ihre Tastatur, nur um gleich darauf ihre Arme in die Luft zu strecken und drehte sich breit grinsend um.

„Ich bin die Beste!" rief sie, wobei sie beinahe den Schlecker verloren hatte, der noch immer in ihrem Mund steckte. Deshalb nahm sie ihn ganz schnell heraus und legte ihn auf den Tisch. Nachher hatte sie noch genügend Zeit, ihn in Ruhe zu genießen. „Oder besser gesagt: du bist der Beste, Tony! Du hattest Recht! Diggs ist der Mörder von Commander Emmerson! Seine DNA stimmt mit der auf dem Messer überein!" Das breite Grinsen übertrug sich auf Chris, der sofort vergaß, dass er vor ein paar Minuten ganz schön in Bedrängnis geraten war. Das Wissen, dass sein Instinkt doch noch funktionierte, verdrängte die letzten Momente aus seinem Gedächtnis und er war wieder ganz bei dem Fall.
„Das ist großartig. Jetzt können wir ihn festnageln. Vielen Dank, Abby", sagte er und nahm das Blatt Papier entgegen, das sie ihm reichte und auf dem das Ergebnis schwarz auf weiß gedruckt war. „Immer wieder gerne", erwiderte sie und sah zu, wie er aus ihrem Labor ging. Bevor er die Tür jedoch erreicht hatte, rief sie aus einem Impuls heraus: „Und vergiss nicht ein paar Pralinen zu besorgen! Kate wird sich garantiert darüber freuen!" Chris nickte abwesend, seine Augen huschten über die Zeilen auf dem Papier und er registrierte nicht einmal wirklich die Worte, die seine Ohren erreicht hatten. Für ihn zählte nur mehr, dass er dabei war, einen Mörder zu überführen und dass er Recht gehabt hatte, was seine Theorie über Diggs betraf. Jetzt mussten sie nur noch beweisen, dass sein Alibi getürkt war. Er eilte aus dem Labor, nicht wissend, dass er mit dem kurzen Nicken einen Stein ins Rollen gebracht hatte, der bald eine Lawine auslösen würde, die nicht mehr aufzuhalten sein würde.

Abby blickte ihm nach, unfähig zu glauben, was sich vor ein paar Sekunden abgespielt hatte. Noch immer sah sie das kurze Nicken, mit dem er zugestimmt hatte, für Kate Pralinen zu besorgen – für Kate, die seit einem Jahr tot war. Wie konnte er da einfach zustimmen, auch wenn er etwas abgelenkt gewesen war und die Ergebnisse gelesen hatte. Tony wusste doch genau, was mit Caitlin passiert war, war er doch damals auf dem Dach gewesen und hatte jede Menge Blut von ihr ins Gesicht bekommen, als die Kugel sie im Kopf getroffen hatte. War er wirklich nur so auf das Stück Papier in seinen Händen konzentriert gewesen und hatte nicht einmal mitbekommen, was sie gesagt hatte? Aber Abby hatte doch deutlich gerufen und sich damit versichert, dass man ihre Worte klar verstehen konnte. Sie hätte sogar einen Becher CafPow darauf verwettet, dass es eine Person, die in diesem Moment an dem Labor vorbeigegangen wäre, genauso mitbekommen hätte.
Was war nur mit Tony los, dass er anscheinend vergessen hatte, dass Kate tot war? Stirnrunzelnd und nicht wissend, was sie von allem halten sollte, drehte sie sich um, nahm ihren Schlecker und dabei fiel ihr Blick auf die beiden Skelette, die auf dem Regal über ihrem Schreibtisch standen. Die Figuren hatte sie im Internet erworben. Als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie sich gleich in sie verliebt und als sie sie endlich in den Händen gehalten hatte, hatte sie ihnen die Namen Robby und Bobby verpasst. Sie sahen vollkommen gleich aus, glichen sich wie ein Ei dem anderen und Abby hätte sie selbst nicht unterscheiden können, hätte sie nicht gewusst, dass Bobby der Linke war.
Ein paar Sekunden lang betrachtete sie die Figuren und dachte noch einmal über die letzten Tage nach. So weit sie wusste, benahm sich Tony seit Dienstag anders, hatte seit diesem Tag längere Haare und braunere Haut. Außerdem war da die Tatsache, dass er McGee Tim genannt hatte. Und Gibbs hatte ihr noch am selben Abend anvertraut, dass Anthony anscheinend keinen blassen Schimmer gehabt hatte, dass sein Boss ein Boot in seinem Keller baute. Und dann heute, der Blick des Unverständnisses, als sie die Lungenpest erwähnt hatte und sie den Eindruck gehabt hatte, er hatte keine Ahnung, wovon sie überhaupt sprach. Jetzt, wo sie länger darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass DiNozzo ständig ausweichende Antworten gegeben hatte, es aber immer so gedreht hatte, dass sie es ihm abgekauft hatte. Und Kate… Abby hatte das Gefühl, dass der Agent diesen Namen zum ersten Mal gehört hatte, obwohl sie zwei Jahre zusammengearbeitet hatten und durch dick und dünn gegangen waren. Wie kam es, dass er ihren Vorschlag, Pralinen für eine Verstorbene zu besorgen, mit einem Nicken quittiert hatte? Tony war wirklich nicht er selbst. Es schien fast so, als ob ein anderer Mann in seinem Körper steckte. Aber wie war das nur möglich? Wenn klonen möglich wäre, würde sie sofort…

Abby fiel der Schlecker aus den Fingern, als sich diese öffneten, unfähig, ihn weiter zu halten, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Die beiden identischen Skelette betrachtend, rutschte ein Puzzleteil nach dem anderen an seinen Platz und fügte sich zu einem gesamten Bild zusammen. „Nein, das ist nicht möglich", flüsterte sie, drehte sich um und starrte auf den Fleck, an dem Tony noch vor Minuten gestanden hatte. Zwar würde ihr Geistesblitz erklären, weshalb er auf einmal nicht mehr wusste, dass Gibbs ein Boot baute oder dass Kate tot war, aber dennoch hatte sie Zweifel. Seit sie Anthony kannte, hatte er nie sonderlich viel von seiner Familie erzählt und auch immer behauptet, er sei ein Einzelkind gewesen. Was wäre aber, wenn er doch Geschwister hatte, oder besser gesagt: einen Bruder? Was wäre, wenn es auf diesem Planeten einen Mann gab, der genauso wie ihr Freund aussah, der ihm genauso glich, wie sich die beiden Skelette glichen, die sie sich gekauft hatte? Konnte es wirklich möglich sein, dass…?
„Zwillinge", murmelte Abby immer wieder vor sich hin und obwohl sie wusste, dass ihre Theorie riesige Lücken aufwies, ließ sie dieser Gedanke nicht mehr los. Das laute Klopfen ihres Herzen übertönte sogar die Musik, die noch immer im Hintergrund lief, die sie aber schon lange nicht mehr wahrnahm. Zu sehr war sie damit beschäftigt, eine Logik in diese ganze Geschichte zu bringen. Was war aber, wenn sie sich irrte? Wenn sie einfach nur unter CafPow Entzug litt und zu viel in die Sache hineininterpretierte?
„Ich brauche einen Beweis", sagte sie und runzelte ihre Stirn, in dem Bemühen, diesen zu finden. Ein paar Sekunden später hellte sich ihre Miene auf und sie klatschte in ihre Hände. Es gab eine ganz einfach Methode, um zu beweisen, ob es wirklich Tony war, der soeben ihr Labor verlassen hatte und der nur wegen irgendetwas total durch den Wind war oder ob es tatsächlich einen Zwilling gab, von dessen Existenz sie nur nichts gewusst hatten.
Noch immer ganz betäubt von ihrer Erkenntnis, eilte Abby in den anderen Raum, holte ihr Fingerabdruckset und kehrte gleich darauf zu dem Tisch zurück, an dem vor kurzem der junge Mann gelehnt und dessen Oberfläche er mehr als einmal angegriffen hatte. Glichen sich eineiige Zwillinge wie ein Ei dem anderen, so gab es doch etwas, an dem man sie unterscheiden konnte: Fingerabdrücke - und diese würden die Wahrheit ans Licht bringen, davon war Abby fest überzeugt.

Fortsetzung folgt...
Chapter 24 by Michi
Etwas außerhalb von Washington
Zur selben Zeit


Die Sonne schien hell vom wolkenlosen Himmel und wärmte angenehm meine Haut. Ich hatte es mir auf der Terrasse in einem Liegestuhl bequem gemacht, ein Sandwich in der rechten Hand haltend und ein großes Glas Eistee auf dem kleinen, runden Tisch stehend, der sich neben mir befand. Vor mir erstreckte sich ein großer Garten, mit zahlreichen bunten Blumen und Bäumen, die jede Menge Schatten spendeten und deren Blätterwerk leise in dem sanften Wind rauschte. Vögel zwitscherten munter, was somit das einzige Geräusch war, die die sonstige Ruhe durchbrach. In dieser ländlichen Gegend war es herrlich friedlich. Es gab keine Abgase, keine Autos und vor allem keine Hektik, weshalb ich auch keine Probleme damit hatte, mich zu entspannen. Waren meine Nerven in den letzten beiden Tagen bis zum Zerreißen gespannt gewesen, so hatte sich dies nun geändert und ich saß relaxt in dem gemütlichen Liegestuhl, dessen Polsterung blau-weiß gestreift war und keinen einzigen Schmutzfleck aufwies, was mich überhaupt nicht wunderte. Das gesamte Haus, in dem Chris wohnte, war sauber und nicht einmal eine Staubschicht hatte sich auf den Möbeln abgelagert. Den gestrigen Abend hatte ich damit verbracht, mir die einzelnen Räume anzusehen und war öfters über den guten Geschmack, den mein Bruder hatte, überrascht. Die Zimmer waren allesamt mit einer teuren Einrichtung ausgestattet und er hatte an keinen Ecken und Enden gespart, weshalb ich mich mehr als einmal gefragt hatte, woher er das Geld hatte, um sich das alles leisten zu können. Zu gerne würde ich wissen, womit er sich seinen Lebensunterhalt verdient hatte, um sich hier in dieser Gegend ein kleines Paradies zu schaffen. Dagegen kam mir mein eigenes Haus wie eine Studentenbude vor.
Chris hatte in seinem Schlafzimmer mit dem großen Bett, dem hellen Parkettfußboden und den breiten Fenstern zusätzlich einen Flatscreen Fernseher, der mir das Wasser im Mund hatte zusammenlaufen lassen, als ich ihn entdeckt hatte. Das Bild war einfach der Wahnsinn und ich hatte sicher mehr als zwei Stunden auf der gemütlichen Matratze verbracht und mir die einzelnen Funktionen zu Gemüte geführt. Als dann auch noch Magnum über den Schirm geflimmert war, hatte ich nicht widerstehen können und ihn mir angesehen. Wäre ich nicht so versessen darauf, Chris zum Bleiben zu überreden, würde ich ihn glatt fragen, ob er mir den Fernseher schenken würde, aber vielleicht brauchte er ihn ja noch, wenn ich ihn so weit hatte, ich in Washington zu bleiben.
Gemeinsam mit einer Schüssel Popcorn, die ich in einem Vorratsschrank in der Küche gefunden und mit Hilfe der Mikrowelle gemacht hatte, hatte ich mir also meine Lieblingsserie reingezogen, ohne mir auch nur einmal einen Gedanken darüber zu machen, weshalb ich in diesem Haus war. Zu schön war das Gefühl gewesen, mich endlich wieder frei bewegen zu können.

Um kurz nach 23 Uhr hatte ich es mir nicht nehmen lassen, den Whirlpool im Bad auszuprobieren und dabei die vielen Sterne beobachtet, die man durch das Fenster hervorragend erkennen hatte können. Das weiche Licht der kleinen Lampen in der Decke, kombiniert mit den sandfarbenen Fliesen, mit denen der Raum ausgekleidet war, hatten eine beinahe romantische Atmosphäre verströmt – nur noch eine schöne Frau und eine Flasche Champagner hatten gefehlt, aber ich war schon damit zufrieden gewesen, nicht mehr in dem Keller eingesperrt zu sein.
Kurz bevor ich mich im Gästezimmer niedergelegt hatte, hatte ich noch einmal eine Runde durch das Haus gedreht und diesmal auch in die Garage gesehen, wo ich einen funkelnagelneuen schwarzen Chrysler gefunden hatte, dessen Schlüssel noch dazu auf einem kleinen Haken neben der Tür gehangen hatten. Erneut war die Versuchung, einfach abzuhauen, riesengroß geworden, aber ich hatte sie zurückgedrängt. Das Weite zu suchen war keine Option, zumal ich Chris geschworen hatte, brav an diesem Ort zu bleiben und ihm einen weiteren Tag zu gewähren. Das Gefühl, dass er plötzlich wieder Vertrauen in mich hatte, war einfach viel zu schön, um es zu missbrauchen, weshalb ich dem Wagen, bevor ich eine Dummheit begehen hatte können, den Rücken gekehrt hatte und war überraschend erschöpft ins Bett gefallen. Das Gästezimmer war genauso wie der Rest des Hauses freundlich eingerichtet und da es nicht Betonwände gewesen waren, die ich angestarrt hatte, sondern mit weißer Farbe verzierte Mauern – gepaart mit der herrlich kühlen Luft, die durch das offene Fenster geströmt war – hatten mich Morpheus Arme innerhalb von wenigen Minuten umschlungen und mich ins Reich der Träume gebracht, aus dem ich erst gegen neun Uhr morgens aufgewacht war, und dass, obwohl es Donnertag war. Um diese Zeit wäre ich normalerweise bereits im Büro gewesen und hätte Ziva geärgert, aber stattdessen hatte ich mir ein ausgiebiges Frühstück gegönnt – Chris hatte eine wirklich gut gefüllte Speisekammer – und hatte angefangen, mich nicht mehr länger als Gefangener zu fühlen, sondern wie jemand, der seinem Bruder einen Gefallen erwies. Die Umstände, die uns wieder zusammengeführt hatten, waren nicht gerade die Besten gewesen, aber mittlerweile war ich sogar ein wenig froh darüber. Wer wusste schon, ob ich ihn sonst jemals wiedergesehen hätte und hätte mich wohl mein Leben lang gefragt, ob er überhaupt noch lebte. Eigentlich hätte ich es ja wissen müssen, dass er wohlauf war, hatte er doch schon immer auf sich aufpassen können und dass würde auch in Zukunft der Fall sein, da war ich mir sicher. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, dass ich wieder ein Teil seines Lebens war und dass er mich nicht wieder zurückstoßen würde, so wie er es vor 15 Jahren gemacht hatte. Aber bis jetzt wusste ich nicht, wie ich ihn dazu bewegen konnte, hier zu bleiben, obwohl ich mir bereits seit etwa einer Stunde den Kopf darüber zerbrach.

Nachdenklich verschlang ich das Sandwich, welches ich mir vor kurzem zubereitet hatte und nahm mir schließlich ein paar Weintrauben, die Chris gestern mitgebracht hatte. Am Vormittag hatte ich mich überwinden können, erneut in den Keller hinunterzugehen, aber diesmal hatte ich den Raum mit anderen Augen gesehen, nicht mehr wie ein Gefängnis. Zwar waren die Betonmauern weiterhin bedrückend gewesen, aber sie hatten mich nicht mehr eingeengt. Nachdem ich die wichtigsten Sachen – die Nahrungsmittel, Kleidung und das Duschgel – nach oben gebracht hatte, hatte ich die Tür mit einem Fußtritt ins Schloss geworfen, in der Hoffnung, dieses Zimmer nie wieder betreten zu müssen, freiwillig oder unfreiwillig.
Zwei weitere Weintrauben wanderten in meinen Mund und während ich kaute, ließ ich meinen Blick über die Umgebung schweifen, über den großen Garten und die ausgedehnten Felder. Die Luft war warm und von den Düften des Frühlings erfüllt, genauso wie von Pollen, die wegen des Windes herumflogen, um sich später irgendwo niederzulassen. In Washington gab es nicht viele Plätze, an denen es so friedlich war, aber hier war es beinahe wie im Paradies. Vielleicht würde ich in Zukunft öfters hier herausfahren, um ein wenig Stress abzubauen. Faul herumliegen, sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen und nebenbei jede Menge Weintrauben zu futtern war ein guter Weg dafür, die Arbeit für ein paar Stunden zu vergessen. Morgen würde ich bereits wieder hinter meinem Schreibtisch sitzen, um mich wieder mit Ziva zu streiten, um McGee Bambino zu nennen und die teilweise schlechte Laune von Gibbs über mich ergehen zu lassen. Ich konnte mir bereits jetzt schon vorstellen, dass er nicht sehr erfreut sein würde, wenn er erfuhr, dass ich einen Zwillingsbruder hatte und der sich noch dazu in den letzten Tagen als ich ausgegeben hatte. Seit ich erfahren hatte, dass mich Chris heute gehen lassen würde, hatte ich beschlossen, meinen Kollegen von ihm zu erzählen und ihn nicht weiter zu verheimlichen. Weshalb ich das in den letzten Jahren gemacht hatte, konnte ich nicht sagen, aber mittlerweile bereute ich es, war er doch ein wichtiger Teil meines Lebens. Wie hatte ich jahrelang verschweigen können, dass es ihn gab? Aber diesen Fehler würde ich kein zweites Mal machen, zumal ich ein wenig auf Zivas Gesicht gespannt war, wenn sie erfuhr, dass nicht ich es gewesen war, der sie geküsst hatte. Weshalb Chris das getan hatte, hatte ich keine Ahnung, aber irgendwie fand ich es amüsant – noch dazu, weil er weiterhin am Leben war. Hatte es ihr vielleicht gefallen? Das würde sicher eine der ersten Fragen sein, die ich ihr stellen würde, wenn ich ihnen die Wahrheit anvertraut hatte. Und dann konnte ich nur hoffen, dass sie mir nicht den Hals umdrehte.
Weintraube für Weintraube verschwand in meinem Mund. Zufrieden seufzte ich und verfolgte die Flugbahn eines Vogels, bevor er aus meinem Blickfeld entflog, um sich irgendwo niederzulassen. Jetzt fehlte nur noch ein großer Pool mit erfrischendem Wasser und jemand, der mir einen Cocktail mixte, den ich durch einen bunten Strohhalm schlürfen konnte. Und zwei geschickte Frauenhände wären auch nicht schlecht, die mich massieren würden, so lange, bis ich wie Wachs wäre. Es wurde höchste Zeit, dass ich wieder einmal richtigen Urlaub machte, auf einer Insel mit türkisfarbenem Meer, weißem Strand, jede Menge Palmen und natürlich Bauchtänzerinnen, die einem den Abend versüßten.

Auf meinen Lippen breitete sich ein Grinsen aus und ich schloss die Augen, um das Bild festzuhalten. Gleich darauf schoss mir eine Idee durch den Kopf. Vielleicht würde Chris ja bleiben, wenn ich mit ihm einfach irgendwo hinfliegen würde, nur wir beide, um die vergangenen 15 Jahre aufzuholen. Dann hätten wir endlich Gelegenheit uns auszusprechen und die Vergangenheit zu bereinigen. Noch heute fragte ich mich hin und wieder, ob ich nicht anders hätte reagieren können, ob ich das Ganze nicht einfach hätte beenden können, obwohl ich doch die Anzeichen erkannt hatte. Irgendwie war ich an allem mit schuld, auch wenn sich Chris' Zorn gegen die falsche Person gerichtet hatte. Aber ich konnte ihn verstehen, dass er sich meinen Erklärungsversuch nicht anhören hatte wollen, nicht nachdem was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Wäre er nur zwei Sekunden später in mein Zimmer gestürmt, wäre alles anders gewesen, dann hätte er nie mitbekommen, wie…
„Denk nicht daran, denk nicht daran", murmelte ich vor mich hin, um zu verhindern, dass die Bilder von dem einen Maiabend in meinem Kopf aufstiegen, aber ich schaffte es nicht. Ich brachte es einfach nicht über mich, den unfassbaren Gesichtsausdruck meines Bruders – gepaart mit einer grenzenlosen Wut – zu verdrängen. „Du bist nicht besser als alle anderen! Wie konnte ich mich nur so in dir täuschen?!" Die Worte von damals hallten in meinen Ohren wider, genauso wenig hatte ich den Hass in seiner Stimme vergessen – einen Hass, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass er dazu fähig war. Ein großer Kloß bildete sich in meinem Hals, als alles wieder an die Oberfläche kam und ich erneut begann, alles noch einmal zu erleben. Die schwüle Luft, die Gerüche und das laute Zirpen der Grillen… alles hatte ich in Erinnerung und diese kam mit einer enormen Geschwindigkeit ans Tageslicht. Ich gab auf, dagegen anzukämpfen und überließ mich meiner Vergangenheit, tauchte in den Abend ein, der alles verändert und Chris und mich auseinandergerissen hatte, mit der Folge, dass ich ihn 15 Jahre lang nicht mehr gesehen hatte…

Die Luft in meinem Zimmer bewegte sich keinen Millimeter und schien mich förmlich zu erdrücken. Das große Fenster, welches auf den Garten hinausging, war weit geöffnet, in der Hoffnung, einen kleinen Luftzug einzufangen – aber das war ein Wunschdenken. Die Vorhänge hingen herunter und machten einen traurigen Eindruck, wo sie doch sonst immer im Wind flatterten, aber dieser hatte sich schon seit Tagen verabschiedet. Mittlerweile hatte ich das Gefühl, dass ich in den Tropen lebte und nicht in einem Vorort von Washington. Ich konnte mich nicht erinnern, dass es in einem Mai jemals so schwül gewesen war, würde das doch eher zum Juli oder August passen, aber nicht in den Frühling.
Der Duft von Moms Rosen hatte seinen Weg sogar in mein Zimmer gefunden und ich kam mir wie in einer Parfümerie vor. Mein Kopf brummte leicht und mir war ein wenig schwummrig zu Mute, aber ich schloss trotzdem nicht das Fenster, hatte ich doch die Befürchtung, so einen kleinen Windhauch zu verpassen, der mir ein wenig Linderung verschaffen konnte.
Es war kurz vor 21 Uhr, die Sonne war längst untergegangen und hatte zahlreiche Sterne und einen hellen Mond hinterlassen, dessen kühles Licht mich zu verhöhnen schien. Dort oben wäre es jetzt sicher um einiges kühler und angenehmer auszuhalten, sah man von der Tatsache ab, dass es keinen Sauerstoff im Weltall gab.

Gelangweilt saß ich an meinem Schreibtisch, der sich unter dem Fenster befand und der mit allen möglichen Sachen vollgekramt war, sodass ich aufpassen musste, um mit meinem Ellenbogen nicht irgendetwas zu Boden zu stoßen. Allerdings würde dies keinen Unterschied machen, da dieser ebenfalls mit diversen Gegenständen übersät war, weshalb man einen kleinen Hindernislauf hinter sich bringen musste, um bei dem Tisch anzugelangen. Zerknitterte Kleidung und Taschenbücher waren nur ein kleiner Teil davon, der wahllos herumlag und der sicher auch nicht in nächster Zeit weggeräumt werden würde. Das Bett war nicht gemacht, die Decke lag zerknüllt am Fußende und hing zur Hälfte auf den Boden hinunter, wo sie diese Nacht bestimmt komplett landen würde, da ich nicht vorhatte, sie zu benützen, nicht, wenn ich mir alleine schon beim Sitzen der Schweiß ausbrach.
Das einzige Licht kam von der Schreibtischlampe, tauchte mein Zimmer in eine dämmrige Atmosphäre, strahlte aber dafür das Buch vor meiner Nase hell an. Physik war eines der Fächer, das mich überhaupt nicht interessierte und würde ich nicht am Montag einen Test schreiben, hätte ich den dicken Wälzer bereits in einen Schrank verbannt, um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Eigentlich wollte ich heute Abend zu einer Party gehen, aber nach einem heftigen Streit mit meinem Vater hatte er mir wieder einmal Hausarrest aufgebrummt – wie sooft in letzter Zeit. Auch wenn es nur um eine harmlose Sache ging und die ihm nicht in den Kram passte, schickte er mich gleich auf mein Zimmer, mit dem Befehl, mich bis zum nächsten Tag nicht mehr blicken zu lassen und verhängte meistens eine einwöchige Ausgangssperre dazu – aber in die Schule musste ich trotzdem. Aber ich bekam keine Chance, mich mit meinen Freunden zu treffen, da mein Vater wusste, wann ich an welchem Tag aus hatte und somit erwartete er mich zu Hause, oder er ließ durch Lucille überprüfen, ob ich rechtzeitig erschienen war. Wenigstens tröstete sie mich immer mit einem Stück Kuchen und tätschelte mir liebevoll den Kopf, obwohl ich mittlerweile 17 Jahre alt war, aber sie war weiterhin die gute Seele des Hauses und kümmerte sich um alles. Dazu gehörten weiterhin Chris und ich, obwohl wir beide schon lange kein Kindermädchen mehr brauchten.

Diesmal war es bei dem Streit um die Collegeauswahl gegangen. Ich wollte unbedingt auf die Ohio State, mein Vater hingegen wollte mich nach Harvard schicken, wo ich ein langweiliges Wirtschaftsstudium beginnen sollte, um anschließend in seinem Unternehmen anfangen zu können. Ich wusste genau, dass ich irgendwann einmal die Leitung übernehmen sollte, aber mich interessierte das überhaupt nicht. Wirtschaft, langwierige Verhandlungen, Verträge und Zahlen gehörten nicht zu den Themen, die ich spannend fand. Viel lieber würde ich etwas mit Sport machen und es war gerade das, was meinem Dad gegen den Strich ging. Er meinte, ich sollte meinen Kopf einsetzen und nicht meine Muskeln. Aber ich hatte meinen Standpunkt vertreten und war von meinem Wunsch nicht abgewichen. Die Aussicht, dass ich nicht seine Firma übernehmen würde, hatte ihm die Zornesröte ins Gesicht getrieben und für einen kurzen Augenblick hatte ich die Befürchtung gehabt, er würde mich schlagen, aber stattdessen hatte er nur die Tür zu seinem Arbeitszimmer aufgerissen und mich buchstäblich hinausgeworfen, mit den Worten, dass ich zwei Wochen Hausarrest hatte, plus noch einmal zwei, wenn ich weiterhin so stur sei und mich seinem Wunsch, Wirtschaft zu studieren, nicht beugen würde. Von der Strafe war es der erste Tag, den ich zu Hause verbrachte und ich begann mich bereits zu langweilen. Die Aussicht, einen Monat die Villa nicht verlassen zu dürfen, war nicht gerade verlockend, aber ich war nicht bereit, nachzugeben. Was ich aus meiner Zukunft machte, war meine Entscheidung und nicht die meines Vaters, auch wenn es ihm gegen den Strich ging. Die Zeit, wo er mich herumscheuchen hatte können, war vorbei – ein weiterer Punkt, der ihm nicht gefiel und der ihn zornig machte. In seiner Nähe zu sein, war nicht gerade spaßig, vor allem, wenn er getrunken hatte, was in den letzten Wochen häufig vorgekommen war. Wenn er irgendwelche Probleme hatte, dann ertränkte er sie in Alkohol, anstatt sie mit jemandem zu bereden. Mich wunderte es nicht, dass meine Mutter die Zeit lieber auswärts verbrachte, als mit einem Ehemann, der zu tief ins Glas geschaut hatte.

Und heute würde er das sicher wieder getan haben, war doch ein Geschäftspartner zu Besuch und so weit ich es mitbekommen hatte, hatten sie sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen, um Glas um Glas Whiskey zu trinken. Es war also besser, ihm heute nicht mehr über den Weg zu laufen.
Gähnend blätterte ich eine weitere Seite um und kniff die Augen zusammen, als die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen und komisch herumtanzten. Aber dieses Kapitel musste ich noch unbedingt schaffen, auch wenn es mich überhaupt nicht interessierte. Wer hatte nur dieses langweilige Zeugs erfunden? Ich runzelte die Stirn und fuhr mir durch meine Haare, die von der Dusche, die ich mir vor einer viertel Stunde gegönnt hatte, noch immer feucht waren. In der Hoffnung, ein wenig Abkühlung zu finden, waren Boxershorts alles, was ich anhatte. Aber mein Körper war erneut von ein wenig Schweiß überzogen, weshalb ich mich ein wenig klebrig fühlte. Vielleicht sollte ich diese Nacht in der Dusche verbringen und jedes Mal, wenn mir danach war, das Wasser aufdrehen.

Erneut riss ich meinen Mund zu einem lauten Gähnen auf und ließ meinen Blick nach draußen schweifen. Das Zirpen der Grillen war das einzige Geräusch, das zu hören war und mir langsam aber sicher auf den Geist ging. Vielleicht sollte ich mich ein wenig mit Musik ablenken, schön laut, damit es die Geräusche der Insekten überdeckte. Zufrieden damit, dass ich für ein paar Sekunden dem Physikbuch entkommen würde, schlug ich es zu, markierte aber vorher die Seite damit, indem ich einfach ein Eck umbog. Ich wollte bereits aufstehen, um zur Anlage zu gehen, als die Klinke der Tür nach unten gedrückt wurde, diese langsam geöffnet wurde und Licht vom Flur hereinfiel, wodurch das Chaos, das in meinem Zimmer herrschte, noch weiter betont wurde. Als ich erkannte, wer der Besucher war, wünschte ich mir sofort, es gäbe eine Horde Heinzelmännchen, die alles blitzblank aufräumen würden. Aber auch nach ein paar Sekunden waren die Sachen weiterhin über den ganzen Raum verstreut und unwillkürlich schoss mir die Röte in meine Wangen, wobei ich aber der Hitze die Schuld gab und nicht der Tatsache, dass es mir ein wenig peinlich war, dass ich so ein Chaot war.
Amy schenkte mir ein breites Lächeln, als sie in mein Zimmer trat und betont leise die Tür wieder schloss. Passend zu dem Wetter war sie leicht bekleidet, was ich sofort registrierte. Der kurze schwarze Rock endete in der Mitte ihrer Oberschenkel und enthüllte mehr Haut als er verbarg. Das hellblaue, ärmellose Top lag eng an ihrem Körper und betonte vorteilhaft ihren Körper. Dazu passend hatte sie Sandalen mit hohen Absätzen an, weshalb sie gut 10 Zentimeter größer war. Ihre Lockenpracht hatte sie zu einem dicken Zopf gebunden, der ihr bis auf den Rücken reichte. Das dezente Make-up unterstrich ihre natürliche Schönheit noch mehr, anstatt sie zu verdecken. Mein Herz begann unwillkürlich schneller zu schlagen und ich konnte Chris mehr denn je verstehen, dass er diesem Mädchen verfallen war. Aber da sie mit ihm zusammen war, war sie für mich tabu und es würde auch weiter so bleiben, egal wie sehr sie mir gefiel.

Unwillkürlich fragte ich mich, was Amy hier wollte, war sie doch eigentlich mit meinem Bruder verabredet. Ich wusste, sie wollten zusammen in seinem Zimmer essen, um anschließend gemeinsam die Nacht zu verbringen – mit was auch immer. Was die beiden hinter der verschlossenen Tür machten, ging mich nichts an, außer Chris würde mir davon erzählen. Aber wo steckte er nur? Weshalb ließ er seine Freundin alleine? Und warum kam sie zu mir?
Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, schien jedes noch so kleine Detail aufzunehmen und nahm die Unordnung mit einer erhobenen Augenbraue zur Kenntnis. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was in ihr vorging, war doch Chris das genaue Gegenteil von mir, was die Ordnung betraf. Amy schürzte ihre Lippen, schüttelte leicht den Kopf und anschließend blieb ihr Blick auf mir hängen, um an meinem Körper entlangzufahren. Mit voller Wucht wurde mir deutlich, dass ich nur Boxershorts trug und das Lächeln, mit dem sie mich bedachte, ließ mich erschauern. Die Hitze schien weiter zuzunehmen, genauso wie die stickige Luft. Das Atmen fiel mir auf einmal unendlich schwer und ich fragte mich, ob ich wohl in nächster Zeit wegen Sauerstoffmangels in Ohnmacht fallen würde. Unfähig, mich zu rühren, beobachtete ich, wie sie auf mich zukam – mit einem aufreizenden Hüftschwung – und sich gegen die Kante meines Tisches lehnte. Der Duft ihres Parfüms stieg mir in die Nase und unwillkürlich sog ich ihn ein, bis er meine gesamten Sinne überflutete. Aber gleich darauf kam mir wieder in den Sinn, wer sie war und wessen Freundin sie war. Deshalb räusperte ich mich, um meinen Hals freizubekommen und sah von meiner sitzenden Position zu ihr auf.
„Was machst du hier?" wollte ich mit belegter Stimme wissen und schalt mich selbst einen Idioten, da die Frage ein wenig unfreundlich klang. Aber Amy schien das nicht zu stören, da sie mich weiterhin anlächelte, einen Bleistift in die Finger nahm und anfing, ihn hin und her zu drehen. „Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?" Ihre Stimme war wie das Plätschern eines Baches über Steine und ich wünschte mir, ich hätte einen Kübel eiskalten Wassers, den ich mir über den Kopf leeren konnte.
Auf ihre Frage wusste ich keine Antwort, weshalb ich einfach mit den Schultern zuckte und versuchte, nicht auf ihren Ausschnitt zu starren.

„Wo ist Chris?" waren die ersten Worte, die mir einfielen und die mir am Logischsten erschienen. „Unten. In der Küche. Er räumt das Geschirr weg", antwortete sie knapp und drehte den Bleistift schneller in ihren Fingern, sodass mir alleine beim Zusehen schwindelig wurde. Erneut musste ich mich räuspern. „Und da dachtest du dir, damit du nicht alleine bist, stattest du mir einen Besuch ab", stellte ich fest und widerstand dem Drang, nervös auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen. „Genau", erwiderte sie, legte den Stift endlich wieder auf den Tisch zurück, nur um gleich damit mit dem Zeigefinger über meinen Unterarm zu fahren. Es war eine federleichte Berührung, aber sie reichte aus, um mir erneut einen Schauer über den Rücken zu jagen. Amy schien genau zu wissen, was sie damit anrichtete, denn ihr Lächeln wurde breiter und enthüllte weiße Zähne.
„Weiß Chris, dass du hier bist?" fragte ich und zog meinen Arm zurück, da es nicht Recht war, was sie machte. Was sollte das überhaupt? Wollte sie mich etwa verführen oder was bezweckte sie sonst mit ihrer Aktion? „Nein", kam die simple Antwort und sie strich sich eine Strähne ihres Haares, die sich aus dem Zopf gelöst hatte, hinters Ohr und zuckte mit den Schultern, als ich meine Augen zusammenkniff. Verdammt, was ging hier vor sich? Wieso war sie wirklich hier? Langsam kam mir in den Sinn, dass Amy vielleicht doch nicht so harmlos war, wie sie einem Weis machte. Oder war das alles nur ein Spiel?

„Was machst du hier?" wiederholte ich die Frage von vorhin, da ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Sie verzog ihre Lippen und blickte mich beinahe tadelnd an, als sie den scharfen Tonfall in meiner Stimme mitbekam. „Ein wenig Spaß haben", erwiderte sie schließlich und streckte ihre Hand aus, um mich erneut zu berühren, diesmal am Oberarm. „Du bist so stark", fuhr sie leise fort und strich zart mit ihren Fingerspitzen über meine bloße Haut. „So viele Muskeln." In ihren Augen trat ein begehrliches Funkeln, aber dieses Mal schoss mir kein Schauer durch meinen Körper – genau das Gegenteil war der Fall, als mir klar wurde, was sie wirklich hier wollte. Ich fühlte mich, als hätte mich jemand in eine Badewanne voller Eiswasser getaucht und mir stellten sich sämtliche Härchen auf. Hatten sich Chris und ich so sehr von ihr täuschen lassen? Nach außen hin war sie das nette Mädchen von nebenan, der keiner Fliege etwas zu leide tun konnte, aber wenn man tiefer unter die Oberfläche sah, kam der wahre Charakter zum Vorschein und bei Amy schien dieser ziemlich verdorben zu sein. Auch wenn ich mir geschworen hatte, mich in diese Beziehung nicht einzumischen, so musste mein Bruder erfahren, wen er da an Land gezogen hatte, jemand, der nicht treu sein konnte.
Entschlossen packte ich ihr Handgelenk und stoppte sie somit in ihren Bewegungen, die bereits an meiner Brust angelangt waren. „Hör auf!" sagte ich ziemlich laut und nicht gerade nett, aber Nettigkeiten hatte ich auf einmal für sie nicht mehr übrig. Zu wissen, dass ich mich, und vor allem Chris, so von ihr in die Irre führen hatte lassen, ließ einen unglaublichen Zorn in mir aufsteigen. „Jetzt tu doch nicht so", meinte Amy keck und entriss mit einem Ruck ihr Gelenk aus meinem festen Griff. „Du willst es doch genauso wie ich." „Ich fasse es nicht", sagte ich, stand auf und brachte so viel Abstand zwischen uns beide, sodass sie mich nicht mehr berühren konnte. „Was für ein Spiel spielst du hier eigentlich?!" fuhr ich sie an, aber sie schien das nicht zu stören. „Glaubst du wirklich, ich werde da mitmachen und zusehen, wie du Chris das Herz brichst?! Verdammt, er liebt dich und du nutzt das anscheinend nur aus! Aber ich schwöre dir, er wird es erfahren!"
„Wieso bist du nur so wütend?" wollte sie wissen und war weiterhin die Ruhe in Person. „Chris wird es schon überleben. Jetzt zier dich doch nicht so. Du wirst sehen, wir werden jede Menge Spaß haben." „Den einzigen Spaß, den ich haben werde, ist das Vergnügen, dich aus meinem Zimmer zu werfen!" entgegnete ich mehr als ärgerlich, drehte mich um und ging zu meinem Schrank, um mir endlich etwas zum Anziehen herauszusuchen, auch wenn mir weiterhin ziemlich heiß war und das Wetter nicht kühler wurde. Aber ich würde sicher nicht weiterhin halbnackt vor Amy herumstehen, schien das doch ihre Fantasie nur noch mehr anzuregen.
„Du weißt, wo die Tür ist", sagte ich, als ich den Schrank aufmachte und mir das erst beste Hemd, das ich erreichen konnte, schnappte. Aber gleich darauf ließ ich es fallen, als ich warme Finger an meinem Rücken spürte. Amy bewegte sich trotz ihrer hohen Sandalen leise auf dem Teppichboden und ich war so damit beschäftigt gewesen, mir zu überlegen, wie ich Chris beibringen sollte, dass seine Freundin eine falsche Schlange war, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wie sie hinter mich getreten war. Mit einer ruckartigen Bewegung drehte ich mich um, um ihr endgültig die Meinung zu sagen, als sie mich mit überraschender Kraft gegen die Regalbretter des offenen Schranks drängte, die sich unangenehm in meine Wirbelsäule drückten. Ihr warmer Atem strich mir über mein Gesicht und die eine Sekunde, die ich brauchte, um zu realisieren, dass sie es geschafft hatte, mich praktisch zu überrumpeln, nutze sie aus, um sich auf die Zehenspitzen zu stellen, um ihren Mund auf meinen zu pressen. Bei der zarten Berührung erstarrte ich zur Salzsäule und für einen Moment konnte ich nur ihre weichen Lippen spüren, die fordernd auf meinen lagen. Ein wahrer Stromstoß schoss mir durch den Körper und meine Nackenhärchen stellten sich kerzengerade auf. Als ich jedoch ihre Zungenspitze fühlte, die sich einen Weg in meinen Mund suchte, kam ich abrupt wieder zur Besinnung und auf einmal wurde mir klar, was Amy da machte, was ich hier machte. Ohne weiter darüber nachzudenken, packte ich sie bei den Schultern und stieß sie von mir, sodass sie zwei Schritte zurücktaumelte.

Erleichtert darüber, die Situation wieder unter Kontrolle zu haben, atmete ich tief durch, nur um gleich darauf erkennen zu müssen, dass wir nicht alleine waren. Ein tiefer Kehllaut, den ich noch nie gehört hatte, richtete meine Aufmerksamkeit auf die Tür, die offenstand und in der Chris zu erkennen war, der mich mit geweiteten Augen ungläubig anblickte. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt und er hatte seine Hände zu Fäusten geballt, so hart, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Als ich realisierte, dass er mitbekommen hatte, wie Amy und ich uns geküsst hatten, hatte ich das Gefühl, der Boden wurde mir unter den Füßen weggezogen. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie es für ihn ausgesehen haben musste. Noch dazu war ich fast nackt und zu meinen Füßen lag das Hemd, welches ich fallen gelassen hatte.
„Chris", sagte ich, in dem Versuch, eine Erklärung abzugeben, aber dieses eine Wort schien ihn aus seiner Starre zu reißen und er schüttelte nur den Kopf. „Du Mistkerl!" schrie er mich an und ehe ich reagieren konnte, stürmte er auf mich zu und schlug mir seine rechte Faust so hart auf den Unterkiefer, dass ich für kurze Zeit bunte Sternchen vor meinen Augen aufblitzen sah. Der heftige Schmerz schien sich in meinem gesamten Körper auszubreiten und raubte mir für eine Sekunde den Atem. Dank der Regalbretter in meinem Rücken fiel ich nicht zu Boden und blieb somit aufrecht stehen. „Du bist nicht besser als alle anderen! Wie konnte ich mich nur so in dir täuschen?!" schrie er mich weiter an und ich konnte den Hass in seiner Stimme hören, der mir mehr wehtat als der Schlag, den er mir verpasst hatte.
Ich blinzelte ein paar Mal, bis ich wieder klar sehen konnte und widerstand dem Drang, mir über den Unterkiefer zu reiben. Stattdessen startete ich erneut einen Versuch, ihm alles zu erklären. „Hör mir zu. Es ist nicht so, wie…" „Spar dir deine fadenscheinigen Ausreden! Ich will nichts davon wissen! Es wäre doch nur eine weitere Lügen! Ihr seid doch alle gleich! Alle miteinander!" Tränen stiegen ihm in die Augen und ich wünschte beinahe, er würde mich erneut schlagen, würde seine Wut an mir auslassen, aber stattdessen drehte er sich einfach nur um und stürmte aus meinem Zimmer. Zurück blieben eine drückende Stille, Amy, die mich aus großen Augen anstarrte und die die Lawine ausgelöst hatte und meine Wenigkeit, dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, dass ich Chris an diesem Abend verloren hatte.
„Warte!" rief ich ihm hinterher, löste mich aus meiner Position, eilte ihm nach und ließ das Mädchen, das uns schließlich auseinandergetrieben hatte, alleine in meinem Zimmer zurück. „Lass es mich erklären!" Aber mein Bruder blieb nicht stehen, rannte den Gang entlang und reagierte nicht auf meine Versuche, ihm alles begreiflich zu machen. Bevor ich es verhindern konnte, erreichte er die Tür zu seinem Zimmer, riss sie auf und warf sie wieder ins Schloss, um sie kurz darauf zuzusperren. Ich hämmerte mit der Faust dagegen, wollte ihn dazu bringen, dass er mich einließ, aber vergebens. Es war das letzte Mal, dass ich Chris gesehen hatte, nicht wissend, dass es 15 Jahre dauern würde, bevor wir erneut aufeinandertreffen würden…


Mit einem Ruck riss ich meine Augen auf und musste ein paar Mal blinzeln, um mich an das helle Sonnenlicht zu gewöhnen. So als ob ich den harten Schlag noch immer spüren konnte, rieb ich mir über meinen Unterkiefer und versuchte die schmerzhaften Erinnerungen zurückzudrängen.
Damals hatte ich wirklich gedacht, es würde sich alles wieder einrenken und als mich Chris durch die Tür angeschrien hatte, ich solle ihn alleine lassen, hatte ich geglaubt, er bräuchte nur Zeit, um sich abzureagieren – und ich Narr hatte ihm diese geben wollen. Deshalb war ich nach ein paar Sekunden, die ich noch gezögert hatte, wieder in mein Zimmer gegangen, nur um festzustellen, dass Amy, die die Ursache für alles gewesen war, bereits verschwunden war. Vielleicht war es auch besser so gewesen, wer wusste schon, ob ich nicht zum ersten Mal gegenüber einem Mädchen handgreiflich geworden wäre. Obwohl mir klar gewesen war, dass sie den Stein ins Rollen gebracht hatte, hatte ich mir doch immer wieder die Schuld an der ganzen Misere gegeben. Ständig hatte ich mir die Frage gestellt, ob ich nicht anders reagieren hätte können, ob ich nicht die Zeichen vorher sehen hätte können. Wieso hatte ich ihr auch den Rücken zugekehrt? Wieso hatte ich zugelassen, dass sie mich küsste? Ein paar Sekunden nur, aber diese haben ausgereicht, um alles kaputt zu machen. Ich hätte nie gedacht, dass Chris und mich jemals ein Mädchen entzweien hätte können, aber es war schließlich eingetreten. Amy Parker hatte es geschafft und war schuld daran, dass ich 15 Jahre im Ungewissen verbracht hatte, was mit meinem Bruder war, wo er steckte und ob er überhaupt noch lebte.
Als ich am nächsten Morgen bemerkt hatte, dass er nicht mehr in seinem Zimmer war und ein paar seiner Sachen fehlten, wollte ich das Offensichtliche nicht akzeptieren. Ich hatte die gesamte Villa nach ihm abgesucht, hatte aber feststellen müssen, dass er verschwunden war. Erneut verspürte ich die Schuldgefühle von damals, als ich mich für alles verantwortlich gemacht hatte und die Hilflosigkeit, als ich erkannt hatte, dass er abgehauen war.
Und jetzt, 15 Jahre später, war er erneut aufgetaucht, noch immer von seinem Hass getrieben und unfähig, sich die Wahrheit anhören zu wollen. Aber irgendetwas hatte es dennoch geschafft, zu ihm durchzudringen und ihn so weit zu bringen, dass er eingesehen hatte, dass es nicht richtig war, dass er mich einfach einsperrte. Was es auch immer war, ich war dankbar dafür, war es doch ein Zeichen dafür, dass es den alten Chris noch immer gab und dass er langsam anfing, mir zu verzeihen. Der gestrige Abend hatte mehr als deutlich gezeigt, dass von dem Hass mir gegenüber nicht viel übrig geblieben war, aber dennoch war er nicht willens, sich alles erklären zu lassen. Ich wollte die Chance aber bekommen, war es doch dadurch möglich, dass er vielleicht in Washington blieb und wir wieder zueinander finden könnten. Ich würde nicht zulassen, dass er erneut abhauen würde, um ihn eventuell nie wieder zu sehen. So leicht würde ich ihn nicht gehen lassen. Ich würde den Fehler, ihn in Ruhe zu lassen, nicht erneut machen. Diesmal würde ich unerbittlich bleiben und so lange auf ihn einhämmern, bis er endlich dazu bereit war, sich die Wahrheit anzuhören, bis er endlich anfing, alles logisch zu durchdenken und sich nicht mehr von seinen Gefühlen leiten ließ.
„So einfach werde ich dich nicht gehen lassen", murmelte ich und beobachtete einen Vogel, der hoch am Himmel seine Kreise zog. „Ich werde nicht zulassen, dass du einfach wieder abhaust und dich nicht den Problemen stellst." Ein zweites Mal würde ich ihn nicht in Ruhe lassen, wollte ich doch meinen Bruder zurück haben, egal was ich dafür machen musste. Aber nur Gott alleine wusste, wie ich das anstellen sollte, denn ich hatte nach wie vor keine Ahnung.
Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass es in ein paar Stunden wirklich zu dem langersehnten Gespräch kommen würde, aber in einer Situation, mit der ich nie gerechnet hätte.

Fortsetzung folgt...
Chapter 25 by Michi
NCIS Hauptquartier
Kurz vor 13 Uhr


Chris saß im Verhörraum, den Rücken zu dem Einwegspiegel, während sich ihm gegenüber Harold Paulsen befand. Obwohl er die ganze Zeit auf die Akte des jungen Mannes starrte und vorgab, die Informationen zu lesen, die auf dem Papier abgedruckt waren, behielt der ihn ständig im Auge. Es war unübersehbar, dass der Petty Officer nervös war. Seine Hände hatte er ineinander verschränkt und sie auf den Tisch gelegt, wobei er seine Finger unablässig bewegte. Mit dem rechten Fuß klopfte er auf dem Boden herum, sodass das leise Geräusch in dem Raum wunderbar zu hören war. Auf seiner Stirn hatten sich große Schweißtropfen gebildet, die ihm langsam seitlich übers Gesicht liefen und ihn aussehen ließen, als ob er frisch aus der Dusche kam, wobei er dann sicher angenehmer gerochen hätte. Obwohl Harold sich bemühte, seinen Atem gleichmäßig gehen zu lassen, gelang ihm das nicht einmal annähernd. Zusätzlich begann er auf dem Stuhl hin und her zu rutschen, während sein Blick in regelmäßigen Abständen zu der Tür schweifte, hinter der die Freiheit lag und nach der er sich sichtlich sehnte.

Chris konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. Er wusste genau, dass dem Mann klar war, weshalb er hier war und nicht mit ihm zu reden war seine Taktik, um den anderen zu zermürben. Die Aufregung, die ihn ergriffen hatte, als ihm Gibbs befohlen hatte, Paulsen zu verhören, war von ihm gewichen und hatte einer Ruhe Platz gemacht, die ihm selbst ein wenig unheimlich war. Eigentlich hätte er nervös sein sollen, durfte er doch dieses Verhör nicht versauen, wollten sie beweisen, dass das Alibi getürkt war. Theodore Diggs wartete in einem anderen Raum darauf, auseinandergenommen zu werden, aber das würde erst geschehen, nachdem zweifelsfrei festgestellt worden war, dass sein Freund gelogen hatte. Und so wie es momentan aussah, würde das nicht allzu lange dauern, machte Harold doch den Eindruck, gleich zusammenzubrechen. Mit dem Ärmel seines Hemdes fuhr er sich über die Stirn, um sich den Schweiß wegzuwischen, nur um gleich darauf seine Finger wieder miteinander zu verschränken. Seine Kiefer waren fest zusammengepresst und er erweckte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen – blass genug war er immerhin.

Chris blätterte ungerührt eine weitere Seite der Akte um, wobei er absichtlich mit dem Papier raschelte, sodass sein Gegenüber leicht zusammenzuckte. Er spürte förmlich die Blicke der anderen Agenten, die auf seinem Rücken gehaftet waren und er konnte sich lebhaft vorstellen, dass Gibbs ungeduldig seinen Kaffee trank, während er wartete, dass das Verhör endlich begann. Aber der Chefermittler war jetzt nicht am Zug, hatte er doch den Jüngeren damit beauftragt, den Petty Officer der Lüge zu überführen und so musste er sich wohl oder übel gedulden, auch wenn es ihm mehr als schwer fiel. Neben ihm in dem Raum standen Ziva und McGee, die vor gut 25 Minuten mit den beiden Verdächtigen zurückgekommen waren. Sowohl die Marines als auch Tim waren ein wenig blass um die Nase gewesen – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Agentin auch auf der Rückfahrt hinter dem Steuer gesessen war. Und jetzt warteten alle darauf, dass das Verhör endlich begann, aber stattdessen herrschte weiterhin nur Schweigen.

Nach weiteren zwei Minuten schlug Chris geräuschvoll die Akte zu, schob sie an den Rand des Tisches und stand auf, um zu dem Wasserspender in der Ecke zu gehen. So als ob er alle Zeit der Welt hätte, nahm er sich einen Becher, füllte ihn und kam zu dem Tisch zurück, um sich erneut auf den etwas unbequemen Stuhl niederzulassen. Langsam trank er einen Schluck und ließ dabei sein Gegenüber nicht aus den Augen, der wie gebannt die Flüssigkeit anstarrte und sich dabei unbewusst über die Lippen leckte.
„Wollen Sie auch etwas?" fragte Chris, als er den Becher abgestellt hatte. Gemütlich lehnte er sich zurück und fing an, mit dem Stuhl vor und zurückzuschaukeln, immer darauf bedacht, nicht nach hinten zu fallen und sich damit eventuell das Genick zu brechen. „Was?" Harold blinzelte irritiert und schien nicht wirklich mitbekommen zu haben, dass die Stille endlich durchbrochen worden war. „Ich habe gefragt, ob Sie auch etwas zu trinken wollen", wiederholte Chris geduldig und setzte einen freundlichen Gesichtsausdruck auf. Ein wenig Smalltalk und der andere würde sicher ein wenig auftauen, oder aber nur noch nervöser werden – die zweite Variante gewann gleich darauf eindeutig die Oberhand.
„Ähm… nein danke", erwiderte er schließlich, wobei seine Stimme merklich zitterte. Neue Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, die er unwirsch mit seinem Hemdsärmel entfernte. „Sind Sie sicher?" bohrte Chris nach, ließ sich mit dem Stuhl so weit wie möglich nach hinten und bevor er umkippen konnte, verlagerte er gekonnt das Gewicht, sodass er wieder nach vorne schaukelte. Hin und her – im Rhythmus des klopfenden Fußes des Marines. „Sie machen den Eindruck, als ob Sie durstig wären. Aber wenn Sie nichts wollen…" Er hob kurz seine Arme in die Luft und deutete ein Schulterzucken an, „… Ihre Entscheidung." Paulsen schien fieberhaft zu überlegen, ob er das Angebot annehmen sollte, schüttelte aber schließlich den Kopf.

Chris beobachtete ihn weiter und wunderte sich, dass die selbstsichere Art des Mannes verschwunden war. Als er ihn wegen des Alibis angerufen hatte, war er leicht überheblich gewesen und seine Stimme hatte ihm den Eindruck vermittelt, dass er glaubte, niemand könnte ihm das Wasser reichen. Aber davon war jetzt nichts mehr übrig geblieben. Vor ihm saß ein Mensch, der wusste, dass er in die Ecke getrieben worden war und der verzweifelt nach einem Ausweg suchte. „Weshalb bin ich hier?" fragte Harold, der diese Stille nicht mehr aushielt. Es machte ihn fast verrückt, dass der andere mit dem Stuhl schaukelte, ohne auch nur ansatzweise das Gleichgewicht zu verlieren. Und dann war da noch die entspannte Körperhaltung, die ihm signalisieren sollte, dass alles in Ordnung war – was aber definitiv nicht der Fall war, dass wusste er und der Braunhaarige wusste dies ebenfalls.
Der Petty Officer betrachtete sich in dem Einwegspiegel und wünschte sich, er würde nicht so fertig aussehen. Seine Haut war blass und von Schweiß überzogen. Die kurzen blonden Haare hatten ihre Form verloren und standen in alle Richtungen ab, so als ob er in einen starken Stromkreis geraten wäre. In den braunen Augen konnte er die Panik erkennen, die er in seinem Inneren fühlte und die ihm verriet, dass er mächtig in Schwierigkeiten steckte. Warum war er auch sonst hier?
„Können Sie sich das nicht vorstellen?" stellte Chris eine Gegenfrage und ließ den Stuhl mit einem lauten Krachen in seine Ausgangsposition zurückkehren. Äußerlich war er weiterhin entspannt, aber innerlich kehrte erneut die Aufregung zurück. Es war an der Zeit, mit den Spielchen aufzuhören und den anderen so weit in die Ecke zu treiben, bis ihn nur mehr die Wahrheit vorwärts bringen würde. Gemächlich zog er eine zweite Akte zu sich heran, in der die Tatortfotos enthalten waren und eine wunderbare Großaufnahme des Messers, das dem Commander ins Herz gerammt worden war und das den beiden schließlich zum Verhängnis werden würde.
„Ich… weiß nicht", antwortete Harold zögernd und schluckte hart. Sein Gegenüber machte ihn mit seiner ruhigen Art nur noch nervöser und er konnte rein gar nichts dagegen unternehmen. „Nun, dann will ich Ihrem Gedächtnis einmal auf die Sprünge helfen", meinte Chris freundlich und tippte mit einem Finger auf die Akte vor ihm, schlug sie aber weiterhin nicht auf. „Sie haben behauptet, zu der Zeit, als Commander Emmerson ermordet wurde, bei Ihrem Freund, Theodore Diggs gewesen zu sein. Das war Dienstagmorgen." „Das ist richtig", erwiderte Paulsen hastig und unterstrich seine Worte mit einem heftigen Nicken. „Und Sie sind sich sicher, dass Sie an Ihrer Aussage nichts ändern wollen?" fragte Chris und beugte sich ein wenig nach vorne, um den anderen mit seinen Augen zu fixieren. „Absolut", antwortete dieser und erneut kam das heftige Nicken zum Einsatz. „Sie wissen aber schon, dass das Beschaffen eines falschen Alibis eine Straftat ist, oder?" „Was? Nein… ich meine ja. Aber ich habe nicht… Was wollen Sie damit andeuten?" Harold fing zu stottern an und die Panik in seiner Stimme war unüberhörbar.

„Ich will damit andeuten…", fing Chris langsam an, schlug die Akte auf, holte das erste Bild hervor - eine Nahaufnahme des zertrümmerten Schädels des Commanders – und legte es vor Harold auf den Tisch, sodass er es wunderbar ansehen konnte. Seine ohnehin blasse Gesichtsfarbe wurde noch weißer und er schluckte schwer. Seine Augen weiteten sich und er hatte sichtlich Mühe, nicht den Blick abzuwenden. „… dass Sie Ihrem Freund ein Alibi beschafft haben…" Bild Nummer zwei gesellte sich zu dem Ersten – es zeigte eine Ganzkörperaufnahme des Toten, inklusive des vielen Blutes. „…dieser aber in Wirklichkeit am Dienstagmorgen den Commander umgebracht hat…" Das Foto eines Baseballschlägers, auf dem das eingetrocknete Blut zu erkennen war, wurde neben die anderen Bilder gelegt. „...um ihm anschließend ein Messer ins Herz zu rammen und die Einrichtung des Wohnzimmers zu zerstören." Bild Nummer vier zeigte den scharfen Gegenstand, dessen Klinge rot glänzte. Harold starrte die Fotos an und mahlte sichtbar mit seinem Unterkiefer. Sein Atem ging in keuchenden Stößen und er ballte seine Hände zu Fäusten, um sie gleich darauf wieder zu öffnen.
„Ich… das muss eine Verwechslung sein. Theo würde nie… ich meine… Sie haben keinen einzigen Beweis dafür!" schrie er auf einmal los und knallte seine Faust auf den Tisch. Chris ließ sich von dem Wutausbruch nicht aus dem Konzept bringen, sondern holte das Blatt Papier hervor, das ihm Abby vorher überreicht hatte und das bestätigte, dass das Blut auf dem Messer mit der DNA von Diggs übereinstimmte.
„Da muss ich Sie leider enttäuschen. Wir haben einen Beweis", sagte er ruhig, aber nachdrücklich und zeigte seinem Gegenüber das Ergebnis der Analyse. „Es wurde nicht nur Blut des Commanders auf der Klinge gefunden, sondern auch noch Fremdes. Und drei Mal dürfen Sie raten, von wem es stammt." Harold starrte den Zettel vor seiner Nase an und die gesamte Spannung schien aus seinem Körper zu weichen. „Oh Gott", keuchte er und blickte auf seine zitternden Hände. Es war mehr als offensichtlich, dass er nicht gewusst hatte, wie schlimm die ganze Tat war und noch weniger Ahnung hatte er davon gehabt, dass sich Diggs an dem Messer geschnitten und sich damit sein eigenes Grab geschaufelt hatte.

„Wollen Sie jetzt Ihre Aussage bezüglich des Alibis ändern?" fragte Chris weiterhin freundlich, auch wenn er am liebsten freudig aufgesprungen wäre, da sie endlich den erhofften Durchbruch geschafft hatten, aber er blieb sitzen und wartete darauf, dass der andere das Wort ergriff.
„Es war Theos Idee", sagte Paulsen schließlich und Tränen traten ihm in die Augen. „Es war seine Idee! Und ich habe da mitgemacht! Ja, ich habe ihm das Alibi verschafft, weil ich genauso wollte, dass dieser Schweinehund stirbt! Es war alles seine Schuld! Alles!" Die Tränen rannen ihm jetzt ungehindert über die Wangen und er vergrub sein Gesicht in seine Hände. Schluchzer ließen seinen muskulösen Körper erbeben. „Was war wessen Schuld?" fragte Chris, der spürte, dass er den Mann verlor und bald nichts mehr erfahren würde. Harold jedoch wiegte sich nur vor und zurück und schien in seiner eigenen Welt gefangen zu sein. „Was war wessen Schuld, Petty Officer? Sagen Sie es mir." Er bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, was ihm angesichts des weinenden Mannes nicht gerade leicht fiel. Dieser hob nach ein paar Sekunden den Kopf und starrte ihn mit verquollenen Augen an, in denen Schmerz und Trauer lagen. „Er ist schuld daran, dass sie sich umgebracht hat! Commander Emmerson hat meine Schwester in den Tod getrieben!" Paulsen brach nun endgültig zusammen. Er legte seine Arme auf den Tisch und vergrub seinen Kopf darin. Es war offensichtlich, dass er am Ende seiner Kraft war und schien nichts mehr wahrzunehmen, außer der Trauer, die er jahrelang in sich hineingefressen hatte.
Chris sammelte leise die Fotos und das Ergebnis der DNA Analyse ein, schnappte sich die Akten und stand auf. In diesem Moment verspürte er sogar ein wenig Mitleid mit dem Mann, der völlig gebrochen auf dem Stuhl saß. Was auch immer seine Schwester dazu bewogen hatte, sich das Leben zu nehmen und auch wenn Emmerson die Schuld daran hatte, dies rechtfertigte noch lange keinen Mord – damit hatten sich die beiden Marines nur selbst ihre Zukunft zerstört. Mit einem letzten Blick auf den Petty Officer öffnete er die Tür und verließ den Verhörraum.

Gibbs eilte den Gang entlang, in dem die Verhörräume untergebracht waren, in einer Hand einen frischen Becher Kaffee haltend, in der anderen die Akten, die ihm Tony vor ein paar Minuten überreicht hatte. Dieser war sichtlich zufrieden mit sich, dass er Harold Paulsen so schnell dazu bewogen hatte, zuzugeben, dass das Alibi getürkt gewesen war und nicht einmal annähernd der Wahrheit entsprach. Wenn der Chefermittler ehrlich zu sich war, war er ziemlich ungeduldig gewesen, als sein Agent einfach in dem Raum gesessen war und lange kein einziges Wort gesagt, sondern nur vorgegeben hatte, die Akte zu lesen, wobei es doch offensichtlich gewesen war, dass er sich keineswegs auf die Informationen konzentriert hatte, sondern auf den Petty Officer, der immer nervöser geworden war. Diese Verhörmethode von DiNozzo war ihm mehr als neu gewesen und seit er ihn kannte, hatte er diese noch nie angewendet. Normalerweise fing er ohne Umschweife an, einen Verdächtigen verbal zu bearbeiten, aber dass er diesmal einfach geschwiegen hatte, hatte ihn mehr als überrascht. Er war die Ruhe in Person gewesen und hatte Gibbs dazu gebracht, dass er innerhalb kürzester Zeit seinen Kaffee ausgetrunken und McGee befohlen hatte, ihm sofort einen Neuen zu holen. Dieser war angesichts der schlechten Laune seines Bosses sofort aus dem Raum verschwunden, in dem sie das Verhör verfolgt hatten und war innerhalb von wenigen Minuten mit Koffeinnachschub erschienen, nur um festzustellen, dass Tony noch immer nicht angefangen hatte, den Marine zu verhören, sondern weiterhin die Akte las und so tat, als würde er den Mann nicht bemerken, der mittlerweile nervös auf dem Stuhl herumgerutscht war. Selbst Ziva war anzusehen gewesen, dass sie sich gefragt hatte, ob ihr Kollege wohl noch heute beginnen würde oder ob sie bis zum nächsten Tag warten mussten.
Aber schließlich war alles Schlag auf Schlag gegangen und innerhalb von Minuten hatte DiNozzo Paulsen das Geständnis abgerungen, dass er seinem Freund ein falsches Alibi verschafft hatte. Die ganze Zeit über war er bemerkenswert ruhig gewesen, hatte sich selbst durch das Schreien des Mannes nicht aus dem Konzept bringen lassen. Die einzig wirkliche Regung hatte er gezeigt, als dieser angefangen hatte, haltlos zu schluchzen und immer weiter der Realität entrückt war. Jethro war bis dahin bereits klar gewesen, dass der Mord an den Commander etwas mit dem Suizid von Karen Paulsen zu tun gehabt hatte und die Worte aus dem Mund ihres Bruders zu hören, hatte dies nur bestätigt. Aber da er innerhalb von Sekunden zusammengebrochen war, hatte Tony keine Chance mehr gehabt, zu erfahren, was denn damals geschehen war und warum sich das Mädchen umgebracht hatte. Das Verhör an dieser Stelle abzubrechen war eine gute Entscheidung gewesen, war es doch mehr als offensichtlich, dass sie den jungen Mann verloren hatten, der nur mehr dazu fähig war, sich hin und her zu wiegen und seine Umgebung nicht mehr wahrnahm. Aber es gab noch jemand anderen, der wissen musste, was vor Jahren passiert war und der auch den Mord an den Commander durchgeführt hatte. Zwar hatte sich Paulsen wegen eines falschen Alibis schuldig gemacht, aber die Tat hatte er nicht ausgeführt, obwohl er diese genauso gewollt hatte. Er würde wegen Beihilfe zu Mord zwar ebenfalls verurteilt werden, aber schlussendlich früher wieder auf freien Fuß gesetzt werden als sein Freund, der wohl sein restliches Leben hinter Gitter verbringen würde. Aber es würde sicher schwerer sein, diesem ein Geständnis zu entlocken, obwohl sie seine DNA als Beweis hatten, diese aber leider nicht rechtsgemäß entnommen worden war. Aber Jethro war sich sicher, Diggs knacken zu können, der den Eindruck erweckte, unantastbar zu sein. Ein paar Minuten lang war er mit seinen Agenten hinter dem Spiegel gestanden und hatte den Petty Officer beobachtet, der auf dem Stuhl gesessen hatte, seine Lippen geschürzt und das Kinn erhoben. In regelmäßigen Abständen hatte er sich seine Frisur gerichtet und schien die Nervosität, die er gegenüber DiNozzo an den Tag gelegt hatte, abgestreift zu haben. Aber die Überheblichkeit würde ihn auch nicht weiterbringen – im Gegenteil. Es würde der Grundstein sein, der in zu Fall bringen würde.

Gibbs öffnete mit Schwung die Tür zu dem Verhörraum, betrat ihn ohne zu zögern und warf sie wieder ins Schloss. Diggs, der sich erneut auf den Spiegel konzentriert hatte, drehte seinen Kopf, um zu sehen, wer ihn in seiner Konzentration, sich die Frisur zu richten, störte und kniff seine Augen zusammen, als er den grauhaarigen Ermittler erkannte. Diesen hatte er bis jetzt nur zwei Mal gesehen: in Quantico, als er ihn beinahe über den Haufen gerannt hätte und vorhin in dem Großraumbüro, bevor man ihn hier herein verfrachtet hatte, um ihn ewig schmoren zu lassen. Das Einzige was er wusste, war, dass der Mann Gibbs hieß und anscheinend das Sagen hatte. Der Blick aus den eisblauen Augen, ließ ihn unwillkürlich erschauern und ihm kam in den Sinn, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war.
„Wo ist Agent DiNozzo?" fragte Diggs, was den Chefermittler zu einem Schmunzeln veranlasste. Er konnte das Unbehagen des anderen förmlich spüren und die Selbstsicherheit hatte einen kleinen Riss bekommen. In die grauen Augen war ein wenig Angst getreten und obwohl der Petty Officer beinahe zu groß für den Stuhl war, auf dem er saß, wirkte er klein wie ein Junge. Seine Muskeln spannten sich an und ließen die Nähte seines T-Shirts nahezu platzen. Verwirrt runzelte dieser die Stirn, als er keine Antwort bekam und schien sichtlich Mühe zu haben, nicht nachzubohren.
Gibbs ging auf den freien Stuhl zu, ließ die Akten auf den Tisch fallen und trank erst einmal einen Schluck Kaffee, bevor er sich auf den Sessel setzte und versuchte, nicht gleich über seine Beute herzufallen. „Agent DiNozzo ist anderweitig beschäftigt", erwiderte er schließlich, was nicht wirklich stimmte, denn Tony hatte im Moment nichts Besseres zu tun, als hinter dem Spiegel zu stehen und ihn zu beobachten. Aber das brauchte der Mann vor ihm nicht zu wissen, der sich ein wenig entspannte und seine Hände auf den Tisch legte. „Ich dachte, er würde mich erneut befragen, immerhin hat er das in Quantico bereits gemacht." Aber innerlich war Diggs froh, dass der Braunhaarige nicht hier war. Irgendetwas an ihm hatte ihm überhaupt nicht gefallen und er hatte das unbestimmte Gefühl gehabt, dass dieser genau gewusst hatte, dass er nicht unschuldig war. Noch immer hatte er die grünen Augen in Erinnerung, die keine Zweifel zuließen, dass er sein falsches Spiel durchschaut hatte. Vielleicht war es sogar besser, wenn sein Boss diesmal die Befragung übernahm.
„Haben Sie ein Problem damit, wenn ich das Verhör führe, Petty Officer?" fragte Gibbs und nahm erneut einen großen Schluck seines Kaffees, den er genüsslich hinunterschluckte und darauf wartete, bis sein Gegenüber die Bedeutung des Satzes realisierte. „Nein, Sir", antwortete dieser und schüttelte zur Unterstreichung seiner Worte seinen Kopf. Eine Sekunde später weiteten sich seine Augen und er holte erschrocken Luft. „Verhör? Aber… ich verstehe nicht ganz. Ich dachte, ich bin wegen einer erneuten Befragung hier, da ich Ihnen eventuell weiterhelfen kann, den Mörder des Commanders zu finden, jedenfalls wurde mir das erzählt." Der Chefermittler hob eine Augenbraue und wunderte sich, dass Diggs wirklich so naiv war und anscheinend keinen Schimmer hatte, weshalb er hier war. Dies würde sich jedoch bald ändern, dafür würde er schon sorgen.
„Da haben Sie wohl etwas missverstanden", sagte Jethro, stellte den Becher auf dem Tisch ab und zog eine der Akten zu sich heran, von der er wusste, dass sie die Tatortfotos beinhaltete, die sein Agent zuvor Paulsen gezeigt hatte und die den gewünschten Effekt herbeigeführt hatten. „Ich habe nichts…" begann Theodore, unterbrach sich aber, als er erkannte, dass er auf verlorenem Posten stand. Stattdessen versuchte er eine andere Taktik, um vielleicht so bald aus dem Raum verschwinden zu können. „Wo ist Harold?" „Ihr Freund befindet sich zwei Türen weiter", antwortete Gibbs und rückte den Stuhl etwas näher an den Tisch heran. „Aber ich bin nicht hier, um mit Ihnen über Ihren Freund zu reden. Jedenfalls noch nicht. Reden wir stattdessen über Commander Emmerson und den Tag, an dem er ermordet wurde." Er schlug die Akte auf und brachte das Bild zum Vorschein, das den eingeschlagenen Schädel zeigte und legte es vor Diggs auf dem Tisch. Bei dem Anblick des vielen Blutes und den gebrochenen Knochen schluckte er zwar hart, was aber die einzige Reaktion war, die er zeigte. Er wurde nicht bleich, ihm brach nicht der Schweiß aus und er schnappte auch nicht erschrocken nach Luft, er schien nicht einmal schockiert über die Brutalität der Tat zu sein. In seine grauen Augen trat ein unheilverkündendes Funkeln und etwas wie Zufriedenheit breitete auf seinem Gesicht aus, aber diese verschwand gleich darauf wieder, als die Überlegenheit erneut die Oberhand gewann.

„Das ist ja schrecklich", sagte er schließlich und verschränkte seine Arme vor der muskulösen Brust. In seine Stimme war Betroffenheit getreten, die sich aber ziemlich falsch anhörte und einen erfahrenen Ermittler wie Gibbs keineswegs täuschen konnte. Jetzt verstand er auch, weshalb Tony gestern gemeint hatte, Diggs hätte Dreck am Stecken. Das roch man wirklich eine Meile gegen den Wind und er bräuchte nicht die DNA als Beweis, um zu erkennen, dass sein Gegenüber etwas mit dem Mord zu tun hatte.
Gibbs nahm die nächsten Bilder, die den Baseballschläger, das Messer und die Ganzkörperaufnahme zeigten, und legte sie neben das Erste. „Kommen Ihnen die Sachen bekannt vor?" wollte er mit gefährlich ruhiger Stimme wissen und tippte mit dem Zeigefinger auf den Schläger und das Messer, die wegen dem vielem Blut ein wenig makaber wirkten. Gleichzeitig kniff er seine Augen zusammen, um sicherzugehen, dass dem anderen nicht entging, dass er ihm die falsche Betroffenheit keine Sekunde abkaufte. Und da war sie wieder: die Nervosität, die den Mann unruhig auf dem Stuhl herumrutschen ließ. So gut konnte er seine Emotionen doch nicht verstecken.
„Nein, sie kommen mir nicht bekannt vor. Ich meine, natürlich kenne ich diese Sachen. Jedes Kind würde einen Baseballschläger und ein Messer erkennen." „Mit diesem Baseballschläger wurde dem Commander der Schädel eingeschlagen, bevor man ihm dieses Messer ins Herz gerammt und somit seine Frau zur Witwe und seinen Jungen zu einem Halbwaisen gemacht hat." Gibbs' Stimme war weiterhin ruhig, war nun aber bedrohlich geworden und als Diggs zu schwitzen anfing, wusste er, dass er anfing, ihn in die Ecke zu treiben, aus der es keinen Ausweg mehr gab.
„Anschließend wurde das gesamte Wohnzimmer zerstört und der Schmuck von Mrs. Emmerson geraubt, um alles wie einen Einbruch aussehen zu lassen." Weitere Fotos von der zertrümmerten Einrichtung und von leeren Schmuckschatullen gesellten sich zu den anderen. „Aber der Mörder hat einen Fehler begangen und wissen Sie auch welchen?" Der Chefermittler wartete die Antwort nicht ab, da es eine rhetorische Frage war, sondern nahm ein weiters Bild zur Hand, das das offene Küchenfenster zeigte und legte es Diggs vor die Nase. „Der Täter hat alles so gedreht, dass es wie ein Einbruch aussah und sogar die Hintertür aufgebrochen, hat aber übersehen, dass das Fenster daneben offen war. Können Sie mir einen Grund nennen, weshalb jemand die Tür aufbrechen sollte, wenn gleich daneben ein Fenster offensteht?"

Theodore schluckte erneut schwer und versuchte das Zittern seiner Hände zu unterdrücken – erfolglos. Eine ungute Vorahnung machte sich in ihm breit und er hatte auf einmal das Gefühl, diesen Raum nicht als freier Mann zu verlassen. „Ich… weiß nicht", antwortete er zögernd und wich dem Blick aus den blauen Augen aus, der ihn förmlich zu durchbohren schien. „Ich… ich bin kein Einbrecher. Woher soll ich wissen, was die denken. Wieso erzählen Sie mir das überhaupt alles?" Leichte Panik trat in seine Stimme und Gibbs konnte sich ein zufriedenes Grinsen nur schwer verkneifen. Er griff nach dem Kaffee, trank ihn in einem Zug aus und warf den Becher gekonnt in den Mülleimer, der neben dem Tisch stand. „Wo waren Sie am Dienstagmorgen zwischen sieben und neun Uhr?" wollte er wissen und beugte sich nach vorne. Es war an der Zeit, vorwärts zu kommen und diesen Fall endlich abzuschließen. Die Frage des Marines überging er geflissentlich.
„Das habe ich Ihrem Kollegen bereits erzählt. Ich war bei meinem Freund Harold. Fragen Sie ihn doch ein weiteres Mal, wenn Sie unbedingt müssen." Diggs' wurde lauter und es war nicht zu übersehen, dass er langsam die Kontrolle über die Situation verlor. „Das haben wir vor ein paar Minuten gemacht. Aber Petty Officer Paulsen sagt etwas ganz anderes. Er behauptet, er hat Ihnen das Alibi beschafft, damit Sie ungestört davon kommen, als Sie den Commander ermordet haben."
„Sie Lügen! Das ist eine verdammte Lüge!" schrie Theodore und vor Wut lief sein Gesicht rot an, wodurch seine gekrümmte Nase noch besser zur Geltung kam. „Harold würde so etwas nie sagen! Niemals! Und ich habe den Commander nicht umgebracht! Wie ich Agent DiNozzo gestern gesagt habe, habe ich nichts gegen ihn gehabt!" Gibbs ließ sich von dem Ausbruch des andern nicht aus dem Konzept bringen, sondern drehte sich zu dem Spiegel um und signalisierte seinen Kollegen mit einem Nicken, dass sie das Band starten konnten. Zu dem Marine gewandt, sagte er: „Die Beweise sprechen aber eine andere Sprache." Eine Sekunde später tönte Harolds Stimme aus dem kleinen Lautsprecher hoch oben an der Decke, gefolgt von DiNozzos.
„Es war Theos Idee. Es war seine Idee! Und ich habe da mitgemacht! Ja, ich habe ihm das Alibi verschafft, weil ich genauso wollte, dass dieser Schweinehund stirbt! Es war alles seine Schuld! Alles!" „Was war wessen Schuld? Was war wessen Schuld, Petty Officer? Sagen Sie es mir." „Er ist schuld daran, dass sie sich umgebracht hat! Commander Emmerson hat meine Schwester in den Tod getrieben!" Das Band stoppte und hinterließ eine gespenstische Stille. War Diggs' Gesicht vorher rot gewesen, so verlor es jetzt alle Farbe und große Schweißflecken bildeten sich unter seinen Achseln und durchtränkten sein helles T-Shirt. Die gesamte angespannte Körperhaltung fiel von ihm ab und er schien förmlich in sich zusammenzufallen, sein Rücken krümmte sich zu einem Katzenbuckel und sein Körper durchlief ein sichtbares Zittern.

„Wir haben Ihre DNA auf dem Messer gefunden", sagte Gibbs schließlich, da der Petty Officer nichts von sich gab und den Anschein erweckte, dies auch in nächster Zeit nicht zu tun. „Sie haben sich geschnitten, bevor Sie es dem Commander ins Herz gerammt haben und haben somit Ihr Blut hinterlassen." Diggs sah auf seine Hände und redete auch zur Tischplatte, als er schließlich das Wort ergriff: „Ich habe geahnt, dass mir Agent DiNozzo nicht aus Freundlichkeit ein Glas Wasser angeboten hat. Es diente dazu, um einen DNA Vergleich zu machen. Und ich habe auch noch davon getrunken. Ich fass es nicht, dass ich so blöd war. Alles war doch so perfekt, so verdammt perfekt!" Seine Stimme wurde erneut lauter und er hob seinen Kopf. In seinen grauen Augen schimmerten Tränen, aber gleichzeitig Wut darüber, dass er aufgeflogen war, wo er geglaubt hatte, sein Plan wäre unanfechtbar, trotz der Tatsache, dass er sich geschnitten hatte. Gestern war er erpicht darauf gewesen, aus dem Raum zu kommen, dass er nicht einmal gemerkt hatte, dass das Angebot mit dem Wasser eine Falle gewesen war. Er hatte sich selbst das Grab geschaufelt. Noch dazu war ihm sein angeblich bester Freund in den Rücken gefallen und dabei hatte er ihm vertraut, hatte gedacht, er würde ihn decken, aber dann musste er unbedingt alles hinausposaunen. Allerdings hatte er keine Kraft mehr, weiterhin wütend auf ihn zu sein, als ihn die Erkenntnis, dass alles den Bach hinuntergegangen war, mit einer unglaublichen Wucht überrollte.

„Erzählen Sie mir von Commander Emmerson und seiner angeblichen Schuld daran, dass sich Karen Paulsen umgebracht hat", sagte Gibbs ruhig, da er bemerkt hatte, dass sein Gegenüber seine gesamten Schutzmauern eingerissen hatte, als ihm bewusst geworden war, dass er verloren hatte. Diggs räusperte sich und beschloss, die Wahrheit zu erzählen und nicht mehr so zu tun, als ob er nicht wüsste, wovon die Rede war. „Karen war meine Freundin. Ich habe sie über alles geliebt und den Boden angebetet, über den sie gegangen war. Wissen Sie, sie war psychisch labil und hin und wieder depressiv, aber mich störte das nicht, im Gegenteil. Ich hatte den Wunsch, sie zu beschützen. Wir wohnten alle am Stützpunkt in Norfolk und dachten, uns könnte nichts auseinanderreißen, jedenfalls bis Karen einmal nachts alleine unterwegs gewesen war. Ihr Auto hatte mitten in der Einöde eine Panne und sie besaß kein Handy, da sie dachte, so ein Ding nicht zu brauchen. Später hat sie mir erzählt, dass nach nicht allzu langer Zeit jemand neben ihr hielt und ihr anbot, sie nach Hause zu fahren. Das war Brandon Emmerson gewesen. Aber er hat Karen nicht nach Hause gebracht, sondern ist mit ihr einfach in einen Waldweg eingebogen, um sie zu…" Diggs brach ab, Tränen rannen über seine Wangen und auf einmal hatte er nichts mehr mit dem starken Marine gemein, den er noch vor kurzem an den Tag gelegt hatte. Er holte tief Luft und sah dem Chefermittler direkt in die Augen. „Er hat sie vergewaltigt, Agent Gibbs. Zwei Mal und hat sie anschließend einfach liegen lassen." Seine Stimme klang schwach und heiser, aber dennoch fuhr er tapfer fort. „Karen hat es irgendwie geschafft, nach Hause zu kommen. Wir wollten sie sofort ins Krankenhaus bringen, aber sie hat sich geweigert, genauso wie sie sich geweigert hat, eine Anzeige zu erstatten. Sogar ihrer eigenen Mutter hat sie verboten, etwas zu sagen. Sie dachte… sie dachte… es würde ihr niemand glauben, da sie ja psychisch labil war und früher immer wieder Sachen erfunden und gelogen hat und damit viele Leute verärgert hat. Karen hatte einfach Angst und sie hat niemandem den Namen ihres Vergewaltigers gesagt, egal wie sehr wir versucht haben, etwas aus ihr herauszubringen. Erst in ihrem Abschiedsbrief hat sie geschrieben, wer ihr alles angetan hat. Als sie sich umgebracht hat, war sie erst 19 Jahre alt und hatte ihr gesamtes Leben noch vor sich. Sie kam einfach nicht damit zurecht, was ihr widerfahren ist und Emmerson kam ungeschoren davon! Und ich habe ihm Rache geschworen! Dieser Schweinehund hat das erhalten, was er verdient hat! Ich bereue es nicht, ihn erschlagen zu haben!" War seine Stimme vorher schwach gewesen, so war sie jetzt wieder fest und er hatte zu schreien begonnen. Die gesamte Verzweiflung, die er spüren musste, konnte man heraushören und genauso wie Paulsen begann er haltlos zu weinen. „Dieser Mistkerl hat mir das Mädchen genommen, das ich geliebt habe! Da er deswegen nicht verurteilt wurde und ungeschoren davon kam, habe ich über ihn gerichtet!"
„Und sich damit Ihre eigene Zukunft zerstört", sagte Gibbs eindringlich und stand auf. Commander Emmerson war also doch nicht so unschuldig, wie er nach außen hin gewirkt hatte und es ergab jetzt auch einen Sinn, weshalb er sich plötzlich von Norfolk nach Quantico versetzen hatte lassen. Seine Frau und sein Sohn würden die Wahrheit schwer verkraften können, hatten sie ja nichts von der Vergewaltigung gewusst. Was den Mann dazu bewogen hatte, das Leben dieses Mädchens zu zerstören, würde wohl für immer ein Geheimnis bleiben.
Jethro sammelte die Bilder ein, steckte sie in die Akte zurück, nahm die gesamten Sachen und verließ den Verhörraum, um einen gebrochenen Mann alleine zu lassen, der wohl sein restliches Leben im Gefängnis verbringen würde. Obwohl er dessen Schmerz verstehen konnte - aber Mord blieb Mord und egal was auch das Motiv war, es war eine Straftat, die schlussendlich die grausame Wahrheit ans Tageslicht gebracht hatte.
Ein weiterer Fall war gelöst und Gibbs würde sich jetzt erst einmal einen Kaffee gönnen, um den schlechten Geschmack in seinem Mund hinunterzuspülen, den Diggs' Erzählung hinterlassen hatte. Er freute sich bereits ein wenig auf einen ruhigeren Nachmittag – nicht wissend, dass die nächste Stunde eine Überraschung für ihn bereit hielt, die seinen angestrebten ruhigen Nachmittag mit einem Schlag zunichte machen würde.

Fortsetzung folgt...
Chapter 26 by Michi
Knapp eine Stunde nach dem Geständnis von Petty Officer Theodore Diggs saß Chris im Großraumbüro an seinem Schreibtisch und war dabei, den Abschlussbericht zu schreiben. Er war stolz auf sich, da es im Prinzip sein Verdienst war, dass der Mörder von Commander Emmerson hinter Gittern saß, hatte er doch einfach auf seinen Instinkt gehört. Endlich, nach so langer Zeit, hatte er das Gefühl, wieder einmal etwas richtig gemacht und für ein Stückchen Gerechtigkeit in der Welt gesorgt zu haben. Diesmal war er auf der anderen Seite des Gesetzes gestanden und nicht auf der der Kriminellen – und dorthin würde er auch nie mehr zurückkehren, das hatte er sich fest geschworen. Vorbei war es mit seinen kleinen illegalen Geschäften, die ihm so einiges an Geld eingebracht hatten und durch die er sich das schöne Apartment in L.A. hatte leisten können. Es war an der Zeit, sich ein legales Leben aufzubauen und eine ehrliche Arbeit zu finden, die ihm Spaß machte und mit der er anderen helfen konnte.

Noch vor Wochen hätte sich Chris nie vorstellen können, sich für andere Menschen einzusetzen, aber seit er die ersten Erfahrungen als Bundesagent gemacht hatte, hatte sich das schlagartig geändert. Die Wandlung, die er durchgemacht hatte, konnte er selbst kaum glauben. Der Hass, den ihn zu seinem Plan geführt hatte, war verschwunden, er vertraute Tony plötzlich wieder, ohne lange darüber nachzudenken, er war einer jungen Frau verfallen, die er nicht einmal wirklich kannte und die von ihm glaubte, dass er jemand anderes war und er hatte seit langem Freunde gefunden, die ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelten – aber alles unter einer falschen Identität und das war nicht richtig. Nicht Chris sollte an diesem Platz in dem Großraumbüro sitzen, sondern Anthony. Dessen Leben war bei weitem nicht so einfach, wie er sich das vorgestellt hatte. Es war kein Zuckerschlecken, ein Bundesagent zu sein, zudem riskierte man damit tagtäglich sein Leben, verbrachte aber mindestens genauso viel Zeit damit, Berichte zu schreiben wie Verbrecher zu jagen. Obwohl er diesen Job durchaus mochte, so konnte er sich nicht vorstellen, dass er das für immer machen wollte. Es war zwar ein herrliches Gefühl, Gesetzesbrecher zu jagen und sie hinter Gitter zu bringen, aber für diese Arbeit musste man berufen sein, vor allem, wenn man mit den grausigen Abgründen der menschlichen Seele konfrontiert wurde. Chris hatte bereits nach einem einzigen Fall Probleme, die Bilder des eingeschlagenen Schädels des Commanders aus seinem Kopf zu bringen und er wusste genau, dass es ein wenig dauern würde, bis er nicht mehr davon träumen würde.
Brandon Emmerson hatte etwas gemacht, was einer Strafe bedurft hätte, aber den Tod hatte er auf gar keinen Fall verdient – niemand hatte das, egal was er gemacht hatte. Die Tat wurde dadurch nicht ungeschehen und Karen Paulsen wurde auch nicht wieder lebendig. Es war tragisch, was ihr zugestoßen und dass sie mit allem nicht fertig geworden war. Dass sie Angst gehabt hatte, war verständlich, aber sie hätte das Risiko auf sich nehmen und Anzeige erstatten sollen. Vielleicht wäre es dann nie so weit gekommen, dass sie sich das Leben genommen und damit zwei junge Männer Jahre später zu Mördern gemacht hätte. Zwar hatte nur einer diesen ausgeführt, aber der andere war nicht unschuldig an dem Ganzen. Sie hatten sich ihre Zukunft verbaut, hatten sich nur von ihrem Hass leiten lassen und damit alles verbockt. Manchmal war es wirklich besser, seinen Verstand einzuschalten und alles zu durchdenken, ehe man handelte – und genau das hatte Chris getan.
Er hatte seine Gefühle gegenüber Tony unter Kontrolle gebracht und hatte noch einmal alles von einem anderen Standpunkt aus betrachtet. 15 Jahre waren vergangen, als er ihn und Amy erwischt hatte, wie sie sich geküsst hatten und dabei sein Leben wie ein Kartenhaus eingestürzt war. Er hatte es einfach nicht glauben können, dass er sich so sehr in seinem Bruder hatte täuschen können, dass er sein Vertrauen so schamlos ausgenutzt und sich an Amy rangemacht hatte, während er unten mitbekommen hatte, was sein Vater wirklich von seinen Söhnen gedacht hatte. In seinem Inneren hatten sich so viele Emotionen angestaut, dass Anthonys Verrat der kleine Tropfen gewesen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Damals hatte er einfach nicht mehr nachgedacht und sich von dem Schmerz und dem Hass leiten lassen, der in ihm getobt und schließlich dazu geführt hatte, dass er seine Sachen gepackt hatte und abgehauen war. Für ihn war das die beste Lösung gewesen, einfach allem zu entfliehen, um einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zu ziehen. Jetzt, 15 Jahre später, wünschte er sich, er hätte sich Tonys Erklärungsversuche angehört und vielleicht wäre es dann nie so weit gekommen, dass er die Flucht ergriffen hätte. Hass konnte einen wirklich zerstören und Dinge tun lassen, die man eigentlich nicht wollte. Mittlerweile hatte Chris' Verstand wieder die Oberhand gewonnen und hatte ihn einsehen lassen, dass es ein riesengroßer Fehler gewesen war, seinen Bruder einzusperren. Aber eine gute Sache hatte es doch gehabt: er begann ihm zu verzeihen und den Zwischenfall mit Amy abzuhaken. Früher hatte er sich oft gefragt, was aus ihr geworden war, aber inzwischen war das nicht mehr der Fall. Sie war Vergangenheit, genauso wie der eine Maiabend, der ihn und Anthony auseinandergerissen hatte. Jetzt betrachtete er alles aus einem anderen Blickwinkel und man könnte meinen, dass er vernünftiger geworden war. Er konnte endlich mit allem abschließen und in die Zukunft blicken.

Chris seufzte leise und konzentrierte sich auf den Bericht, den er unbedingt so schnell wie möglich fertig bekommen wollte. Es war an der Zeit, aus dem Büro zu verschwinden. Obwohl er sich gedacht hatte, bis zum Abend zu bleiben, so würde er die erstbeste Gelegenheit nutzen, um abzuhauen. Je länger er hier war, desto schwerer fiel es ihm, an seinem Plan, Washington den Rücken zuzukehren, festzuhalten. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte er die Menschen, bei denen er sich wohl fühlte, nicht verlassen – genauso wenig, wie er Tony verlassen wollte, nicht, nachdem sie endlich wieder halbwegs normal miteinander umgehen konnten, ohne dass die Sache mit Amy ihr Beisammensein überschattete. Aber Chris hatte Angst vor den Konsequenzen, die ihn erwarten würden, wenn herauskam, was er mit seinem Bruder gemacht und allen vorgemacht hatte, dieser zu sein. Vor allem Gibbs würde keine Gnade walten lassen, da war er sich sicher und Ziva würde ihm den Kopf abreißen, wenn sie erfuhr, wer er wirklich war. Es war besser, nicht in der Nähe zu sein, wenn alle die Wahrheit erfuhren und das würden sie, das hatte er in Tonys Augen erkannt, als er ihm gesagt hatte, dass er ihn freilassen würde. Dieser würde nicht schweigen und allen erzählen, dass er einen Zwillingsbruder hatte. Und wenn es so weit war, wollte er Washington bereits lange verlassen haben, um sicher zu gehen, dass er nicht im Knast landen würde. Aber vorher würde er noch den Bericht fertig schreiben, um den Fall endgültig abzuschließen – genauso wie er mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hatte.

Gibbs saß an seinem Platz und trank den zweiten Becher Kaffee innerhalb von 45 Minuten. Diesen hatte er sich auch verdient, fand jedenfalls er. Die beiden Marines waren bereits abtransportiert worden, um im Gefängnis auf ihre gerechte Strafe zu warten, sein Team war damit beschäftigt, die letzten Berichte zu schreiben und er selbst konnte sich ein wenig zurücklehnen und sein geliebtes Koffein genießen. So wie er sich vorgestellt hatte, war der Nachmittag ruhig, kein neuer Fall flatterte ins Haus und es sprach nichts dagegen, heute pünktlich Feierabend zu machen. Diesmal konnte er an seinem Boot arbeiten, ohne dass er über einen Mord oder sonst etwas in diese Richtung nachdenken musste und so konnte er sich vollends auf das Glattschleifen des Holzes konzentrieren, während im Hintergrund der Farm Report lief.
Sein Team hatte wieder einmal hervorragende Arbeit geleistet und selbst Tony schien erneut ganz der Alte zu sein – sah man von der Tatsache ab, dass er auf einmal schnell tippen konnte und sich ausnahmsweise nur mit dem Bericht beschäftigte, ohne dabei Ziva und McGee zu ärgern. Aber vielleicht wollte auch er nur möglichst rasch mit dem Fall abschließen, hatte dieser doch gezeigt, dass Menschen im Inneren ganz anders sein können, als sie nach außen hin wirkten. Das sah man vor allem bei Commander Emmerson, der auf jedem Bild wie ein netter Mann aussah, aber ein Vergewaltiger war. Nicht einmal seine Frau oder sein Sohn hatten davon etwas gewusst und für die beiden würde es hart werden, diese Tatsache zu verarbeiten. Es gab so viele Familien, hinter deren Türen sich Unvorstellbares abspielte, ohne dass jemand auch nur ansatzweise etwas ahnte und man würde diese Taten wohl nie alle ans Tageslicht bringen.
Gibbs schüttelte leicht seinen Kopf, trank den Kaffee aus und warf den Becher gezielt in den Mülleimer neben seinem Tisch. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über kaputte Familien Gedanken zu machen, immerhin hatte er sich vorgenommen, einen ruhigen Nachmittag zu verbringen und da gehörte dieses Thema nicht dazu. Aber vorher musste er Direktor Sheppard noch Bericht erstatten, was sich alles in dem Fall Emmerson getan hatte und nachher würde er sich eine weitere Dosis Koffein gönnen, auch wenn er heute bereits vier Becher gehabt hatte. Zusätzlich wollte er zu seinem eigenen Vergnügen seinen Agents ein wenig Feuer unter dem Hintern machen und ihnen befehlen, sich gefälligst mit den Berichten zu beeilen. Die Reaktion, wenn sie ganz schnell ihre Köpfe einzogen, um nicht seinen Zorn auf sich zu ziehen, amüsierte ihn jedes Mal und in solchen Momenten fiel es ihm mehr als schwer, sich ein Grinsen zu verkneifen. Er wollte bereits aufstehen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen, als sein Telefon klingelte. Für eine Sekunde schloss er seine Augen und hoffte, dass es nicht ein neuer Fall wer, der vor der Tür stand. Deshalb griff er auch etwas widerwillig nach dem Hörer. „Gibbs", meldete er sich knapp und mit einem drohenden Ton in der Stimme, von dem er hoffte, dass er den Anrufer verschrecken würde, egal worum es ging.
„Hey, Bossman", tönte ihm Abbys Stimme entgegen und Erleichterung durchströmte ihn. Also doch kein neuer Fall und sein ruhiger Nachmittag war nicht gefährdet.
„Was gibt es, Abbs?" fragte er und ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. Seine drei Agents, die neugierig zu ihm geblickt hatten, als das Telefon geklingelt hatte, konzentrierten sich wieder auf ihre Arbeit, als klar war, dass es sich nur um die junge Goth und nicht um einen Mord oder sonst eine blutrünstige Tat handelte. „Du wirst es nicht glauben, aber ich habe soeben etwas wirklich Abgefahrenes herausgefunden", antwortete sie ziemlich aufgeregt und Jethro konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie in ihrem Labor schnell auf und ab ging und dabei während dem Telefonieren wild mit ihrer freien Hand herumgestikulierte. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er lehnte sich etwas vor.

„Abgefahren?" bohrte er nach, nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. Abbys hatte das Talent, Wörter zu verwenden, die er sonst nie in den Mund nehmen würde. „Ja! Ich würde es selbst nicht glauben, hätte ich den Beweis nicht direkt vor meinen Augen! Das musst du dir ansehen, Gibbs! Komm runter!" Und bevor er auch nur fragen konnte, worum es ging, hatte sie schon wieder aufgelegt. Kopfschüttelnd tat er es ihr nach. Er wusste, sie würde ihn nicht ohne Grund anrufen und nach der Aufregung in ihrer Stimme, musste es wirklich wichtig sein – nicht, dass Abby sonst nie aufgeregt wäre, aber diesmal hatte sie sich beinahe überschlagen. Oder sie hatte wieder einmal zu viel CafPow intus, was ebenfalls eine Erklärung wäre.
Der Chefermittler stand auf und als ihn drei neugierige Augenpaare anblickten, sagte er: „Ich bin bei Abby. Und wenn ich wieder zurück bin, will ich eure Berichte haben, sonst werde ich irgendwo alte Akten auftreiben, die euch bis morgen beschäftigen werden." McGee wandte sich sofort wieder seinem Bildschirm zu und tippte eifrig auf seiner Tastatur herum, Ziva schien die Drohung nicht zu stören und Tony sah ihm ruhig entgegen, anstatt seinem Befehl nachzukommen, war er doch meistens der Erste, um zu verhindern, dass er sich eine Kopfnuss einfing. Etwas in seinen Augen irritierte Gibbs. Es lag irgendwie etwas Endgültiges darin – gepaart mit leichter Traurigkeit – und es schien ihm, als ob er etwas sagen wollte, aber nicht wusste, wie er anfangen sollte. Schließlich drehte er sich wieder um und konzentrierte sich auf den Text, den er gerade schrieb. Stirnrunzelnd ging Gibbs zum Aufzug, nicht wissend, was er von alldem halten sollte. Hatte er sich etwa getäuscht und DiNozzo war doch nicht der Alte? Beschäftigte ihn noch immer etwas aus seiner Vergangenheit? Vielleicht sollte er ein weiteres Gespräch mit ihm führen, wenn er von Abby zurück war, nachdem er sich angehört hatte, was sie so Abgefahrenes herausgefunden hatte.

Abby lief in ihrem Labor auf und ab, die Musik entgegen ihrer Gewohnheit leise gedreht, sodass sie sofort hören konnte, wann Gibbs zu ihr kam. Sie konnte immer noch nicht fassen, was sie vor fünf Minuten herausgefunden hatte, hatte sie doch zwischenzeitlich gehofft, sie würde sich irren, hatte gehofft, dass ihre Theorie nicht stimmte. Sie hatte sich ein wenig an die Lücken geklammert, die in ihren Überlegungen geklafft hatten, die sich aber mittlerweile komplett geschlossen hatten. Wenn sie es sich Recht überlegte, war abgefahren nicht einmal das richtige Wort, aber ihr fiel einfach keine bessere Beschreibung ein. Zuerst hatte sie sich gedacht, dass alles nur ein Irrtum war, aber die Fingerabdrücke hatten nicht gelogen und ans Tageslicht gebracht, dass sie in letzter Zeit gewaltig an der Nase herumgeführt worden waren. Wie hatten sie übersehen können, dass jemand anderes auf Tonys Platz gesessen hatte und nicht er? Wie hatten sie übersehen können, dass er einen Zwillingsbruder hatte, der anscheinend Spaß daran fand, plötzlich Bundesagent zu spielen? Und wieso hatte sie so lange gebraucht, um das herauszufinden? Wieso hatte sie nicht bereits am Dienstag angefangen, zu recherchieren, dann wäre sie garantiert viel früher darauf gekommen.
Aber die wichtigste Frage war: wo steckte Tony? Und weshalb hatte er all die Jahre verschwiegen, dass er einen Bruder hatte und kein Einzelkind war? Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie bereits eher darauf kommen können, was mit DiNozzo nicht stimmte. Jetzt war es auch kein Wunder mehr, dass er etwas längere Haare hatte und viel brauner war als noch am Montag. Und mittlerweile verstand sie auch, warum er nicht gewusst hatte, dass Kate tot war oder dass er die Lungenpest gehabt hatte. Und es war auch kein Scherz gewesen, dass er auf einmal McGee mit seinem Vornamen angeredet hatte oder dass er keine Ahnung gehabt hatte, dass Gibbs ein Boot in seinem Keller baute. Alles passte perfekt zusammen, jedes Puzzleteilchen war an seinem Platz.
Abby konnte jedoch nicht verhindern, dass sie sich Sorgen um Tony machte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er nicht freiwillig mit seinem Bruder getauscht hatte, zumal er ihm sicher sonst die wichtigsten Details verraten hätte. Nein, da steckte mehr dahinter und so wie es aussah, war Anthonys Kindheit doch nicht so einfach gewesen, nicht wenn er kein einziges Mal erwähnt hatte, dass er Geschwister hatte. Außerdem gab es da noch eine andere Sache, die sie verwirrte und von der sie hoffte, dass sie bald die Wahrheit erfahren würde. Nach außen hin schien es, als ob in der DiNozzofamilie alles super gewesen war, aber sie wusste nur zu gut, dass man leicht jemandem etwas vorgaukeln konnte. Selbst Gibbs hatte nicht gemerkt, dass jemand mit ihm ein falsches Spiel getrieben hatte, obwohl er bereits Lunte gerochen hatte, dass mit seinem Agent etwas nicht stimmte, hatte es aber auf irgendetwas in seiner Vergangenheit geschoben. Und so wie es aussah, hatte Tonys Bruder keine leichte Kindheit gehabt, nicht wenn er sich wünschte, Vollwaise zu sein. Und das sagte man nicht so leichthin. Abby konnte sich jetzt schon vorstellen, dass der Chefermittler nicht gerade erfreut sein würde, wenn er die Wahrheit erfuhr. Und ausgerechnet sie hatte das große Los gezogen, es ihm zu sagen. Vielleicht hätte sie vorher einen großen Becher Kaffee besorgen sollen, um ihn ein wenig zu besänftigen, damit er nicht anschließend gleich wieder hinauffahren würde, um einem gewissen Christopher DiNozzo den Hals umzudrehen.

Die Goth hätte es natürlich auch so einrichten können, dass sie einfach in die dritte Etage hätte kommen und alles vor allen aufklären hätte können. Aber sie wollte nicht, dass Gibbs gleich auf Tonys Bruder losging und sonst was mit ihm anstellte. Immerhin hatten sie keine Ahnung, wo Anthony steckte und es bestand die Möglichkeit, dass sie es so nie erfahren würden, würde ihr silberhaariger Fuchs etwas überstürzen. Eventuell konnte sie ihn überreden, es langsam angehen zu lassen, obwohl sie am liebsten selbst Christopher beim Kragen packen wollte, um ihn heftig zu schütteln und ihn dabei immer wieder zu fragen, was er sich nur dabei gedacht hatte, einfach so zu tun, als sei er Tony. Immerhin war dieser ihr bester Freund und wenn ihm irgendetwas passieren sollte, würde sie sicher nicht mehr die nette Abby sein, sondern ihre Krallen ausfahren. Und dann würde sich sein Bruder sicher wünschen, dass es Jethro wäre, der ihn auseinandernahm.
Aber sie musste zugeben, dass es auch faszinierend war, dass es einen Menschen auf dem Planeten gab, der genauso wie Anthony aussah, der denselben Humor hatte und genauso einen blöden Spruch nach dem anderen zum Besten gab. So grundverschieden waren die beiden also gar nicht, zumal sie beide tolle Ermittlerarbeit leisteten, auch wenn sie sich sicher war, dass Chris das noch nie zuvor gemacht hatte. Er war anscheinend ein Naturtalent, wenn es darum ging, Verbrecher zu entlarven. Immerhin war es sein Verdienst, dass heute ein Mörder überführt worden war und das bewies, dass er so schlecht nicht sein konnte. Aber andererseits spielte er ihnen seit Tagen nur etwas vor und es gehörte zu seiner Rolle, Bundesagent zu sein. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er im Grunde ein netter Mensch war und bis jetzt hatte ihr Instinkt sie noch nie im Stich gelassen.
Abby hielt in ihrer Wanderung inne und griff nach ihrem CafPow Becher, um gierig an dem Strohhalm zu saugen. Herrliches Koffein strömte in ihren Körper und sie spürte, wie sie entspannter wurde. Immer ruhig Blut bewahren und nur nichts überstürzen, hieß jetzt die Devise.

Mit einem leisen Zischen öffneten sich die Glastüren und ließen Gibbs in die Forensik ein. Bereits als er aus dem Fahrstuhl getreten war, hatte er erkannt, dass Abby wirklich durch den Wind sein musste, da keine laute Musik zu hören war, was mehr als untypisch war. Normalerweise hörte man diese bereits auf dem Gang, aber diesmal war sie auf ein für ihn erträgliches Maß heruntergedreht und rieselte leise aus den Lautsprechern. Es hätte ihn auch gewundert, wenn sie komplett auf den Krach verzichtet hätte, denn dann hätte er sich wirklich Sorgen machen müssen. Aber so bestand die Hoffnung, dass es die Nachricht, die sie für ihn hatte und die sie ihm nicht über das Telefon hatte mitteilen können, nur halb so schlimm war. Solange sein ruhiger Nachmittag nicht gefährdet war, konnte er mit allem leben.
Abby lief in dem großen Raum auf und ab, wobei ihr Laborkittel sich aufbauschte und sie in regelmäßigen Abständen von ihrem CafPow trank. Sie wirkte mehr als hibbelig und schien ganz in ihre Gedanken versunken zu sein. Ihre Stirn war gerunzelt und ihre Lippen formten lautlos Worte. Kaum hatte Gibbs jedoch einen Fuß in die Forensik gesetzt, hob sie ihren Kopf und blieb abrupt stehen. „Da bist du ja endlich", sagte sie und ihre Stimme klang leicht vorwurfsvoll, so als ob er sich viel zu viel Zeit gelassen hätte, um von der dritten Etage hier herunter zu kommen. „Ich dachte schon, ich müsste noch eine Ewigkeit warten." Mit einem überraschend lauten Geräusch stellte sie den großen Becher auf ihren Schreibtisch neben ihrer Tastatur, drehte sich zu ihm um und sah ihn mit geschürzten Lippen an. „Also, was gibt es so Dringendes, Abbs?" fragte Jethro und kam auf sie zu, nicht sicher, ob er bei dem Anblick, den sie bot, lachen sollte. Nirgendwo konnte er ein Anzeichen von dem erkennen, was sie ihm sagen wollte und somit hatte er auch keine Ahnung, was es so Abgefahrenes gab. Aber ihre gesamte Reaktion ließ ihn nichts Gutes ahnen und sein Gefühl hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Irgendetwas war im Busch und er war sich sicher, dass es ihm nicht gefallen würde.

Abby holte tief Luft – eine für sie mehr als untypische Reaktion – und überlegte einen Moment wie sie anfangen sollte. Immerhin konnte sie schlecht mit der Tür ins Haus fallen und sagen: ‚Hast du gewusst, dass Tony einen Zwillingsbruder hat und dieser in den letzten Tagen bei uns gewesen ist, um uns an der Nase herumzuführen?' Nein, sie musste am Anfang beginnen, sonst könnte Jethro sie glatt für verrückt halten und war schneller wieder aus dem Labor verschwunden, als sie ihm die Beweise hätte zeigen können.
Um irgendetwas zu tun, nahm sie ihre Wanderung wieder auf, aber diesmal nicht so schnell wie vorher. „Vorher war ja Tony hier unten und…" Prompt hielt sie inne, als ihr bewusst wurde, dass sie den falschen Namen verwendet hatte. Aber für sie gab es noch immer nur einen DiNozzo, auch wenn es nicht Anthony war, der in der dritten Etage am Schreibtisch saß. Gott, war das kompliziert…
Gibbs war ihr Zögern keinesfalls entgangen, hielt es aber für besser, nichts zu sagen. Er hätte wissen müssen, dass es etwas mit seinem Agent zu tun hatte, zumal es vor allem Abby aufgefallen war, dass er anders war als sonst. Hatte sie vielleicht etwas Neues herausgefunden?
„Jedenfalls hat er sich vorher die Ergebnisse der DNA Analyse geholt", fuhr die Forensikerin fort und redete mehr mit ihren Händen, die sie in der Luft herumfuchteln ließ, als mit ihrem Boss. „Und wir beide wissen ja, dass er sich in den letzten Tagen mehr als komisch benommen hat. Deshalb habe ich mir gedacht, ich stelle ihn ein wenig auf die Probe. Und weißt du was?" Sie blieb direkt vor Jethro stehen und fixierte ihn mit ihren großen, grünen Augen. Ihre Frage war rein rhetorisch, weshalb er nichts antwortete, aber nichtsdestotrotz wartete er ungeduldig darauf, dass sie den Faden wieder aufnahm. „Er hat nicht einmal gewusst, dass er die Lungepest hatte, das habe ich an seinem überraschten Blick bemerkt. Zwar hat er versucht, alles zu überspielen, aber ich schwöre dir, er hat sich nicht daran erinnert, dass er fast gestorben ist. Aber das ist noch nicht alles." Abby nahm ihre Wanderung wieder auf und sie war sichtlich angespannt.

Gibbs' ungutes Gefühl steigerte sich immer mehr, vor allem, als er realisierte, dass die junge Goth Tony nicht beim Namen nannte. Kein einziges Mal – ausgenommen kurz vorher - in ihrem Vortrag war er vorgekommen, nicht einmal sein Nachname. Es war so, als ob sie von einer fremden Person sprechen würde. Und was sollte das heißen, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass er die Lungenpest gehabt hatte? Wenn man dem Tod von der Schippe gesprungen war, vergaß man so etwas nicht. Jethros Eingeweide verkrampften sich schmerzhaft, als ihm klar wurde, dass Abby drauf und dran war, ihm zu sagen, was mit seinem Agent nicht stimmte. Was hatte sie nur herausgefunden?
„Abbs!" sagte er schroffer als er vorgehabt hatte, aber er wollte endlich eine Erklärung haben, weshalb sie sich so seltsam verhielt – und weshalb Tony vergessen hatte, dass er die Lungenpest gehabt hatte. Sie blieb erneut vor ihm stehen und stemmte ihre Hände in die Hüften. „Weißt du, was das Schlimmste ist? Er kann sich nicht einmal daran erinnern, dass Kate tot ist. Ich habe vorgeschlagen, dass wir sie besuchen und aus einem Impuls heraus gemeint, er solle für sie Pralinen kaufen. Und er hat einfach genickt, anstatt zu sagen, dass Kate mit Pralinen nichts anfangen kann, immerhin ist ja nicht mehr am Leben. Nicht einmal er könnte so durch den Wind sein, dass er das vergessen würde. Und das hat mir zu denken gegeben."

Mit einem Ruck drehte sie sich um, eilte mit zwei großen Schritten zu ihrem Computer und tippte etwas in ihre Tastatur. Gibbs löste sich von dem Tisch und stellte sich neben sie, noch immer überrascht davon, was ihm Abby soeben erzählt hatte. Seine Eingeweide waren mittlerweile ein Knoten, zumal er plötzlich das Gefühl hatte, dass ihm die Wahrheit, weshalb sich Tony so anders benahm, nicht gefiel. Wie konnte er sich nur nicht an Kates Tod erinnern? Immerhin war er dabei gewesen, als sie erschossen worden war, hatte ihr Blut ins Gesicht bekommen. Und dann erklärte er sich einverstanden, Pralinen für jemanden zu besorgen, der damit nichts anfangen konnte? Wie war das nur möglich?
„Komm endlich zum Punkt, Abbs", entgegnete Jethro und schenkte ihr einen gefährlich funkelnden Blick. Aber sie ließ sich davon nicht beeinflussen, sondern tippte weiterhin auf der Tastatur herum, bis jenes Bild von Tony erschien, das sich ebenfalls auf seinem Dienstausweis befand. Eine Sekunde später erschien ein zweites Foto von ihm, das sichtlich älter war. Seine Haare waren länger, seine Gesichtszüge noch nicht gänzlich ausgereift und er war erst dabei, sich komplett zu einem Mann zu wandeln. Aber es war nicht die Tatsache, dass er auf dem Bild etwa 20 Jahre alt war, sondern der orangene Gefängnisoverall und das Schild mit einer Nummer, das er in Händen hielt, die seine Aufmerksamkeit erregte. Ungläubig starrte Gibbs auf den Bildschirm und versuchte zu realisieren, dass Tony irgendwann einmal verhaftet worden und das nirgendwo erwähnt worden war, geschweige denn, dass er es selbst einmal erzählt hätte. Was ging hier nur vor sich?

„Wir haben Tonys Fingerabdrücke ja in der Datenbank gespeichert", sagte Abby schließlich und riss Jethro damit aus der Betrachtung des Fotos. „Und vorher ist mir eine Idee gekommen, die selbst mir mehr als verrückt vorgekommen ist, aber nichtsdestotrotz habe ich sie überprüft, da sie mir keine Ruhe mehr gelassen hat. Deshalb habe ich Fingerabdrücke genommen, die er heute Mittag auf einem Tisch hinterlassen hat und habe sie mit denen aus der Datenbank verglichen." Sie machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen, aber als Gibbs unheilverkündend mit seinem Unterkiefer mahlte, hielt sie es für besser, fortzufahren. „Sie stimmen nicht überein, Bossman", sagte sie schließlich leise und beobachtete genau seine Reaktion. Seine Augenbrauen hoben sich verblüfft. „Was soll das heißen, die Fingerabdrücke stimmen nicht überein?" Seine Stimme war lauter geworden, was Abby als kein gutes Zeichen wertete. „Abbs! Wie kommt es, dass die Fingerabdrücke von Tony nicht mit denen aus der Datenbank übereinstimmen?!" Ungeduldig wiederholte er sich, obwohl er ihr nicht einmal zwei Sekunden zum Antworten gegeben hatte.
Sie holte tief Luft und setzte zu einer Erklärung an, wobei sie erneut etwas in ihre Tastatur tippte. „Ich habe die Fingerabdrücke schließlich durch weitere Datenbanken laufen lassen", sagte sie, darauf bedacht, alles nach der Reihe zu erzählen und ging deshalb nicht auf Gibbs' Frage ein, aber er bekam keine Gelegenheit, sich deswegen aufzuregen. „Und ich habe einen Treffer gelandet. Sie stimmen mit denen eines gewissen Christopher Cooper überein. Dieser wurde vor etwa 13 Jahren wegen Einbruchs in Los Angeles verhaftet, hat sechs Monate im Gefängnis gesessen und wurde anschließend wieder entlassen. Seitdem hat er sich nie wieder etwas zu Schulden kommen lassen."
Gibbs sah zu dem Bild von Tony in dem orangenen Overall und versuchte seine wirren Gedanken zu ordnen. Irgendwie verstand er gar nichts mehr. „Vor 13 Jahren? DiNozzo war damals auf der Ohio State. Du musst dich irren, Abbs. Wie kann er in Los Angeles verhaftet worden sein, während er gleichzeitig hinter jedem Mädchen auf dem Campus her war?" wollte er wissen und versuchte alles logisch zu betrachten. Aber er kam einfach auf keinen grünen Zweig.
„So Leid es mir auch tut, mein silberhaariger Fuchs, aber es ist kein Irrtum", antwortete Abby und tippte etwas in ihrer Tastatur herum. „Die Fingerabdrücke passen nicht zu Tony, aber zu diesem Christopher und da er ja, wie wir hier auf dem Foto wunderbar sehen können, genauso aussieht wie unser Sunnyboy, habe ich ein wenig meine Beziehungen spielen lassen, ein paar Telefonate geführt und einen Gefallen eingefordert und voilà…" Sie drückte die Entertaste, drehte sich zu Gibbs und grinste ihn breit an, während auf dem großen Plasmabildschirm ein Dokument auftauchte, „…darf ich vorstellen? Christopher DiNozzo, Tonys Zwillingsbruder."

Auf ihre Worte folgte eine unheimliche Stille, die nur durch die leise Musik unterbrochen wurde. Jethro stand für ein paar Sekunden einfach nur da, starrte die Geburtsurkunde an, die Abby auf dem Bildschirm projiziert hatte und versuchte zu realisieren, was er da gerade erfahren hatte. Sein Blick glitt zwischen dem Dokument und dem Bild von Christopher hin und her, nicht sicher, was er von alldem halten sollte. Er hatte das dringende Bedürfnis, etwas zu sagen, aber ihm fehlten zum ersten Mal seit langer Zeit die richtigen Worte und so beschränkte er sich darauf, Zeile für Zeile durchzulesen. Abby tippte erneut etwas in ihre Tastatur und eine zweite Geburtsurkunde erschien: die von Tony. Und mit einem Schlag erfasste Gibbs die gesamte Tragweite der Situation. Es gab einen Mann, der genauso aussah wie sein bester Agent, der am selben Tag Geburtstag hatte und lediglich 10 Minuten jünger war. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Nicht Anthony war in den letzten Tagen bei ihnen gewesen, sondern sein Bruder, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatten, nicht Anthony hatte ihn in den letzten Tagen mit blöden Sprüchen auf die Palme gebracht und seine beiden Kollegen geärgert. Und jetzt wurde ihm auch bewusst, weshalb er auf einmal nicht mehr wusste, warum er ein Boot in seinem Keller baute, warum er so schockiert reagiert hatte, als er ihm am Dienstagmorgen eine Kopfnuss verpasst hatte und vor allem, warum er nicht mehr wusste, dass Kate tot war.
Jemand hatte es doch tatsächlich geschafft, ihn hinters Licht zu führen und ein Spiel mit ihm zu spielen und sein Lügendetektor hatte einfach versagt. Wo war nur sein Spürsinn geblieben, der ihm sonst immer sagte, dass etwas nicht stimmte? Das hatte er zwar gefühlt, es aber auf ein Ereignis in der Vergangenheit geschoben; nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, dass es einen zweiten DiNozzo gab, der genauso wie Tony aussah und sich auch meistens so verhielt.
„Hast du eine Ahnung, wie es ist, von seinen eigenen Eltern nicht geliebt zu werden? Hast du eine Ahnung, wie es ist, einfach links liegen gelassen zu werden, egal wie oft man versucht, Aufmerksamkeit zu erregen? Nichts konnte ich ihnen Recht machen, war für sie teilweise nur Luft, außer wenn es darum ging, mich anzubrüllen. Dabei war ich derjenige, der die besseren Noten nach Hause brachte. Ich war immer der brave Sohn gewesen, habe immer alles gemacht, um sie zufrieden zu stellen. Aber hat es gereicht? Nein. Egal was ich auch gemacht habe, es war nie gut genug. Ihre gesamte Aufmerksamkeit und Liebe schenkten sie…
Die Unterhaltung von gestern im Fahrstuhl kam Gibbs wieder in den Sinn, an jedes einzelne Wort konnte er sich erinnern, die Traurigkeit, gepaart mit Bitterkeit, in den grünen Augen. Nicht Tony war von seinen Eltern nicht geliebt worden, sondern sein Bruder. Dieser war es gewesen, der die schwere Kindheit gehabt hatte, dieser war es gewesen, der versucht hatte, Aufmerksamkeit zu erregen.
Egal was ich auch gemacht habe, es war nie gut genug. Ihre gesamte Aufmerksamkeit und Liebe schenkten sie…

Vor allem dieser eine Satz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Was war nur vorgefallen, dass jemand sein Kind nicht liebte? Warum spielte Christopher ihnen vor, sein Bruder zu sein und wieso hatte Tony nie erwähnt, dass er Geschwister hatte? Wieso hatte er das bloß verschwiegen? Wenn sie das gewusst hätten, hätte er gleich darauf kommen können, was mit ihm nicht stimmte und dann hätte er sich auch die ganzen Sorgen sparen können, die er sich gemacht hatte. Da wollte er einmal herausfinden, was einen seiner Agents bedrückte und dann stellte sich heraus, dass eine ganz andere Person in den letzten Tagen hier gewesen war.
Die anfängliche Sprachlosigkeit wandelte sich rasend schnell in Wut um und Gibbs hatte Mühe, seine Faust nicht auf den Tisch krachen zu lassen. Er konnte nicht fassen, dass jemand so ein falsches Spiel mit ihm getrieben hatte – mit ihnen allen. Die Überraschung, dass Tony auf einmal einen Zwillingsbruder hatte, verflüchtigte sich so schnell wie sie gekommen war und hinterließ nichts als Ärger. Dieser Christopher würde noch lernen, dass es für seine Gesundheit nicht besonders förderlich war, den Chefermittler derart hinters Licht zu führen.

„Das ist abgefahren, oder?" riss ihn Abby aus seinen Gedanken und erst jetzt registrierte er wieder, dass er sich in dem Labor befand. „Abgefahren?!" schrie er, unfähig, seine Wut länger zurückzuhalten. „Du nennst es abgefahren, dass sich jemand als Tony ausgibt und uns vormacht, der richtige DiNozzo sei bei uns?! Ich finde das nicht abgefahren, sondern hinterhältig! Und wo zum Teufel noch mal steckt dieser überhaupt, wenn auf einmal sein Bruder an seinem Schreibtisch sitzt?!"
Abby ließ sich von seinem Wutausbruch nicht aus dem Konzept bringen, allerdings erlosch ihr anfängliches Grinsen aus ihrem Gesicht. Sie konnte sich gut vorstellen, dass es ihrem Boss nicht gefiel, die Wahrheit zu hören und er reagierte genauso wie sie es sich vorgestellt hatte.
„Ich habe keine Ahnung, wo Tony steckt", sagte sie ruhig und atmete erleichtert auf, als sich Gibbs ein wenig entspannte, aber in seine Augen trat ein unheilverkündendes Funkeln, von dem sie annahm, dass es in der dritten Etage wohl bald ein riesengroßes Donnerwetter gab und Christopher konnte sich bereits warm anziehen. Niemand führte ihren silberhaarigen Fuchs an der Nase herum und kam ungestraft davon, ungeachtet dessen, wessen Bruder er war.

„Aber ich habe noch etwas herausgefunden, was mich ziemlich irritiert. Christopher wurde, als er 17 Jahre alt war, als vermisst gemeldet und ein Jahr später von seinem Vater für tot erklärt." „Für tot erklärt?" fragte Gibbs nach, nicht sicher, ob er Abby richtig verstanden hatte. „Für mich sieht er aber mehr als lebendig aus, vor allem, wenn er etwa zwei Jahre später verhaftet worden ist und jetzt oben sitzt und allen weis macht, er sei Tony." „Nun, ich schätze, dass er von zu Hause abgehauen ist", erwiderte die junge Frau und legte ihren Kopf leicht schief. „Darauf deutet alleine die Vermisstenanzeige hin. Aber ich kann mir keinen Reim darauf machen, weshalb sein Vater ihn für tot erklären hat lassen. Viel mehr würde mich jedoch interessieren, warum Tony verschwiegen hat, dass er einen Zwillingsbruder hat und vor allem, warum dieser plötzlich wieder auftaucht und seine Identität übernommen hat." „Das würde ich auch gerne wissen", meinte Gibbs und versuchte seinen Ärger zu zügeln. Es war nicht Recht, diesen an der jungen Frau auszulassen, war sie doch nur diejenige, die die Wahrheit herausgefunden hatte. Nein, seine Wut würde jemand anders zu spüren bekommen.
„Und ich werde das auch herausfinden. Er wird sich noch wünschen, nie hier aufgetaucht zu sein." „Aber wenn du ihn auf deine nette Art auseinandernimmst, kann es sein, dass er mauert und wir nicht erfahren, wo Tony ist. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass er freiwillig den Platz mit seinem Bruder getauscht hat. So etwas würde er nie tun. Ich meine, Tony hat zwar jede Menge Blödsinn im Kopf, aber so etwas würde nicht einmal er machen."

Jethro seufzte leise und nickte. Abby hatte Recht. So wie es aussah, war sein Agent von seinem eigenen Bruder entführt worden, was alleine schon mehr als krass war. Gleich darauf drängte sich ihm die Frage auf, was Anthony gemacht hatte, um Christopher zu dieser Tat zu verleiten? Was war damals passiert, dass dieser einfach abgehauen war? Und warum tauchte er gerade jetzt wieder auf?
„Schick alles was du gefunden hast an McGees Computer. Und ich werde jetzt ein ernstes Wort mit einem gewissen DiNozzo reden." „Aber feinfühlig und reiß ihm nicht gleich den Kopf ab", meinte Abby und blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. Er sollte feinfühlig zu einem Mann sein, der ihn hinters Licht geführt hatte? Von wegen… Jetzt war Schluss mit lustig. Christopher hatte lange genug Spaß gehabt und er würde die nächsten Stunden in einem Verhörraum verbringen, so lange, bis er ausgespukt hatte, wo Tony steckte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, eilte er aus dem Labor, wütend darüber, dass sein ruhiger Nachmittag beim Teufel war. Und das würde in ein paar Minuten jemand ganz deutlich zu spüren bekommen.

Fortsetzung folgt...
Chapter 27 by Michi
Etwas außerhalb von Washington
Zur selben Zeit


Die Sonne war für den Monat Mai bereits ziemlich warm und als meine Wangen verdächtig heiß geworden waren, hatte ich es vorgezogen, ins Innere des Hauses zurückzukehren, bevor ich in den nächsten Tagen rot wie ein Krebs herumlaufen musste – Ziva würde sich garantiert darüber lustig machen, wenn sie mich so sehen würde.
Ein Sandwich hatte nicht ausgereicht, um meinen Hunger zu stillen und so hatte ich erneut Chris' Kühlschrank geplündert, um anschließend ein kleines Chaos in seiner Küche anzurichten. Die Spaghetti, die ich nach einem Rezept von Lucille zubereitet hatte, waren mehr als lecker gewesen, genauso wie ich sie am liebsten mochte. Die Nudeln waren al dente und die dazugehörige Sauce würzig-scharf, aber nicht so scharf, dass ich mir meinen Mund verbrannt hätte. Der köstliche Geruch hatte sich im ganzen Raum ausgebreitet und meinen Magen zu Höchstleistungen animiert. Eine Stunde später waren Töpfe und Teller, die ich benötigt hatte, herumgestanden und da ich wusste, dass mein Bruder auf Ordnung achtete, hatte ich die gesamten Utensilien in die Spülmaschine verbannt – wäre ich bei mir zu Hause gewesen, hätte ich sie einfach stehen lassen, in der Hoffnung, sie würden sich von selbst reinigen.

Anschließend hatte ich mich faul auf die Couch, die äußerst bequem war, gelegt und den Fernseher eingeschaltet, der zwar nicht so groß wie der im Schlafzimmer war, aber nichtsdestotrotz war die Bildqualität hervorragend, was man von der Qualität der Sendungen, die um diese Uhrzeit ausgestrahlt wurden, nicht behaupten konnte. Eine langweilige Talkshow nach der anderen flimmerte über den Schirm, egal welchen Sender ich mir aussuchte. Irgendwann hatte ich schließlich einen etwas älteren Spielfilm gefunden, dessen Titel ich noch nie zuvor gehört hatte, was mich ein wenig wunderte, war ich doch ein Filmfreak schlechthin - aber so konnte ich mein Kontingent aufstocken. Mittlerweile waren meine Augen jedoch nur noch halboffen und ich gähnte in regelmäßigen Abständen. Die riesengroße Portion Spaghetti, die ich mir gegönnt hatte, forderte langsam ihren Tribut und ich döste ein, nur um gleich darauf wieder hochzuschrecken. Ich wollte nicht einschlafen, wollte ich doch munter sein, wenn Chris zurück kam. Mir war klar, dass er gesagt hatte, er würde mich erst am Abend gehen lassen, aber dennoch hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass er mir viel früher einen Besuch abstatten würde. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich so schnell wie möglich aus dem Hauptquartier verschwinden, um das Risiko, aufzufliegen, zu vermeiden. Und wie ich ihn kannte, würde er dies auch tun, was wiederum bedeutete, dass ich nicht mehr lange Zeit hatte, um mir zu überlegen, wie ich ihn dazu bringen konnte, in Washington zu bleiben. Mein Gehirn jedoch schien auf Urlaub zu sein, jedenfalls fiel mir nichts Sinnvolles ein. Aber vielleicht wäre es besser, einfach alles auf mich zukommen zu lassen, sodass ich spontan entscheiden musste, was ich zu Chris sagen könnte. Auf alle Fälle würde ich ihn nicht kampflos ziehen lassen – nicht wie letztes Mal. Da hatte ich gedacht, er würde nur ein wenig brauchen, um seine Wut unter Kontrolle zu bringen, um sich anschließend meine Erklärung anzuhören – dass er abhauen würde, damit hätte ich nie gerechnet. Ich hatte ihn für stark eingeschätzt, aber dass er davongelaufen war, hatte mich hart getroffen, war ich mir doch bewusst gewesen, dass es meine Schuld gewesen war. Hätte ich Amy frühzeitig gestoppt, wäre es nie so weit gekommen und Chris' und mein Leben wären vielleicht anders verlaufen, wir hätten uns wahrscheinlich nie aus den Augen verloren, aber das Schicksal hatte nun einmal andere Pläne für uns parat gehabt.

Jetzt, wo wir wieder zusammengefunden hatten, würde ich nicht zulassen, dass wir erneut getrennte Wege gingen, nicht, wo sich sein Hass auf mich in Luft aufgelöst hatte. Ich wusste genau, dass er Angst vor den Konsequenzen hatte, wenn Gibbs erfuhr, dass ich einen Zwillingsbruder hatte und dass dieser mich entführt hatte, wobei ich mich nicht länger als Opfer fühlte. Chris hatte zwar alles falsch angepackt, aber ich konnte ihm nicht böse sein – jedenfalls nicht mehr, dafür war ich viel zu glücklich, dass es ihm gut ging und er nicht tot war, so wie es mein Vater angenommen hatte. Ich hatte ihm nie verziehen, dass er seinen eigenen Sohn für tot erklären hatte lassen. Diese Tatsache hatte uns auseinandergebracht und mich noch mehr in meiner Entscheidung bestärkt, auf die Ohio State zu gehen – etwas, was meinem Dad gewaltig gegen den Strich gegangen war, aber mich hatte es mit Befriedigung erfüllt. Zu wissen, dass nichts nach seinen Plänen lief, war ein herrliches Gefühl gewesen und als er erfahren hatte, dass ich der Polizei beitreten wollte, war er buchstäblich an die Decke gegangen und hatte mich einfach hinausgeworfen, in der Hoffung, ich würde mich deswegen anders besinnen und wieder zurückkommen, aber ich hatte mich alleine durchgekämpft. Seit diesem Tag hatte ich ihn nicht mehr gesehen, außer auf der Beerdigung meiner Mutter und da hatten wir kein einziges Wort miteinander gewechselt.
Den ersten richtigen Streit hatten wir gehabt, als ich ihm erzählt hatte, dass Chris abgehauen war und er auf diese Nachricht mit Gleichgültigkeit reagiert hatte. Das war der Zeitpunkt gewesen, wo zwischen uns eine große Kluft entstanden war, die wir bis heute nicht überbrückt hatten…

Die Sonne ging gerade über dem Horizont auf und tauchte die Baumwipfel des großen Gartens, der hinter der Villa angelegt worden war, in ein schimmerndes Licht. Das Wasser des Pools glitzerte und leichte Wellen schwappten gegen den Rand des Beckens. Über Nacht war ein wenig Wind aufgekommen und hatte den Leuten, die wegen des schwülen Wetters litten, etwas Linderung verschafft. Allerdings war die Brise dabei, bereits abzuflauen, um einen weiteren heißen Maitag zu hinterlassen, dessen Luftfeuchtigkeit in ungeahnte Höhen klettern und Schweißausbrüche zur Folge haben würde. Selbst die Vögel, die ihr übliches Morgenkonzert anstimmten, klangen leiser als sonst und schienen wegen der Hitze genauso zu leiden wie die Einwohner Washingtons.
Von Minute zu Minute gewann die Sonne an Kraft und färbte den Himmel langsam von blutrot zu blau. Obwohl es erst kurz nach sechs Uhr war, betrug die Temperatur bereits 21 Grad, fühlte sich aber wie 28 Grad an. Die verschiedensten Tiere kamen aus ihren Unterschlüpfen, nur um sich gleich darauf wieder in den Schatten zu verziehen, um so der Hitze etwas zu entgehen.
Der Wind flaute komplett ab und hinterließ nichts weiter als unheimliche Stille. Das schwüle Wetter, die Ruhe, die mir ständig aufs Gemüt drückte, der schwere Duft der Rosen und das träge Zwitschern der Vögel interessierte mich nicht die Bohne. Es war Samstag und um diese Uhrzeit lag ich normalerweise noch im Bett und schlief tief – nicht einmal eine Bombenexplosion hätte mich aus diesem Stadium reißen können - aber letzte Nacht hatte ich kein Auge zugemacht. Mein Körper hatte zwar nach Schlaf verlangt, aber mein Gehirn war unfähig gewesen, eine Pause zu machen. Ständig hatte ich die Szene vom Vorabend durchgespielt, war sie immer wieder durchgegangen, unfähig, die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen. Ich hatte mich unruhig herumgewälzt, jede Position war unbequemer als die vorherige gewesen und ich hatte die Laken nass geschwitzt. Die Luft war in der Nacht nicht kühler geworden und hatte mein Elend noch mehr verstärkt. Zusätzlich hatte mein Unterkiefer geschmerzt und mich Sekunde um Sekunde an Chris' Wut erinnert, als er in mein Zimmer geplatzt war, nur um mitzubekommen, wie Amy mich geküsst hatte.

Ich konnte weiterhin nicht fassen, dass sich hinter der lieblichen Fassade, die sie in den letzten Monaten an den Tag gelegt hatte, so ein Biest versteckte. Wir hatten uns blenden lassen und sogar ich war von ihrem Charme eingenommen gewesen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, weshalb sie sich derart an mich herangeschmissen hatte. War sie auf ein Abenteuer aus gewesen? Hatte sie testen wollen, wie weit ich gehen und ob ich das Vertrauen meines Bruder missbrauchen würde? Oder war ihr Chris zu langweilig geworden? Egal was der Grund, der sie in mein Zimmer geführt hatte, gewesen war, ich wollte ihn nicht wissen. Es interessierte mich nicht, was sie dazu veranlasst hatte, derart die Grenze zu überschreiten, es zählte nur, dass mich mein Bruder mit einem Hass angeblickt hatte, der mich mehr schmerzte als der harte Schlag in mein Gesicht. Dieser hatte einen dunklen, blauen Bluterguss auf meinem Unterkiefer hinterlassen, der sich deutlich von meiner Haut abhob. Aber dieser würde bald verschwinden, die Schuldgefühle in meinem Inneren würden jedoch bleiben. Das Wissen, dass Chris unglaublich wütend auf mich war, hatte meine Eingeweide zu einem harten Knoten werden lassen und war teilweise der Grund gewesen, dass ich letzte Nacht den Sternenhimmel angestarrt hatte, anstatt zu schlafen, kurz bevor ich mich wieder herumgewälzt hatte, da ich es nicht geschafft hatte, länger als fünf Minuten ruhig liegen zu bleiben. Ich war mehr als einmal kurz davor gewesen, aufzustehen und zu Chris zu gehen, um ihm alles zu erklären, aber ich hatte das unbestimmte Gefühl gehabt, dass er mich wegschicken würde. So hatte ich beschlossen – auch wenn es mir mehr als schwer gefallen war – ihm Zeit zu lassen, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen.
Jetzt, um kurz nach sechs Uhr, stand ich vor seinem Zimmer und bereitete mich innerlich auf die Konfrontation vor, die unweigerlich kommen würde. Aber ich war nicht bereit, erneut wegzugehen, sollte er dies von mir verlangen. Ich hatte ihm genug Zeit gelassen und nun war es an mir, hartnäckig zu sein. Das Gespräch, das ich mit ihm führen wollte, würde ich nicht länger aufschieben und musste ich ihn auf einen Stuhl festbinden, damit er mir zuhörte, dann würde ich es auch machen. Ein letztes Mal blickte ich den Gang hinauf und hinunter, nur um festzustellen, dass ich weiterhin alleine war. Es war ruhig in der Villa, obwohl ich wusste, dass bereits alle auf den Beinen waren. Meine Eltern waren von jeher Frühaufsteher und Lucille war jeden Tag vor sechs Uhr wach, ungeachtet dessen, das es Samstag war.

Ich holte tief Luft, bevor ich meinen Arm hob und laut gegen die Tür klopfte, sodass das Geräusch in dem stillen Flur widerhallte. Im Inneren des Zimmers rührte sich hingegen nichts, nicht einmal der leiseste Laut war zu hören, egal wie angestrengt ich lauschte. „Chris!" rief ich und schlug mit der Faust gegen das stabile Holz. „Mach die Tür auf! Wir müssen reden!" Ein paar Sekunden ließ ich verstreichen, in denen ich nur meinen Herzschlag wahrnahm, der sich unwillkürlich erhöht hatte. „Komm schon, Kleiner!" probierte ich es weiter, wobei ich ihn absichtlich so nannte, da ich wusste, dass er das auf den Tod nicht ausstehen konnte. „Schwing deinen Hintern aus dem Bett und mach endlich die Tür auf!" Ich wurde lauter und wütender, als er noch immer nicht reagierte. Nichts rührte sich, nicht einmal Schritte waren zu hören. Ich konnte verstehen, dass er mich nicht sehen wollte, nicht nachdem was gestern geschehen war, aber meine Geduld war am Ende. Ich würde nicht zulassen, dass ein Mädchen einen Keil zwischen uns trieb und ich wollte die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich klären. Und wenn ich ihn deshalb eigenhändig aus dem Bett zerren musste, dann würde ich das ohne zu zögern auch tun.
Ein letztes Mal hieb ich meine Faust gegen die Tür, bevor ich sie sinken ließ und meine Hand auf die Klinke legte, die ich gleich darauf nach unten drückte. Ich rechnete damit, dass die Tür abgeschlossen war, aber zu meiner größten Überraschung schwang sie ohne Probleme nach innen auf. Der Anblick, der sich mir bot, ließ mich erstarren und ein kalter Schauer jagte mir über meinen Rücken. Die Sonne enthüllte ein Chaos, das ich in Chris' Zimmer, in dem normalerweise alles seinen Platz hatte, noch nie gesehen hatte. Das Bett war nicht gemacht, die Decke lag halb auf dem Boden, halb auf der Matratze und war zerknittert. Auf dem Boden waren Bücher und Kleidungsstücke unwillkürlich verstreut worden, so als ob ein Wirbelsturm durch den Raum gefegt wäre. Die Schranktüren waren geöffnet, genauso wie die Schubladen der Kommoden und ich konnte deutlich erkennen, dass ein paar der Klamotten fehlten. Der Rucksack, der sonst immer neben dem Schreibtisch stand, war ebenfalls verschwunden und in meinem Kopf schrillten deswegen alle Alarmglocken. Ich starrte ungläubig auf die Unordnung, mein Herz schlug wie wild in meiner Brust und ich versuchte zu verarbeiten, was so offensichtlich war. Chaos, fehlende Kleidung, fehlender Rucksack und vor allem ein nicht anwesender Chris. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich hatte das Gefühl, in eine Wanne voll Eiswasser getaucht zu werden, so kalt wurde mir, trotz der Hitze, die momentan herrschte. Mein T-Shirt klebte klamm an meinem Körper, genauso wie meine Jeans, deren Stoff sich unangenehm auf meine Haut legte.

Endlose Sekunden verstrichen und ich blinzelte ein paar Mal, aber das Bild vor meinen Augen änderte sich nicht. Alles blieb so wie es war – unordentlich und verlassen. Mit keuchendem Atem betrat ich wie in Trance das Zimmer, nicht so recht wissend, was ich jetzt machen sollte. „Chris!" rief ich erneut und mit heiserer Stimme, aber ich wusste, dass keine Antwort kommen würde. Meine Schritte wurden größer, ebenso die Angst, die von mir Besitz ergriff, als ich realisierte, was der verlassene Raum bedeutete. „Bitte, bitte nicht", flüsterte ich mit einem dicken Kloß im Hals und auf einmal fiel die Trägheit von mir ab und ich begann, jeden Winkel zu durchsuchen, blickte in den Schrank, in jede Ecke und in meiner Panik sogar unter das Bett, in der Hoffnung, er würde sich darunter verstecken und mir nur einen Streich spielen, aber er blieb verschwunden, war fort. In meinem Bestreben, Chris zu finden, brachte ich noch mehr Unordnung in das Chaos, was mir aber vollkommen egal war. Ich durchsuchte seine gesamten Sachen, um einen Hinweis zu entdecken, der mir eventuell verriet, wo er sich aufhielt. Aber innerlich wusste ich genau, wonach ich stöberte: nach einem Abschiedsbrief. Es war unübersehbar, dass er abgehauen war, sonst wäre sein Rucksack noch da, genauso wie die Kleidung, die er am liebsten trug. Seine Sparkasse, die die Form eines Footballs hatte, lag zertrümmert auf dem Boden und kein einziger Cent war mehr darin enthalten. Neben den Scherben fand ich etwas, das mein Herz dazu veranlasste, noch schneller zu schlagen als es ohnehin schon tat. Ich bückte mich und hob einen zerbrochenen Bilderrahmen auf, dessen Glas kaputt war und ich mich daran beinahe geschnitten hätte. Darunter kam ein Foto, das in der Mitte auseinandergerissen worden war, zum Vorschein. Es zeigte Chris, der einen Arm um Amys Schulter gelegt hatte und beide lächelten glücklich in die Kamera. Hinter ihnen konnte man einen wolkenlosen, blauen Himmel und Bäume, die gerade anfingen zu blühen, sehen. Es war unübersehbar, wie verliebt Chris war und seine Freundin machte den Eindruck, dasselbe für ihn zu empfinden.

Schuldgefühle überkamen mich mit so einer Wucht, dass ich die beiden Teile des Bildes fallen ließ, so als ob ich mich daran verbrannt hätte. Sie segelten lautlos zu Boden, wo sie mit der glänzenden Oberfläche nach oben zu liegen kamen. In meinen Augen brannte es verräterisch und der Kloß in meinem Hals wurde dicker. Die Umgebung wurde verschwommen und ich blinzelte ganz schnell die Tränen weg, bevor sie mir über die Wangen rinnen konnten. Meine Eingeweide verkrampften sich schmerzhaft und bildeten einen harten Knoten in meinem Bauch. Ich spürte nur noch den Schmerz und die Schuldgefühle, als ich endgültig begriff, das Chris verschwunden war, was aber nicht bedeutete, dass ich es akzeptieren wollte. Ich klammerte mich an den kleinsten Strohhalm und deshalb drehte ich mich um und durchsuchte jedes Zimmer der Villa. Etage für Etage durchkämmte ich das Anwesen, nicht einmal der Keller blieb verschont. Ich ignorierte Lucilles verwirrte Blicke, als ich die Küche erreichte, in der sie gerade Frühstück machte, wonach ich momentan überhaupt keine Lust hatte. Sie rief mir etwas nach, als ich den Raum wieder verließ, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sich mein Bruder nicht darin aufhielt und setzte meine Suche fort. Nicht einmal in der Bibliothek fand ich ihn, wo er sich gerne verkroch, um alleine zu sein. Aber ich wusste genau, dass er nicht in dem Haus war, nicht nachdem ich entdeckt hatte, das ein Teil seiner Kleidung, sein Rucksack und Geld fehlte.

Meiner Mutter begegnete ich nicht, weshalb ich annahm, dass sie bei ihrer Freundin übernachtet hatte, wohingegen ich meinen Vater laut fluchen hörte, als ich die Tür zu seinem Arbeitszimmer erreichte – den einzigen Raum, den ich noch nicht durchsucht hatte. Aber die Chance, dass sich Chris dort drinnen aufhielt, war gleich null. Aber dennoch würde ich hineingehen, musste Dad sagen, dass sein Sohn abgehauen war. Er hatte sicher Mittel und Wege, um ihn zu finden, immerhin war er ein einflussreicher Mann und hatte viele gute, hochrangige Bekannte. Zwar hatte er meinen Bruder nie so wie mich behandelt, aber dieser war immerhin sein Kind und da würde er garantiert alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn zu aufzuspüren.
Mit etwas mehr Zuversicht, die die Panik in meinem Inneren ein wenig dämpfte, klopfte ich an die Tür und öffnete sie, ohne auf eine Antwort zu warten und wünschte gleich darauf, dass ich es getan hätte. Mein Vater saß in seinem übergroßen, schwarzen Ledersessel und war dabei, sämtliche Schubladen seines Schreibtisches zu durchsuchen. Sein Kopf, der bei meinem Eintreten in meine Richtung gedreht worden war, war hochrot und seine Augen waren blutunterlaufen. Seine Haare waren zerzaust, die Hose und das weiße Hemd zerknittert und es schien so, als ob er in den Sachen geschlafen hätte. Auf dem runden Tisch, der sich bei der Sitzecke befand, standen Gläser und die halbleere Whiskeyflasche, worauf ich schloss, dass er wieder einmal ziemlich viel getrunken hatte. Im gesamten Raum roch es durchdringend nach Alkohol und alleine das genügte, um mich leicht schwindelig zu machen.

In Dads Augen lag eine Wut, die mich beinahe zurückstolpern ließ und das Krachen, mit dem er einen Stoß Papiere auf den Schreibtisch, auf dem zahlreiche Zetteln herumlagen, knallte, ließ mich zusammenzucken. Die schlechte Laune, die er hatte, konnte ich förmlich spüren und ich hatte mir den schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht, um ihm zu sagen, dass Chris verschwunden war – aber einen Rückzieher würde ich nicht machen, immerhin zählte jede Sekunde. Deshalb betrat ich den Raum und schluckte, als er mich anfuhr: „Habe ich dir etwa erlaubt, hier einfach so hereinzuplatzen?!" Die Worten kamen ein wenig undeutlich über seine Lippen und eine Wolke Alkohol schwebte mir entgegen, als er seinen Atem in meine Richtung ausstieß. Ich rümpfte die Nase, war aber klug genug, mir einen Kommentar zu verkneifen. Er war meistens unausstehlich, wenn er getrunken hatte und da es nicht einmal sieben Uhr war, war es mehr als offensichtlich, dass er noch nicht nüchtern war.
Dennoch stellte ich mich mutig vor den Schreibtisch und ließ mich von dem Blick aus den blutunterlaufenen Augen nicht aus dem Konzept bringen. „Wonach suchst du denn?" stellte ich eine Gegenfrage, in der Hoffnung, ihn ein wenig von seinem Ärger abzulenken – dass aber genau das Gesuchte seine Wut verursacht hatte, konnte ich nicht ahnen. Eine Sekunde später bereute ich es, danach gefragt zu haben. „Meine Geldbörse!" brüllte er los und mich wunderte es, dass die Fensterscheiben nicht zersprangen. „Ich habe sie gestern Abend in die oberste Schublade verstaut und jetzt ist sie weg, verschwunden! Und dabei habe ich diesen Raum nicht verlassen, nicht einmal als Daniel gegangen ist! Wo ist sie also hin?! Da waren um die 4 000 Dollar und meine gesamten Kreditkarten drin!" Die Lautstärke war angewachsen und die Tatsache, dass es wieder einmal um sein geliebtes Geld ging, verhinderte nicht, dass ich mir kaum ein Grinsen verkneifen konnte. Ich konnte mir denken, wo seine Brieftasche hingekommen war – Chris hatte sie sicher eingesteckt, kurz bevor er die Villa verlassen hatte. Noch dazu hatte er es geschafft, sie zu stehlen, während Dad auf der Couch geschlafen hatte. Von jeher hatten wir gewusst, dass er sein Geld im Schreibtisch aufbewahrte und letzte Nacht war keine Ausnahme gewesen. Das Wissen, dass mein Bruder nicht ganz mittellos war, beruhigte mich ein wenig, aber trotzdem blieb der Schmerz in meinem Inneren, genauso wie die Schuldgefühle. Vor ein paar Minuten hatte ich noch die Hoffnung gehegt, dass er vielleicht bei einem seiner Freunde war, aber jetzt, wo das viele Geld fehlte, war ich mir sicher, dass er nicht irgendwo anders übernachtet hatte, nicht mit 4 000 Dollar und jeder Menge Kreditkarten in der Tasche.
„Dad, ich muss mit dir reden", sagte ich schließlich so gefasst wie möglich, als er sich ein wenig beruhigt hatte und seine Gesichtsfarbe nicht mehr ganz so rot war. Erst jetzt schien er mich, da er seine Wut über das fehlende Geld herausgelassen hatte, richtig wahrzunehmen. Er musterte mich von oben bis unten, während er ein wenig steif in dem Sessel saß und kniff seine Augen zusammen, als sein Blick an meinem Unterkiefer hängen blieb, der wunderschön blau verfärbt war.

„Was ist denn mit dir passiert?" wollte er wissen und ich konnte erkennen, dass es ihm Mühe bereitete, seine Zunge zu bewegen. Die ersten Vorboten des Katers machten sich anscheinend bemerkbar. „Und sag jetzt nicht, du hattest einen Zusammenstoß mit einer Tür." „Nein, ich hatte einen Zusammenstoß mit einer Faust", erwiderte ich, da es sinnlos war, ihn anzulügen – das würde er gleich riechen und in seinem aktuellen Zustand wäre es für meine Gesundheit nicht gerade förderlich, ihm nicht die Wahrheit zu berichten.
„Mit einer Faust?!" polterte er los und beugte sich nach vorne, wobei er ein paar Zetteln vom Tisch stieß, die lautlos zu Boden fielen. „Hast du dich etwa geprügelt?! So weit ich mich erinnere, habe ich dir verboten, außer Haus zu gehen! Und du weißt genau, was passiert, wenn man einen Befehl von mir missachtet!" Ja, das wusste ich nur zu genau – noch mehr Hausarrest, gepaart mit der Tatsache, dass er jeden einzelnen Schritt, den ich machte, für mindestens zwei Wochen kontrollieren würde und dafür sorgte, dass ich einen ganzen Monat lang nicht fernsehen konnte. Aber diesmal war die Situation anders, diesmal hatte ich keinen Befehl missachtet.

„Ich war nicht außer Haus", erwiderte ich weiterhin ruhig, obwohl mir nach schreien zu Mute war. Ich hielt inne, da ich ein wenig Angst davor hatte, ihm zu sagen, woher ich die Prellung hatte, aber ich hatte keine andere Wahl. Er kannte Mittel und Wege, alles aus meiner Nase zu ziehen, auch wenn ich es nicht wollte. „Chris hat mich geschlagen", gestand ich schließlich leise, aber dennoch hatte er es wunderbar verstanden. Mein Vater riss seine Augen auf und eine Ader begann gefährlich an seiner Schläfe zu pochen. „Er hat was?!" Diese drei Worte waren das Einzige, was er herausbrachte, da er auf einmal seine Kiefer fest zusammenpresste und ich wusste, dass er mehr als wütend war. Ich war direkt froh, dass mein Bruder nicht hier war, der diesen Ärger sicher zu spüren hätte bekommen. Aber dennoch musste ich ihm sagen, dass dieser verschwunden war, immerhin war ich schuld daran. Und der Teufel sollte mich holen, wenn ich nicht alles versuchen würde, um ihn zu finden.
„Ja, Chris hat mich geschlagen, aber deswegen bin ich nicht hier", sagte ich und beobachtete, wie mein Gegenüber seinen Kopf schief legte, nur um ihn gleich darauf zu schütteln. Sein Gesicht war weiterhin rot und sein Blick glitt zu der Whiskeyflasche auf dem runden Tisch. Es war offensichtlich, dass er einen Drink benötigte, und das um halb sieben Uhr morgens. Die Zeit, die er brauchte, um zu realisieren, dass es mir nichts ausmachte, von meinem eigenen Bruder geschlagen worden zu sein – er hatte ja einen guten Grund gehabt, dies zu machen – nutzte ich aus und fuhr ganz schnell fort: „Chris ist verschwunden, Dad. Ich bin vorher in sein Zimmer gegangen und da war er nicht. Außerdem fehlt sein Rucksack, Kleidung und das Geld, das er gespart hat." Gleich darauf hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Mein Vater zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen und noch mehr Zettel flatterten zu Boden. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er ließ sie krachend auf den Tisch knallen. „Ich fasse es nicht!" brüllte er los und spießte mich mit seinen Blicken an. „Wie kann er es wagen?! ER hat meine Brieftasche, richtig?! ER hat sie gestohlen!"

Das Einzige, wozu ich fähig war, war ihn entgeistert anzustarren. Ich konnte es nicht glauben: da erzählte ich ihm, dass Chris verschwunden war und alles, was er im Sinne hatte, war sein Geld? Mich traf die Tatsache, dass ihm Dollars wichtiger waren als sein Sohn, mit unglaublicher Wucht und ließ mich einen Schritt zurücktaumeln. Meine Wangen fingen zu brennen an und mich erfasste eine Wut, die ich vorher noch nie gespürt hatte. Meine Muskeln waren angespannt und für einen Moment vergaß ich meine Schuldgefühle, die durch den Ärger in meinem Inneren ersetzt wurden. Ich blickte Dad an, der noch immer auf dem Stuhl saß und zur Sicherheit die Schubladen des Tisches noch einmal durchsuchte – und auf einmal konnte ich mich nicht mehr zurückhalten.
„Hast du mir überhaupt zugehört?!" schrie ich ihn an, unfähig, meine Wut länger zurückzuhalten. Von der plötzlichen Lautstärke meiner Stimme aufgeschreckt, zuckte er zusammen. „Ich habe dir soeben erzählt, dass Chris abgehauen ist und alles, was du im Sinn hast, ist dein verdammtes Geld! Anstatt ihn zu suchen, suchst du deine Brieftasche! Wie kaltherzig bist du eigentlich?!" In meine Augen traten Tränen, aber ich machte nicht einmal den Versuch, sie wegzublinzeln. Die Erkenntnis, dass ich mich in ihm derart getäuscht hatte, machte es mir unmöglich, klar zu denken und jetzt war es an mir, meine Hände zu Fäusten zu ballen.
„So redest du nicht mit mir, Anthony!" polterte er und ehe ich mich versah, sprang er auf, sein Gesicht noch röter als zuvor. Er stützte sich mit seinen Händen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich weit nach vorne, sodass ich seinen nach Alkohol stinkenden Atem riechen konnte. Dass er meinen vollen Namen verwendete, ließ meine Alarmglocken schrillen, aber ich ignorierte sie, war nur noch dazu fähig, mich von meinen Gefühlen leiten zu lassen. Ich wusste, es wäre besser, wenn ich einfach den Mund halten würde, aber ich konnte nicht. Obwohl uns nur etwa 20 Zentimeter voneinander trennten, war die Kluft, die plötzlich zwischen uns entstand, einige Meter breit, aber zu diesem Zeitpunkt war mir das egal.
„Ich rede mit dir, so wie ich will und wie es mir angemessen erscheint! Verdammt, was hat dir Chris getan, dass er dir derart egal ist?! Er hat ständig versucht, deine Aufmerksamkeit zu bekommen und jetzt kümmert es dich nicht einmal, dass er abgehauen ist! Ich kann nicht glauben, dass ich mich all die Jahre so in dir getäuscht habe! Für dich zählt doch nur Geld, Geld und noch einmal Geld, damit du nach außen hin super dastehst! Aber wie es deiner Familie geht, dass interessiert dich nicht! Mich wundert es, dass in deinen Adern Blut fließt und nicht Eis!"
Mittlerweile strömten mir die Tränen über die Wangen, aber meine Stimme war weiterhin laut und fest. Mein Atem ging in keuchenden Stößen und ich wusste, dass mein Vater kurz davor stand, mich zu ohrfeigen, mich dafür zu bestrafen, dass ich ihn so anbrüllte. Bis heute war er nie handgreiflich geworden, aber ich konnte ihm ansehen, dass er es am liebsten wollte. Aber ich wich trotzdem keinen Schritt zurück, sondern starrte ihm weiterhin ins Gesicht, ein Gesicht, das ich in diesem Moment nicht mehr liebte, sondern verabscheute. Wie konnte ein Mensch nur so herzlos sein? Wieso war ihm Chris egal, während ich von ihm wie ein rohes Ei behandelt wurde? Ich wettete um alles, dass er sofort alle Hebel in Bewegung setzen würde, wäre ich verschwunden.
„Das reicht!" schrie er, Speichel sprühte von seinen Lippen und landete teilweise auf meiner Haut, aber dennoch machte ich keine Anstalten, ihn wegzuwischen, obwohl es mich ekelte. Ich fand es bereits schlimm genug, dass ich die Tränen nicht zurückhalten konnte. „Das lasse ich mir nicht bieten und schon gar nicht von dir! Es ist Chris' Entscheidung, wenn er abgehauen ist und ich bin mir sicher, er wird in ein paar Tagen wieder vor der Tür stehen, da ihm das Geld ausgegangen ist! Und das wird er mir mit Zinsen zurückzahlen, dafür werde ich sorgen! Und wenn du es noch einmal wagen solltest, derart mit mir zu reden, dann werde ich dir zeigen, wie kaltherzig ich bin und jetzt geh mir aus den Augen, bevor ich andere Seiten aufziehe!" Er löste eine Hand vom Tisch und zeigte auf die offen stehende Tür. „Raus!" brüllte er und da sein Gesicht wutverzerrt war und ich ihn noch nie so gesehen hatte, hielt ich es für besser, den Rückzug anzutreten. Mir war klar, dass er nicht nach Chris suchen würde und in seiner Rage war er unfähig, klar zu denken.
Ich drehte mich um, eilte aus dem Arbeitszimmer und hätte beinahe Lucille über den Haufen gerannt, der unser Geschrei nicht entgangen war. Ihre Rufe ignorierend, lief ich weiter den Flur hinunter, öffnete die Haustür und verließ die Villa. Nicht eine Sekunde würde ich es länger darin aushalten, auch wenn ich mir bewusst war, dass ich weiterhin Hausarrest hatte. Sollte mich mein Vater doch nachher bestrafen, mir war es egal. Ich rannte einfach weiter, um den Schmerz und die Wut, die in meinem Inneren tobten, zu betäuben. Den Schweiß, der mir nach kürzester Zeit ausbrach, bemerkte ich genauso wenig wie die Tatsache, dass ich immer wieder Chris' Namen rief, in der Hoffnung, er würde irgendwo auftauchen – aber er ließ sich nicht blicken, ließ sich für die nächsten 15 Jahre nicht mehr blicken. 15 Jahre, in denen ich ihn schrecklich vermissen und in denen ich mich immer wieder fragen würde, ob er überhaupt noch lebte. 15 lange Jahre sollte es dauern, bis wir uns wiedersehen würden...


Mit einem Ruck setzte ich mich auf und die Fernbedienung, die auf meinem Bauch gelegen hatte, fiel mit einem scheppernden Geräusch zu Boden. Mein Atem raste, mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren und ich spürte, dass meine Wangen feucht waren und für einen kurzen Augenblick wusste ich nicht, wo ich mich befand. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich realisierte, dass ich mich nicht in der Villa, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, befand, sondern in Chris' Haus.
Ohne dass ich es bemerkt hatte, war ich doch eingeschlafen und mein Unterbewusstsein hatte mich zu jenem Morgen gebracht, an dem ich entdeckt hatte, dass mein Bruder abgehauen war und somit für lange Zeit aus meinem Leben verschwunden war. Seit diesem Tag war nichts mehr wie es vorher gewesen war. Der Streit, den ich mit meinem Vater gehabt hatte, war er Erste in einer ganzen Reihe von lautstarken Auseinandersetzungen gewesen. Wir stritten uns wegen jeder Kleinigkeit und bald war die Atmosphäre zwischen uns mehr als frostig gewesen.
Ich konnte mich noch hervorragend daran erinnern, dass er am selben Tag sämtliche Kreditkarten sperren hatte lassen – und zusätzlich Chris' Konto. Von dieser Aktion hatte er sich erhofft, dass sein Sohn wieder zurückkommen würde, der aber nicht einmal das kleinste Lebenszeichen von sich gegeben hatte.
Als meine Mutter erfahren hatte, dass er verschwunden war, war sie in Tränen ausgebrochen und da war mir klar geworden, dass sie anscheinend mehr an ihm gehangen hatte, als sie gezeigt hatte. Lucille war ebenfalls untröstlich gewesen und ich hatte sie noch nie so niedergeschlagen erlebt. Mum hatte schließlich ihren Ehemann dazu gebracht, nach zwei Tagen eine Vermisstenanzeige in der Zeitung zu schalten, wodurch es öffentlich geworden war, dass mein Bruder von zu Hause ausgerissen war, aber selbst das brachte keinen Erfolg. Nicht einmal die Polizei fand ihn, es schien, als ob er wie vom Erdboden verschluckt war. Selbst seine Freunde hatten keine Ahnung gehabt, wo er steckte und so musste ich langsam einsehen, dass es ein Mädchen zu Stande gebracht hatte, uns beide auseinander zu bringen.
Amy war kurz nachdem die Vermisstenanzeige in der Zeitung erschienen war, vor unserer Haustür aufgetaucht und hatte sich nach Chris erkundigt. Sie war wieder der unscheinbare Engel gewesen und hatte mich flehend mit ihren Rehaugen angeblickt. Aber diesmal war ich nicht auf ihre Masche hereingefallen und ich hatte ihr beinhart die kalte Schulter gezeigt. Sie war schuld daran, dass sich mein Leben auf einmal komplett geändert und dass ich meinen Bruder verloren hatte. Ich hätte sie natürlich fragen können, was sie dazu veranlasst hatte, sich an mich heranzumachen, aber ich wollte es nicht wissen, deshalb hatte ich ihr einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen. Seit jenem Tag hatte ich sie nicht mehr gesehen und ich hatte keine Ahnung, was aus ihr geworden war – und es kümmerte mich nicht einmal heute.
Irgendwann hatte ich schließlich akzeptiert, dass Chris wohl nicht mehr wiederkommen würde und ich hatte angefangen, mein Leben weiterzuleben, auch wenn es mir anfangs schwer gefallen war. Fast ein Jahr später hatte Dad ihn ohne ersichtlichen Grund für tot erklären lassen und seitdem hatte er seinen Namen nie wieder in den Mund genommen und wahrscheinlich nie wieder an ihn gedacht. Den Streit, den er wir deswegen gehabt hatten, war noch heftiger gewesen als der Erste und die Kluft zwischen uns war so weit geworden, dass sie noch heute unüberbrückbar war.
Lucille war bald darauf von meinem Vater gekündigt worden und somit war auch noch der letzte Mensch, der der Villa Wärme verliehen hatte, mir genommen worden. Als ich auf dem College war, hatte sie sich eine schwere Lungenentzündung eingefangen, von der sie sich nie wieder erholt hatte. Von meiner Familie war ich der Einzige gewesen, der auf ihrer Beerdigung gewesen war.
Ich seufzte leise und wischte mir die Tränen, die sich gebildet hatten, als ich geträumt hatte, von den Wangen. Noch heute spürte ich die Schuldgefühle und den Schmerz, als ich erkannt hatte, dass Chris für immer weg war und mich nicht wissen ließ, ob es ihm gut ging. Je mehr Zeit vergangen war, desto weniger hatte ich schließlich an die Ereignisse in jenem Mai gedacht, aber er hatte ständig einen Platz in meinem Herzen behalten, egal, was zwischen uns vorgefallen war. Die Hoffnung, dass wir uns wiedersehen würden, war immer kleiner geworden, bis er vor drei Tagen auf einmal wieder in mein Leben geplatzt war, um es mir zu rauben. Chris hatte viel falsch gemacht, aber ich war nicht unschuldig an der ganzen Geschichte – immerhin hätte ich Amy aufhalten können, hatte ich doch gespürt, dass sie etwas im Schilde führte.
Aber diesmal war etwas anders. Mein Bruder war nicht mehr wütend, hegte mir gegenüber keinen Hass mehr und das würde ich ausnutzen. Einmal hatte ich ihn verloren und ich würde nicht zulassen, dass dies ein zweites Mal passierte, dazu liebte ich ihn viel zu sehr.
Und als ich so auf der Couch saß, meine Hände betrachtete und mit halbem Ohr auf die Stimmen im Fernseher lauschte, kam mir endlich eine Idee, wie ich ihn dazu bringen könnte, in Washington zu bleiben, um wieder ein Teil meines Lebens zu werden.

Fortsetzung folgt...
Chapter 28 by Michi
Washington D.C.
Zur selben Zeit


Der Weg vom Labor in die dritte Etage war Gibbs noch nie so lange vorgekommen wie in diesem Moment. Er hatte das Gefühl, der Fahrstuhl würde sich nicht nach oben bewegen, sondern weiterhin im Keller stehen. Hätte die übliche Beleuchtung die kleine Kabine nicht erhellt, hätte er glatt geglaubt, den Stopphebel umgelegt zu haben. Normalerweise war der Aufzug sein Lieblingsplatz im ganzen Hauptquartier, konnte er hier ungestört Gespräche unter vier Augen führen, ohne Angst zu haben, belauscht zu werden. Aber diesmal konnte er es nicht erwarten, rauszukommen, um den Mann in einen Verhörraum zu schleppen, der ihn in den letzten drei Tagen hintergangen hatte. Jethro konnte es immer noch nicht so Recht glauben, was ihm Abby vor kurzem erzählt hatte – hätte sie nicht als Beweis die Geburtsurkunden gehabt, hätte er sofort angenommen, dass ihr Gehirn wieder einmal wie ein Flipperautomat funktionierte und sie sich die ganze Geschichte zum Zeitvertreib ausgedacht hatte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, würde er diese Variante sogar bevorzugen. Dann wäre er seit langem nicht sprachlos gewesen, sein verdienter ruhiger Nachmittag wäre nicht beim Teufel und er hätte pünktlich Feierabend machen können. Stattdessen würde er die nächsten Stunden in einem Verhörraum verbringen und versuchen herauszufinden, wo Tony war und warum sein Bruder auf einmal seinen Platz eingenommen hatte.

Gibbs wusste nicht, was ihn wütender machte: die Tatsache, dass es jemand geschafft hatte, ihn hinters Licht zu führen oder dass Anthony verschwiegen hatte, dass er einen Zwillingsbruder hatte. All die Jahre, seit sie zusammengearbeitet hatten, hatte er es nicht für wichtig erachtet, ihm zu sagen, dass er Geschwister hatte und kein Einzelkind war, so wie er es ständig behauptet hatte. Auch wenn Christopher vor Jahren von zu Hause ausgerissen und ein Jahr später für tot erklärt worden war, hieß das noch lange nicht, dass das ein Grund war, zu verschweigen, dass man einen Bruder hatte. Wieso hatte Tony das nie erwähnt? Was hatte ihn dazu veranlasst, zu behaupten, seine Kindheit wäre toll gewesen, wenn das offensichtlich nicht der Fall gewesen war? Was war damals vorgefallen, dass sich Chris entschlossen hatte, seinem Elternhaus den Rücken zuzukehren? Und die beiden wichtigsten Fragen waren vor allem, wo sein Agent steckte und warum dessen Zwilling seinen Platz eingenommen hatte. Denn wie Abby vor wenigen Minuten gesagt hatte, glaubte er genauso wenig, dass Anthony freiwillig getauscht hatte, außer er hatte das dringende Bedürfnis, vom Chefermittler höchstpersönlich gefeuert zu werden – nachdem er ihm die saftigste Kopfnuss, die er je erhalten hatte, verpasst hatte.
Auf die letzten beiden Fragen würde er hoffentlich bald eine Antwort bekommen, wenn er Christopher in einen Verhörraum verfrachtet hatte und ihn spüren ließ, was es bedeutete, Gibbs etwas vorzuspielen. Allerdings irritierte es ihn noch immer ein wenig, dass es einen Mann gab, der wie Tony aussah und sich genauso verhielt. Nicht nur äußerlich waren sie sich ähnlich, sondern genauso innerlich, vor allem, was ihr Talent anging, ihn auf die Palme zu bringen. Ebenso wie bei seinem Agent hatte er oft das Bedürfnis, dessen Bruder einen Klaps zu verpassen, damit er aufhörte, Unsinn von sich zu geben. Allerdings musste Jethro zugeben, dass Chris durchaus das Zeug zu einem Ermittler hatte, hatte er doch seine Aufgaben hervorragend erledigt. Er hatte professionell Spuren gesichert und Verhöre geführt und dabei den Eindruck erweckt, das nicht zum ersten Mal zu machen. Dabei hatte er jetzt das Gefühl, dass er dies vorher noch nie getan hatte und sich einfach nur von seinem Instinkt hatte leiten lassen. Und sie hatten auch Christopher zu verdanken, dass sie heute einen Mörder entlarvt hatten. Ohne seine Hilfe würden sie wahrscheinlich jetzt noch im Dunkeln tappen aber Gibbs wusste, dass viel schief gehen hätte können.

Eigentlich müsste er zu Direktor Sheppard gehen und ihr berichten, dass in den letzten Tagen jemand anderes Tonys Platz eingenommen hatte und bei der Aufklärung eines Falles behilflich gewesen war. Aber würde dadurch der Täter nicht wieder freikommen? Würden dann die Beweise vor Gericht standhalten, obwohl sie eine Aussage hatten? Und vor allem würden sofort andere Agenten die Ermittlungen in Bezug auf Chris übernehmen und Jethro somit die Gelegenheit nehmen, ihn selbst zu verhören. Außerdem sagte ihm eine innere Stimme, dass so wenig Menschen wie möglich von dieser Sache erfahren sollten – was bedeutete, außerhalb seines Teams würde niemand eingeweiht werden, jedenfalls so lange, bis er die ganze Wahrheit erfahren hatte. Zusätzlich würden sie vielleicht nie erfahren, wo Tony steckte, wenn jemand anders mit dessen Bruder redete. Gibbs spürte förmlich, dass dieser mauern würde. Auch so würde es schwer werden, aus ihm herauszubringen, wo sich Anthony aufhielt.
Tief in Gibbs' Innerem mochte er Chris ein wenig, ungeachtet dessen, was er ihm vorgemacht hatte. Irgendwie wusste er, dass es dieser nicht immer leicht gehabt hatte und die Tatsache, dass ihn seine Eltern anscheinend nicht geliebt hatten, ließ seine Eingeweide zusammenkrampfen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie man sein eigenes Kind links liegen lassen konnte und sich stattdessen nur auf seinen älteren Bruder konzentrierte. Die Traurigkeit in seinen Augen, als er ihm das gestern in diesem Fahrstuhl erzählt hatte, ließ ihn seltsamerweise nicht mehr los und dämpfte seine Wut ein wenig. Aber dennoch würde er sich das nicht anmerken lassen und hart bleiben. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass er sich nicht von Christophers Aussehen irritieren lassen würde. Es würde schwer sein, in ihm nicht Tony zu sehen, vor allem, da er das gleiche Gesicht besaß. Irgendwie musste er es schaffen, unnachgiebig zu bleiben und sich immer wieder einreden, wer vor ihm saß.

„Zwei DiNozzos", murmelte er und legte seinen Kopf in den Nacken. „Gibt es etwas Schlimmeres?" Eine Sekunde später bildete sich tief in seiner Kehle ein gefährliches Knurren, als ihm jemand einfiel, der tatsächlich schlimmer war: seine drei Exfrauen. Vor allen an den Hochzeitstagen, wo sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, ihn mit Telefonanrufen zu terrorisieren und er nicht selten sein Handy in einem Farbeimer in seinem Keller versenkte. Das waren die Tage, wo er am Unausstehlichsten war und sich jeder in Sicherheit brachte, um ihm nicht in die Quere zu kommen. Er selbst würde eher die Konfrontation mit einem verrückten Serienkiller bevorzugen, als sich mit einer seiner Exfrauen befassen zu müssen. Im Vergleich dazu würde die Auseinandersetzung mit Christopher ein Kinderspiel werden – sah man von der Tatsache ab, dass er Tony bis ins letzte Detail glich und er hoffte noch immer, dass er sich deswegen nicht aus dem Konzept bringen lassen würde.
Der Blick von vorhin kam Gibbs wieder in den Sinn. In den grünen Augen war etwas Endgültiges gelegen, so als ob er gespürt hätte, dass sein Spiel bald auffliegen würde. Allerdings könnte man es auch als Abschied auffassen. Was war, wenn Chris sich entschieden hatte, wieder zu verschwinden, so wie er es vor 15 Jahren getan hatte und nach dem traurigen Ausdruck nach zu urteilen, war er nicht wirklich glücklich darüber. Jethros Eingeweide krampften sich erneut zusammen, als er daran dachte, wie er erfahren hatte, dass der Jüngere in seiner Kindheit nicht geliebt worden war. Die letzten Tage hatten bewiesen, dass er sich hier mehr als wohl fühlte und den Job als Ermittler gerne machte, sah man von den gelegentlichen Abschweifungen seiner Gedanken ab. Gibbs hatte den Eindruck, dass Christopher seine Vergangenheit irgendwie eingeholt und er sich an diesem Ort seit langem wieder einmal geborgen gefühlt hatte. Aber wieso wollte er unbedingt sein Bruder sein? Warum war er nicht unter seiner richtigen Identität in Washington aufgetaucht? Hatte er etwa Angst gehabt, erneut links liegen gelassen anstatt respektiert zu werden? Wenn dem so war, rechtfertigte es aber noch lange nicht, dass er Tony einfach so entführte und seinen Platz einnahm. Im Kopf des Chefermittlers wirbelten die Fragen durcheinander, von denen er hoffte, bald eine Antwort zu erhalten. Er wollte alles wissen, jedes noch so kleine Detail, selbst den Grund, warum Chris vor so vielen Jahren von zu Hause weggelaufen war. Und wenn er alles erfahren hatte – und natürlich wenn Anthony wieder zurück war – würde er dessen Bruder eigenhändig ins Gefängnis bringen. Egal was dieser durchgemacht hatte, es rechtfertigte keine Entführung und schon gar nicht kam jemand ungestraft davon, wenn er Gibbs etwas vorspielte. Ungeachtet dessen, dass er den jungen Mann ein wenig mochte – sogar jetzt, wo er wusste, wer er war und was er getan hatte – musste er für seine Tat einstehen und die Konsequenzen tragen.

Seine Wut, die ihn in Abbys Labor überfallen hatte, ließ ein wenig nach und ließ ihn wieder logischer denken. Sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen, war nicht richtig, auch wenn es um Tony und seine Familie ging. Er würde nicht feinfühlig sein, wie es die Forensikerin vorgeschlagen hatte. Christopher sollte spüren, dass es nicht richtig war, was er gemacht hatte und von nun an würde Jethro versuchen, ihn wie jeden anderen Verdächtigen zu behandeln.
Das leise Pling des Fahrstuhls riss ihn aus seinen Gedanken. Adrenalin strömte durch seine Adern, als ihm bewusst wurde, dass er bald Antworten erhalten würde. Eilig stürmte er aus dem Aufzug, stieß dabei beinahe mit ein paar Agenten zusammen, die darauf warteten, diesen zu benützen, nur um gleich darauf wie angewurzelt zwischen Tonys und Zivas Schreibtisch stehen zu bleiben. Die junge Frau saß an ihrem Platz und schrieb noch immer an ihrem Abschlussbericht, während Christopher nirgendwo zu sehen war. Der Stuhl, auf dem er vor etwa einer viertel Stunde gesessen hatte, war leer, und der Tisch säuberlich aufgeräumt worden – etwas, das seit Wochen nicht mehr vorgekommen war. Wüsste er nicht, dass Anthonys Bruder dies bewerkstelligt hatte, würde er sich spätestens jetzt fragen, ob sein bester Agent nicht durch einen Klon ersetzt worden war.
Sofort ließ er seinen Blick über das Großraumbüro schweifen, auf der Suche nach dem großgewachsenen, braunhaarigen Mann, den er in einem Verhörraum und von dem er jede Menge Antworten haben wollte. Aber er war nicht zu sehen, nicht einmal ein Hemdszipfel von ihm. Die Wut, die ein wenig nachgelassen hatte, kam doppelt so heftig zurück und Gibbs ballte seine Hände zu Fäusten, als er erkannte, dass er wahrscheinlich zu spät dran war. Die Endgültigkeit in den grünen Augen war anscheinend doch ein Abschied gewesen und er verfluchte sich selbst, dass er die Anzeichen nicht vorher richtig gedeutet hatte.

„Wo zum Teufel noch mal steckt DiNozzo?!" brüllte er und bekam nicht einmal richtig mit, wie Ziva und McGee durch die unerwartete Lautstärke zusammenzuckten und beinahe synchron ihre Köpfe hoben, um einen wütenden Chefermittler zu entdecken, dessen Laune gerade den Gefrierpunkt erreicht hatte. Die beiden tauschten verwirrte Blicke aus und fragten sich gleichzeitig im Stillen, welche Laus ihrem Vorgesetzten über die Leber gelaufen war. Bevor er zu Abby hinuntergefahren war, war er für seine Verhältnisse gut gelaunt gewesen und jetzt schien sich das in Luft aufgelöst zu haben. ‚Vielleicht hätte Tony doch nicht einfach so gehen sollen und sich besser Gibbs' Erlaubnis geholt, um sich etwas zu Essen besorgen', dachte McGee und runzelte die Stirn. Andererseits hatte sein Kollege seinen Bericht bereits fertig getippt und ihn auf Jethros Platz gelegt – keine fünf Minuten später, als dieser in die Forensik hinuntergefahren war. Alleine das war mehr als seltsam, brauchte doch DiNozzo meistens länger als Ziva und Tim zusammen, da er sich mit nur zwei Fingern beim Schreiben begnügte, aber diesmal hatte er in einem Rekordtempo getippt, das verdächtig gewesen war. Und jetzt Gibbs' schlechte Laune, die die Atmosphäre in dem Großraumbüro um einige Grad abkühlen ließ. Was ging hier nur vor sich?

„Tony wollte sich etwas zu Essen kaufen", übernahm Ziva die Erklärung, da McGee keine Anstalten machte, den Mund aufzumachen, aus Angst, ihr Boss würde ihm eventuell den Kopf abreißen – und seine zusammengepressten Kiefer ließen darauf schließen, dass er das gerne tun würde. Allerdings konnte sie sich vorstellen, dass es nicht Tims Kopf war, der rollen würde, sondern Anthonys. Aber vielleicht würde Jethro etwas ruhiger werden, wenn er erfuhr, dass sein Agent den Bericht bereits abgeschlossen hatte. Seit wann war dieser überhaupt so schnell? Immerhin ließ er sich öfters damit Zeit und Schreibarbeit war nicht gerade seine größte Stärke. Und wenn sie es sich Recht überlegte, dann war das Lächeln, dass er Ziva und McGee geschenkt hatte, kurz bevor er zum Fahrstuhl gegangen war, ein wenig traurig gewesen und hatte seine Augen nicht erreicht, so als ob er vorhatte, nicht wieder zu kommen und sich still von allen verabschiedet hatte. ‚Quatsch', schalt sie sich gleich darauf. ‚Wieso sollte sich Tony von uns verabschieden? Er holt sich nur etwas zu Essen und hat nicht vor, eine Weltreise zu machen.' Bei dem Gedanken jedoch, dass er irgendwann von hier fortgehen würde, krampften sich ihre Eingeweide schmerzhaft zusammen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, vermisste sie ihn sogar jetzt, obwohl er erst seit ein paar Minuten weg war und gerade das machte ihr Angst. In den letzten Tagen hatte sie Gefühle für ihn entwickelt, die sie erschreckten und sie war gerne in seiner Nähe, um in den Genuss seines strahlenden Lächelns, das ihr Herz schneller schlagen ließ, zu kommen. Und dabei hatte sie gedacht, gegen seinen Charme immun zu sein. Was war nur mit ihr geschehen? Seit wann verhielt sie sich wie ein pubertierender Teenager, der sich zum ersten Mal verliebt hatte? Liebe… ein Wort, das sie seit langem nicht mehr in ihren Gedanken verwendet hatte – jedenfalls nicht in Bezug mit sich selbst. Aber seit gestern ließ es Ziva nicht mehr los, nicht seit sie Tony geküsst hatte. Die Schmetterlinge, die dadurch in ihrem Bauch geflattert waren, hatte sie seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gespürt. Als er ihr heute Morgen erklärt hatte, warum er sie geküsst hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, jemand hätte ihr ein Messer ins Herz gerammt und es genüsslich herumgedreht. Aber seit diesem Moment fragte sie sich ständig, ob sie Anthony liebte, aber bis jetzt war sie auf keine brauchbare Antwort gekommen. Sie wusste jedoch mit Sicherheit, dass sie Empfindungen für ihn hegte, die weder für sie selbst noch für ihn gut waren. Schon alleine die Vorstellung, dass er eine feste Beziehung einging – noch dazu mit ihr – war lächerlich. DiNozzo hatte doch jede Woche eine neue Freundin und dass er richtig sesshaft werden würde, war genauso unwahrscheinlich wie die Tatsache, dass sie sich an alle Verkehrsregeln hielt. Aber dennoch… der Gedanke, dass Tony und sie einmal ein Paar werden würden, ließ sie nicht mehr los, genauso wie der Wunsch, ihn erneut zu küssen, seinen Geschmack erneut kosten zu dürfen.
Und was konnte Gibbs schon machen, wenn er herausfand, dass sie romantische Gefühle für Tony hegte? Er konnte sie schlecht feuern – da würde Jen einiges dagegen haben und diese war immerhin seine direkte Vorgesetzte. Wahrscheinlicher war, dass er sie mit so vielen Akten überhäufen würde, dass sie mit ihnen Jahre beschäftigt wäre. Das wäre sicher die geeignete Strafe, um ihr zu zeigen, dass er es nicht guthieß, wenn sie Regel Nummer 12 gebrochen hatte – vorausgesetzt, dass das jemals eintreffen würde.

„Was soll das heißen, er wollte sich etwas zu Essen kaufen?!" polterte Gibbs los, der genau spürte, dass sich Christopher aus dem Staub gemacht hatte und nicht dabei war, seinen Magen gnädig zu stimmen. Wieder etwas, das die beiden Brüder gemeinsam hatten: ihren unersättlichen Appetit. Seine Frage war rhetorischer Natur gewesen, aber er vergaß für einen kurzen Moment, dass seine Agents die Wahrheit nicht wussten. Deshalb zog er ärgerlich seine Augenbrauen empor, als McGee zu einer stotternden Antwort ansetzte, um seinen Kollegen offensichtlich in Schutz zu nehmen.
„Ähm… also, es ist so, dass Tony gemeint hat, vor Hunger zu sterben und er bräuchte etwas Richtiges zu essen und keine Schokoriegel." Tim schluckte und versuchte dem stechenden Blick aus den eisblauen Augen zu entkommen, indem er überhall hinsah, nur nicht in Gibbs' Gesicht. Ein Schmutzfleck auf dem Boden kam ihm auf einmal ziemlich interessant vor.
„Habe ich nicht deutlich gesagt, dass ihr eure Berichte fertig schreiben sollt?! Ich habe euch nicht erlaubt, vorher etwas zu essen! Wieso habt ihr ihn nicht aufgehalten?!" Die betretenen Mienen, die Ziva und McGee plötzlich zeigten, ließen ihn tief durchatmen. Er war zwar stinkwütend, aber er durfte diese nicht an den beiden auslassen, wussten sie ja nichts von Christopher und seinem falschen Spiel. Dennoch… die Tatsache, dass dieser einem Verhör entkommen war – vorerst – ließ seinen Ärger ein Ventil suchen und das waren seine zwei Agents.
„Tony hat seinen Bericht, gleich nachdem du zu Abby hinuntergefahren bist, beendet", sagte Ziva, die nicht verstand, warum Gibbs derart aus der Haut fuhr und er den Eindruck erweckte, jemanden den Hals umdrehen zu wollen. „Was ist los? Du regst dich doch sonst nicht so auf, wenn Tony sich etwas zu essen kauft." Der Chefermittler schüttelte seinen Kopf und fuhr sich mit einer schnellen Bewegung durch seine Haare. „Was los ist?" wiederholte er Zivas Worte, eine Spur ruhiger und nicht mehr ganz so laut, wie noch vor ein paar Sekunden, weshalb die junge Frau und McGee hofften, dass das schlimmste Donnerwetter vorbei war.

„Wir wurden in den letzten Tagen hinters Licht geführt, das ist los", fügte er eine Sekunde später hinzu und entschied sich endlich, sich vom Fleck zu rühren und seinen Schreibtisch anzusteuern. Den leeren Platz seines Agents anzustarren, würde Christopher auch nicht zurückbringen. „Und… und was hat das mit Tony zu tun?" wollte McGee mutig wissen, der erleichtert war, dass die Wut seines Bosses ein wenig verraucht war und er nicht Gefahr lief, seinen Kopf zu verlieren, wenn er den Mund aufmachte. Gibbs blieb vor dessen Schreibtisch stehen und blickte Tim direkt in die Augen, was den anderen dazu veranlasste, heftig zu schlucken und er widerstand nur knapp dem Drang, an seinem Hemdkragen zu zerren, der ihm auf einmal die Luft abzuschnüren schien.
„Es hat jede Menge mit Tony zu tun", erwiderte der Chefermittler und versuchte seine Wut ein wenig zu zügeln. Sie brodelte gefährlich nahe an der Oberfläche und suchte sich immer wieder einen Weg ins Freie. „Und vor allem mit Christopher, seinem Zwillingsbruder."
Der Jüngere konnte nichts gegen seinen Unterkiefer machen, der der Schwerkraft folgte und nach unten klappte, wodurch man eine herrliche Sicht auf die Mandeln in seinem Rachen erhielt. Er starrte Gibbs an, unfähig, den Blick von den blauen Augen abwenden zu können und suchte in ihnen ein Zeichen dafür, dass man soeben einen Scherz mit ihm trieb. Aber McGee fand nichts weiter als das übliche, gefährliche Funkeln, das jeden Verdächtigen sofort zu einem Geständnis brachte und das ihm verriet, dass es um die Geduld des Älteren nicht gut bestellt war. Und dann realisierte er so richtig, was sein Boss gerade gesagt hatte. Zwar hatten die Worte bereits vorher sein Gehör erreicht, aber sein Gehirn war erst in diesem Moment fähig, diese zu verarbeiten. Er konnte nichts weiter machen, als ungläubig seinen Boss anzustarren.

„Zwillingsbruder?" Ziva war die Erste, die den Versuch wagte, etwas zu sagen. Im Gegensatz zu ihrem Kollegen hatte sie sofort verstanden, was Jethro meinte und sie hatte das Gefühl, jemand hatte über ihrem Kopf einen Eimer eiskalten Wassers ausgeleert. Obwohl es in dem Großraumbüro angenehm warm war, fing sie zu zittern an und ihr Herzschlag erhöhte sich rapide. Waren noch vor ein paar Sekunden Schmetterlinge in ihrem Bauch herumgeflattert, verwandelten sich diese in einen harten Klumpen, der mit gemeinen, spitzen Dornen besetzt war – jedenfalls kam es ihr so vor. Ihre Eingeweide schienen in Flammen zu stehen und ein übler Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus.
Zwar hatte sie die Frage an Gibbs gerichtet, aber sie starrte die ganze Zeit auf den Schreibtisch ihr gegenüber, der verlassen und aufgeräumt war. Gleich darauf sah sie DiNozzo vor sich, wie er auf dem Stuhl saß und mit großer Geschwindigkeit den Abschlussbericht tippte. Und es war dieses Bild in ihrem Kopf, die ihr die ganze Tragweite der Situation nahe brachte. Ziva zuckte wie unter einem Hieb zusammen und Luft entwich unwillkürlich ihren Lungen, so als ob sie ein harter Schlag in den Magen getroffen hätte. Ungläubig riss sie ihre Augen auf und ihre Gedanken rasten mit unglaublicher Geschwindigkeit durch ihr Gehirn. ‚Das kann nicht sein, das darf nicht sein', sagte sie sich innerlich, während sich ihr Herz schmerzhaft zusammenballte und beinahe in Stücke zersprang, als sie realisierte, dass es nicht Tony gewesen war, der sie geküsst hatte. Es war auch nicht Tony gewesen, der in den letzten Tagen hier gewesen war, um sie zu ärgern, es war auch nicht Tony gewesen, der mit ihnen den Fall des Commanders gelöst hatte und es war auch nicht Tony gewesen, der sich so seltsam benommen und den Eindruck erweckt hatte, nicht mehr er selbst zu sein. Und jetzt kannte sie den Grund, warum sie ständig das Gefühl gehabt hatte, einen anderen Menschen vor sich gehabt zu haben. Er hatte einen Zwillingsbruder, jemanden, der genauso aussah wie er – einen Bruder mit dem Namen Christopher.
Ihre Gefühle spielten verrückt und sie wusste nicht, was sie mit ihnen anfangen sollte. Sie hatte gedacht, sich zu Anthony hingezogen zu fühlen, dessen leichte Veränderung sie seit Dienstag mehr als anziehend gefunden hatte und jetzt musste sie erfahren, dass nicht er es gewesen war, für den sie plötzlich Empfindungen, die ihr fremd waren, hatte. Wie sollte sie jetzt mit dem Ganzen umgehen? Wie konnte sie jemals wieder in ihrem Kollegen nur einen Kollegen sehen und nicht den Mann, der ihre Welt auf den Kopf gestellt hatte? Und vor allem wollte sie wissen, nach wem sie sich so verzerrte: nach Tony oder nach Christopher? Von all den Fragen schwirrte Ziva der Kopf und sie schüttelte ihn, noch immer ungläubig, was sie soeben erfahren hatte.
In all dem Chaos in ihrem Inneren vergaß sie beinahe, sich wie eine Bundesagentin zu verhalten. Erst langsam wurde ihr bewusst, wie absurd Gibbs' Aussage in Wirklichkeit klang und es war diese Tatsache, an die sie sich wie an einen Strohhalm klammerte. Hätte Tony nicht seinen Bruder erwähnt, wenn er einen hatte? Er hatte doch ständig behauptet, ein Einzelkind zu sein, von daher fand sie es ein wenig seltsam, dass er auf einmal einen Zwilling haben sollte, von dem niemand etwas wusste. Vielleicht irrte sich ihr Boss einfach - er musste sich einfach irren.

„Wie ist das nur möglich?" fragte McGee, noch immer perplex. Er konnte Zivas schockierte Miene überdeutlich sehen und er wusste, seine eigene war nicht anders. „Tony hat nie… ich meine, er hat nie erwähnt, dass er… ich dachte, er wäre ein Einzelkind", brachte er schließlich einen Satz zustande.
„Das haben wir alle gedacht", erwiderte Gibbs und schaffte es, seine Stimme normal klingen zu lassen. Das Unglauben seiner Kollegen konnte er deutlich spüren, war es ihm vorher, als ihm Abby alles erzählt hatte, doch nicht anders ergangen. Diese ganze Angelegenheit war mehr als verrückt.
„Und… und dieser Christopher war in den letzten Tagen bei uns?" wollte Tim wissen und als sein Boss mit dem Kopf nickte, seufzte er leise. Jetzt konnte er sich auf alles einen Reim machen, jetzt wusste er auch, weshalb ihn der andere am Dienstag beim Vornamen angeredet und auf einmal angefangen hatte, so ordentlich zu sein. Er hätte schon misstrauisch werden müssen, als DiNozzo vor sieben Uhr im Büro erschienen war und ein wenig fehl am Platz gewirkt hatte. Aber wie hätte er auch nur erahnen können, dass es nicht Tony gewesen ist, der sie mit seiner Anwesenheit beehrt hatte, hatte doch sein Bruder hervorragende Arbeit geleistet und mitgeholfen, einen Mörder zu überführen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er das zum ersten Mal machte. ‚Zwillingsbruder', dachte er und schüttelte ungläubig den Kopf. Jetzt gab es auf einmal zwei Anthonys, die ihn ärgern konnten. Das war ja wie in einem schlechten Spielfilm.

„Aber wo steckt Tony?" fragte McGee schließlich, als er den ersten Schock überwunden hatte. „Ich habe keine Ahnung", antwortete Gibbs und ballte seine Hände zu Fäusten. Er konnte es überhaupt nicht ausstehen, nicht zu wissen, was vor sich ging. „Aber wo auch immer er ist, Christopher ist auf dem Weg zu ihm und nicht etwa, um sich mit Essen einzudecken. Nein, mein Instinkt sagt mir, dass er zu seinem Bruder fährt. McGee, Abby hat dir alles, was sie über ihn herausgefunden hat, geschickt. Vielleicht ist irgendwo ein Hinweis enthalten, ob er sich kürzlich eine Wohnung oder etwas anderes gemietet hat, vor allem auf seinen falschen Namen, den er seit Jahren benutzt." „Geht klar, Boss", entgegnete der Jüngere sofort und begann wie wild zu tippen.
Ein paar Sekunden später erschienen das Bild von Chris in dem orangenen Gefängnisoverall auf dem Plasmabildschirm und daneben das Foto von Tony, weshalb Ziva sofort die Hoffnung aufgab, dass sich Gibbs vielleicht geirrt hatte. Wie in Trance stand sie auf und ging auf ihre beiden Kollegen zu, ohne jedoch den Blick von den beiden Gesichtern abzuwenden, die vollkommen gleich waren, selbst das Grün in ihren Augen wies keinen Unterschied auf. „Das ist mehr als unglaublich", sagte sie schließlich, als sie sicher war, dass ihre Stimme nicht allzu von den Gefühlen beherrscht wurde, die weiterhin in ihrem Inneren tobten. Sie dachte ständig an den gestrigen Moment, als sie geküsst worden war, von Chris, den sie für Tony gehalten hatte. Aber wem galten nun ihre Gefühle? Nicht einmal durch die erschreckende Wahrheit waren sie weniger geworden, sondern nur komplizierter. Sie wusste genau, dass es einige Zeit brauchen würde, bis das Chaos in ihrem Inneren entwirrt war und sie wieder logischer über diese Sache denken konnte. Da war sie einmal auf dem besten Wege, sich ernsthaft zu verlieben und dann passierte so etwas. Sie wusste nicht einmal, auf wen sie wütend sein sollte: auf Tony, der verschwiegen hatte, dass er einen Bruder hatte, auf Chris, der sich als Tony ausgegeben hatte oder auf sich selbst, da sie zugelassen hatte, dass ihr Herz anfing, verrückt zu spielen.
„Unglaublich ist nicht einmal der richtige Ausdruck dafür", sagte Gibbs und riss sie aus ihren Gedanken. „Und Christopher wird sich noch wünschen, dass er niemals hier aufgetaucht wäre", fügte er hinzu und ließ Ziva mit seinen Worten innerlich zusammenzucken. Die Wut, die sich in sein Inneres zurückgezogen hatte, konnte man deutlich in seiner Stimme hören und auf einmal hatte sie Angst, Angst darüber, was mit Tonys Bruder geschehen würde. Ihr Boss machte nicht den Eindruck, allzu feinfühlig mit ihm umgehen zu wollen, wenn sie ihn gefunden hatten. Was würde nur mit dem Mann passieren, der ihre Welt derart durcheinander gebracht hatte? Würde er es schaffen, rechtzeitig zu verschwinden oder würde ihn Gibbs einfach ins Gefängnis stecken? Aber irgendwie wollte sie das gar nicht.
„Du kannst ihn doch nicht einfach so verhaften", meinte sie schließlich und blickte Gibbs mutig in seine blauen Augen. „Und wieso nicht?!" herrschte er sie an. „Nur weil er Tonys Zwillingsbruder ist? Falls du es noch nicht mitbekommen hast, aber Christopher hat ihn entführt, seinen Platz eingenommen und uns vorgemacht, der richtige DiNozzo würde bei uns sein. Und du meinst, ich kann ihn nicht einfach so verhaften? Er ist ein Verbrecher, egal wessen Bruder er ist." Die beiden blickten sich sekundenlang an, ohne dass der andere nachgeben wollte, während McGee dabei war, die Informationen, die er von Abby erhalten hatte, in Rekordzeit zu überfliegen.
Dass Chris vor Jahren für tot erklärt worden war, erschreckte ihn beinahe mehr als die Tatsache, dass Tony auf einmal einen Zwilling hatte. Am meisten interessierte es ihn jedoch, weshalb er vor 17 Jahren von zu Hause weggelaufen war. Irgendetwas musste passiert sein, nicht umsonst hätte Anthony verschwiegen, dass er Geschwister hatte. Obwohl es sich für Tim immer so angehört hatte, so hatte sein Freund wohl doch nicht so eine glückliche Kindheit gehabt und sie musste teilweise schmerzhaft gewesen sein, wenn der eigene Bruder für tot erklärt worden war, obwohl er quicklebendig war. Vielleicht hatte DiNozzo alles verdrängen wollen, was McGee verstehen konnte. In seinem eigenen Leben gab es Erinnerungen, an die er nicht gerne dachte.
Genauso wie Ziva fand er, dass Gibbs Christopher nicht verhaften sollte, ungeachtet dessen, was er getan hatte. Entführung war zwar ein Verbrechen aber tief in seinem Inneren hatte er das Gefühl, dass der Italiener hinter Gitter nicht lange überleben würde. Und wer wusste schon, ob Tony überhaupt Anzeige erstatten wollte, wenn sie ihn gefunden hatten. Vielleicht würden sie Chris auch nicht mehr erwischen, da er sich aus dem Staub gemacht hatte. Hatte er gespürt, dass Gibbs seinem Geheimnis auf die Spur gekommen war und hatte deswegen das Weite gesucht? Oder war es purer Zufall gewesen, dass Abby hinter die Wahrheit gekommen war?
„Ich habe etwas entdeckt!" rief McGee ein paar Sekunden später, nicht wissend, ob er sich darüber freuen sollte, weshalb er prompt vergaß zu erzählen, was er herausgefunden hatte.
„Muss ich etwa bis morgen warten, bis du uns aufklärst oder sagst du es uns auch so?" wollte Gibbs, der Ziva weiterhin aus den Augenwinkeln beobachtete, ärgerlich wissen. Sie hatte sich wieder den beiden Bildern zugewandt und war entgegen ihrer Angewohnheit ziemlich durch den Wind.
„Ähm… nein", antwortete Tim, tippte etwas in seine Tastatur, wodurch die zwei Fotos vom Plasmabildschirm verschwanden und einem Kaufvertrag Platz machten. Ziva blinzelte ein paar Mal, als die beiden DiNozzos ohne Vorwarnung ersetzt wurden. Damit die anderen das jedoch nicht mitbekamen, gab sie vor, das Dokument zu lesen.
„Das ist der Kaufvertrag für ein Haus etwas außerhalb von Washington", erklärte McGee aufgeregt und stand auf, da er nicht mehr ruhig sitzen konnte. „Christopher hat es sich unter seinem Decknamen vor etwa sechs Monaten gekauft und es auf einmal bezahlt. Geldprobleme scheint er nicht gerade zu haben." „Und wahrscheinlich hat er es sich nicht legal beschafft", murmelte Gibbs beinahe tonlos und prägte sich die Adresse ein. Er spürte, dass sie einen wichtigen Schritt weitergekommen waren und dass sie dort des Rätsels Lösung erwarten würde. „Los, schnappt euch eure Sachen. Es wird Zeit, dass wir uns den richtigen DiNozzo wieder zurückholen." Während Jethro sein Holster mit der Waffe an seiner Hüfte befestigte, überkam ihn jedoch das Gefühl, dass es nicht ganz so einfach werden würde, wie er sich das vorstellte – und er sollte Recht behalten.

Fortsetzung folgt...
Chapter 29 by Michi
Etwas außerhalb von Washington
Kurz nach 15:30 Uhr


Zeit war plötzlich relativer Begriff. Es gab Minuten, die vergingen so schnell, dass ich es nicht einmal mitbekam und dann schien die Uhr stillzustehen, um mich zu verhöhnen. In diesem Augenblick hatte sich der Sekundenzeiger wieder einmal dazu entschlossen, sich gegen mich zu verschwören und tickte langsam vor sich hin, dass ich alleine vom Zusehen müde wurde und das beständige Tick Tack hatte eine leichte, hypnotisierende Wirkung auf mich.
Ich saß weiterhin im Wohnzimmer auf dem gemütlichen Sofa und starrte Löcher in die Luft. Den Fernseher hatte ich vor gut einer Stunde ausgeschalten, da die nachmittäglichen Sendungen nicht gerade dazu beitrugen, mich aufzuheitern oder abzulenken. Stattdessen beobachtete ich die Uhr, die über der Tür hing, die in die Küche führte und zählte Sekunde für Sekunde, die verstrichen und die mir weismachten, dass sich der Tag immer näher dem Ende zuneigte und ich mein Leben bald wieder zurückbekommen würde. Mittlerweile war es kurz nach halb vier am Nachmittag, aber ich hatte das Gefühl, ich würde mich bereits eine Ewigkeit hier aufhalten. Zwar konnte ich mich frei bewegen, konnte überall hingehen wo ich wollte, war nicht mehr länger von Betonmauern umgeben, aber dennoch kam ich mir wie in einem großen Käfig vor. Ich war öfters durch die Räume gewandert, obwohl ich inzwischen jede Ecke des Hauses kannte, nur um mich anschließend wieder auf die Couch fallen zu lassen, unfähig etwas anderes zu machen, als einfach nur die Staubflocken zu zählen, die im Licht der Sonne tanzten.
Nicht einmal die Spiele, die Chris auf seinem Computer hatte, hatten mich sonderlich interessiert und so hatte ich mich für ein paar Minuten damit beschäftigt, ein wenig im Internet herumzusurfen, ohne jedoch meinen Kollegen eine Mail zu schreiben, wo ich war und was ich an dem Ort machte. Ich wusste, Gibbs würde sofort hierher kommen und wer weiß was mit meinem Bruder machen, wenn er die Wahrheit erfuhr, womit mir die Möglichkeit, ihn zurückzubekommen, genommen werden würde. So beschränkte ich mich damit, meine Lieblingshomepages zu besuchen – darunter die von FHM. Der Anblick der leicht bekleideten Frauen hatte mich für kurze Zeit ein wenig abgelenkt, aber sie hatten schlussendlich nicht geholfen, mich von der Nervosität zu befreien, die mich ergriffen hatte und mich auch jetzt noch nicht losgelassen hatte. Je näher der Abend kam, desto größer war meine Ruhelosigkeit geworden und so hatte ich den Computer wieder abgeschaltet. Um mich weiterhin zu beschäftigen, hatte ich das Geschirr, das ich für die Spaghetti benötigt hatte, wieder aus dem Geschirrspüler geräumt und es händisch abgewaschen. Ich hatte sogar die Arbeitsflächen in der Küche sauber gewischt, obwohl sie nicht schmutzig gewesen waren, aber selbst meine Putzaktion hatte nur 30 Minuten in Anspruch genommen. Im Prinzip hatte ich nichts dagegen, dass Chris derart ordentlich war, aber ich hatte mir am heutigen Tag wirklich gewünscht, es würde irgendetwas herumliegen, das ich wegräumen hätte können. Wer hätte sich jemals gedacht, dass ich aus reiner Langeweile einmal putzen bevorzugen würde, anstatt mich faul vor den Fernseher zu lümmeln.

Und jetzt saß ich hier, auf der bequemen Couch, starrte geistesabwesend die Uhr an und wartete darauf, dass mein Bruder zurückkam, um mich endgültig freizulassen. Nicht dass ich mich beschweren würde, bald wieder offiziell Anthony DiNozzo sein zu dürfen, aber ich würde erst dann gehen, wenn ich Chris dazu gebracht hatte, in Washington zu bleiben. Er würde sich noch wundern. Wenn er gedacht hatte, dass er einfach wieder so davonlaufen konnte, hatte er sich geschnitten. Die Idee, wie ich ihn dazu bewegen konnte, nicht das Weite zu suchen, war beständig in meinem Kopf und ich wusste, sie war ein wenig risikoreich, hatte ich doch vor, ihn aus der Reserve zu locken und ihn somit dazu zu bringen, endlich mit mir über den Abend vor 15 Jahren zu reden. Ich hatte in den letzten beiden Tagen gemerkt, dass er sich verschloss, wenn er die Ruhe in Person war und deshalb hatte ich mich spontan entschlossen, ihn wütend zu machen, ihn dazu zu bringen, dass er all seine Schutzschilder einriss und alles herausließ. Allerdings stellte ich mir die Frage, womit ich ihn konfrontieren konnte, damit er seine Beherrschung verlor, aber ich wusste, wenn es so weit war, würde mir etwas einfallen. Ihm die Wahrheit zu sagen, war der einzige Weg, damit er nicht einfach davonlief. Ich würde ihm vor Augen führen, dass er all die Jahre auf dem Holzweg gewesen war und wenn das nur durch einen handfesten Streit geschehen konnte, dann würde ich auch einen heraufbeschwören, in der Hoffnung, ihm würde nicht wieder die Hand ausrutschen, wie vor so langer Zeit, wusste ich doch, das er unberechenbar werden konnte, wenn er wütend war.
Obwohl Chris mir gegenüber freundlicher wie noch am Montagabend und am Dienstag gesonnen war, so stand die Geschichte mit Amy weiterhin zwischen uns. Wenn wir diese Sache nicht bereinigten, würde er nie in Washington bleiben, da war ich mir ganz sicher und ich wollte nicht, dass er auch in Zukunft glaubte, ich hätte ihm seine Freundin ausgespannt. Und wenn er sich vor den Konsequenzen fürchtete, was er mir angetan hatte, so würde ich dafür sorgen, dass Gibbs ihn nicht ins Gefängnis steckte, wenn er die Wahrheit erfuhr. Egal wie es laufen würde, ich würde nicht länger verschweigen, dass ich einen Bruder hatte und dass dieser in den letzten Tagen meinen Platz eingenommen hatte. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass mein Boss nicht gerade begeistert darüber sein würde, wenn ich ihm von Chris erzählen würde, aber schweigen würde ich definitiv nicht mehr. Die Zeit, wo ich verdrängt hatte, dass ich kein Einzelkind war, war endgültig vorbei.

Ich seufzte leise und fuhr mir mit einer Hand durch meine Haare. Der Sekundenzeiger der Uhr schien sich nicht vom Fleck zu rühren und die Minuten verstrichen quälend langsam. Ich hatte schwören können, dass bereits wieder eine halbe Stunde vergangen war, aber in Wahrheit waren es nicht einmal fünf Minuten. Wo blieb Chris nur so lange? Hatte ich mich in dem Gefühl, dass er vor Sonnenuntergang hier auftauchen würde, getäuscht? Oder hatten sich irgendwelche Komplikationen in dem Fall ergeben, wo er doch behauptet hatte, dieser wäre heute schnell gelöst? Oder hatte Gibbs mittlerweile herausgefunden, dass ich einen Bruder hatte und ihn verhaftet? Gleich darauf schüttelte ich jedoch den Kopf. Irgendwie spürte ich, dass er nicht in einem Verhörraum saß und regelrecht ausgequetscht wurde. Außerdem, wie konnte mein Boss schon herausfinden, was sich in den letzten Tagen vor seiner Nase abgespielt hatte? Chris würde nie einen Fehler machen oder sich versprechen. Aber wieso sagte mir mein Instinkt plötzlich, dass bald etwas geschehen würde?
Ich begann, auf der Couch unruhig herumzurutschen und meine Nervosität verstärkte sich um ein Vielfaches. Mit den Fingern meiner rechten Hand trommelte ich auf meinem Oberschenkel herum, während ich versuchte, meinen Puls wieder in geordnete Bahnen zu befördern. Nicht einmal vor dem ersten Date mit einem Mädchen war ich derart aufgeregt gewesen, andererseits war ich damals nicht davor gestanden, meinen Bruder ein zweites Mal zu verlieren. Wie ich es hasste, hier sitzen und abwarten zu müssen.

Die Minuten verstrichen, die Uhr tickte leise vor sich hin und ich begnügte mich damit, auf den Boden zu starren und ab und zu mit meinen Fingern in einem Takt herumzuklopfen, der keinem bestimmten Rhythmus entsprach. Als ich bereits nach der Fernbedienung greifen wollte, um erneut den Fernseher einzuschalten, in der Hoffnung, es wurde endlich etwas Vernünftiges ausgestrahlt, zog das Brummen eines Motors meine Aufmerksamkeit auf sich. Abrupt hob ich meinen Kopf, sodass ich mir beinahe meine Halswirbel verrenkt hätte. Mein Atem wurde unwillkürlich schneller und ich drehte mich so, dass ich aus dem Fenster sehen konnte, durch das man einen wunderbaren Blick auf die Zufahrt hatte. Mein Mustang kam in Sicht und zum ersten Mal wurde mir so richtig bewusst, dass Chris in den letzten Tagen mit meinem geliebten Wagen unterwegs gewesen war. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, nicht vor Langeweile zu sterben, dass mir das vorher gar nicht aufgefallen war. Unwillkürlich ballte ich meine Hände zu Fäusten, da ich es nicht ausstehen konnte, wenn jemand anderes als ich selbst mit meinem Auto fuhr, egal um wen es sich handelte.
Seit vor nicht ganz einem Jahr meine Corvette gestohlen und für ein Verbrechen verwendet worden war, hütete ich mein derzeitiges Fahrzeug wie ein Baby, da ich nicht wollte, dass ich noch einmal im Fernsehen mitverfolgen musste, wie es zu Schrott verarbeitet wurde. Damals war ich wirklich kurz davor gewesen, vor allen anderen im Großraumbüro anzufangen, wie ein Kleinkind zu jammern. Meine Unterlippe hatte gezittert und das unterdrückte Lachen von Kate hatte auch nicht gerade dazu beigetragen, mich zu beruhigen – im Gegenteil. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich dringend eine feste Umarmung gebraucht und jemanden, mit dem ich über mein geliebtes Auto hätte trauern können. Aber alle waren viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, alles im Fernsehen mitzuverfolgen, anstatt mich zu trösten. Von Gibbs hatte ich keine netten Worte erwartet, jedoch von Kate oder McGee schon, aber beide hatten den Mund nicht aufbekommen, außer sie hatten bei dem Anblick des kaputten Wagens gegrinst und dabei Ohs und Ahs von sich gegeben.

Seit jenem Tag ließ ich niemanden außer mir selbst hinters Steuer und ich würde mich sicher bald überzeugen, ob Chris ja keinen Kratzer in den Lack gebracht hatte. Sonst würde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn aufzuspüren, sollte es ihm doch gelingen, von hier zu verschwinden.
Mit Argusaugen verfolgte ich, wie er den Mustang ausrollen ließ und ein paar Sekunden später das Brummen des Motors verstummte. Durch die Erkenntnis, dass es jemand gewagt hatte, meinen Wagen zu fahren, hatte ich für einen Moment meine Nervosität vergessen, die jetzt mit Wucht wieder zurückkam. Nicht mehr lange und es würde sich zeigen, ob ich es schaffte, Chris aus der Reserve zu locken und ihn dazu zu bringen, mir endlich zuzuhören.
Ich beobachtete, wie er die Tür des Autos aufmachte, sich den Rucksack, der mir gehörte, vom Beifahrersitz schnappte und schließlich sorgfältig absperrte, obwohl sich niemand in unmittelbarer Umgebung befand. Für einen kurzen Augenblick blieb er noch stehen und betrachtete versonnen den Mustang, strich sachte über den glänzenden Lack und drehte dann seinen Kopf, um meinem Blick zu begegnen. Auf seinen Lippen breitete sich ein kleines Lächeln aus, das auf die Entfernung ein wenig traurig wirkte und unwillkürlich zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Hatte er es vielleicht doch nicht geschafft, den Fall zu lösen, wie er es gerne gewollt hatte? Oder war etwas anderes geschehen?
Ein paar Sekunden sahen wir uns durch das Fenster an, bevor sich Chris schließlich vom Fleck löste, sich den Rucksack umhängte und aus meinem Blickfeld verschwand, als er zur Haustür ging. Obwohl ich das Bedürfnis verspürte, aufzustehen, blieb ich sitzen, aber anstatt den blauen Himmel draußen anzustarren, beugte ich mich ein wenig nach links, um in den Vorraum hinaussehen zu können. Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufging und mein Bruder erneut in Sicht kam. Mit Schwung trat er ein, warf mit dem Fuß die Tür wieder ins Schloss und der traurige Ausdruck von vorhin war verschwunden. Stattdessen war sein Lächeln breiter geworden und er machte auf mich den Eindruck eines unbeschwerten Menschens. Hatte ich mir die Traurigkeit von vorhin nur eingebildet? Aber ich dachte nicht länger darüber nach, da mir auf einmal bewusst wurde, dass ich mir ganz schnell etwas einfallen lassen musste, um ihn aus der Reserve zu locken. Hatte ich vor Minuten gewünscht, er würde bald hier auftauchen, wollte ich jetzt, dass er mir noch etwas Zeit ließ. Andererseits brachte es nichts, es noch weiter hinauszuzögern.

Chris kam zu mir ins Wohnzimmer und ließ den Rucksack neben dem Tisch auf den Boden fallen. „Hey", begrüßte er mich freundlich und setzte sich neben mich auf die Couch, wobei er sich sorgfältig in dem Raum umsah und eine Bestandsaufnahme machte, ob ich etwas kaputt gemacht oder ein Chaos angerichtet hatte. „Selber hey", erwiderte ich und ließ mich zurücksinken. „Und keine Bange, ich habe alles an Ort und Stelle gelassen und nichts versteckt." Ich zwinkerte ihm zu und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich noch immer ein wenig nervös war. Wie sollte ich es nur schaffen, ihn wütend zu machen, wenn er anscheinend gut gelaunt war? „Ich wollte nur sicher gehen. Immerhin bist du der Chaot von uns beiden", sagte er mit einem Grinsen und entspannte sich sichtlich. Seine Augen fixierten mich und der Blick war so intensiv, dass ich Mühe hatte, mich nicht hin und her zu winden. In diesem Moment erinnerte er mich ein wenig an Gibbs, der mich immer dann so ansah, wenn ich etwas angestellt oder Unpassendes gesagt hatte. Chris hatte das Niederstarren von ihm bereits hervorragend übernommen – jedoch ohne dem gefährlichen Funkeln, das einen in eine Eisstatue verwandeln konnte.
„Ich habe dir sogar den Gefallen getan und deinen Saustall von Schreibtisch aufgeräumt, bevor ich gefahren bin", fuhr er fort und grinste bei meinem leicht beschämten Gesichtsausdruck noch breiter. „Keine Ahnung, wie du es geschafft hast zu arbeiten, während du von Papierbällen und Schokoriegelverpackungen umgeben warst." Ich zuckte die Schultern, musste ihm allerdings Recht geben. Meinen Schreibtisch hatte ich in letzter Zeit wirklich mit allerlei Sachen vollgekramt, ohne sie wieder wegzuräumen oder den Mist in den Mülleimer zu entsorgen. Und ich wusste, spätestens in zwei Wochen würde es wieder so aussehen, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte.
„Aber ich habe immer alles gefunden, wenn ich es gebraucht habe. Ich hoffe, du hast nicht allzu viel verräumt." „Das wirst du morgen schon sehen, oder vielleicht heute noch. Das liegt bei dir, wie du den Abend verbringen willst." Zwischen uns entstand eine gespannte Stille und ich versuchte, nicht daran zu denken, dass es womöglich das letzte Mal sein konnte, dass wir beisammen saßen. Aber noch war ich nicht bereit, aufzugeben. Irgendwie würde ich es schaffen, dass er mir zuhörte, sich die Wahrheit anhörte und das Missverständnis zwischen uns endlich ausgeräumt wurde.
„Wie lief es heute?" durchbrach ich schließlich unser Schweigen, das für mich, je länger es andauerte, immer unangenehmer wurde. Außerdem wollte ich noch ein wenig Konversation betreiben und ihn so dazu zwingen, länger zu bleiben. Und vielleicht würde ich etwas sagen, das ihn wütend machte und wenn es so weit war, wollte ich diese Chance auch nützen.

Chris legte seinen Kopf ein wenig schief und schien zu überlegen, wie er auf meine Frage antworten sollte. Abwesend zupfte er an seiner Jeans herum und ich spürte, dass ihn etwas bedrückte. Aber es war offensichtlich, dass er nicht darüber reden wollte – jedenfalls noch nicht. „Es lief hervorragend", sagte er schließlich, seine Miene hellte sich auf und er wirkte nicht mehr ganz so betrübt. „Wie sich herausgestellt hat, hatte ich Recht, was meine Vermutung wegen des Mörders betraf. Gibbs hat ihn innerhalb von ein paar Minuten weich geklopft und ihm ein volles Geständnis abgerungen. Wie er Verhöre führt, ist einfach unglaublich. Alleine ein Blick von ihm würde genügen und ich würde ihm alles verraten was ich weiß. Ich hoffe, dass ich nie von ihm derart auseinandergenommen werde", fügte er eine Sekunde später hinzu und zupfte schneller an der Jeans herum. Er sah auf seine unruhigen Finger und ich spürte genau, dass er Angst hatte, was passierte, wenn Gibbs die Wahrheit erfuhr. Ich wusste, mein Boss würde meinen Bruder nicht nachsichtig behandeln, nur weil er mit mir verwandt war, immerhin hatte er mich entführt. Obwohl ich seit gestern wieder ein freier Mensch war, konnte ich mir vorstellen, dass das für den Chefermittler nicht wirklich zählte. Aber auch wenn Chris sich vor den Konsequenzen seiner Tat fürchtete, ich würde ihn trotzdem nicht ziehen lassen und Gibbs würde ich schon irgendwie überreden, ihn nicht ins Gefängnis zu stecken.
„Ich wusste doch, dass du das Zeug zu einem guten Ermittler hast. Das liegt dir im Blut", sagte ich und mein Bruder hob abrupt seinen Kopf. In seine Augen trat ein freudiges Funkeln und er hörte endlich auf, an seiner Hose herumzuzupfen. Meine Worte bauten ihn auf und die Niedergeschlagenheit verflog. „Ich meine, wenn du deine Arbeit nicht gut erledigt hättest, hätte Gibbs längst etwas gemerkt, aber nachdem du jetzt hier bei mir bist, hat er das nicht." „Ich schätze, du hast Recht." „Ich habe immer Recht." Chris hob eine Augenbraue und sah mich skeptisch an. „Aber nur in deinen Träumen", meinte er grinsend und versetzte mir einen freundschaftlichen Boxhieb auf meinen rechten Oberarm. Ich konnte nicht anders, als mich über diese Geste zu freuen. Da war er wieder, mein Bruder wie ich ihn kannte und nicht der von Hass getriebener Mann, als der er am Montagabend so unverhofft in mein Leben geplatzt war. Nur knapp widerstand ich dem Drang, ihn einfach zu umarmen und ihn fest an mich zu drücken.

„Auch wenn ich das Zeug zu einem guten Ermittler habe", sagte er und sah mich plötzlich ernst an, „dieser Beruf ist nicht wirklich etwas für mich, führt er einen doch in die Abgründe der menschlichen Psyche und ich habe nach einem einzigen Fall bereits Probleme, die blutüberströmte Leiche des Commanders aus meinem Kopf zu bringen. Außerdem ist es nicht gerade einfach, Bundesagent zu sein, auch wenn deine Kollegen unglaublich nett sind. Sogar Gibbs", fügte er hinzu und grinste schief, als ich meine Stirn runzelte. „Hinter seiner grummeligen Fassade steckt ein Mann mit einem weichen Kern, auch wenn er diese Seite nicht oft zeigt, aber ich habe sie in den letzten Tagen kennengelernt. Er macht sich wirklich über jeden seiner Agenten Sorgen, vor allem, wenn diesen etwas bedrückt und besonders dich mag er. Das ist einer der Gründe, warum ich dir dein Leben wieder zurückgebe. Ich kann nicht weiterhin so tun, als ob ich du wäre und alle denken, Tony DiNozzo wäre bei ihnen. Weißt du, irgendwie wünsche ich mir, dass sich Gibbs auch einmal um mich solche Sorgen macht, in dem Bewusstsein, dass nicht du es bist." In seine Augen trat ein trauriger Ausdruck, der noch intensiver war als der von vorhin, als er mich durch das Fenster angesehen hat. Ich rückte näher an ihn heran und legte meine Hand auf seine Rechte. „Das können wir ändern", sagte ich leise und drückte aufmunternd seine Finger. „Nein, können wir nicht", erwiderte er eine Spur wütend und entzog sich meinem Griff. „Gibbs würde mich sofort ins Gefängnis stecken und ich werde ganz sicher nicht hinter Gitter gehen, das habe ich mir geschworen. Ich würde dort drinnen nicht überleben." Seine Stimme wurde wieder leiser und ich wusste, dass es brenzlig wurde, dass ich dabei war, ihn zu verlieren.
„Red nicht so einen Mist, Chris", fuhr ich ihn an und rückte ein wenig von ihm weg, da ich merkte, dass ich ihn einengte „Gibbs wird dich nicht…" „Sicher wird er das. Ich habe dich immerhin entführt und tagelang eingesperrt. Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders, Tony. Meine Entscheidung steht fest. Ich werde von hier weggehen. Glaub mir, mir fällt es nicht leicht, einfach so einen Schlussstrich zu ziehen. Seit langem habe ich wieder das Gefühl gehabt, richtige Freunde zu haben und einen Bruder, dem ich vertrauen kann, was nicht gerade einfach ist. Wenn ich ehrlich bin, habe ich die ganze letzte Nacht darauf gewartet, dass man mich verhaftet, weil du nicht hier geblieben bist." Seine Worte rührten mich und ich musste hart schlucken, um den Kloß, der unwillkürlich in meinem Hals entstanden war, loszuwerden. „Ich habe dir geschworen, dass ich nicht abhauen werde", erwiderte ich und bemerkte, dass sich Chris wieder etwas entspannte. „Und ich habe Wort gehalten, ich habe dir die Chance gelassen, die du haben wolltest." „Dafür bin ich dir wirklich dankbar, aber dennoch kann ich nicht bleiben." Er wurde ruhiger und begnügte sich damit, seine Hände anzustarren, die schon wieder an seiner Hose herumzupften. Auf einmal sah er wie ein kleines, verlorenes Kind aus, wie er so vor mir saß und ich erkannte genau, dass er lieber hier bleiben wollte, sich aber einfach vor den Konsequenzen fürchtete und so lange er diese Angst nicht ablegte, würde es für mich schwierig werden, ihn zu überreden, nicht wieder zu verschwinden.

Erneut breitete sich Schweigen aus und ich ließ ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Es war offensichtlich, dass er noch irgendetwas sagen wollte. In den letzten Tagen hatte ich gelernt, dass es nicht gut war, ihn zu drängen sich mir anzuvertrauen, würde er sich dadurch nur in sich zurückziehen. Das Ticken der Uhr über der Küchentür war für etwa eine Minute das einzige Geräusch, bis Chris seinen Kopf hob und die Traurigkeit, die ihn ergriffen hatte, raubte mir beinahe den Atem. Seine grünen Augen hatten das Funkeln verloren und ich konnte die Mauer, die er erneut um sich herum aufgebaut hatte, förmlich vor mir sehen.
„Stimmt es, dass du die Lungenpest hattest?" fragte er schließlich und der plötzliche Themenwechsel überraschte mich. „Stimmt es, dass du beinahe gestorben wärst, ohne dass ich davon eine Ahnung gehabt habe?" Ich schloss meine Augen, atmete tief durch und für ein paar Sekunden hatte ich wieder die Isolierstation des Bethesda vor mir, das blaue Licht, das mich noch manchmal in meinen Träumen verfolgte, spürte die Schmerzen und den heftigen Husten, der mich von innen heraus beinahe zerrissen hätte. Und dann sah ich Kate vor mir, wie sie bei mir geblieben war, um mir beizustehen, obwohl sie sich anstecken hätte können – nur um ein paar Wochen später von einer Kugel getötet zu werden.
Ich schüttelte den Kopf, drängte die Erinnerungen in einen hinteren Winkel meines Gehirns zurück und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. „Ja, ich hatte die Lungenpest", antwortete ich und Chris zuckte bei meinen Worten leicht zusammen. „Und ja, ich wäre beinahe gestorben. Aber ich bin es nicht, sonst hätte mich Gibbs bis ins Jenseits verfolgt und mir eine Kopfnuss verpasst, da ich den direkten Befehl, nicht zu sterben, missachtet habe." Mein Bruder verzog seine Lippen zu einem leichten Grinsen und die Traurigkeit nahm ein wenig ab. „Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir gewesen bin", flüsterte er und stand auf. „Dir braucht nichts leid zu tun", erwiderte ich und beobachtete, wie er anfing, in seiner Hosentasche zu kramen, den Autoschlüssel herausholte und ihn auf den Tisch legte. Panik machte sich in mir breit, als ich erkannte, was er vor hatte.
„Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen", fuhr Chris fort und blickte mich erneut traurig an. „Aber das ist ja nicht möglich." Er seufzte und holte meinen Dienstausweis aus der anderen Hosentasche, betrachtete ihn für ein paar Sekunden, bevor er leise und mit ungewohnt schwacher Stimme sagte: „Ich muss gehen." „Nein, musst du nicht!" schrie ich und sprang auf. „Bleib hier! Es wird alles gut werden, das spüre ich! Lauf nicht wieder weg, so wie du es vor 15 Jahren getan hast!" Meine Worte ignorierend, trat er vor mich hin, nahm meine rechte Hand, drückte mir den Dienstausweis in meine Finger und schloss sie mit sanfter Gewalt darum. „Meine Entscheidung steht fest und diese werde ich nicht mehr rückgängig machen. Dein Leben gehört wieder dir, Tony und ich werde mein Eigenes leben, aber woanders." „Warum? Washington ist doch eine schöne Stadt und…" Als er seinen Kopf schüttelte, warf ich wütend den Ausweis auf den Tisch, wo er neben dem Schlüssel landete. „Du bist so was von stur!" schrie ich ihn an und wollte nicht einsehen, dass ich verloren hatte.
„Ich bin immerhin ein DiNozzo. Das liegt mir im Blut", erwiderte er ruhig und schien sich nicht daran zu stören, dass ich ihn gerade angebrüllt hatte. Anstatt ihn aus dem Konzept zu bringen, war ich es, der nun von Ärger überrollt wurde. Chris trat ein paar Schritte zurück und nahm die Marke, die er sich an seiner Hose befestigt hatte, herunter und legte sie neben den anderen Sachen auf den Tisch. Anschließend löste er das Holster mit meiner Waffe von seiner Hüfte und betrachtete sie ein wenig versonnen. „Ich muss zugeben, es hat Spaß gemacht, für drei Tage Bundesagent zu sein, auch wenn es nicht immer leicht gewesen ist", sagte er mehr zu sich selbst, als zu mir. „Aber die Erfahrung möchte ich auf gar keinen Fall missen. Wer weiß, vielleicht wird sie mir irgendwann einmal nützen." Er hob wieder seinen Kopf, schenkte mir ein kleines Lächeln und wollte mir die Waffe entgegenstrecken, als ein Geräusch die Stille der ländlichen Gegend unterbrach. Chris erstarrte mitten in der Bewegung, während ich unwillkürlich die Luft anhielt. Ich kannte den Klang nur zu gut – es war das unverkennbare Brummen eines Motors. Mein Herz fing an, schneller zu schlagen und ich spürte instinktiv, wessen Wagen es war, der sich näherte. Konnte es wirklich möglich sein? Oder war es nur ein Zufall?

Wie in Trance drehte ich mich zu dem Fenster, sah nach draußen und irgendwie hoffte ich, dass ich mich irrte, aber mein Instinkt behielt Recht. Ein dunkelblaues Auto, das ich nur zu gut kannte, kam in Sicht und blieb mit quietschenden Reifen hinter meinem Mustang stehen, wobei ich froh sein konnte, dass er nicht auf die Stoßstange auffuhr. Türen wurden geöffnet und als erstes erkannte ich die grauen Haare meines Bosses, der für zwei Sekunden seinen Blick über die Umgebung schweifen ließ und schließlich direkt durch das Fenster und in meine Augen sah. ‚Nein, nein, nein', schoss es mir immer wieder durch den Kopf, als mir klar wurde, was es zu bedeuten hatte, dass er auf einmal vor dem Haus stand. Er wusste es, wusste von Chris.
Neben Gibbs tauchten Ziva und McGee auf, aber mir bleib keine Zeit, ihre Reaktionen zu beobachten, da ich hinter mir ein Knurren hörte. „Mistkerl!" Ich zuckte bei dem eiskalten Ton in der Stimme meines Bruders heftig zusammen, riss meinen Blick von meinen Kollegen los und drehte mich um. Chris stand vor mir, seine Augen vor Panik und Wut geweitet und seine freie Hand hatte sich zur Faust geballt. „Ich fasse es nicht! Wie konntest du das nur tun?! Verdammt, ich habe dir vertraut!" Sein Gesicht rötete sich und der Hass, den ich vor 15 Jahren und selbst am Dienstag noch an ihm wahrgenommen hatte, kam zurück und traf mich mitten in mein Herz. „Ich habe geahnt, dass du sie einweihen würdest! Hast du das Telefon benutzt oder eine Mail geschrieben?! Oder hast du vielleicht gleich eine nette Spritztour mit meinem Wagen unternommen?!"
Meine Eingeweide krampften sich schmerzhaft zusammen und ich konnte einfach nur dastehen und versuchen zu realisieren, dass sich die Situation innerhalb von wenigen Sekunden komplett verändert hatte. „Ich habe gar nichts getan", entgegnete ich und spürte, wie in mir ebenfalls Panik aufstieg. „Lügner! Du lügst! Wie konnte ich nur so blind sein?! Und ich habe gedacht, du hättest dich verändert, und dass ich dir vertrauen kann! Wie konnte ich mich in dir nur so täuschen?! Verräter!!!" Das letzte Wort saß. Unglaubliche Wut überrollte mich und ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. „Wage es nicht, mich einen Verräter zu nennen!!!" brüllte ich ihn an und meine Lautstärke stand der seinen in nichts nach. „Ich habe nichts getan und sie schon gar nicht hierher gelotst! Keine Ahnung, wie sie es herausgefunden haben, aber es war nicht durch mich! Ich habe dir mein Wort gegeben und…!" Aber ich kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Die Haustür wurde voller Wucht aufgetreten und krachte gegen die Wand. Abrupt drehte ich in dem Augenblick meinen Kopf, indem Gibbs, Ziva und McGee in den Vorraum stürmten, alle drei hielten ihre Waffen in den Händen. Innerhalb einer Sekunde hatten sie Chris und mich entdeckt und ehe ich auch nur reagieren konnte, waren sie im Wohnzimmer, blieben aber schlagartig stehen, so als ob sie gegen eine unsichtbare Mauer geprallt wären. Ohne zu zögern hoben meine Kollegen ihre Pistolen und zielten an mir vorbei, konzentrierten sich auf einen Punkt neben mir. Meine Nackenhärchen stellten sich unwillkürlich auf und einer inneren Stimme folgend, drehte ich mich langsam um – und blickte in die Mündung meiner eigenen Dienstwaffe.

Fortsetzung folgt...
Chapter 30 by Michi
Stille. Ich hätte niemals gedacht, dass Stille derart laut sein konnte. Obwohl ich das Gefühl hatte, taub zu sein, dröhnte diese unheimliche Ruhe in meinen Ohren und übertönte sogar meinen eigenen Herzschlag. Ich stand da, war unfähig auch nur einen Muskel zu rühren und starrte wie hypnotisiert auf die Waffe, die direkt auf meine Stirn zielte. Obwohl ich überzeugt war, dass sie nicht entsichert worden war, wirkte das schwarze Loch der Mündung mehr als bedrohlich und kam mir wie ein langer, schwarzer Tunnel vor, in dem der Tod lauerte. Ein lauter Knall, ein kurzes Feuerwerk aus hellem Licht und innerhalb des Bruchteils einer Sekunde würde ich mit einem hässlichen Loch in der Stirn auf dem Boden liegen und mein Leben aushauchen. Es war nicht diese Aussicht, die mich mehr als alles andere erschreckte, oder die Gegebenheit, dass ich mit einer Waffe bedroht wurde – das war für mich nichts Neues – sondern die Tatsache, dass es Chris war, der auf mich zielte und nicht irgendein gefährlicher Verbrecher. Nein, ausgerechnet mein eigener Bruder, von dem ich vor einer Minute noch geglaubt hatte, er wäre wieder der Mensch, der er gewesen war, bevor uns Amy auseinander gebracht hatte.
Ich konnte nicht verhindern, dass mich ein heftiger Schock durchfuhr – gepaart mit Unglauben. Ich vergaß in dieser Situation sogar, dass er mich einen Verräter genannt und mir andere, verletzende Worte an den Kopf geworfen hatte. Wieso mussten Gibbs, McGee und Ziva gerade jetzt auftauchen, kurz bevor ich als freier Mann dieses Haus verlassen hatte können, kurz bevor ich die Möglichkeit erhalten hatte, Chris dazu zu bringen, in Washington zu bleiben, um sein Leben wieder mit mir zu teilen? Und jetzt hatte sich alles ins Gegenteil gekehrt. Der Hass von vor 15 Jahren war wieder da, er glaubte, ich hätte ihn erneut reingelegt und meine Kollegen an diesen Ort gelotst und ich spürte genau, dass er sich mehr und mehr in die Enge getrieben fühlte.
Ich riss meinen Blick von der schwarzen Mündung los und sah meinem Bruder direkt in die Augen, in denen sich gleichzeitig Angst und Panik widerspiegelten. Zwar war die Hand, die die Waffe hielt, komplett ruhig, aber es war ihm anzumerken, dass in seinem Inneren ein wahrer Gefühlssturm tobte. Seine Kiefer waren hart zusammengepresst, die Lippen ein dünner Strich und seine Wangen waren weiterhin gerötet, so als ob er einen 10 Meilen Lauf hinter sich hätte. Kleine Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet und bahnten sich einen Weg seitlich über sein Gesicht, das weiterhin vor Wut verzerrt war und nichts mehr mit der traurigen Miene gemein hatte, mit der er mich noch vor kurzem bedacht hatte.
Es war diese Erkenntnis, die mich abrupt in die Realität zurückholte. Die Geräusche stürmten auf mich ein und mein gesamter Körper wurde von einer Ladung Adrenalin überschwemmt. Ich stieß keuchend den angehaltenen Atem aus, das Blut rauschte laut in meinen Ohren und mein Herz schlug beinahe schmerzhaft in meiner Brust. Die Umgebung nahm wieder scharfe Formen an, das Sonnenlicht war beinahe zu grell und die Zeit schien nicht länger still zu stehen. Das beständige Tick Tack der Uhr über der Küchentür schien mich zu verhöhnen und war mehr als unpassend. Es ging mir gewaltig auf die Nerven und am liebsten hätte ich den nächstbesten Gegenstand nach dem Störenfried geworfen, aber ich wagte es weiterhin nicht, mich zu rühren, obwohl meine Muskeln wieder voll funktionsfähig waren. Ich blickte Chris einfach in die Augen, während ich versuchte, meinen Atem ein wenig zu beruhigen und meinen Puls in geordnete Bahnen zurückzubeordern. Wir starrten uns gegenseitig an, keiner bereit, zuerst nachzugeben und es schien nur mehr uns beide zu geben. Seine Hand mit der Waffe war weiterhin ruhig, sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig – er hatte sich eindeutig besser in der Gewalt als ich, sah man von der Panik, die sich in seinen Augen spiegelte, ab.

Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, als ich neben mir eine Bewegung wahrnahm, die mich aus meiner Starre riss. Erst jetzt realisierte ich zum ersten Mal so richtig, dass wir nicht alleine waren, sondern sich Gibbs, McGee und Ziva ebenfalls in dem Raum befanden, der mir auf einmal viel zu klein vorkam. Nicht nur ich zuckte zusammen, auch Chris wurde aus seiner Betrachtung gerissen. Er schloss seine Finger unwillkürlich fester um den Griff der Waffe und spannte seine Schultern an, so als ob er mit einer Attacke rechnen würde.
Ich wagte es endlich, meinen Blick von ihm zu lösen, drehte meinen Kopf und sah zu meinen Kollegen, die einen Halbkreis um uns gebildet hatten und meinem Bruder damit mehr als deutlich machten, dass er keine Chance zur Flucht hatte. McGee sah zwischen mir und Chris hin und her, nicht sicher, wem er seine Aufmerksamkeit schenken sollte. Sein Mund stand leicht offen und auf sein Gesicht war leichtes Unglauben geschrieben, wobei er seine Augenbrauen ein wenig zusammengezogen hatte. Egal wie er es oder von wem er es erfahren hatte, ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass er ein paar Sekunden gebraucht hatte, um diese Information zu verdauen. Würde ich so unverhofft erfahren, dass Tim einen Zwillingsbruder und dieser seinen Platz eingenommen hatte, würde ich mich auch mit eigenen Augen davon überzeugen wollen, ob ich nicht träumte. Ich wusste nur zu genau, dass das alles kein Traum war und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, war ich froh darüber, dass es keiner war. Obwohl die Situation momentan ausweglos erschien, so bestand noch immer die Chance, dass sich alles zum Guten wendete, wenn ich Gibbs dazu brachte, seine Waffe wegzustecken und Chris endlich die Wahrheit erklären konnte, damit er einsah, dass ich sein Vertrauen nicht missbraucht hatte – nicht heute und schon gar nicht vor 15 Jahren.
Ziva hingegen war nicht einmal annähernd anzumerken, was sie dachte oder was in ihrem Inneren vorging. Ihre Miene war verschlossen, ihre Hände hielten ruhig die Waffe und ihr gesamter Körper war gespannt wie ein Flitzebogen. Ich wusste was zwischen ihr und meinem Bruder vorgefallen war, hatte er mir doch von ihrem Kuss erzählt. Zu erfahren, dass nicht ich es gewesen war, der sie geküsst hatte, musste sie heftig getroffen haben, das zeigte alleine schon die Emotionslosigkeit auf ihrem Gesicht. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass es nicht Gibbs war, von dem die meiste Gefahr für Chris ausging, sondern Ziva. Es wunderte mich, dass sie nicht einfach auf ihn zustürmte, um ihm den Hals umzudrehen, ungeachtet dessen, dass er mit einer Pistole auf meine Stirn zielte.
Mein Boss hingegen war professionell wie immer und nicht einmal die Tatsache, dass er auf einmal zwei Männer vor sich hatte, die sich bis ins kleinste Detail glichen und es mühelos schafften, ihn auf die Palme zu bringen, schien ihn zu stören. Seine Augen hatte er leicht zusammengekniffen und er fixierte meinen Bruder wie eine Zielscheibe auf dem Schießstand. Genauso wie Ziva konnte ich nicht erkennen, was er dachte, aber ich ahnte, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass sich die Situation so entwickeln würde. So wie ich ihn kannte, hatte er geglaubt, ein leichtes Spiel zu haben. Allerdings fragte ich mich, was er jetzt machen wollte, denn Chris machte auf mich den Eindruck, nicht freiwillig die Waffe sinken zu lassen. Seine Worte, dass er um keinen Preis ins Gefängnis wollte, kamen mir in den Sinn und auf einmal hatte ich Angst, dass er etwas Dummes anstellen würde. Was war, wenn er Gibbs herausforderte, auf ihn zu schießen? Mein Unglauben, dass er mich bedrohte, wurde durch die Furcht, dass er in diesem Raum den Tod finden könnte, ersetzt und ließ mich scharf einatmen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich fühlte mich schrecklich hilflos, wusste nicht, was ich machen sollte, um die Situation zu entschärfen.

„Alles in Ordnung, Tony?" Jethros Frage riss mich aus meinen nicht gerade rosigen Gedanken. Seine Stimme war ruhig, während seine blauen Augen gefährliche Funken sprühten. Chris zuckte ein wenig zusammen und für einen kurzen Moment presste er seine Lippen noch fester zusammen, bevor er seinen Mund ein wenig aufmachte und anfing, Luft in seine Lungen saugen, so als ob er minutenlang unter Wasser und kurz davor gewesen wäre, zu ersticken. Ich wusste genau, was in ihm vorging – verschwunden war Gibbs' Sorge um ihn, sie war für mich bestimmt und nicht länger für meinen Bruder und das machte diesem sichtlich zu schaffen. Er hatte das Gefühl kennen gelernt, wie es war, wenn man jemanden hatte, der einem helfen wollte und jetzt war erneut ich es, der ihm das wegnahm, genauso wie in unserer Kindheit. Da hatten sich unsere Eltern ständig um mich gekümmert und ihn links liegen gelassen und dasselbe passierte jetzt wieder. Mein Boss war wahrscheinlich nur daran interessiert, den Mann zu verhaften, der mich entführt und meinen Platz eingenommen hatte – aber so wahr ich Anthony DiNozzo hieß, ich würde nicht zulassen, dass er das machte. Ich wollte meinen Bruder zurückhaben und ich würde dafür kämpfen.
„Mir geht es bestens", antwortete ich schließlich, da ich wusste, dass es Gibbs überhaupt nicht gefiel, wenn ihn jemand ignorierte. Jedoch sah ich weiterhin Chris an und versuchte den Schmerz in meinem Inneren zu ignorieren, der in mir aufstieg, als ich erneut den Hass zu spüren bekam, den er gar nicht erst zu verstecken versuchte, weshalb ich den Spruch, der mir bereits auf der Zunge lag, hinunterschluckte. Auch wenn er vielleicht dazu beigetragen hätte, die Stimmung etwas zu lockern, war es nicht der richtige Augenblick dafür, außerdem wollte ich mir keine Kopfnuss einfangen – diese würde bald genug wieder kommen. Meine Worte führten jedoch nicht dazu, dass Jethro die Pistole sinken ließ – im Gegenteil. Er hob sie noch weiter an, weshalb ich ihm vorübergehend die Aufmerksamkeit schenkte.
„Es ist wirklich alles bestens", wiederholte ich, selbst erstaunt über meine ruhige Stimme. „Chris hat mir nichts getan und…" „Aber ICH werde IHM gleich etwas antun, wenn er nicht sofort die Waffe runternimmt", grollte Gibbs und spannte seine Muskeln an. Ich wusste, dass er seine Drohung wahr machen würde und erneut stieg Panik in mir auf. „Das Spiel ist aus, Christopher", sagte er kalt zu meinem Bruder, der immer schneller atmete und dessen Hand langsam zu zittern begann. „Nimm die Waffe runter oder diese Sache wird nicht ohne Blutvergießen enden." „Gibbs, bitte…" begann ich, wurde aber von Chris unterbrochen, der seine Sprache wiedergefunden hatte. „Nein!" schrie er und machte auf mich mehr denn je den Eindruck eines in die Enge getriebenen Tieres. „Das werde ich nicht tun! Ich weiß doch, dass ich anschließend im Gefängnis landen werde und dort werde ich nicht hingehen! Und wenn das alles nur mit Blutvergießen enden kann, dann soll es so sein! Schieß, wenn du unbedingt schießen musst!!!" Nicht nur ich war über diese Worte entsetzt. Ziva ließ ihre Waffe ein paar Zentimeter sinken und sah beinahe flehend zu Gibbs, der sie aber ignorierte – und in diesem Moment wurde mir klar, dass sie Gefühle für meinen Bruder hegte, auch wenn sie es wahrscheinlich selbst noch nicht wusste. Aber ich konnte das Band zwischen den beiden förmlich spüren.
„Niemand wird hier irgendwen erschießen!" schrie ich und hatte auf einmal die Aufmerksamkeit des Chefermittlers auf mich gezogen. „Tony…" „Nein! Verdammt, Gibbs, er ist mein Bruder und ich werde nicht zulassen, dass du den Abzug durchziehst! Bitte, nimm die Waffe runter, ich werde das regeln", fügte ich leiser hinzu und blickte ihn eindringlich an. „Was?" fragte er überrascht und ärgerlich, da ich es gewagt hatte, ihn derart anzubrüllen und ihm praktisch einen Befehl erteilt hatte. Aber ich ließ mich nicht irritieren und hielt seinem stechenden Blick stand. „Ich werde nicht…" „Bitte", unterbrach ich ihn, in dem Bewusstsein, dass er mir im Anschluss deswegen sicher ein gutes halbes Dutzend Kopfnüsse verpassen würde, aber die waren erträglicher als eine Kugel in Chris' Körper. „Von mir aus kannst du mir nachher sooft auf meinen Hinterkopf schlagen oder mich mit so viel Aktenarbeit bestrafen wie du willst, aber bitte, nimm die Waffe runter. Bitte, lass mich das regeln. Vertrau mir, Boss, vertrau mir einfach." Meine Stimme wurde flehentlich und wenn es sein musste, würde ich zusätzlich auf meine Knie sinken und ihn anbetteln. Sah er denn nicht, dass er mit seinem Verhalten nur alles schlimmer machte? Solange Chris sich weiterhin in die Enge getrieben fühlte, würden wir nicht weiterkommen. Außerdem glaubte ich nicht, dass er mir irgendetwas antun würde, sonst hätte er schon längst abgedrückt. Er war verzweifelt und ich wollte ihm zu einem Ausweg verhelfen – aber zu einem, der nicht im Gefängnis endete.
Für ein paar Sekunden – die mir jedoch wie eine Ewigkeit vorkamen – blickten Gibbs und ich uns an und ich konnte die Räder, die sich in seinem Kopf drehten, förmlich vor mir sehen. Er überlegte hin und her, durchdachte die gesamte Situation und als er endlich seine Entscheidung getroffen hatte, nickte er leicht – jedenfalls interpretierte ich das kurze Rucken seines Kopfes als solches. Seine Muskeln entspannten sich ein wenig und er ließ langsam seine Hände sinken, bis die Mündung auf den Boden gerichtet war. Erleichtert atmete ich tief durch und Stolz keimte in mir auf, als ich erkannte, dass er mir wirklich vertraute, dass er mir eine Chance ließ, die Situation auf meine Art zu regeln.
„Na los, nehmt die Waffen runter", sagte Gibbs zu Ziva und McGee, die einen verblüfften Blick austauschten und als der Chefermittler erneut kurz nickte, folgten sie seinem Befehl. Zögernd steckten sie die Pistolen in ihre Holster zurück, während Jethro seine weiterhin in der Hand hielt, sie aber weiterhin mit der Mündung nach unten gerichtet hatte – etwas, womit ich gut leben konnte. Ich wusste, er wollte so schnell wie möglich eingreifen können, wenn die Sache aus dem Ruder laufen würde – aber so weit würde ich es nicht kommen lassen.

Erleichterung durchströmte mich, als Gibbs einen Schritt zurücktrat und uns ein wenig Platz ließ, aber nichtsdestotrotz war mir bewusst, dass er uns weiter wie ein Jäger, der seine Beute verfolgte, beobachtete. Wenn alles gut ausging, würde ich ihm einen Jahresvorrat an Kaffee kaufen, auch wenn ich deswegen in Zukunft sparen musste, aber das war es mir wert.
Ich drehte mich zu Chris und konzentrierte mich nur mehr auf ihn, verdrängte die Tatsache, dass wir nicht alleine waren und die anderen die nicht gerade nette Familiengeschichte der DiNozzos mitbekommen würden. Mein Gegenüber entspannte sich ein wenig, als er erkannte, dass ihm von den Agenten momentan keine Gefahr mehr drohte und die Hand mit der Waffe hörte auf zu zittern. Er gewann wieder etwas an Boden und die Panik, die ihn erfasste hatte, ließ eine Spur nach. Vorsichtig trat ich einen Schritt auf ihn zu, stoppte aber, als er die Pistole ein wenig anhob und mich gefährlich anfunkelte. „Versuchst du mich etwa weichzuklopfen, Tony? Aber ich kann dir versichern, dass das nicht funktionieren wird", meinte er mit erstaunlich ruhiger Stimme – nichts deutete darauf hin, dass er noch vor kurzem herumgebrüllt hatte, dabei hätte ich gehofft, dass er weiterhin wütend war. Ich wollte an dem Plan, ihn aus der Reserve zu locken, festhalten und ihn dadurch dazu bringen, seine Schutzschilder einzureißen. Und plötzlich wusste ich es, wusste, wie ich ihn derart ärgern konnte, dass er alles rausließ, dass er all seinen Hass mir gegenüber ablegte und die Vergangenheit endlich ruhen ließ.

„Weißt du was dein Problem ist?" fragte ich und machte einen weiteren kleinen Schritt in seine Richtung. Mein Herz schlug viel zu schnell, ich hatte einen Überschuss Adrenalin in meinen Adern und meine Hände wurden feucht. In ein paar Minuten würde es sich entscheiden, ob ich Chris verlieren würde oder ob er endlich dazu bereit war, sein Leben mit mir zu teilen. „Dein Problem ist, dass du Angst hast", fuhr ich fort und beobachtete seine Reaktion genau. „Du hast nicht Angst, ins Gefängnis zu gehen, nein, du hast Angst davor, nicht wieder davonlaufen zu können, so wie du es vor 15 Jahren getan hast. Und weißt du warum? Weil du ein gottverdammter Feigling bist!" Die letzten Worte schleuderte ich ihm mitten ins Gesicht und sie trafen genau ihr Ziel, das merkte ich sofort. Chris zuckte wie unter einem heftigen Schlag zusammen, seine Miene verzerrte sich vor Wut und er krampfte unwillkürlich den Zeigefinger um den Abzug, aber da die Waffe noch immer gesichert war, machte ich mir keine Sorgen, dass sie versehentlich losgehen könnte. Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, wie sich meine Kollegen versteiften und Gibbs vortreten wollte, es sich aber zu meiner Erleichterung anders überlegte. Wenn er sich jetzt einmischte, war alles verloren, aber er hielt sich im Hintergrund.
„Du nennst mich einen Feigling?!" herrschte mich mein Bruder an und seine Augen sprühten regelrecht Funken. „Ja, ich nenne dich einen Feigling, weil du einer bist, weil du zu feig bist, dich den Konsequenzen zu stellen, dafür gerade zu stehen, was du getan hast! Und weil du zu verbohrt bist, um dir endlich die Wahrheit anzuhören!" Chris zuckte erneut zusammen und für einen kurzen Moment presste er seine Kiefer so fest aufeinander, dass seine Halsmuskeln wie dicke Stränge hervortraten. „Du nennst mich einen Feigling?!" wiederholte er seine Worte noch einmal. „Und was bist dann du?! Oh ja, jetzt fällt es mir wieder ein! Du bist ein gottverdammter Verräter! Hinterhältig und nur darauf bedacht, mein Vertrauen zu missbrauchen, so wie heute und vor 15 Jahren!" Er atmete heftig und seine Wangen röteten sich erneut. Ich erkannte, dass er davor stand, seine Beherrschung zu verlieren, aber ich ließ nicht locker, ließ die Worte über mich ergehen, die er mir an den Kopf schleuderte und die mir, obwohl ich sie erwartet hatte, einen schmerzhaften Stich versetzten.
„Wer hat sich denn hinterrücks an Amy herangemacht?! Wer hat denn mit meiner Freundin herumgemacht, während ich nicht in der Nähe war?! Du hast schamlos mein Vertrauen missbraucht und mir damit gezeigt, was ich dir wert bin! Und du wagst es, mich einen Feigling zu nennen?! Dann gebe ich dir den Rat: denk zuerst darüber nach, was du getan hast, bevor du hier irgendwen verurteilst!!!"
Drückende Stille breitete sich aus und sogar die Welt schien die Luft anzuhalten. Unser Streit nahm Dimensionen an, mit denen ich nicht gerechnet hatte und mittlerweile fragte ich mich, ob es so gut war, ihn aus der Reserve zu locken, aber jetzt gab es kein Zurück mehr, ich musste es durchziehen, denn wenn ich klein beigab, wäre alles verloren.
Ich schüttelte frustriert meinen Kopf und trat einen weiteren kleinen Schritt auf Chris zu, der aber sofort Distanz zwischen uns brachte. „Ich habe dein Vertrauen nicht missbraucht", sagte ich erstaunlich ruhig und wunderte mich selbst, wie ich das schaffte, hatte ich doch das dringende Bedürfnis, ihm endlich Vernunft einzubläuen. „Nicht heute und schon gar nicht vor 15 Jahren. Was mit Amy passiert war, war nicht meine Schuld. Es war ganz anders als es ausgesehen hat." „Oh bitte", erwiderte er höhnisch und voller Eiseskälte, die mehr schmerzte als ein harter Faustschlag. Gleich darauf verzerrte sich sein Gesicht erneut vor Wut und ich konnte erkennen, dass er den Abend, der uns auseinandergebracht hatte, vor Augen hatte, jede einzelne Szene.
„Es war nicht deine Schuld, ja?" fragte er mit gefährlich leiser Stimme, obwohl es offensichtlich war, dass er am liebsten erneut herumgebrüllt hätte. „Soll ich dir was verraten? Ich habe Augen im Kopf und die funktionieren wunderbar. Ich weiß was ich gesehen habe und für mich war das mehr als eindeutig." „Chris…" „Nein, jetzt hörst du mir einmal zu!" unterbrach er mich laut und verstärkte den Griff um die Waffe, weshalb Gibbs seine Hand hob und in mein Blickfeld trat. Erschrocken drehte ich mich um und bekam mit, wie die anderen ebenfalls zu ihren Pistolen griffen. „Wartet!" rief ich panisch und schüttelte heftig den Kopf. Sie durften nicht eingreifen, durften es nicht kaputt machen. Ich hatte meinen Bruder endlich so weit, dass er alles ausspuckte, was ihm auf dem Herzen lag und ich spürte, dass ich kurz davor stand, die Chance zu erhalten, ihm alles zu erklären, dass wir auf einen grünen Zweig kamen. „Gibbs, bitte." Ich sah ihn flehentlich an und in meinen Augen musste ein Ausdruck liegen, der ihn inne halten ließ. Er presste seine Kiefer aufeinander und signalisierte mir damit, dass er nicht damit einverstanden war, wie das hier ablief, machte aber keine Anstalten mehr einzugreifen. Allerdings blieb er auf dem Fleck stehen, ließ die Waffe aber wieder sinken.

„Chris, was vor 15 Jahren passiert ist, ist…" begann ich, als ich mich ihm erneut zuwandte, hatte aber keine Möglichkeit, den Satz zu vollenden. „Nicht, deine Schuld?! Das habe ich doch schon einmal gehört!" Er zuckte mit den Schultern und auf einmal überkam ihn eine Traurigkeit, die mir schier den Atem raubte. „Weißt du, weshalb ich an diesem Abend überhaupt zu dir ins Zimmer gekommen bin?" wollte er wissen und kniff seine Augen zusammen. „Ah ja, ich vergaß, du warst beschäftigt." Der Hass war wieder da, verdrängte die Traurigkeit aber nicht ganz. „Sag es mir", erwiderte ich leise, meine Wut, dass er mich einen Verräter genannt hatte, war verraucht.
„Hast du eine Ahnung, wie es ist, per Zufall zu erfahren, dass man für den eigenen Vater nur Ballast ist?!" schleuderte er mir entgegen und für einen kurzen Moment stand ich einfach nur da, während seine Worte in meinem Gehirn widerhallten. Erneut hatte ich das Gefühl, mich nicht mehr rühren zu können. „Was?" Fassungslos starrte ich ihn an und versuchte zu realisieren, was ich soeben gehört hatte. „Du hast mich schon richtig verstanden! An diesem Abend habe ich zufällig ein Gespräch von Dad und diesem Jamieson belauscht! Und er hat diesem Mann einfach erzählt, dass ich ihm nichts als Ärger mache! Oh und das Beste kommt noch: er wollte mich doch tatsächlich kurz nach meiner Geburt zur Adoption freigeben, weil ihm ein Kind reicht und dieses Kind warst DU! Alles hat sich nur um DICH gedreht, DU warst der behütete Schatz unserer ach so tollen Eltern! Aber soll ich dir was verraten?! Du warst für Dad auch nur ein Mittel zum Zweck! In dir hat er nur den Sohn gesehen, der einmal sein Unternehmen übernehmen wird, damit sein Vermögen weiterhin anwächst! Im Prinzip warst du für ihn genauso Ballast wie ich, aber da du der Erstgeborene warst, hast du das nicht so zu spüren bekommen! Deshalb bin ich an diesem Abend zu dir ins Zimmer gekommen, um dir zu sagen, welcher Drecksack unser Vater ist! Und dann musste ich erkennen, dass du nicht besser bist! Du hast mein Leben zerstört!"
Tränen traten Chris in die Augen und ließen das Grün seiner Iris verschwimmen, jedoch blinzelte er heftig, bis die verräterische Nässe wieder verschwand. Ich stand da und versuchte, den riesigen Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken – und in diesem Moment begriff ich alles, begriff, warum sich mein Bruder nicht meine Erklärung anhören hatte wollen, begriff, warum er ohne eine Nachricht zu hinterlassen einfach davon gelaufen war. Die Sache mit Amy war nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Er hatte an diesem Abend eine schreckliche Wahrheit erfahren müssen, die Wahrheit, dass er nur Ballast und ein lästiges Anhängsel für unseren Vater gewesen war. Ich hatte gewusst, dass unser Erzeuger kaltherzig war, aber dass er so über seinen eigenen Sohn dachte, damit hätte ich nie gerechnet. Die Tatsache, dass ich auch nur ein Mittel zum Zweck gewesen war, traf mich nicht annähernd so hart wie der Grund, warum Chris immer links liegen gelassen worden war. Hilflos ballte ich meine Hände zu Fäusten und am liebsten hätte ich ihn in die Arme genommen, hätte ihn getröstet, aber er hatte weiterhin die Waffe auf mich gerichtet, allerdings fing diese erneut leicht zu zittern an.
„Ich hatte ja keine Ahnung", erwiderte ich schließlich leise, wobei meine Stimme seltsam belegt klang. Meine Eingeweide waren ein einziger harter Knoten und ich hatte noch immer Mühe zu atmen. Aber ich würde jetzt nicht locker lassen. Ich wollte, da mein Bruder endlich ruhiger wurde und die Kraft ihn zu verlassen begann, endlich reinen Tisch machen, alle Missverständnisse zwischen uns ausräumen. Ich trat einen Schritt auf ihn zu, verringerte die Distanz zwischen uns und stellte erleichtert fest, dass er nicht vor mir zurückwich und nicht wieder anfing, herumzubrüllen. Die Waffe in seiner Hand zitterte stärker und ich konnte die Risse, die sein Schutzschild bekommen hatte, förmlich vor mir sehen. Ich vergaß vollkommen, dass wir nicht alleine waren, vergaß, dass er mich eingesperrt und meine Identität übernommen hatte, vergaß, dass Gibbs nur darauf wartete, ihn zu verhaften. Ich machte noch einen kleinen Schritt und er ließ die Pistole ein Stückchen sinken, sodass sie nun auf meine Brust zielte und nicht mehr auf meine Stirn.
„Aber soll ich dir etwas sagen?" fuhr ich fort und entspannte mich ein wenig, als ich erkannte, dass die Situation anfing, sich zum Guten zu wenden. „Auch wenn du für Dad Ballast warst, für mich warst du das keine einzige Sekunde lang. Und in einem Punkt hast du Unrecht. Ich habe dein Leben nicht zerstört, du hast es nur die ganze Zeit angenommen." Ich hielt inne, beobachtete Chris genau, wie sich sein Atem beschleunigte und sich die rote Gesichtsfarbe in ein helles Rosa verfärbte. „Benutz endlich dein Gehirn. Wo ist nur dein logisches Denken geblieben? Was hast du an diesem Abend wirklich gesehen?" Er starrte mich für ein paar Sekunden regungslos an, bevor er hart schluckte und antwortete: „Ich habe gesehen, wie du Amy von dir gestoßen hast, als ich ins Zimmer geplatzt bin." Hoffnung keimte in mir auf, als er nicht anfing zu schreien und sich langsam Verständnis in seinen Augen ausbreitete.

„Richtig, du hast gesehen, wie ich Amy von mir weggestoßen habe, aber das habe ich nicht getan, weil du ins Zimmer geplatzt bist und ich mich ertappt gefühlt habe, sondern weil sie es gewesen ist, die MICH geküsst hat und nicht umgekehrt, so wie du es die ganze Zeit angenommen hast. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich gegen den Schrank gedrängt dagestanden bin. Glaub mir, hätte ich Amy geküsst, wären die Positionen vertauscht gewesen." „Aber…" begann Chris, unterbrach sich aber, als seine Stimme versagte. Verwirrung spiegelte sich auf seinem Gesicht und er ließ die Waffe ein weiteres Stückchen sinken. Seine Brust hob und senkte sich rasend schnell und er wurde weiß im Gesicht, als es ihm dämmerte, was ich ihm mit meinen Worten sagen wollte.
„Es war Amy, die…? Aber… wie kann das sein? Sie hat ständig behauptet, sie würde mich lieben. Außerdem warst du fast nackt und zu deinen Füßen ist eines deiner Hemden gelegen." Es war ein letzter Versuch seinerseits sich gegen die Erkenntnis zu wehren, dass er all die 15 Jahre auf dem Holzweg gewesen war, dass er umsonst solchen Hass auf mich empfunden hatte.
„An diesem Abend war es heiß und schwül, erinnerst du dich? Deswegen hatte ich auch nichts weiter an als die Boxershorts. Aber ich wollte mir ein Hemd anziehen, als Amy zu mir gekommen ist. Sie hat mich jedoch mit dem Kuss so überrascht, dass ich es fallen gelassen habe. Glaub mir, Chris, ich hätte dir nie wehtun wollen. Ich war so glücklich, als ich gemerkt habe, dass du endlich aus deinem Schneckenhaus gekrochen bist, als du Amy kennengelernt hast und du wieder Freude am Leben hattest. Was zwischen uns passiert ist, war eine Verkettung unglücklicher Umstände und ich kann jetzt deine Reaktion von damals verstehen. Ich wollte nie, dass es zwischen uns so weit kommt. Als ich erkannt habe, dass du ohne eine Nachricht zu hinterlassen einfach abgehauen bist, habe ich mir deswegen die Schuld gegeben. Ja, ich habe mir die Schuld gegeben, weil ich dich an diesem Abend alleine gelassen und dich nicht dazu gedrängt habe, dir die Wahrheit anzuhören. Aber ich versichere dir, ich hätte niemals dein Vertrauen missbraucht, nicht vor 15 Jahre und schon gar nicht heute."
Erneut breitete sich Stille aus, aber sie war bei weitem nicht mehr so drückend. Der ganze Hass verschwand aus Chris' Augen und ließ nichts weiter als Verständnis und Reue zurück. Sein Körper durchlief ein sichtbares Zittern und er hatte Mühe, die Waffe zu halten, die allerdings keine Bedrohung mehr darstellte.

„Aber wieso sind sie dann hier?" wollte er verzweifelt wissen und deutete mit dem Kopf zu meinen Kollegen, die alles stumm verfolgt hatten und sich sichtlich fehl am Platz fühlten, sogar Gibbs. „Wie haben sie es herausgefunden, wenn nicht durch dich?" „Es war Abby", sagte McGee und seiner Stimme haftete eine Ernsthaftigkeit an, die ich noch nie bei ihm gehört hatte und die ihn gleich um einiges reifer erschienen ließ. „Abby hat alles herausgefunden. Tony hatte damit nichts zu tun."
So als ob diese Worte eine letzte Bestätigung dafür waren, dass sich Chris die ganze Zeit über geirrt hatte, verschwand von einer Sekunde auf die andere der Schutzschild, den er um sich aufgebaut hatte und alle Kraft schien aus seinem Körper zu weichen. In seine Augen traten Tränen, als er endlich realisierte, dass er sich in all den Jahren in mir getäuscht hatte, dass ich nicht einmal annährend so wie unsere Eltern war.
„Oh Gott", flüsterte er schwach, ein Schluchzer bildete sich in seiner Kehle und verhallte in dem Raum. Der Arm mit der Waffe fiel schlaff nach unten, die Finger lösten sich vom Griff und sie landete mit einem Poltern auf dem Boden. „Es tut mir so leid, oh Gott, es tut mir so leid." Die Tränen strömten ungehindert über seine Wangen, sein Körper wurde von unterdrückten Schluchzern geschüttelt und auf einmal spürte ich selbst ein verräterisches Brennen in meinen Augen.
Ohne lange darüber nachzudenken, überbrückte ich die letzte Distanz zwischen uns und umarmte Chris, presste ihn an mich. „Es tut mir so leid, was ich dir angetan habe. Verzeih mir, Tony. Bitte, verzeih mir", schluchzte er und schlang seine Arme um mich, krallte seine Finger in mein Hemd, so als ob es ein Rettungsanker wäre. Er begann haltlos zu weinen, ließ endlich all dem Kummer, der sich in ihm angestaut hatte, freien Lauf und ich hielt ihn einfach fest. „Es ist in Ordnung", flüsterte ich beruhigend und schämte mich nicht meiner schwachen Stimme. „Ich verzeihe dir, Chris. Es wird alles gut." Er klammerte sich weiterhin wie ein kleines Kind an mich und schien mich nie wieder loslassen zu wollen. Ich schloss meine Augen und ließ meinerseits den Tränen freien Lauf, als mir mit aller Deutlichkeit bewusst wurde, dass ich endlich meinen Bruder wieder zurückhatte, dass wir nach 15 langen Jahren wieder vereint waren.

Fortsetzung folgt...
Chapter 31 by Michi
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als sich aus Chris' Kehle nur noch trockene Schluchzer lösten und er sich langsam beruhigte. Seine Finger waren weiterhin in mein Hemd gekrallt und sein Kinn ruhte auf meiner linken Schulter. Das letzte Mal, als er derart geweint hatte, war, als Großvater gestorben und er voller Trauer gewesen war. Damals hatte er ebenfalls Trost in meinen Armen gesucht, wobei wir anschließend einfach nur stumm auf meinem Bett gesessen waren und dem Atem des anderen gelauscht hatten.
Zudem war es lange her, seit wir uns das letzte Mal so umarmt und uns gegenseitig Halt gegeben hatten. Mein Bruder hatte deutlich an Muskelmasse zugelegt und war um einiges kräftiger geworden und ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass er mir diesmal ohne weiteres den Unterkiefer hätte brechen können, hätte er sich dazu entschieden, mich noch einmal zu schlagen. Sein Körper fühlte sich so wunderbar vertraut an und die Wärme, die er ausstrahlte, war Balsam für meine Seele. Meine eigenen Tränen waren bereits versiegt und waren nur mehr eine unangenehme, feuchte Spur auf meinen Wangen, aber dennoch wischte ich sie nicht weg, da ich Chris nicht loslassen wollte. Viel zu sehr genoss ich es, ihn so nahe bei mir zu haben, in dem Bewusstsein, dass er endlich zur Besinnung gekommen und sein Hass mir gegenüber komplett verschwunden war.
Ich hatte meine Augen weiterhin geschlossen und konzentrierte mich nur auf meinen Bruder, der immer ruhiger wurde und sich nicht daran zu stören schien, dass seine Tränen auf mein Hemd tropften und es durchnässten. Es war weiterhin ruhig in dem Raum, abgesehen von den gelegentlichen Schluchzern, aber ich hatte nicht vergessen, dass wir nicht alleine waren, aber mir war es egal, dass ich zum ersten Mal meine Maske vor meinen Kollegen fallen gelassen hatte. Ständig spielte ich ihnen den starken und gutgelaunten Tony vor, aber diesmal hatte ich mich einfach gehen lassen und ich schämte mich deswegen nicht einmal. Vielleicht war es ganz gut, ab und zu Schwäche, anstatt immer nur den starken Macho, zu zeigen.

Ich spürte, wie sich Chris ein wenig entspannte und leise seufzte, was mir ein kleines Lächeln auf meine Lippen zauberte. Gott, wie hatte ich ihn vermisst – ich hatte einfach alles an ihm vermisst, sein Lachen, seine Stimme, seinen Geruch und seinen Sinn für Humor. Ich wusste nicht, ob er jetzt, da wir endlich wieder zueinandergefunden hatten, weiterhin vorhatte, Washington zu verlassen, aber wenn er es tat, dann würde ich dafür sorgen, dass wir in Kontakt blieben und uns nicht wieder aus den Augen verloren. Momentan wollte ich gar nicht darüber nachdenken, was die Zukunft für uns bereithielt, da ich mir im Klaren war, dass Chris noch nicht aus dem Schneider war. Ungeachtet dessen, was Gibbs durch unseren Streit erfahren hatte, hatte ich nicht vergessen, dass er nicht zimperlich mit meinem Bruder umgehen würde. Jeher hatte es niemand ungestraft überstanden, wenn jemand einen von Jethros Agents entführt hatte und diesmal würde es genauso sein. Aber er würde sicherlich nicht mit dem Widerstand rechnen, dem ich ihn entgegenbringen würde. So leicht würde er Chris nicht verhaften können und wenn ich mich dafür mit meinem Boss anlegen musste, dann würde ich das auch machen, egal welche Konsequenzen es für mich bedeutete.
Chris' Atem wurde wieder regelmäßiger, sein Körper nicht länger von Schluchzern geschüttelt und der Griff um mein Hemd wurde etwas lockerer. „Du hast mir so gefehlt", murmelte ich und drückte ihn eine Spur fester an mich, achtete aber darauf, ihn nicht zu zerquetschen. Die ganze Anspannung der letzten Tage war auf einmal verschwunden und zurückgeblieben war eine Blase des Glückes, die mich einhüllte, aber dennoch wusste ich, dass sie nicht stabil war, dass sie ohne weiteres zerplatzen konnte. „Du hast mir auch gefehlt", nuschelte er an meinem Hals, wobei seine Stimme ein wenig kratzig war. Er räusperte sich vernehmlich und gab ein zittriges Lachen von sich. „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals so gestritten haben - wie ein altes Ehepaar." Seine Worte brachten mich ebenfalls leise zum Lachen. „Aber es hat geholfen, dass du endlich deinen Sturschädel loswirst. Kleiner", fügte ich neckend hinzu und grinste breiter, als er sich versteifte und mir in den Rücken boxte – nicht fest, aber dennoch so, dass ich leicht zusammenzuckte. „Hör auf, mich so zu nennen. Du weißt genau, dass ich das nicht ausstehen kann." „Ich weiß, aber ich habe es vermisst, dich damit zu ärgern." „Du bist unverbesserlich, Tony." „Tja, was soll ich dazu sagen? So bin ich nun einmal." Ich drückte ihn ein letztes Mal, bevor ich mich sanft aus seiner Umarmung löste und mir endlich meine Wangen mit einem Hemdsärmel trocken wischte.
Chris hingegen nahm seinen Handrücken und schniefte noch einmal laut, bevor er sich ein wenig drehte und einen beschämten Gesichtsausdruck aufsetzte. Er schluckte hart und scharrte verlegen mit seinen Füßen, trotzdem konnte ich die Angst spüren, die ihn ergriffen hatte. Die erste Konfrontation war vorbei, aber es würde bald die nächste folgen und Gibbs war nicht so pflegeleicht wie mein Bruder. Es würde sich demnächst herausstellen, ob das zweite b in seinem Namen wirklich für Bastard stand oder ob er bereit war, ein einziges Mal seine harte Schale einzureißen, um den weichen Kern, der irgendwo in seinem Inneren lauern musste, hervorzuholen.
Ich gab mir einen Ruck und drehte mich zu meinen Kollegen um, die weiterhin stumm am selben Fleck stand und uns beobachteten. Mittlerweile hatte Jethro seine Waffe weggesteckt und seine Miene war so undurchschaubar wie eh und je. Sein Blick war auf Chris gerichtet, der überall nur nicht den Chefermittler ansah und sich sichtlich unwohl in seiner Haut fühlte.

„Es tut mir leid", sagte mein Bruder leise zu seinen Füßen und er wirkte wie ein kleiner Junge, der darauf wartete, ausgeschimpft zu werden. „Dafür ist es ein wenig zu spät", erwiderte Gibbs prompt, weshalb ich mich sofort anspannte und Chris abrupt seinen Kopf hob – die Angst in ihm wurde sichtlich stärker. „Boss…" begann ich, wurde aber unterbrochen. „Nein, Tony. Er hat dich entführt und uns allen vorgemacht, du zu sein. Und wenn ich etwas nicht ausstehen kann, ist es, wenn man mich an der Nase herumführt und belügt." Seine Stimme war gefährlich ruhig und ich wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Mein Herz krampfte sich zusammen und Panik stieg in mir auf, als mein Boss in seine Hosentasche griff und seine Handschellen herausholte. „Christopher DiNozzo, ich verhafte dich…" „Nein!" schrie ich und stellte mich zwischen ihm und meinem Bruder. „Du wirst ihn nicht verhaften! Das werde ich nicht zulassen!" Ich wusste nicht, wer erschrockener war, als ich meine Stimme gegen Gibbs derart erhob: ich selbst, er oder meine beiden Kollegen. Seine blauen Augen bohrten sich regelrecht in meine, aber diesmal hielt ich seinem Blick stand und gab nicht nach. Er presste seine Kiefer fest zusammen und ich konnte förmlich die Wut spüren, die ihn ergriffen hatte. McGee und Ziva sahen stumm dem Schauspiel zu, nicht sicher, was sie von der ganzen Situation halten sollten.
Die Luft knisterte voller Spannung und wartete nur darauf, dass sie sich in einem gewaltigen Donnerwetter entlud. Die Sekunden verstrichen, als ich hinter mir eine Bewegung wahrnahm und Chris auf einmal neben mich trat. „Es ist in Ordnung", sagte er ruhig und fixierte Jethro, der sich weiterhin auf mich konzentrierte. „Was?" fragte ich ungläubig und mein Herz krampfte sich noch fester zusammen. Ich drehte mich alarmiert um und stellte mich erneut zwischen ihm und meinen Boss, aber diesmal, um ihn direkt ansehen zu können. „Was redest du da für einen Mist?" „Ich rede keinen Mist, Tony. Ich muss dafür gerade stehen, was ich dir angetan habe, das hast du selbst gesagt. Die Aussicht, ins Gefängnis zu müssen, ist beängstigend und ich weiß nicht, wie und ob ich das überstehe, aber irgendwie werde ich es schaffen, da ich mir sicher bin, dass du mich besuchen wirst." Sein Blick wurde erneut traurig, aber dennoch lächelte er mich an. „Chris, das kannst du nicht machen." „Ich bin erwachsen und kann meine Entscheidungen selbst treffen. Es tut mir leid, wie es zwischen uns gelaufen ist und ich hasse mich selbst dafür, dass ich all die Jahre so schlecht über dich gedacht habe. Glaub mir, wenn ich eine Wahl hätte, würde ich nicht hinter Gitter gehen, aber sieh den Tatsachen ins Auge. Gibbs wird mich nicht gehen lassen und ich werde nicht zulassen, dass du eure Freundschaft aufs Spiel setzt, nur um mich davor zu bewahren, als freier Mann dieses Haus zu verlassen." Er schenkte mir ein letztes Mal ein trauriges Lächeln, bevor er einen Schritt zurücktrat, mich umrundete und auf den Chefermittler zustrebte. Ich drehte mich um und sah ungläubig zu, wie Chris seine Hände ausstreckte und Gibbs auffordernd anblickte. Dieser zögerte aus einem mir unerfindlichen Grund, aber es gab mir Hoffnung – Hoffnung, dass noch nicht alles verloren war. Das Geräusch, mit dem sich die Handschellen um die Gelenke meines Bruders schlossen, riss mich aus meiner Starre und verriet mir, dass mir die Zeit davonlief.

„Gibbs, bitte", sagte ich flehentlich und zog somit seine Aufmerksamkeit auf mich. „Lass uns darüber reden und eine Lösung suchen, die uns auf einen grünen Zweig bringt. Bitte", fügte ich ein letztes Mal leise hinzu. Für die Dauer von drei Herzschlägen – die mir unendlich lange vorkamen – sahen wir uns an, bis er seine Augen zusammenkniff und leicht seinen Kopf schüttelte. Die Glückblase um mich herum zerplatzte mit einem lauten Knall und ich ließ meine Schultern hängen, als die gesamte Kraft aus meinem Körper strömte. Wie hatte ich mich in ihm nur so täuschen können? Wie konnte er mir das nur antun? Wieso musste er sich ausgerechnet diesmal an die dämlichen Vorschriften halten, wo er doch sonst immer jede nur erdenkliche Regel zu Recht bog, so wie er es brauchte? Oder lag es einfach nur daran, dass er es nicht zuließ, dass jemand ungestraft einen seiner Agents entführte, egal wer der Kidnapper war?
Nur am Rande bekam ich mit, wie Gibbs Chris am linken Oberarm nahm und sich dieser widerstandslos hinausführen ließ, ohne noch einmal einen Blick zurückzuwerfen. Ziva, die eine versteinerte Miene zur Schau trug, folgte ihnen sofort, bis nur noch ich und McGee zurückblieben. Ich ließ meinen Kopf nach unten sinken und schluckte den Verzweiflungsschrei, der sich in meiner Kehle bildete, hinunter. Wieso wehrte sich Chris nicht dagegen, ins Gefängnis zu gehen, wo er doch vorher immer wieder betont hatte, dass er keinen Fuß dorthinein setzen würde? Wieso ließ er sich von meinem Boss wie einen Verbrecher abführen? Ich wusste, es war nicht richtig, wie er die ganze Sache angepackt hatte, trotzdem wollte ich nicht einsehen, dass ich erneut dabei war, ihn zu verlieren. Wenn er einmal hinter Gitter war, dann würde er sicher erneut die Mauer um sich herum aufbauen, um dort drinnen überleben zu können. Das Gefängnis konnte Menschen verändern, egal wie stark sie vorher gewesen waren.

„Tony?" McGee berührte mich leicht an der Schulter, dennoch sah ich nicht hoch. „Mir geht es gut, Bambino", erwiderte ich, nicht einmal registrierend, dass ich ihn mit seinen Spitznamen, den ich ihm verpasst hatte, anredete. „Nein, dir geht es nicht gut", meinte er ruhig, trat vor mich hin, sodass sein Schatten auf mich fiel. „Ich kann nicht einmal erraten, wie du dich jetzt fühlst, aber versuche Gibbs' Standpunkt zu verstehen. Er hat vor nicht einmal zwei Stunden erfahren, dass du einen Zwillingsbruder hast, der dich entführt und deinen Platz eingenommen hat. Für uns alle war das ein großer Schock." „Aber er kann Chris doch nicht einfach verhaften, egal was er getan hat", meinte ich und hob schließlich meinen Kopf, um mich einem Tim gegenüberzusehen, der noch nie so ernst gewesen war und der auf mich noch nie so erwachsen gewirkt hatte. „Dann sag Gibbs das, zwing ihn, dir zuzuhören. Seit wann lässt du dich von einer Niederlage unterkriegen? Wo ist der Tony DiNozzo geblieben, der nie aufgibt?" Ich starrte ihn ungläubig an, konnte es nicht fassen, dass aus dem kleinen Bambino auf einmal ein Mann geworden war, der nicht mehr herumstotterte oder rot anlief. „Außerdem würde ich deinen Bruder gerne näher kennenlernen", fügte er nach ein paar Sekunden hinzu und verzog seine Lippen zu einem Lächeln. „Bis auf die Tatsache, dass er dich entführt hat, scheint er richtig nett zu sein. Und er hat mich Tim genannt, das alleine ist schon ein Grund, ihn zu mögen." Ich konnte nicht anders, als ein kleines Lachen von mir zu geben und nickte. „Du hast Recht, McGee", meinte ich und straffte meine Schultern. „Das Schlimmste, was Gibbs mit mir machen kann, ist, mich zu feuern, aber ich werde nicht aufgeben. Chris wird nicht im Gefängnis landen." „So kenne ich dich. Und jetzt lass uns von hier verschwinden." Ich nickte erneut, hob meine Waffe, Marke und Dienstausweis auf und stopfte alles in meinen Rucksack. Gleich darauf folgte ich meinem Kollegen nach draußen, ließ das Haus, das für ein paar Tage mein Gefängnis gewesen war, zurück und begann, mich innerlich auf die Konfrontation mit Gibbs vorzubereiten.

Die Fahrt zum Hauptquartier war rasant wie eh und je. So als ob es keine Geschwindigkeitsbegrenzungen geben würde, raste Gibbs über die Landstraßen und anschließend den Highway Richtung Washington entlang, wobei er mehr als einmal langsamere Autos überholte, die uns hin und wieder ein lautes Hupen nachschickten. Im Inneren des Wagens hatte sich eine angespannte Stille ausgebreitet, die stark auf mein Gemüt drückte. Ziva saß neben dem Chefermittler auf dem Beifahrersitz, während Chris und ich uns im Font befanden.
Mein Bruder starrte die ganze Zeit auf seine Hände, die weiterhin von den Handschellen umschlossen wurden, seine Schultern hingen nach unten und er schien sich in sein Schicksal ergeben zu haben. Er war mit seinen Gedanken ganz weit weg und sein gesamter Körper strahlte eine Traurigkeit aus, die mir beinahe den Atem raubte. Nicht einmal den schrecklichen Fahrstil meines Bosses bekam er mit und es machte ihm auch nichts aus, dass er durchgerüttelt wurde, wenn wir an einer Kreuzung ohne abzubremsen abbogen. Ich wusste nicht, wie ich ihn trösten und klar machen konnte, dass alles gut werden würde. Normalerweise war ich nicht um Worte verlegen, aber mir fielen einfach keine passenden ein. Es war zum Verzweifeln, zusehen zu müssen, wie mein Bruder neben mir saß und praktisch schon Gitterstäbe vor Augen hatte. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass er einfach aufgab und nicht weiterkämpfte. Von wegen, ich sollte meine Freundschaft mit Gibbs nicht aufs Spiel setzen. Ich respektierte und vertraute meinem Boss, aber wenn ich mich mit ihm anlegen musste, um Chris freizubekommen, dann würde ich das ohne zu zögern machen - dieser war mir wichtiger als mein Job.

Obwohl es mir schwer fiel, überließ ich meinem Sitznachbarn seinen Gedanken, drehte mich um und blickte aus dem Rückfenster. Etwa 100 Meter hinter uns fuhr McGee mit meinem Mustang und folgte uns beständig, ungeachtet dessen, dass Gibbs wieder einmal einen Betonklotz als Fuß hatte. Der Chefermittler hatte Tim richtiggehend befohlen, meinen Wagen nach Washington zurückzubringen und wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte ich sofort angefangen zu protestieren. Mein Baby war mir heilig und ich hatte mir geschworen, sollte der Lack nur einen einzigen Kratzer aufweisen, würde McGee die gesamten Werkstattkosten übernehmen. Mein Blick aus zusammengekniffenen Augen hatte ihm das ohne Umschweife klar gemacht und er war prompt wieder in sein früheres Verhalten zurückgefallen, weshalb er sich sofort abgewendet und wie mit Samthandschuhen die Tür meines Wagens aufgesperrt hatte. Zufrieden mit seiner Reaktion hatte ich mich hinter den Fahrersitz fallen lassen, was Gibbs ganz und gar nicht gefallen hatte, da Chris ebenfalls auf der Rückbank saß. Aber anstatt mir zu befehlen, meinen Hintern nach vorne zu bewegen, hatte er geschwiegen und war aufs Gaspedal getreten, kaum dass Ziva vorne eingestiegen war.

Ein paar Sekunden beobachtete ich noch, wie McGee erstaunlich sicher den Mustang durch den dichten Nachtmittagsverkehr lenkte, bevor ich mich wieder umdrehte und aus dem Seitenfenster starrte. Es dauerte nicht lange, bis das Hauptquartier in Sicht kam, dessen Fenster die Sonne widerspiegelten. Noch vor Tagen hätte ich mich gefreut, dieses Gebäude wieder zu sehen, aber jetzt wirkte es auf mich beinahe bedrohlich. Ich spannte mich unwillkürlich an und mir wurde bewusst, dass mir die Zeit davonlief. Noch immer war mir keine Idee gekommen, wie ich Gibbs dazu bringen konnte, mit mir über Chris' Verhaftung zu sprechen, geschweige denn, wie ich ihn überreden konnte, ihn wieder freizulassen.
Die Stille im Inneren des Autos wurde um eine Spur drückender und ich riss meinen Blick vom Seitenfenster los, als der Chefermittler in die Tiefgarage hinunterfuhr und mit quietschenden Reifen in der Nähe des Fahrstuhles hielt. Durch das plötzliche Fehlen der Sonne hob mein Bruder das erste Mal seit 30 Minuten seinen Kopf und sah sich blinzelnd um. Seine Muskeln spannten sich an und er ballte seine Hände zu Fäusten. Die Gleichgültigkeit, die ihn während der Fahrt ergriffen hatte, fiel von ihm ab und machte erneut der Angst Platz. Ich konnte mir regelrecht vorstellen, dass er bereits einen Verhörraum vor Augen hatte, in dem er gnadenlos von Gibbs auseinandergenommen werden würde. Auf mich machte er den Eindruck eines kleinen, hilflosen Kindes und ich wünschte, ich könnte ihm ein wenig Last von seinen Schultern nehmen.

Neben uns brachte McGee den Mustang zu stehen, aber ich drehte mich nicht um, um mich zu vergewissern, ob alles noch heil war, sondern blieb ruhig sitzen, unfähig, meinen Blick von Chris zu wenden, der unbewegt nach vorne starrte, während seine Finger lautlos gegeneinander klopften.
Ziva löste ihren Sicherheitsgurt und wollte bereits die Tür aufmachen, als sie Gibbs' Stimme innehalten ließ. „Wo willst du hin, Officer David?" fragte er ein wenig schroff und sah sie durchdringend an. „Ich dachte, wir fahren ins Büro hinauf", antwortete sie prompt und runzelte verwirrt die Stirn. „Da hast du falsch gedacht. Du und McGee, ihr bleibt hier und passt auf Chris auf."
Ich wollte ebenfalls meinen Gurt lösen, als mich seine Worte mitten in der Bewegung stoppen ließen. Überrascht sah ich nach vorne und dann zu meinem Bruder, der sich auch nicht erklären konnte, was da gerade vor sich ging. Wieso sollten Ziva und Tim hier in der Tiefgarage bleiben und auf Chris acht geben, damit er nicht einen Fluchtversuch wagte? Wollte er ihn denn nicht in einen Verhörraum stecken, um ihn Stück für Stück auseinanderzunehmen? Wo wollte Gibbs überhaupt hin? Sich einen Kaffee holen?
Unzählige Fragen wirbelten durch meinen Kopf, sodass ich nicht einmal mitbekam, wie er die Tür öffnete und ausstieg. Erst ein ziemlich lautes „DiNozzo!" ließ mich zusammenzucken und ich realisierte, dass meine Hand noch immer in der Luft verharrte – auf halbem Weg zur Schnalle des Gurtes. „Worauf wartest du?! Auf eine Extraeinladung?!" „Ähm…" brachte ich hervor, nicht sicher, was das Ganze werden sollte. Ich blickte zu Chris, der mir aufmunternd zunickte. „Geh", sagte er leise und deutete mit seinem Kopf auf Gibbs, der ungeduldig neben dem Auto stand. „Ich komme hier schon zu Recht." Der Gedanke, ihn alleine zu lassen, gefiel mir gar nicht, andererseits würde es meiner Gesundheit nicht gerade förderlich sein, wenn ich den Chefermittler warten ließ, immerhin war er für seine Ungeduld bekannt.

Ich drückte Chris' Oberschenkel und signalisierte ihm damit, dass er auf mich zählen konnte, löste mit einem mulmigen Gefühl schließlich den Sicherheitsgurt, öffnete die Tür und stieg aus. Mein Boss wartete allerdings nicht auf mich, sondern eilte bereits auf den Aufzug zu, weshalb ich schnell die Tür wieder schloss und ihm, ohne einen Blick zurückzuwerfen, hinterher lief.
Ich hatte weiterhin keine Ahnung, was er von mir wollte – außer mich zu feuern, da ich ihn vorhin angebrüllt hatte. Aber wieso erledigte er das nicht hier und jetzt vor den anderen? Oder wollte er mir ein wenig Privatsphäre geben, wenn er mich hinauswarf? Würde er mir gestatten, mich noch von allen zu verabschieden, bevor ich das Gebäude verlassen musste? Würde er mir erlauben, bei Chris' Verhör dabei zu sein? Würde er mir zum Abschied noch eine Kopfnuss verpassen? Wer übernahm dann die Aufgabe, McGee zu ärgern? Wer sollte sich mit Ziva streiten? Wer sollte seinen Boss auf die Palme bringen?
Die Fragen wirbelten nur so in meinem Kopf herum und in meinem Hals bildete sich ein großer Kloß. Auf einmal wurde mir mit aller Deutlichkeit bewusst, dass ich an meinem Job hing und ich keine Lust hatte, mir eine neue Arbeit zu suchen. Aber wenn es wirklich dazu kommen sollte, dann blieb mir nichts anderes übrig. Nur, seit wann war ich so pessimistisch? Seit wann malte ich den Teufel frühzeitig an die Wand? Vielleicht wollte mich Gibbs gar nicht feuern und einfach über etwas anderes mit mir reden? Aber worüber? Ich konnte mir nicht vorstellen, was… Gleich darauf kam mir ein Gedanke, der mich sofort um einiges schneller gehen ließ. Konnte es wirklich möglich sein? War er bereit, mich anzuhören? Überlegte er ernsthaft, Chris freizulassen oder wollte er mir nur die Möglichkeit geben, diesen zu verteidigen?
Mein Herz begann vor Aufregung schneller zu klopfen und ich war froh, dass sich die Türen des Fahrstuhles öffneten, als ich ihn erreichte. Jethro betrat ohne Umschweife die kleine Kabine und ich stellte mich neben ihn. Gleich darauf drückte er den Knopf für die 3. Etage, aber ich wusste, wir würden sie nicht erreichen. Mit einem leisen Geräusch schlossen sich die Türen und der Lift setzte sich sanft in Bewegung – allerdings nur für zwei Sekunden. Gibbs streckte seinen Arm aus und legte den Stopphebel um, wodurch der Aufzug rumpelnd zu stehen kam und das normale Licht durch die Notbeleuchtung ersetzt wurde, wodurch es ein wenig dämmrig wurde – die perfekte Stimmung für ein Gespräch, bei dem ich fast nur als Verlierer hervorgehen konnte.

Als sich mein Boss zu mir umdrehte und ganz nahe an mich herantrat, schluckte ich hart, bewegte mich aber nicht vom Fleck. Blaue Augen bohrten sich in meine und ehe ich reagieren konnte, hob er seine rechte Hand und verpasste mir eine saftige Kopfnuss. Obwohl ich das erwartet hatte, zuckte ich zusammen und ein leises Geräusch, das einem Schmerzenslaut glich, kam über meine Lippen. Ich würde nicht behaupten, dass ich die Klapser vermisst hatte, aber irgendwie deutete ich es als gutes Zeichen, dass er mich geschlagen hatte, anstatt mir einen Tritt in meinen Allerwertesten zu verpassen und mich zu feuern.
„Ich kann verstehen, dass du sauer bist, Boss, aber…" begann ich, hielt aber sofort inne, als er einen weiteren Schritt auf mich zutrat, sodass uns nur noch ein paar Zentimeter Luft trennten. An seiner linken Schläfe pochte gefährlich eine Ader und seine Augen sprühten regelrecht Funken. Erneut schluckte ich hart und widerstand dem Drang, vor ihm zu flüchten und mich in einer Ecke zusammenzukauern. „Sauer?" wiederholte er voller Sarkasmus. „Ich bin nicht sauer auf dich, DiNozzo. Ich bin stinkwütend." Obwohl seine Stimme weiterhin ruhig war, zuckte ich wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Ich wünschte mir, er würde mich anbrüllen, mir die Leviten lesen, seinem Ärger freien Lauf lassen, anstatt ihn zu unterdrücken. Sein Atem strich warm über mein Gesicht und ich wünschte mir unwillkürlich, wir hätten unterwegs angehalten, damit er sich einen Kaffee besorgen hätte können. Für meinen Geschmack waren seine Nerven viel zu strapaziert und ich war der Einzige in der Nähe, an dem er das auslassen konnte.
Ich konnte seinem stechenden Blick nicht länger standhalten, weshalb ich es bevorzugte, meine und seine Füße zu betrachten, die viel interessanter waren als seine blauen Augen. „Es tut mir leid", nuschelte ich, wobei ich mir nicht sicher war, wofür ich mich entschuldigte – dass er wütend auf mich war, dass ich ihn vor einer halben Stunde angeschrien hatte oder dass ich mich zwischen ihm und Chris gestellt hatte. Ich konnte es beim besten Willen nicht sagen.
„Was tut dir leid?" fragte er sofort, wobei seine Stimme lauter wurde, er aber nicht wirklich herumbrüllte, trotzdem dröhnten seine Worte in meinen Ohren und hinterließen einen faden Nachgeschmack in meinem Mund. „Tut es dir leid, dass du mir vorher praktisch Befehle erteilt und mich angeschrien hast? Tut es dir leid, dass du es all die Jahre versäumt hast, mir zu sagen, dass du einen Zwillingsbruder hast? Oder tut es dir leid, dass du mir nicht anvertraut hast, dass dein Vater ein derartiger herzloser Bastard ist, dem Geld wichtiger als seine Kinder sind?!" Gibbs wurde tatsächlich immer lauter und ich ließ seine Tirade einfach über mich ergehen, unfähig, mich zu rühren oder ihm etwas entgegenzubringen. Ich starrte weiter auf meine Füße und wünschte mir, ich hätte irgendwann einmal den Mut aufgebracht, ihm alles über meine Familie zu sagen.

Für ein paar Sekunden herrschte Schweigen, Jethros Atem wurde ein wenig ruhiger und als er erneut das Wort ergriff, war seine Stimme leiser und tat nicht mehr so in meinen Ohren weh. „Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich ohne Vorwarnung erfahren habe, dass du einen Zwillingsbruder hast, der Spaß daran findet, sich deiner Identität zu bemächtigen und mit uns allen ein falsches Spiel zu treiben? Hättest du nur einmal erwähnt, dass du einen Bruder hast, dann hätte ich sofort gemerkt, was nicht stimmt, anstatt mir Sorgen um einen Menschen zu machen, den ich für dich gehalten habe. Also, erklär mir, warum ich Chris nicht ins Gefängnis stecken soll und du ihn verteidigst. Immerhin hat er dich entführt, Tony. Entführt!" Er betonte das letzte Wort extra, damit er sich sicher sein konnte, damit ich es und die Bedeutung dahinter verstand.
Ich hob endlich meinen Kopf und begegnete seinem Blick der nicht mehr so wütend wie noch vor einer Minute gewesen war, aber dennoch schaffte ich es nicht, mich zurückzuhalten. „Falls du es vergessen hast, ich weiß genau, was Chris getan hat! Schon vergessen?! Ich war dabei!" Jetzt waren es meine Worte, die von den Fahrstuhlwänden widerhallten und mir wurde mit schrecklicher Klarheit bewusst, dass ich Gibbs erneut anschrie. Da wollte er von mir eine Erklärung, um mich besser zu verstehen und dann machte ich alles wieder kaputt. Ich zwang mich ruhiger zu werden, holte ein paar Mal tief Luft und mein Puls kehrte in einen halbwegs normalen Bereich zurück.
Ich fuhr mir frustriert durch meine Haare, trat zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die hintere Wand stieß und lehnte mich dagegen, suchte ein wenig Halt an der glatten Oberfläche. Mein Boss ließ mich gewähren, so als ob er spüren würde, dass ich ein wenig Platz brauchte, um einen vernünftigen Gedanken fassen zu können. Wenigstens schien er nicht allzu ärgerlich darüber zu sein, dass ich erneut meine Stimme gegen ihn erhoben hatte – jedenfalls zeigte er es nicht.
„Du willst wissen, warum ich Chris verteidige, obwohl er mich entführt und meine Identität übernommen hat?" „Deswegen sind wir schließlich hier", erwiderte Gibbs und hob eine Augenbraue, ein Zeichen, dass er ungeduldig darauf wartete, dass ich endlich mit meiner Erklärung begann.
„Okay", sagte ich, holte ein letztes Mal tief Luft und entschloss mich, ihm zum ersten Mal einen Einblick in mein Inneres zu gewähren, ihm von meiner Vergangenheit zu erzählen, die ich so lange verschlossen gehalten hatte.

„Weil er das Gefängnis nicht überleben würde, deshalb. Damit meine ich jetzt nicht, dass er sterben würde, aber seine gesamte Art würde sich verändern. Er würde den Schutzschild, den er in den letzten 15 Jahren um sich herum aufgebaut hat, erneut hochziehen und diesmal für immer. Auch wenn er vorher behauptet hat, es irgendwie zu überstehen, glaube ich ihm das nicht. Chris hat nach außen hin noch nie Schwäche gezeigt, ausgenommen in der letzten halben Stunde. Es ist einfach seine Art zu verhindern, dass er verletzt wird und das wurde er in der Vergangenheit viel zu oft. In unserer Kindheit war es für mich schrecklich mit ansehen zu müssen, dass er von unseren Eltern links liegen gelassen wurde, während ich der wohlbehütete Schatz war und alles bekommen habe, was ich mir gewünscht habe. Es hat mir weh getan, nichts dagegen unternehmen zu können, dass ich in ihren Augen immer alles richtig gemacht habe, auch wenn ich etwas versaut habe und Chris nie Anerkennung bekam, egal ob er eine Eins auf einen Test geschrieben oder sonst bei einem Wettbewerb gewonnen hat. Er hat immer versucht, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, es allen Recht zu machen, aber gelobt wurde er nie, abgesehen von mir und Lucille, unserem Kindermädchen. Aber das ist nicht dasselbe, als wenn man Lob von seinen Eltern bekommt. Ich habe mich immer gefragt, was er getan hat, da er anscheinend nicht geliebt wurde und was ich getan habe, dass mir dieses Privileg zu Gute gekommen ist. Bis heute habe ich den Grund nicht gewusst, erst als ich von Chris erfahren habe, dass er für Dad nur ein lästiges Anhängsel gewesen war. Und ich im Prinzip auch", fügte ich hinzu und räusperte mich, da meine Stimme kratzig wurde und ich Gibbs nicht zeigen wollte, dass ich erneut kurz davor stand, meine Tränen nicht unter Kontrolle zu bringen.

„Es wundert mich nicht wirklich, dass ich für meinen Vater nur ein Mittel zum Zweck war und wahrscheinlich hofft er noch immer, dass ich zur Besinnung komme und irgendwann sein Unternehmen leite." Ich seufzte laut und schaffte ein Lächeln, das sich nicht einmal falsch anfühlte. „Weißt du, was das Komische an der ganzen Sache ist? Noch am Dienstag habe ich mir gewünscht, du würdest Chris' falsches Spiel durchschauen und ihn dafür bestrafen, dass er mich in dem Keller eingesperrt hat. Ich war so wütend auf ihn, dass er nach 15 Jahren einfach bei mir auftaucht, mich betäubt und nachher voller Häme erklärt, dass er mein Leben übernehmen wird. Aber je länger ich alleine war und je mehr Zeit vergangen ist, desto mehr habe ich angefangen nachzudenken. Nach und nach habe ich ihn verstanden. Ich habe verstanden, warum er mich entführt hat, ich habe verstanden, dass er einmal eine Chance bekommen möchte, anerkannt zu werden." „Aber deswegen hätte Chris dich nicht entführen müssen. Er hätte doch einfach nach Washington kommen können, ohne gleich ein Verbrechen zu begehen", sagte Gibbs und lehnte sich an die linke Wand, ließ mich dabei aber nicht aus den Augen.
„Das weiß ich und das weiß mein Bruder", erwiderte ich und zuckte die Schultern. „Aber man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Chris war so voller Hass auf mich, wegen eines Zwischenfalls, den er missverstanden hat und er wollte sich wohl auch deswegen an mir rächen. Von daher wäre sein Besuch so oder so zu einer Katastrophe geworden." „Frauen", gab Jethro von sich und schüttelte seinen Kopf. „Bringen einem nichts als Ärger. Und diese Amy hat es wirklich geschafft, euch auseinanderzubringen?" „Amy war eher der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. In Chris hat sich in all den Jahren so viel Frust aufgestaut und der hat sich an diesem Abend entladen. Und er hat mir die Schuld an allem gegeben. Aber er ist zur Besinnung gekommen - noch bevor ihr heute die Wahrheit erfahren habt."
Gibbs kniff seine Augen zusammen und verschränkte seine Arme vor seiner Brust. „Was soll das heißen?" wollte er wissen und sein Blick wurde wieder stechender. Ich schluckte und nahm meinen ganzen Mut zusammen. Ich wusste, es würde ihm nicht gefallen, was ich ihm gleich sagen würde. „Das soll heißen, dass ich seit Mittwochabend ein freier Mann bin. Chris hat mich aus dem Keller hinausgelassen, zugegeben, nachdem ich ihm weis gemacht habe, dass ich dort unten langsam verrückt werde. Ich hätte jeder Zeit das Haus verlassen können, ich habe mich frei bewegen können und…" „Willst du damit andeuten, dass du seit gestern das ganze Spiel beenden hättest können?!" Die Wut kehrte zurück und ließ den Chefermittler erneut laut werden. „Wenn du die Möglichkeit hattest, wieso hast du dich nicht gemeldet?! Nein, du lässt Chris weiterhin auf deinen Platz sitzen, während du dir einen schönen Tag gemacht hast!" „So ist es nicht gewesen!" schrie ich und spannte meine Muskeln an. „Er hat mich um die Chance gebeten, einen Mörder zu fangen, endlich etwas in seinem Leben richtig machen zu dürfen und ich habe ihm diese Chance gegeben! Zudem wollte ich sein Vertrauen nicht missbrauchen, das er in mich gesetzt hat, als er die Kellertür offen gelassen hat! Als ihr heute so unvermittelt aufgetaucht seid, war er dabei, mir mein Leben wieder zurückzugeben. Und er hat gedacht, ich hätte ihn erneut verraten, deshalb hat er mich auch mit der Waffe bedroht, da er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat. Es war falsch von ihm und das weiß er. Bitte, Gibbs, lass Chris gehen. Er ist ausreichend mit dem Wissen bestraft, dass er die letzten 15 Jahre ein völlig falsches Bild von mir gehabt hat und sein Hass mir gegenüber nicht gerechtfertigt war. Lass ihn frei, Boss, er hat bereits genug gelitten." Je mehr ich redete, desto leiser wurde ich, bis ich beinahe nur mehr flüsterte.

Ich blickte Jethro an, der sich weiterhin nicht rührte, seine Arme vor der Brust verschränkt und seine unbewegte Miene aufgesetzt hatte. Ich konnte nicht einmal ansatzweise erraten, was hinter seiner Stirn vorging, woran er dachte und welche Entscheidung er fällte. Die Sekunden zogen sich in die Länge, mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren, die Stille wurde drückend und die Fahrstuhlwände begannen mich einzuengen. Nach unendlich langer Zeit – jedenfalls kam es mir so vor – richtete sich Gibbs auf, schüttelte leicht seinen Kopf und öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, aber ich ließ ihn nicht dazu kommen. Seine Reaktion sprach Bände und ich konnte nicht glauben, dass er derart stur war, dass er unbedingt jemanden bestrafen musste.
„Das kannst du mir nicht antun!" schrie ich ihn an und löste mich von der Fahrstuhlwand. Ohne dass ich es wirklich registrierte, war ich es diesmal, der die Distanz zwischen uns überbrückte. „15 lange Jahre hat es gedauert, bis ich Chris wieder zurückbekommen habe! Verdammte 15 Jahre hat es gedauert, bis ich endlich das Missverständnis zwischen uns ausräumen konnte und du willst ihn mir einfach wieder wegnehmen!" Gibbs ließ seine Arme sinken und ich wusste, es war ein Fehler, ihn anzubrüllen, aber ich konnte nicht anders. Ich war dabei, meinen Bruder erneut zu verlieren und der Ermittler sollte spüren, was er mir damit antat. „Tony…" begann er überraschend ruhig, aber ich schnitt ihm das Wort ab. „Du willst Chris also ins Gefängnis stecken?! Aber soll ich dir was sagen?! Das wird nicht funktionieren! Ich werde keine Anzeige erstatten!" „Tony, jetzt hör…" versuchte er es erneut, aber ich war so in Rage, dass ich ihn ignorierte. „Ich werde sicher nicht vor Gericht gegen meinen eigenen Bruder aussagen, was bedeutet, du hast keinen Hauptbelastungszeugen! Kein Hauptbelastungszeuge, kein Prozess! Ich werde nicht zulassen, dass du…" Der Schlag auf meinen Hinterkopf traf mich vollkommen unvorbereitet und ich verstummte augenblicklich. Mein Atem ging in keuchenden Stößen, ich war so wütend wie noch nie zuvor in meinem Leben, brachte aber kein Wort mehr über meine Lippen, so als ob der Klapser mein Sprachzentrum zerstört hätte.
„Hättest du mich ausreden lassen, hättest du dir die letzten Worte sparen können", sagte Gibbs weiterhin erstaunlich ruhig und wenn mich nicht alles täuschte, war in seine Augen ein amüsiertes Funkeln getreten. Fand er diese ganze Situation etwa witzig? Ich öffnete erneut meinen Mund, aber diesmal kam ich nicht dazu, etwas zu sagen.

„Ich werde Chris nicht verhaften." „Was?" entfuhr es mir und ich starrte meinen Boss gleichzeitig fassungslos und verwirrt an. Beinahe glaubte ich, ihn missverstanden zu haben, dass ich einfach nur das gehört hatte, was ich hören wollte.
„Ich werde Chris nicht verhaften", wiederholte er und um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch, als ich eine ungläubige Miene aufsetzte. „Du wirst…" „Ja, ich werde ihn laufen lassen und frag mich bloß nicht, wie ich zu dieser Entscheidung gekommen bin, ich weiß es nicht einmal selbst." Auf meinen Lippen bildete sich das breiteste Grinsen, das ich jemals zu Stande gebracht hatte und unglaubliches Glück durchströmte mich. Es würde alles gut werden, ich würde meinen Bruder nicht verlieren, er würde nicht im Gefängnis landen.
„Du bist der Beste, Boss", brach es aus mir heraus und am liebsten hätte ich ihn umarmt. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll." „Danke es mir, indem du dafür sorgst, dass Chris nie wieder irgendeinen Blödsinn anstellt, und sei es nur, dass er die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreitet." „Alles klar. Du kannst dich auf mich verlassen." „Das will ich auch hoffen." „Ich habe schon immer gewusst, dass du tief in deinem Inneren einen weichen Kern hast und du im Grunde…" „Treib es nicht zu weit, Tony." „Tschuldige, Boss", murmelte ich, konnte mir aber nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. Ich konnte es nicht glauben, die Sache hatte sich wirklich zum Guten gewendet.
Gibbs schüttelte seinen Kopf und erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich vorhin diese Geste falsch interpretiert hatte – er hatte nicht den Kopf geschüttelt, weil er meinen Bruder nicht gehen lassen wollte, sondern wegen meiner Hartnäckigkeit. Ich hätte es mir sparen können, ihn so anzubrüllen. Es wunderte mich, dass er mir nicht mehr Kopfnüsse verpasst oder mich gefeuert hat.
Jethro drehte sich um, legte den Stopphebel um und setzte damit den Fahrstuhl wieder in Gang. „Boss, ich hätte da noch eine Frage", sagte ich, da mir etwas eingefallen war. Er wandte sich mir noch einmal zu. „Und die wäre?" „Wie hat sich Chris denn so als Bundesagent angestellt?" Eine Sekunde ließ er verstreichen, bevor er antwortete: „Gar nicht mal so schlecht, sonst hätte ich schon viel früher Verdacht geschöpft, dass du nicht du selbst bist. Er hat einen wirklich guten Instinkt. Ohne seine Hilfe würden wir jetzt noch nach dem Mörder von Commander Emmerson suchen." Ich grinste und schwellte stolz die Brust. „Ich hatte auch nichts anderes erwartet. Immerhin ist er ein DiNozzo." „Was kaum zu glauben ist, da Chris in den letzten Tagen mehr Akten bearbeitet hat als du in einem Monat schaffst. Die gesamten Gene für herumsitzen und nichts Tun wurden anscheinend nur an dich vererbt."
Ich öffnete meinen Mund, brachte aber keinen Ton hervor und Gibbs konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Gleich darauf ertönte ein Pling und noch bevor sich die Türen des Fahrstuhls öffneten, setzte er wieder seine undurchschaubare Ermittlermiene auf, verließ schließlich die Kabine und ließ mich, einen verdatterten und sprachlosen Anthony DiNozzo, zurück.

Fortsetzung folgt...
Chapter 32 by Michi
Die letzte halbe Stunde war an Chris vorbeigezogen, ohne dass er wirklich registriert hatte, dass die Zeit verging. Alles war so unwirklich, wie in einem alten Film mit katastrophaler Qualität – verschwommene und ausgeblichene Farben, unscharfe Gesichter, Stimmen, die zwar etwas sagten, die Wörter aber verzerrt und somit unverständlich, Geräusche, die zu einer anderen Welt zu gehören schienen. Selbst das Sonnenlicht war verblasst, ließ alles nur noch surrealer wirken. Die gesamte Autofahrt von seinem Haus zurück zum Hauptquartier hatte er nichts wahrgenommen, hatte die gesamte Umgebung ausgeschaltet und war in seinen Gedanken versunken. Die Stille im Wagen hatte er beinahe als angenehm empfunden, hatte ihn somit niemand davon ablenken können, alles noch einmal durchzugehen, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte.
Chris konnte noch immer nicht glauben, was er getan hatte. So knapp war er davorgestanden, Washington verlassen zu können und jetzt saß er in diesem Wagen, mit Handschellen gefesselt und wartete darauf, dass er abgeführt und in eine Gefängniszelle gesteckt wurde. Wenn sich Gibbs, McGee und Ziva ein wenig mehr Zeit gelassen hätten, wäre er bereits über alle Berge – jedoch ohne die Wahrheit über den Abend vor 15 Jahren erfahren zu haben und ohne dem Wissen, dass ihm Tony verziehen hatte, dass er ihm sein Leben geraubt hatte. Er hatte seinen Bruder überhaupt nicht mit der Waffe bedrohen wollen, es war eine Kurzschlussreaktion gewesen, zudem hatte er geglaubt, dass ihn dieser erneut verraten hatte, obwohl ihm eine innere Stimme zugeflüstert hatte, dass das nicht stimmte, dass es ein Fehler gewesen war, die Pistole gegen den Menschen zu richten, der ihm weiterhin mehr bedeutete, als alles andere auf dieser Welt und den er schrecklich vermisst hatte, trotz des Hasses, der ihn von innen heraus aufgefressen hatte.

Die Wut, die ihn bei ihrem Streit überkommen hatte, war überraschend reinigend gewesen und er hatte gespürt, dass mit jedem Wort sein Schutzschild dünner geworden war, bis er komplett in sich zusammengestürzt war, als ihm Tony die Wahrheit über Amy erzählt hatte – Amy, für die er alles getan hätte, Amy, für die er die Sterne vom Himmel geholt hatte, Amy, die ihm ständig versichert hatte, dass sie ihn liebte. Obwohl er es verrückt fand, dass sie es gewesen war, die sich an Anthony herangemacht hatte, so hatte er doch instinktiv gewusst, dass es stimmte und in diesem Augenblick hatte er erkannt, dass er all die Jahre die falsche Person gehasst hatte. Wie hatte Chris nur so blind sein können? Wie hatte er nicht registrieren können, dass ihm Tony nie wehtun wollte, war er doch derjenige gewesen, der immer für ihn dagewesen war, der ihn aufgebaut hatte, wenn er von seinen Eltern wieder einmal ausgeschimpft worden war, ungeachtet dessen, dass er absolut nichts angestellt hatte. Die letzten 15 Jahre war er ständig auf dem Holzweg gewesen, hatte seinen Bruder für etwas schuldig befunden, was er überhaupt nicht getan hatte und das wiederum hatte verhindert, dass er ein sorgenloses Leben führen hatte können. Niemandem hatte er mehr vertraut, hatte niemanden an sich herangelassen, aus Angst, er würde erneut enttäuscht werden.
An jenem Abend im Mai war einfach alles auf ihn eingestürzt und die einzige sinnvolle Lösung, die ihm eingefallen war, war wegzulaufen, seinem zu Hause den Rücken zuzukehren. Und jetzt hasste er sich dafür, dass er Tony nicht früher die Möglichkeit gegeben hatte, die ganze Sache zu klären. Hätte er nur für eine Minute zugehört, anstatt in seinem Selbstmitleid zu versinken, hätte Anthony viel früher wieder sehen können und erst ein simpler Streit hatte alles ans Tageslicht befördert. Der ganze Frust und angestauten Emotionen hatten sich schließlich entladen und als ihn sein Bruder umarmt hatte, hatte er die Tränen nicht mehr zurückhalten können. Seit langem war es das erste Mal gewesen, dass er Schwäche gezeigt hatte und ihm war es sogar egal gewesen, dass sie beobachtet worden waren. Für Chris war nur wichtig gewesen, endlich die gesamten Gefühle, die sein Herz richtiggehend verpestet hatten, rauszulassen und die Tatsache, dass ihm Tony nicht böse war, was er ihm angetan hatte, hatte ihn komplett aus der Versenkung herausgeholt.

Was danach geschehen war, konnte er sich noch weniger erklären. Er hatte keine Ahnung, warum er sich Gibbs so bereitwillig ausgeliefert hatte, hatte er sich doch geschworen, auf keinen Fall ins Gefängnis zu gehen. Andererseits hatte er nicht gewollt, dass sein Bruder seine Freundschaft mit seinem Boss aufs Spiel setzte, nur um ihn vor einer Bestrafung zu retten. Chris hatte erkannt, dass er für die Taten, die er begangen hatte, geradestehen musste, auch wenn er keinen Schimmer hatte, ob er es so lange hinter Gitter aushalten würde. Und jetzt saß er hier, in diesem Wagen und wartete darauf, dass Gibbs ihn nach oben bringen würde, um ihn wie einen Verbrecher den anderen Agenten vorzuführen. Er seufzte leise, hob seine Hände und fuhr sich etwas umständlich durch seine Haare, nur um gleich darauf aus dem Fenster zu sehen. Ziva hatte sich mit ihrer Hüfte gegen die Motorhaube gelehnt, während McGee auf und ab ging und dabei hektisch in sein Handy sprach. Chris hatte keine Ahnung, mit wem der junge Mann telefonierte und ihm war es auch egal, wichtig war nur die Israelin, die ihn kein einziges Mal angeblickt hatte, seit sie in sein Haus gekommen war. Er konnte es ihr nicht einmal verübeln, hatte er ihr doch vorgegaukelt, Tony zu sein und sie auch unter seiner Identität geküsst. Zu erfahren, dass es in Wirklichkeit sein Bruder gewesen war, musste für sie ein Schock gewesen sein und er wusste, dass er froh sein konnte, seinen Kopf noch zu haben.
Chris tat es leid, dass sie sich unter solchen Umständen kennengelernt hatten, hatte er doch deutlich das Band, das sich zwischen ihnen entwickelt hatte, gespürt, genauso wie das Knistern in der Luft, wenn sie sich in die Augen gesehen hatten. Ihm war bewusst, dass er Gefühle für Ziva entwickelte, die ihn nur in Schwierigkeiten bringen würden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie jetzt noch etwas mit ihm anfangen wollte, nachdem sie die Wahrheit erfahren hatte. Außerdem, wer sagte, dass sie für ihn etwas empfand und nicht für Tony? Vielleicht schlug ihr Herz für seinen Bruder – und wenn das der Fall sein sollte, musste er lernen, damit zu leben. Dass sie noch einmal eine Frau auseinanderbringen würde, dass würde er nicht zulassen.
So als ob Ziva gespürt hätte, dass er sie ansah, drehte sie ihren Kopf und er wandte ganz schnell seinen Blick ab, aber er wusste, dass sie mitbekommen hatte, wo er seine Augen die ganze Zeit gehabt hatte. Wenn es darum ging, dass sie jemand beobachtete, hatte sie ein untrügliches Gespür.
„Du hast es versaut", murmelte er leise und starrte wieder seine Hände an. „Du hast es echt versaut."

Ziva sah zu, wie Chris ganz schnell seinen Kopf senkte, als er bemerkte, dass sie mitbekommen hatte, dass er sie gemustert hatte. Jetzt waren seine Augen wieder auf seine Finger gerichtet, so wie er es in letzter Zeit ständig, seit Gibbs ihm die Handschellen angelegt hatte, getan hatte. Obwohl sie den Eindruck erweckt hatte, während der Fahrt nach vorne oder aus dem Seitenfenster zu blicken, hatte sie doch hin und wieder den Spiegel zu Rate gezogen und mitbekommen, dass der Mann hinter ihr ständig nach unten gesehen hatte, so als ob er dort etwas Interessantes entdeckt hätte. Niemand hatte auch nur ein Wort gesprochen und ihr war die Stille – obwohl sie normalerweise nichts dagegen einzuwenden hatte – auf den Geist gegangen. Sie hatte versucht, ihre Gedanken nicht zu Chris abschweifen zu lassen, aber seine Präsenz hatte sie nicht mehr losgelassen und ohne dass sie es gewollt hatte, hatte sie den gestrigen Abend mehr als einmal durchgespielt, genauso wie ihr Gespräch heute Morgen, als sie geglaubt hatte, alles wäre noch in Ordnung und sie würde mit Tony reden. Ziva hatte die ganze Zeit gespürt, dass etwas an ihm anders war, hatte es aber nicht mit Worten ausdrücken können. Auf die Idee, dass er einen Zwillingsbruder hatte, wäre sie nie im Leben gekommen und erst als sie die beiden gegenüberstehen gesehen hatte, war ihr die Tragweite der Situation bewusst geworden – vorher hatte sie sich noch an einen Strohhalm geklammert, hatte die Hoffnung gehabt, dass sich Abby geirrt hatte.

In einer Sache hatte Chris sie aber nicht belogen: Amy hatte ihm damals wirklich das Herz gebrochen, auch wenn es ihr wehtat, dass er sie anscheinend nur geküsst hatte, da sie ihn an das Mädchen erinnerte. Und dieser Schmerz in ihrem Inneren irritierte sie mehr als alles andere. Wieso ließ es sie nicht kalt, dass er sie geküsst hatte? Wieso ging ihr dieser Mann nicht mehr aus dem Kopf, obwohl er sie alle angelogen, ihnen etwas vorgespielt und Tony entführt hatte? Wieso konnte sie ihm nicht wirklich böse sein, obwohl sie es gerne wollte? Lag es vielleicht daran, dass er in seinem Leben bereits so viel mitmachen musste? Ziva konnte es nicht fassen, dass Eltern so grausam sein und ihre Kinder so behandeln konnten, wie es bei den DiNozzobrüdern der Fall gewesen war. Jetzt verstand sie auch, weshalb ihr Kollege nie etwas über seine Vergangenheit erzählt und dass er ihnen Chris verschwiegen hatte. Wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre, hätte sie ebenfalls versucht, alles zu verdrängen, um nicht daran denken zu müssen.
Wenn es sich vermeiden ließ, verbannte sie Ari ebenso aus ihrem Kopf, allerdings schlich er sich ab und zu noch in ihre Gedanken ein, um ihr damit eine schlaflose Nacht zu bescheren. Man konnte sich seine Verwandten nicht aussuchen, aber sie spürte deutlich, dass da ungeachtet all der langen Jahre zwischen Tony und Chris noch immer eine Vertrautheit war, die sie verblüffte. Trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, waren sie einander so nahe und sie konnte die Geschwisterliebe förmlich spüren. Deshalb hatte es Ziva nicht gewundert, dass sich Anthony vor seinen Bruder gestellt hatte, um zu verhindern, dass Gibbs diesen verhaftete – umsonst. Was Chris dazu veranlasst hatte, aufzugeben, konnte sie nicht sagen, aber sie hoffte, dass es ihr Kollege schaffen würde, den Chefermittler davon zu überzeugen, den jungen Mann gehen zu lassen. Denn dass sie darüber diskutierten, war mehr als offensichtlich, immerhin steckte der Lift seit einigen Minuten zwischen zwei Stockwerken fest. Der Gedanke, dass Chris ins Gefängnis gehen musste, gefiel ihr gar nicht, hegte sie doch innerlich den Wunsch, ihn ein wenig näher kennenzulernen – vor allem, um sich ihren Gefühlen klar zu werden.
Als Ziva vor fast einer Stunde Tony wiedergesehen hatte, war sie froh gewesen, dass es ihm gut ging, aber ihr Herz hatte nicht so einen Hüpfer gemacht, als sie seinen Bruder erblickt hatte, obwohl dieser eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Ihr Puls war in die Höhe geschossen, als sie ihn beobachtet hatte. Irgendetwas war an ihm, das sie faszinierte und nicht mehr losließ. Und wie er jetzt in dem Wagen saß, wirkte er verloren und einsam und sie wollte ihn einfach beschützen, wollte nicht zulassen, dass ihm noch einmal wehgetan wurde. Dabei hätte sie ihm eigentlich den Kopf abreißen müssen, anstatt sich Sorgen um ihn zu machen – immerhin hatte er sie geküsst und sie glauben lassen, es sei Tony gewesen.
Ziva seufzte und blickte zu McGee, der weiterhin telefonierte und so wie es sich anhörte, berichtete er gerade Abby, was alles vorgefallen war. Die Forensikerin hätte auch einfach in die Tiefgarage kommen können, anstatt sich per Handy Bericht erstatten zu lassen. Ihr Kollege war so in sein Gespräch vertieft, dass er sie gar nicht wahrzunehmen schien. Sie wandte sich wieder Chris zu, musterte ihn von oben bis unten, studierte sein Profil, sein Gesicht, das genauso wie Tonys war, aber dennoch anders – sie konnte nicht sagen, was, aber irgendetwas unterschied die beiden. Nach endlos langen Sekunden stieß sie sich von der Motorhaube ab und umrundete den Wagen – es war Zeit, ein klärendes Gespräch zu führen.

In einem Takt, der Chris verdächtig an ein Lied von Abby erinnerte, klopfte er rastlos mit seinen Finger gegeneinander, um sich somit ein wenig zu beschäftigen. Mittlerweile fragte er sich, wo Gibbs und Tony hinverschwunden waren und ob dieser noch lebte. Denn es war offensichtlich gewesen, dass sein Boss nicht damit einverstanden gewesen war, von seinem Agent angeschrien zu werden. Da kam sein Bruder nach drei Tagen wieder zurück in sein altes Leben und als erstes musste er eine Konfrontation mit seinem Vorgesetzten über sich ergehen lassen. Er konnte sich vorstellen, nach ein paar Sekunden des Überlegens, wo sich die beiden befanden, immerhin hatte er das persönliche Konferenzzimmer des Chefermittlers kennenlernen dürfen – der Fahrstuhl. Allerdings wagte er es nicht, seinen Kopf zu heben, um sich von seiner Theorie zu überzeugen, da er befürchtete, erneut Ziva anzusehen. Außerdem würde es ihn nur noch nervöser machen, wenn er die Aufzugstüren ständig in seinem Blickfeld hatte und darauf wartete, bis sie sich wieder öffneten. Wieso brauchten sie nur so lange? Worüber redeten sie denn die ganze Zeit? Lebte Anthony überhaupt noch? Wie viele Kopfnüsse hatte er wohl schon bekommen?
Fragen über Fragen wirbelten durch Chris' Gehirn und ihm wurde bereits ganz schwummrig, als ihn das Geräusch der sich öffnenden Wagentür aus seinen Überlegungen riss. Zu seiner größten Verblüffung nahm Ziva gleich darauf neben ihm Platz und warf sie wieder ins Schloss. Er starrte sie mit großen Augen an, hatte er mit jedem gerechnet, nur nicht mit der jungen Frau, die ein wenig herumrutschte, sich mit dem Rücken gegen die Tür lehnte und die Arme vor ihrer Brust verschränkte. Deutlich konnte er die Waffe und das Messer an ihrer Hüfte erkennen, was ihn unwillkürlich schlucken ließ. Er hoffte, dass sie nicht auf die Idee kam, sie einzusetzen, um ihm damit klar zu machen, was sie davon hielt, dass er allen weisgemacht hatte, er sei Tony.

Die Sekunden verstrichen, ohne dass jemand von beiden etwas sagte. Sie blickten sich einfach an, unfähig, wegzusehen und da war es wieder, dieses Knistern, das seit gestern Abend beständig zwischen ihnen herrschte. Chris kam der Innenraum des Autos auf einmal viel zu klein vor und die Luft wurde stickig. Er zwang sich regelrecht, mit dem Klopfen seiner Finger aufzuhören, das ihn jetzt noch nervöser machte. Hin und wieder drangen ein paar leise Worte von McGees Gespräch zu ihnen herein, aber sonst war es ruhig – ausgenommen seines Herzschlages, der in seinen Ohren dröhnte.
Da Chris nicht wusste, wohin das Ganze führen sollte und was Ziva mit ihrem Verhalten bezweckte, entschied er sich, den Anfang zu machen, räusperte sich leise und sagte die Worte, die er heute bereits mehrmals verwendet hatte und mit denen man meistens nichts falsch machen konnte. „Es tut mir leid." Seine Stimme war leiser als gewöhnlich und er wünschte sich, diese wunderschönen braunen Augen würden ihn nicht so intensiv mustern. Merkte sie denn nicht, dass sie ihn dadurch aus dem Konzept brachte und er nicht mehr zu denken fähig war?
Die Israelin schwieg weiterhin, kniff aber ihre Augen zusammen und wartete darauf, dass er weiterredete – jedenfalls nahm er das an. Erneut räusperte er sich und setzte ein kleines wenn auch leicht gezwungenes Lächeln auf, das die Situation ein wenig entspannen sollte. „Ich schätze, ich habe Mist gebaut", fuhr er fort und holte tief Luft. Seit langem war er nicht mehr so nervös in der Gegenwart einer Frau gewesen und er kam sich unwillkürlich wie ein unerfahrener Teenager vor. Noch dazu wollte er nicht, dass sie böse auf ihn war und er hoffte, dass sie ihm irgendwann einmal verzeihen würde.
„Du schätzt?" fragte Ziva und obwohl die zwei Wörter nicht gerade freundlich ausgesprochen worden waren, war ihre Stimme ruhig und im Gegensatz zu Chris schien sie keine Probleme damit zu haben, dass sie sich direkt ansahen. „Okay", erwiderte er zögernd, das kleine Lächeln verschwand von seinen Lippen und wurde durch Ernsthaftigkeit ersetzt. „Ich habe definitiv Mist gebaut und das in vielerlei Hinsicht. Vor allem, was zwischen uns beiden vorgefallen ist und…" „Tut dir das auch leid?" wollte sie wissen und legte ihren Kopf schief. „Was?" „Tut es dir auch leid, was zwischen uns vorgefallen ist? Und ich gebe dir den Rat, mir ja die Wahrheit zu sagen, sonst kann es ungemütlich werden. Christopher", fügte sie aus einem Impuls hinzu und als er wie unter einem harten Schlag zusammenzuckte, versetzte ihr das einen Stich – sie hatte seinen Namen nicht gerade nett betont. Aber ihm sollte klar sein, dass er kein leichtes Spiel mit ihr haben würde und dass sie sauer auf ihn war – vor allem sauer, weil er Gefühle in ihr wachrief, die sie ängstigten und von denen sie keine Ahnung hatte, wie sie damit umgehen sollte.

Chris riss seinen Blick von der jungen Frau los, als sie ihn mit seinem Vornamen angeredet hatte. Wie oft hatte er sich das vorgestellt, dass sie nicht Tony in ihm sah, aber da war dieser Ton in ihrer Stimme, der ihm nicht gefiel und der ihm verriet, dass sie anscheinend wütend auf ihn war – er konnte es ihr nicht einmal verübeln. Was sollte er jetzt machen? Ihr wirklich die Wahrheit anvertrauen, ihr sagen, dass es richtig gewesen war, was sie getan hatten? Das er nur an sie und nicht an Amy gedacht hatte? Er könnte lügen, aber er wusste, Ziva würde es sofort merken und dann hätte er seine Chance verspielt, wollte er sie doch weiterhin in seinem Leben haben.
Er straffte seine Schultern und zwang sich, die Israelin erneut anzublicken. „Nein", flüsterte er beinahe und verwünschte seine kratzige Stimme, die den Eindruck erweckte, als ob er heftige Halsschmerzen hätte. „Nein, es tut mir nicht leid, dass ich dich geküsst habe und ich bereue es keine Sekunde lang. Ich bereue lediglich, dass ich dir vorgemacht habe, Tony zu sein und nicht ich. Ich war so ein Idiot. Es wäre besser gewesen, dir gleich die Wahrheit zu sagen, anstatt weiter vorzugeben, wer anderes zu sein und ich weiß, dass ich dich damit verletzt habe. Ich kann verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst."
Chris zog es vor, erneut auf seine Hände zu starren, hatte er doch ein wenig Angst davor, wie Ziva auf seine Worte reagierte – er wusste nicht, ob er es ertragen würde können, in ihren Augen ihre Entscheidung zu sehen, es reichte bereits, dass er wahrscheinlich für ein paar Jahre ins Gefängnis musste, da wollte er die junge Frau im Gedächtnis behalten, so wie sie ihn angesehen hatte, kurz bevor er sie geküsst hatte und sich nicht an den Moment erinnern, in dem sie ihn in die Wüste schickte. Da traf er endlich einmal eine Frau, die ganz anders als alle anderen war, die er kennengelernt hatte – die ganz anders als Amy war – und dann vermasselte er es, dabei hätte es zwischen ihnen durchaus klappen können, das spürte er tief in seinem Inneren.

Ziva saß da, hatte noch immer die Arme vor ihrer Brust verschränkt und beobachtete, wie Chris erneut auf seine Hände starrte und dabei auf seinem Gesicht ein trauriger Ausdruck erschienen war. Sein Geständnis, das er es nicht bereute sie geküsst zu haben, hatte ihr Herz schneller schlagen lassen, waren es gerade die Worte gewesen, die sie hatte hören wollen, obwohl sie wusste, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn er den gestrigen Abend bereut hätte. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie reagiert hätte, wenn es wirklich so gewesen wäre, wenn es ihm leid getan hätte.
Es war ihm deutlich anzusehen, dass ihm bewusst war, dass er es versaut hatte, dass er massenhaft Fehler begangen hatte – gepaart mit der Tatsache, dass er in seinem Leben bereits so viel durchmachen hatte müssen, verhinderte, dass Ziva ihm wirklich böse sein konnte. Sie erkannte, dass er im Grunde ein anständiger Kerl war, der im Verlauf der letzten Jahre viel einstecken hatte müssen und der jetzt einmal damit fertig werden musste, dass er von Tony ein völlig falsches Bild gehabt hatte. Ein riesengroßes Missverständnis hatte die beiden auseinandergerissen und es musste vor allem für Anthony hart gewesen sein, mit diesem Wissen zu leben, noch dazu, wenn sein Bruder auf Tauchstation gegangen war und er keine Möglichkeit gehabt hatte, diesen zu finden.
Ziva ließ ihre Arme sinken und fuhr sich durch ihre Haare – es wurde Zeit, dass sie zu einer Entscheidung kam, die, egal wie sie ausfallen würde, ihre Zukunft beeinflussen würde. Was sollte sie bloß machen? Chris eine zweite Chance geben oder ihn einfach seinem Schicksal überlassen? Ihr Innerstes schrie förmlich, wenn sie auch nur daran dachte, ihn gehen zu lassen, bestand doch zwischen ihnen ein festes Band, das selbst, jetzt wo sie Wahrheit kannte, nicht zerrissen war und sie genoss weiterhin seine Nähe. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie eine Beziehung zu ihm aufbauen sollte, hatte doch ihr gemeinsamer Start auf Lügen basiert. War es ihr möglich, ihm irgendwann komplett zu vertrauen? Wieso mussten Gefühle immer nur so kompliziert sein? Wieso konnte nicht einmal etwas einfach sein? Wieso konnte ihr nicht jemand die richtige Entscheidung ins Ohr flüstern? Ziva saß da, sah den jungen Mann neben ihr an und auf einmal wusste sie, was zu tun war, aber vorher musste sie noch etwas herausfinden, was ihr seit heute Morgen nicht mehr aus dem Kopf ging.

„Als du mich gestern geküsst hast, hast du da wirklich an Amy gedacht?" Die Frage riss Chris aus seiner Starre und für einen kurzen Moment musste er sich erst einmal orientieren, bis ihm wieder einfiel, wo er war und was er hier machte. Er drehte seinen Kopf und blickte Ziva an, die ihre Arme sinken hatte lassen und eine Spur entspannter wirkte. Hatte er vorhin vielleicht doch das Richtige gesagt? Hatte sie genau das hören wollen, was über seine Lippen gekommen war? Gleich darauf fiel ihm wieder die Frage ein, die sie ihm gestellt hatte und er wusste, die Antwort darauf würde entscheidend sein. Auch auf die Gefahr hin, dass er sie wirklich vergraulen sollte, würde er ihr die Wahrheit sagen – es reichte bereits, dass er sie wegen Amy heute Morgen angelogen hatte. Diesmal würde er es nicht tun und wie Ziva auf sein Geständnis reagieren würde, würde sich herausstellen – aber egal, wie sie sich entscheiden sollte, er hatte wenigstens ein reines Gewissen.
„Nein, ich habe nicht an Amy gedacht", antwortete Chris schließlich und blickte die junge Frau direkt an, beobachtete ihre Reaktion und konnte Erleichterung erkennen, die sie bei seinen Worten durchflutete. Ihre Wangen röteten sich ein wenig und in ihre Augen trat ein freudiges Funkeln. Ziva wusste nicht, wie ihr geschah, schaffte sie es normalerweise, ihre Gefühle hinter einer steinernen Miene zu verbergen, aber etwas an Chris hinderte sie daran, sich zu verstecken – vielleicht die Hoffnung, das nicht alles verloren war.

„Ich habe keine Sekunde an Amy gedacht", wiederholte er und ein Lächeln bildete sich auf seinen Lippen – ein Lächeln, das nicht im entferntesten traurig wirkte, sondern das erfreulich war. „Als ich dir das heute Morgen gesagt habe, war das nur eine Ausrede gewesen, damit ich die Dinge wieder ins Lot rücken kann, bevor ich Tony seinen Platz zurückgeben wollte. Er sollte nicht etwas ausbaden müssen, was ich angestellt habe. Da du meine wahre Identität nicht gekannt hast, konnte ich dir die Wahrheit nicht sagen, aber bei Gott, ich wollte es. Die Wahrheit ist, dass du wirklich ein wenig wie Amy aussiehst, aber ich habe dich nicht deswegen geküsst, sondern deshalb, weil ich dich küssen wollte, Ziva, nur dich und nicht Amy. Nicht ehrlich zu dir zu sein, ist mir mehr als schwer gefallen, noch dazu, weil ich gespürt habe, dass da etwas zwischen uns ist und noch immer da ist", fügte er hinzu und rutschte ein wenig herum, unsicher, ob er die letzten Worte nicht besser verschweigen hätte sollen. Aber die braunhaarige Agentin rückte ein Stückchen an ihn heran, aus dem Bedürfnis heraus, seine körperliche Nähe intensiver wahrzunehmen. Grüne Augen blickten sie hoffnungsvoll, gleichzeitig aber auch schüchtern, an – grüne Augen, in denen sie versinken konnte.
„Du hast mein Leben ganz schön durcheinander gebracht, Chris", gestand Ziva und sein Name kam ihr diesmal überraschend leicht über ihre Lippen. „Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich so mir nichts, dir nichts erfahren habe, dass es nicht Tony war, der mich geküsst hat, sondern sein Zwillingsbruder? Anfangs habe ich das für einen schlechten Scherz gehalten, aber euch beide zu sehen, hat mir vor Augen geführt, dass es die Wirklichkeit ist und nicht etwa ein Traum. Ich weiß nicht, was ich von alldem halten soll, ich habe nicht einmal eine Ahnung, wie ich damit umgehen soll, wie ich die Gefühle in mir interpretieren soll. Ich weiß nur, dass da zwischen uns wirklich etwas ist, das weder du noch ich abstreiten kann. Aber was ist dieses etwas? Was ist…?"
„Lass es uns herausfinden", unterbrach Chris Ziva. Der Hoffnungsfunke in ihm war größer geworden und verdrängte die Erkenntnis, dass er weiterhin in Schwierigkeiten steckte. Was waren schon ein paar Jahre Gefängnis, wenn er das Wissen hatte, dass es jemanden gab, der auf ihn warten würde, wenn er wieder entlassen wurde?
„Was?" Verwirrt runzelte die junge Frau die Stirn, nicht sicher, ob sie seine Worte richtig verstanden hatte. „Lass uns einen Neuanfang machen", erklärte er und drehte sich nun vollends zu Ziva um, ungeachtet dessen, dass diese Position ein wenig unbequem war. „Ein kompletter Neustart wäre nicht verkehrt, oder? Ich meine, wir könnten uns somit näher kennenlernen, keine Lügen oder Geheimnisse und du würdest die Möglichkeit erhalten, in mir nicht mehr Tony zu sehen, sondern nur mich."

Zivas Herz schlug bei seinen Worten einen wahren Salto und sie konnte nur mit Mühe ein erfreutes Lächeln unterdrücken. Es war gar nicht so schwer gewesen, über ihre Gefühle zu reden, obwohl sie das immer angenommen hatte und sie war froh darüber, dass sie es getan hatte. Noch dazu hatte sie jetzt das Wissen, dass Chris Amy nicht hinterher trauerte und in der Agentin nicht seine verflossene Liebe sah – nein, sie war für ihn Ziva David und nicht irgendjemand anderes.
Sie beobachtete ihn, wie er nervös mit seinen Fingern an seiner Hose herumzupfte, seinen Blick aber nicht von ihr abwandte und sie erkannte, dass er Recht hatte: sie würde in ihm nicht länger Tony sehen, ungeachtet dessen, dass sie sich äußerlich vollkommen glichen. Chris jedoch war ganz anders als sein Bruder, hatte einen anderen Charakter und es war gerade das, was sie wie magisch anzog. Sie mochten zwar Zwillinge sein, aber innerlich konnten sie unterschiedlicher nicht sein und sie wusste, dass es das Richtige war, was sie gleich tun würde.
„Ein Neuanfang wäre toll", sagte sie und auf einmal war die Barriere zwischen den beiden verschwunden und der Stein, der Chris von seinem Herzen fiel, war größer als der Mount Everest. Auf seinen Lippen bildete sich das seit langem strahlendste Lächeln und unglaubliche Erleichterung durchströmte ihn.

„Nun denn", begann er, rückte näher an die junge Frau heran und reichte ihr seine noch immer gefesselten Hände. „Hi, ich bin Christopher DiNozzo, aber alle nennen mich einfach Chris. Ich stehe zwar kurz davor, von deinem Boss ins Gefängnis geworfen zu werden, aber es freut mich dennoch, dich kennenzulernen." Er konnte nicht leugnen, dass es sich herrlich anfühlte, sich mit seinem richtigen Namen vorzustellen, und nicht mehr so tun zu müssen, als sei er sein Bruder.
„Ziva David", erwiderte schließlich die junge Frau und nahm seine dargebotene rechte Hand in die ihre und obwohl es nur eine einfache Berührung war, durchfuhr beide ein Stromstoß. „Ich freue mich auch, dich kennenzulernen und ich kann dir versichern, mein Boss wird dich nicht ins Gefängnis werfen."
„Was?" fragte Chris überrascht, nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. „Warum glaubst du, sind Tony und Gibbs schon so lange weg und der Fahrstuhl rührt sich seitdem keinen Millimeter? Dein Bruder wird nicht zulassen, dass du hinter Gitter landest und je länger es dauert, bis sie wieder zurückkommen, desto besser stehen die Chancen." „Meinst du?" Erneute Hoffnung keimte in ihm auf. Die Möglichkeit, dass Anthony versuchte, ihn freizubekommen, hatte er nicht in Betracht gezogen und jetzt ergab es auch einen Sinn, warum der Aufzug nicht mehr funktionierte.
„Tony bekommt das schon hin", meinte Ziva und drückte aufmunternd seine Hand, bevor sie ihn losließ. „Gibbs mag zwar nach außen hin hart erscheinen, aber er ist nicht immer der Bastard, wie er es oft allen weismachen will. Außerdem habe ich so das Gefühl, dass er dich ein wenig mag." „Das ist doch Schwachsinn", erwiderte er prompt und wedelte mit seinen Händen vor ihrer Nase herum. „Sieht das für dich aus, als ob er mich mögen würde?" Ziva lachte leise und schüttelte ihren Kopf. „Wenn es nicht so wäre, hätte er dich längst in einen Verhörraum verladen und würde nicht mit Tony reden."
Chris konnte nicht anders als breit zu grinsen und ließ seine Hände sinken. Was die junge Frau gesagt hatte, ergab durchaus Sinn und hatte der Chefermittler nicht gezögert, als er ihm die Handschellen angelegt hatte?
„Es heißt übrigens verfrachten", sagte er nach ein paar Sekunden und sein Grinsen wurde um eine Spur breiter, als sich Zivas Gesicht verfinsterte. „Verladen passt eher zu…" „Schon gut, schon gut, ich habe es kapiert", erwiderte sie und hob abwehrend ihre Hände. „Wenn es darum geht, meine Fehler auszubessern, bist du wie Tony. Oh", fügte sie gleich darauf hinzu und richtete sich auf. Von ihrer plötzlich angespannten Körperhaltung aufgeschreckt, drehte sich Chris um und sah Gibbs, der aus dem Fahrstuhl trat, während Anthony weiterhin in der Kabine stand und ein wenig sprachlos zu sein schien. Die Miene des Chefermittlers war wie üblich undurchschaubar. „Ist das ein gutes Zeichen?" fragte er Ziva. „Lass es uns herausfinden", antwortete sie, öffnete die Tür und bedeutete ihm, es ihr gleich zu tun. ‚Jetzt wird es sich entscheiden', dachte Chris und stieg aus. In ein paar Sekunden würde sich herausstellen, ob er die nächsten Jahre im Gefängnis verbringen musste oder ob er eine zweite Chance erhielt. Aber egal wie die Zukunft aussehen mochte, er hatte immerhin Tony und Ziva auf seiner Seite, beide hatten ihm verziehen und dass war das Beste, was ihm überhaupt hatte passieren können.

Gibbs hatte den Wagen fast erreicht, als mir bewusst wurde, dass ich wie der reinste Vollidiot aussehen musste, wie ich so mitten im Fahrstuhl stand, mit leicht offenem Mund und einem verdatterten Gesichtsausdruck. Aus meiner Position erkannte ich McGee, der sein Handy zuklappte, wobei ich annahm, dass sein Gesprächspartner Abby gewesen war. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass sie auf dem Laufenden gehalten werden wollte, immerhin konnte sie ziemlich wütend werden, wenn man sie überging. Wie ich sie kannte, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie hier in der Tiefgarage auftauchte, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es mir gut ging.
Gleich darauf erhaschte ich einen Blick auf Ziva, die aus dem Auto ausstieg, gefolgt von Chris, der einen zufriedenen Gesichtsausdruck zur Schau stellte. Es war offensichtlich, dass die beiden miteinander geredet hatten, zumal meine Kollegin vorher auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte und nicht auf der Rückbank. Für mich war es nicht schwer zu erraten, worüber es bei ihrem Gespräch gegangen war, wusste ich doch von dem Kuss zwischen den beiden und da mein Bruder noch lebte, musste er es irgendwie geschafft haben, Ziva zu besänftigen. Hatte sie ihn in der letzten halben Stunde keines Blickes gewürdigt, so hatte sie ihre Augen momentan auffällig oft auf ihm ruhen und sie wirkte richtiggehend entspannt. Nachher, wenn ich mit Chris alleine war, würde ich ihn sofort ausfragen und wenn es nötig sein sollte, würde ich ihm jedes noch so kleine Detail aus der Nase ziehen. Zwischen den beiden bahnte sich irgendetwas an und falls es wirklich ernst werden sollte, wollte ich der Erste sein, der davon erfuhr. Ich gönnte es Chris, wenn er wieder Glück in der Liebe haben sollte und ich war mir sicher, die Israelin würde ihm nicht das Herz brechen, so wie es Amy getan hatte.
Ich löste mich endlich aus meiner Starre und lief Gibbs hinterher, der bereits vor meinem Bruder stehen geblieben war und erreichte sie zwei Sekunden später. Die beiden sahen sich für ein paar Sekunden stumm an und Unsicherheit machte sich auf Chris' Gesicht breit, wohingegen ich nicht anders konnte, als breit zu grinsen, wusste ich doch, was gleich geschehen würde.
Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, kramte Jethro in seiner Hosentasche, förderte einen kleinen Schlüssel zu Tage und begann schließlich die Handschellen aufzuschließen. Mein Bruder riss überrascht die Augen auf und sah mich komplett verwirrt an.
„Du bist ein freier Mann", sagte ich freudig und zwinkerte ihm zu. „Was? Aber…? Wie… wie hast du das hinbekommen?" wollte er wissen und war so damit beschäftigt zu realisieren, dass er nicht ins Gefängnis musste, dass er nicht einmal mitbekam, wie ihm Gibbs die Handschellen abnahm und in seiner Hosentasche verschwinden ließ.

Ich setzte bereits zu einer Antwort an, als mich eine Bewegung jedoch inne halten ließ – eine Sekunde später verpasste der Chefermittler Chris eine Kopfnuss, die ihm einen unwillkürlichen Schmerzensschrei entlockte. Ich konnte mir ein Grinsen beinahe nicht verkneifen, als ich seinen Gesichtsausdruck sah – aber gleich darauf wurde mir bewusst, dass ich wohl genauso dämlich aus der Wäsche schauen musste, wenn ich in den Genuss eines Schlages auf den Hinterkopf kam, weshalb meine Mundwinkel sofort zu zucken aufhörten.
„Ich denke, die habe ich verdient", sagte mein Bruder und rieb sich über die schmerzende Stelle. „Da denkst du richtig", erwiderte Gibbs und sah mit einem gefährlichen Funkeln in seinen Augen zwischen uns hin und her. „Damit das klar ist", fuhr er mit bedrohlicher Stimme fort und sah uns unverwandt an, „wenn ich herausfinden sollte, dass ihr irgendwann erneut die Rollen tauschen solltet, und mir ist egal, von wem diese Idee stammt, dann landest DU schneller im Gefängnis, als du Luft holen kannst und DU kannst dir einen neuen Job suchen." Dabei blickte er mich so eindringlich ein, dass ich unwillkürlich schluckte und ich wusste sofort, dass es keine leere Drohung war, mich zu feuern.
„Verstanden, Boss", erwiderten wir synchron, wobei sich Chris' Wangen eine Sekunde später mit einem Hauch Rot überzogen. „Ich meine, Gibbs", korrigierte er sich schnell und versuchte, nicht allzu verlegen auszusehen, wohingegen ich schon wieder am Grinsen war. „Gut", meinte der Chefermittler und nickte zufrieden. Seine Miene wurde eine Spur weicher und er entspannte sich sichtlich.
„Tony", wandte er sich mir zu und quittierte mein Grinsen mit einer erhobenen Augenbraue, weshalb ich meinen Mund ganz schnell in eine waagrechte Position brachte. „Ja?" „Ich will dich vor Montagmorgen hier nicht mehr sehen." „Wirklich?" wollte ich aufgeregt wissen und wäre beinahe wie Abby auf und ab gehüpft. Ich konnte es nicht fassen, ich hatte ein verlängertes Wochenende, drei volle Tage, die ich mit Chris verbringen konnte, denn dass dieser jetzt Washington verlassen würde, konnte ich mir nicht vorstellen.

„Sonst hätte ich es wohl kaum gesagt, oder?" meinte Gibbs gewohnt schroff und ich wusste, die Welt war wieder in Ordnung. Er wollte sich bereits umdrehen, überlegte es sich noch einmal anders und nahm meinen Bruder erneut ins Visier. „Falls du einmal Zeit hast, Chris", und bei der Erwähnung seines Namens, lächelte dieser glücklich, „dann zeige ich dir, wie man ein Boot in einem Keller bauen kann. Meine Tür steht immer offen." Mit diesen Worten drehte er sich vollends um und ging mit großen Schritten auf den Fahrstuhl zu.
„Wow", sagte ich ehrfurchtsvoll und wandte mich Chris zu, der eine verdatterte Miene aufgesetzt hatte, die mich stark an diejenige erinnerte, die ich vor nicht allzu langer Zeit selbst zur Schau getragen hatte. „Weißt du was das heißt?" fragte ich ihn und als er seinen Kopf schüttelte, fügte ich ganz schnell hinzu: „Gibbs mag dich. Sonst hätte er dich nie eingeladen, dir eine Lektion im Boote bauen zu geben. Mir hat er das noch nie angeboten." Unbewusst verzog ich meine Lippen zu einem Schmollmund, als mich die Erkenntnis überkam, dass mich mein Boss nie gefragt hat, ob ich einmal mit ihm an seinem Boot bauen wollte.
„Aber trotzdem mag er dich auch, Tony", sagte Ziva und grinste ein wenig hämisch. „Sonst wärst du nicht in seinem Team. Außerdem hast du ihn dazu gebracht, Chris freizulassen. Wie hast du das bloß angestellt? Nicht, das ich an dir gezweifelt hätte, oder so." „Berufsgeheimnis", erwiderte ich, wohl wissend, dass sie es nicht ausstehen konnte, wenn sie auf eine Frage keine Antwort bekam. Aber diesmal schien es sie nicht zu stören, sondern lächelte meinen Bruder glücklich an. „Siehst du? Ich habe dir ja gesagt, dass dich Gibbs mag und mir willst du nicht glauben." Chris machte bereits den Mund auf, wurde aber von einer lauten Stimme unterbrochen, die aus Richtung des Fahrstuhles kam. „Ziva, McGee! Braucht ihr eine Extraeinladung?! Soweit ich weiß, warten noch Berichte darauf, beendet zu werden. Ich will sie vor 20 Uhr auf meinem Schreibtisch haben!"
„Dann wollen wir euch nicht länger aufhalten", sagte ich grinsend – wie ich es genoss, einmal nicht derjenige zu sein, der herumgescheucht wurde. „Die Schlüssel, Bambino." Ich hielt ihm meine rechte Hand entgegen und wartete, bis er sie mir gab. „Und ich bete für dich, dass du keinen Kratzer in meinen Wagen gemacht hast." „Keine Sorge, Tony, ich bin nirgendwo angefahren." „Das will ich auch hoffen. Lass uns nach Hause fahren", fügte ich an meinen Bruder gewandt hinzu, der sofort nickte.
„Ich ruf dich an", sagte er zu Ziva und McGee reichte er die Hand. „Du bist echt in Ordnung, Tim. Vielleicht hast du ja Lust, einmal ein Bier mit mir zu trinken." „Klar", meinte dieser und erwiderte den Händedruck. „Und du bist auch schwer in Ordnung. Es würde mich freuen, wenn wir etwas zusammen unternehmen." Chris lächelte glücklich und ich konnte seine Freude nachempfinden – hatte er doch Angst gehabt, alle würden sich von ihm abwenden, wenn sie die Wahrheit erfuhren. Seit langem würde er wohl wieder richtige Freunde haben und McGee schien ihn wirklich zu mögen – noch ein Grund, warum ich annahm, dass er in Washington bleiben würde.

Tim und Ziva verabschiedeten sich von uns und eilten zu Gibbs, der nach wie vor beim Aufzug stand, dessen Türen sich öffneten – ein Schrei, der gleich darauf laut in der Tiefgarage widerhallte, ließ mich unwillkürlich zusammenzucken. „Tony!!!" Wie ein Wirbelwind auf Plateauschuhen kam Abby aus der Kabine auf mich zugesaust, wobei ihre Rattenschwänze wild hin und her schwangen. Bevor sie mich in eine knochenbrechenden Umarmung schloss, konnte ich noch Ducky erkennen, der kurz mit Gibbs sprach – anschließend sah ich nur mehr die schwarzen Haare der Forensikerin.
„Ich bin so froh, dass es dir gut geht", sprudelte es aus ihr heraus und sie redete so schnell, dass ich sie kaum verstand, zusätzlich schaffte sie es, mir die Luft aus den Lungen zu quetschen, was ihr aber nicht aufzufallen schien. „McGee hat mir schon alles per Telefon erzählt, aber ich musste mich selbst überzeugen, dass dir nichts passiert ist und du heil bist. Ich wusste, dass dich Gibbs zurückbringen würde und…" „Abbs", unterbrach ich sie keuchend, wodurch sie endlich zu bemerken schien, dass ich Schwierigkeiten hatte, zu atmen. „Oh, tut mir leid", entschuldigte sie sich schnell und ließ mich los. Sie schenkte mir ein breites Lächeln, bevor sie sich an Chris wandte, der neben mir stand und erneut ein wenig verlegen aussah. Abby trat auf ihn zu, legte ihren Kopf schief und musterte ihn von oben bis unten, ließ keinen Zentimeter aus.
„Gibbs hat dich nicht verhaftet?" fragte sie schließlich und klang dabei ein wenig vorwurfsvoll. „Nein", antwortete mein Bruder ein wenig kleinlaut, setzte aber ein entwaffnendes Lächeln auf. „Nicht, dass er es nicht versucht hätte, aber…" Der Rest des Satzes ging in einem überraschten Aufschrei unter, als ihn Abby ohne Vorwarnung fest in die Arme nahm. Ich war mehr als überrascht, hätte ich eher damit gerechnet, dass sie ihm die Leviten lesen würde, stattdessen knuddelte sie ihn wie Bert, ihr Stoffnilpferd – nur dass Chris nicht dazu neigte, Pupsgeräusche von sich zu geben.
„Das finde ich echt nett von meinem silberhaarigen Fuchs", sagte die Forensikerin an seinem Hals und ich konnte das Lächeln förmlich in ihrer Stimme hören. „Was nicht heißt, dass ich es nett finde, wie du dich hier bei uns eingeschlichen hast, aber ich finde es total abgefahren, dass du ein Zwilling von Tony bist. Jetzt gibt es gleich zwei DiNozzos, die man einfach gerne haben muss. Falls du aber Tony je wieder wehtun solltest, dann werde ich andere Seiten aufziehen. Ich kann auch böse werden." Von Chris kam ein Geräusch, das eine Mischung aus Keuchen und Quietschen war und das seine Zustimmung signalisieren sollte. „Gut", meinte Abby und ich konnte nicht anders, als breit zu grinsen. „Na dann, willkommen in der Familie, Christopher." Die Wangen meines Bruders nahmen eine rote Farbe an und ich wusste, dass das nicht nur vom Sauerstoffmangel herrührte, sondern von purer Freude. Er nahm seine Arme, die bis jetzt an seiner Seite herabgehangen hatten, nach oben und legte wie um den schlanken Körper der Forensikerin - erwiderte somit die Umarmung.

„Du meine Güte, Abigail, du zerquetscht den armen Christopher noch. Tony will ihn sicher in einem Stück nach Hause bringen", erklang Duckys Stimme neben uns – an ihn hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht, da ich viel zu sehr mit der Betrachtung von Abby beschäftigt gewesen war, und mit dem Vergnügen, nicht der Einzige zu sein, dem die Luft abgeschnürt worden war.
Die junge Goth ließ von meinem Bruder ab, der ziemlich kurzatmig war und dessen Wangen weiterhin rot leuchteten – genauso wie bei McGee, wenn er peinlich berührt war.
„Wirklich verblüffend", stellte Ducky gleich darauf fest, als er zwischen mir und Chris hin und her blickte. „Anthony, du hättest ruhig einmal etwas sagen können, dass du einen Zwilling hast. Wisst ihr, das erinnert mich eine Geschichte aus dem Jahre 1976. Damals hatte ich einen Freund, der wiederum einen Freund hatte, dessen Bruder auch ein Zwilling war und der…" „Ducky", unterbrach ich den Pathologen, der am Beginn einer neuerlichen, langen Geschichte stand. Obwohl ich ihn vermisst hatte, so wollte ich nicht den gesamten Abend und die darauffolgende Nacht in der Tiefgarage verbringen. Außerdem sehnte ich mich nach einer ausgiebigen Dusche und einem Gespräch mit Chris, um endlich zu erfahren, was er in den letzten 15 Jahren so alles gemacht hatte.
„Also, ich würde die Geschichte gerne hören", meinte mein Bruder und zuckte, als er Abbys und meine vorwurfsvollen Blicke bemerkte, mit den Schultern. „Endlich jemand, der bereit ist, mir zuzuhören", sagte der Ältere und lächelte gütig. „Nun, wenn du Lust hast, koche ich uns einmal einen Tee und dann werde ich dir die ganze Geschichte erzählen. Aber ich denke, du willst jetzt lieber ein wenig Zeit mit Tony verbringen und da würden wir nur stören, nicht wahr, Abby?"
Die Forensikerin drehte ihren Kopf und blickte zu ihm hinunter. „Du hast Recht, Duckman", stimmte sie zu und nickte. „Lassen wir die beiden alleine, aber stellt bloß keinen Blödsinn an." Wie eine strenge Lehrerin wedelte sie mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand vor unseren Nasen herum. „Bestimmt nicht", erwiderten wir synchron, was sie zum Grinsen brachte. „Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich das echt abgefahren finde?" „Hast du", meinten wir erneut synchron und Chris atmete gleich darauf erleichtert aus und erst jetzt schien die ganze Spannung von ihm abzufallen. Nur langsam realisierte er, dass er wirklich ein freier Mann war und nicht ins Gefängnis musste. So unerfreulich diese Woche auch angefangen hatte, umso erfreulicher würde sie enden. Noch am Montagmorgen hatte ich keine Ahnung gehabt, dass ich vier Tage später meinen Bruder wieder zurückbekommen würde – zwar auf einem etwas komplizierten Weg und mit einem großen Streit, aber wir hatten uns wieder zusammengerauft und dass ist das Einzige, was zählte. Noch dazu hatte Chris Freunde gefunden und ich wusste, dass ihn Gibbs hin und wieder unter seine Fittiche nehmen und aufpassen würde, dass er auf dem rechten Weg blieb. Aber dass mein Bruder irgendwann wieder etwas Dummes anstellen würde, konnte ich mir nicht vorstellen – zumal ich ihn für lange Zeit nicht mehr aus den Augen lassen würde.

Fortsetzung folgt...
Chapter 33 by Michi
Washington D.C.
Sonntag, 17. Mai
10:19 Uhr


Die letzten zweieinhalb Tage waren wie im Flug vergangen und ehe ich mich versah, war es bereits Sonntag und das Ende des Wochenendes stand vor der Tür. Obwohl mich das meistens in eine etwas weniger gute Laune versetzte, freute ich mich diesmal, endlich wieder hinter meinem Schreibtisch sitzen zu können – vorausgesetzt, wir bekamen einen Fall zugewiesen und ich musste nicht die ganze Zeit mit langweiligen Akten verbringen. Wenn das jedoch eintreffen sollte, hatte ich wenigstens Ziva und McGee, die ich ärgern und mit Papierbällen traktieren konnte, jedenfalls so lange, bis mir Gibbs eine Kopfnuss verpassen und mir damit signalisieren würde, ich solle mich wieder auf die Arbeit konzentrieren. Wenn ich ehrlich war, hatte ich das in den letzten Tagen wirklich vermisst – und ich wusste, dass ich in einer Woche wieder anders darüber denken und mir wünschen würde, noch ein wenig Freizeit zu haben, um einfach faul herumzuliegen.
Obwohl ich seit Donnerstagnachmittag keinen Fuß mehr in das Hauptquartier gesetzt und ich ein verlängertes Wochenende gehabt hatte – das noch ein paar Stunden andauern würde – hatte ich seit langem so wenig wie noch nie geschlafen, stattdessen hatte ich mir die Nächte mit Chris um die Ohren geschlagen. Es war unglaublich gewesen und es hatte sich angefühlt, als ob wir nie getrennt gewesen wären. Wir hatten Stunden um Stunden geredet, nebenbei jede Menge Pizza gefuttert und Bier getrunken.

Nachdem wir die Tiefgarage verlassen hatten, hatte ich meinen Bruder ohne ihn zu fragen einfach zu mir mit nach Hause mitgenommen und er hatte auch nicht dagegen protestiert – im Gegenteil. Die Tasche mit seinen Sachen, die er vorher gepackt hatte, war weiterhin in meinem Mustang gewesen und diese hatte er sich geschnappt und sofort das Gästezimmer in Beschlag genommen und sich häuslich eingerichtet. Im Bad hatte er meine Sachen im Schrank auf die linke Seite verbannt, während er seine Utensilien anschließend rechts verstaut hatte und ich hatte ihn dabei einfach kopfschüttelnd beobachtet. Natürlich hätte dich dagegen protestieren können, dass ich auf einmal nur die Hälfte des Platzes zur Verfügung hatte, aber für meinen Geschmack hatten wir uns bereits viel zu oft gestritten, sodass ich einfach meinen Mund gehalten hatte, obwohl es Chris deutlich anzusehen gewesen war, dass er auf einen Kommentar von mir gewartet hatte.
Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt nichts gegen ein paar Stunden Schlaf einzuwenden gehabt hätte, war ich munter geblieben und das war der Anfang eines langen Gesprächs gewesen, bei dem meistens nur mein Bruder geredet und mir alles über sein Leben in L.A. erzählt hatte – angefangen von seinen Problemen, eine Unterkunft zu finden, bis hin zu seiner Verhaftung wegen Einbruchs und als er auf seine nicht immer legalen Aktivitäten zu reden gekommen war, hatte ich das seltene Vergnügen gehabt, mitzuerleben, wie sich seine Wangen voller Scham mit einem leuchtenden Rot überzogen und er wie eine Tomate mit einem Sonnenbrand ausgesehen hatte. Aber mir war es egal gewesen – und war es immer noch – was er getan hatte, um zu überleben und das hatte ich ihm auch direkt gesagt. Ich würde sicher niemanden verraten, was Chris während der letzten 15 Jahre angestellt hatte und ich wusste, es war ein Punkt in seinem Leben, auf den er nicht stolz war.
Im Morgengrauen am Freitag hatte er mir noch erzählt, dass er das Geld für das Haus, das er sich gekauft hatte, mit Hilfe eines glücklichen Händchens in den verschiedensten Casinos in L.A. zusammengebracht und auch weiterhin genug auf seinem Konto hatte, um sich für lange Zeit keine Sorgen machen zu müssen. Zu wissen, dass er es ohne Hilfe geschafft hatte, sich ein selbstständiges Leben aufzubauen, erfüllte mich mit Stolz. Ich hatte schon immer gewusst, dass er auf eigenen Füßen stehen konnte, ungeachtet dessen, dass er erst 17 Jahre alt gewesen war, als er davongelaufen war.
Samstagvormittag waren wir schließlich zu Chris' Haus gefahren und ich hatte überraschenderweise kein Problem damit gehabt, den Keller ein weiteres Mal zu betreten. Diesmal war er mir nicht mehr so düster und drückend vorgekommen, sondern viel freundlicher und ich hatte nur zu gerne dabei mitgeholfen, mein ehemaliges Gefängnis auszuräumen, um damit alle schlechten Erinnerungen der beiden Tage, die ich in diesem Raum eingesperrt gewesen war, hinter mir zu lassen. Mit jedem Stück, das wir nach oben gebracht hatten, war die Zeit, die ich hier gezwungenermaßen verbringen hatte müssen, immer surrealer geworden und mittlerweile fühlte es sich wie ein böser Traum an.
In der Nacht auf Sonntag war ich es diesmal gewesen, der geredet hatte und Chris hatte mir zugehört. Ihn hatte es vor allem interessiert, warum ich mich entschieden hatte, Bundesagent zu werden und nicht Dads Unternehmen übernommen hatte. Dass ich zur Polizei gegangen war, hatte größtenteils daran gelegen, dass ich etwas hatte machen wollen, was mein Vater überhaupt nicht tolerieren würde und außerdem hatte mich Wirtschaft nicht interessiert – eine Tatsache, die ich Dad einmal direkt auf die Nase gebunden hatte, kurz bevor er mich hinausgeschmissen hatte, in der Hoffnung, ich würde es mir anders überlegen.

Heute Morgen beim Frühstück hatte mir Chris schließlich gesagt, dass er vorhatte, das Haus zu verkaufen und sich von dem Geld eine Wohnung in Washington zu suchen. In den letzten Tagen hatten wir dieses Thema nicht angeschnitten, vor allem, weil ich ihn nicht hatte drängen wollen und als er mir das ohne Vorwarnung mitgeteilt hatte, war mir der Toast aus meinen schlaffen Fingern gefallen und prompt mit der Marmelade voran auf dem Teller gelandet – nicht zu vergessen der Stuhl, der auf den Boden gekracht war, als ich in meiner grenzenlosen Freude aufgesprungen war und meinen Bruder in eine Umarmung geschlossen hatte, die derjenigen von Abby ganz schön Konkurrenz gemacht hatte.
Zwar hatte Chris einen Teil meines Bades und das Gästezimmer in Beschlag genommen, aber ich war mir nicht sicher gewesen, ob er wirklich in Washington bleiben würde, ungeachtet dessen, dass er keine Konsequenzen mehr zu befürchten hatte.
Somit brauchte ich mir auch nicht zahlreiche Gründe einfallen lassen, warum er die Stadt nicht verlassen sollte. Noch dazu wäre er ganz schön dämlich, wenn er es wirklich getan hätte, hatte er immerhin endlich Freunde gefunden, die er, laut seinen Erzählungen, in L.A. nicht hatte - dort gab es niemanden, der auf ihn wartete.
Natürlich hatte ich Chris gefragt, was er in Zukunft in Washington machen wollte, aber das wusste er selbst noch nicht so genau. Er hatte mir gestanden, dass er gerne seinen Highschoolabschluss nachholen wollte, aber was danach kam, das würde er einfach auf sich zukommen lassen. Ich fand es einfach klasse, dass er sein Leben wieder auf die Reihe bekommen wollte und ich war mir sicher, dass er es auch schaffen würde.
Ich hatte meinem Bruder sofort, nachdem er mir seine Pläne mitgeteilt hatte, angeboten, einfach bei mir einzuziehen, was er aber abgelehnt hatte. Er wollte nicht immer in meinem Gästezimmer wohnen, sondern einen Ort haben, wo er sich eine kleine Insel der Ruhe schaffen konnte. Ich hatte ihn nicht bedrängt, in meinem Haus zu bleiben, da ich verstand, dass er ein gewisses Maß an Privatsphäre brauchte, noch dazu, wenn sich zwischen ihm und Ziva wirklich etwas Ernsthaftes entwickeln sollte.
Bis er jedoch ein passendes Apartment gefunden hatte, würde sicher noch eine Weile vergehen und so lange würde ich ihn um mich herum haben. So wie die Dinge jetzt standen, war ich mehr als zufrieden, sah man von einer Sache ab, die wir noch gemeinsam erledigen würden und die für uns beide nicht einfach werden würde.

„Ich kann nicht fassen, dass du mich dazu überredet hast", sagte Chris mit leicht vorwurfsvoller Stimme und warf mir von der Seite her einen stechenden Blick zu, dessen Intensität ich nicht voll zu spüren bekam, da ich mich auf die Straße konzentrieren musste, aber dennoch bemerkte ich ihn aus den Augenwinkeln. Ich wusste, dass es für ihn schwer gewesen war, überhaupt in den Wagen zu steigen und ich hatte davor geschlagene 45 Minuten gebraucht, um ihn so weit zu bekommen. Wie hatte ich nur vergessen können, dass er so unglaublich stur sein konnte? Für mich war es ebenfalls nicht einfach gewesen, mich hinter das Steuer zu setzen und auf den Highway zu fahren, der uns in einen von Washingtons Vororten bringen würde. Aber es war die richtige Entscheidung, egal wie schmerzhaft sie werden würde.
„Im Prinzip war es dein Vorschlag", erwiderte ich schließlich, betätigte den Blinker und überholte in bester Gibbsmanier einen langsamen Wagen, der im Schneckentempo dahinzukriechen schien. Obwohl es Sonntag war, war der Verkehr ungewöhnlich dicht, jeder schien aus der Stadt hinauszuwollen, um im Grünen das herrliche Frühlingswetter zu genießen. Am blauen Himmel war weit und breit keine einzige Wolke zu sehen und die Sonne spiegelte sich im Großteil der zahlreichen Fahrzeuge. Das Thermometer war bereits auf über 20 Grad geklettert und ungeachtet dessen, dass es erst Mai war, sollte es heute noch so warm wie im Sommer werden. Allerdings waren für den Abend Gewitter angekündigt worden, die Abkühlung bringen sollten.
„Du hast mir gestern gesagt, dass du mit der Vergangenheit abschließen willst und genau das werden wir jetzt machen", fuhr ich fort, bewusst das Wort wir verwendend, da ich genauso die letzten Jahre und vor allem den einen verhängnisvollen Abend hinter mir lassen wollte. „Und du weißt genauso gut wie ich, dass das der einzige und vor allem beste Weg ist, das zu tun. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm werden", fügte ich hinzu, obwohl ich nicht wirklich daran glaubte, riskierte es für ein paar Sekunden den Blick von der Straße zu wenden und Chris anzusehen. Dieser starrte stur gerade aus, aber ich wusste, dass er genau spürte, dass ich meine Augen nicht mehr auf den Verkehr gerichtet hatte.
„Nicht so schlimm? Ich bitte dich, Tony. Er wird mich nicht einmal erkennen, dass ist so sicher wie das Amen im Gebet. Ich gehe jede Wette ein, dass er mich für dich halten wird." Seine Stimme klang verbittert und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Ich wusste tief in mir drinnen, dass er recht hatte und dass es schlimm werden würde, aber dennoch blieb mein Fuß auf dem Gaspedal, um uns immer näher der Ausfahrt zu bringen. Da ich momentan nicht wusste, was ich entgegnen sollte, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße und überließ meinem Bruder seinen Gedanken. Wenn es nach ihm ginge, würde er jetzt in einem Liegestuhl in meinem Garten sitzen und einen selbstgemixten Cocktail schlürfen, während er darauf wartete, dass ich endlich den Grill anheizte. Die Pläne hatten sich jedoch kurzfristig geändert und ich hoffte für uns beide, dass der Besuch, den wir gleich machen würden, keine alten Wunden aufreißen würde, aber da mussten wir durch, mussten den Dämonen der Vergangenheit die Stirn bieten.
Ich seufzte leise und erhöhte die Geschwindigkeit, in dem Bestreben, so schnell wie möglich unser Ziel zu erreichen, um danach so schnell wie möglich wieder verschwinden zu können. Für ein paar Minuten war das einzige Geräusch das gleichmäßige Brummen des Motors und das leise Summen der Reifen. Mein Baby funktionierte einwandfrei und ich hatte noch am Donnerstag einen Rundumgang gemacht und jeden Zentimeter Lackes nach einem Kratzer abgesucht. Aber weder Chris noch McGee hatten den Mustang beschädigt und er glänzte wie eh und je.

Je näher wir der Ausfahrt kamen, desto unruhiger wurde Chris. Er rutschte auf seinem Sitz hin und her und zupfte mehr als einmal an seiner Hose oder an seinem Hemd. Seine Finger fuhren rastlos durch seine Haare oder klopften auf seinem Oberschenkel herum. Obwohl er mich damit genauso nervös machte, regte ich mich nicht auf und schwieg weiterhin. Ich wusste, was ich von Chris verlangte, als ich ihm gesagt hatte, wo wir hinfahren würden und ihn so lange bedrängt hatte, bis er nachgegeben hatte. Zwar hatte er eine undurchschaubare Miene aufgesetzt, aber ich spürte genau, dass er Angst hatte, Angst davor, erneut alles zu durchleben, die Worte immer wieder in seinem Kopf zu hören, erneut das Gefühl zu haben, ein lästiges Anhängsel zu sein. Dennoch war ich mir sicher, dass er dem Mann die Stirn bieten würde, der im Prinzip dafür verantwortlich war, dass mein Bruder die letzten 15 Jahre in L.A. verbracht hatte, um sich vor allem anfangs mit Gaunereien über Wasser zu halten.
Meinerseits hoffte ich, dass in mir nicht die altbekannte Wut auf meinen Vater an die Oberfläche kommen würde, vor allem jetzt, wo ich wusste, wie er wirklich über seine Söhne dachte. Dass er in all der Zeit seine Meinung geändert hatte, glaubte ich keine Sekunde lang und ich konnte nicht voraussagen, wie er auf unseren Besuch reagieren würde, vor allem, da er dachte, dass Chris tot sei. Aber er sollte erfahren, dass er auf dem Holzweg war und es seinem jüngsten Sprössling hervorragend ging. Ob er anschließend versuchte, die Kluft zu überbrücken oder den Schaden ein wenig zu kitten, würde sich zeigen, aber wenn er es wirklich machen würde, würde er sicher hart daran arbeiten müssen, denn weder ich noch mein Bruder würden ihm so ohne weiteres verzeihen.

„Meinst du, Ziva mag Blumen?" riss mich Chris aus meinen Grübeleien über unseren Vater und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich wie in Trance den Wagen gelenkt und nicht einmal wirklich mitbekommen hatte, dass ich bereits vom Highway abgefahren war und wir uns in einer ruhigeren Gegend befanden. Ich blinzelte ein paar Mal und blickte zu meinem Beifahrer.
„Was?" fragte ich, da ich mir nicht sicher war, ihn richtig verstanden zu haben. Er lächelte mich an und obwohl wir auf dem Weg zu Dad waren, fingen seine Augen auf einmal zu strahlen an. Seine gesamte Körperhaltung entspannte sich und er legte seinen Kopf schief, so als ob er sich über mein anscheinend nicht einwandfreies Gehör amüsieren würde. „Ziva", wiederholte er geduldig und sein Gesicht nahm einen träumerischen Ausdruck an. „Meinst du, sie mag Blumen oder bevorzugt sie ein neues Messer?" Ich richtete meinen Blick wieder auf die Straße und versuchte das Grinsen, das mich zu übermannen drohte, unter Kontrolle zu bringen. „Nun", begann ich langsam und schluckte das Lachen hinunter, da ich wusste, dass es nicht sonderlich gut ankommen würde, wenn ich über seine Frage spaßen würde, zumal er sie wirklich ernst zu meinen schien. „Das kommt darauf an, zu welchem Anlass du ihr die Sachen schenken willst. Was ist denn der Anlass?" wollte ich neugierig wissen, allzeit bereit, ihm jedes Detail aus der Nase zu ziehen, wenn er schweigen sollte.
„Wir gehen Dienstagabend aus", antwortete er nach ein paar Sekunden und ich widerstand nur knapp dem Drang, hart auf die Bremse zu steigen, um den Wagen am Straßenrand zum Stehen zu bringen, um Chris meine volle Aufmerksamkeit zu schenken. „Ihr habt ein Date?" Meine Stimme hatte einen ungläubigen Ton angenommen und ich versuchte, meinen Mund nicht nach unten klappen zu lassen. Ich hatte gewusst, dass zwischen den beiden etwas war und dass sie sich zueinander hingezogen fühlten, aber dass es so schnell gehen würde, damit hätte ich nicht gerechnet. „Wie hast du Ziva dazu bekommen, mit dir auszugehen?" „Ganz einfach, ich habe sie gefragt", erwiderte Chris trocken und lachte leise über meinen Gesichtsausdruck.
„Das ist doch prima", sagte ich ein paar Sekunden später, als ich mich wieder gefangen hatte und begann erneut zu grinsen. Mittwochmorgen würde der reinste Spaß werden, wenn Ziva das Büro betreten würde – und ich würde bereits auf sie warten. Einmal früher aufzustehen würde sich mehr als lohnen, denn wann bekam ich schon einmal die Gelegenheit, meine Kollegin nach einer Verabredung zu fragen?

„Also, was meinst du? Blumen oder Messer?" kam mein Bruder wieder auf das ursprüngliche Thema zu sprechen und riss mich aus meinen Träumereien, wie ich die Israelin aufzog. „Da es ein Date ist", begann ich und zügelte ein wenig die Geschwindigkeit, da wir uns jetzt viel zu schnell unserem Ziel näherten und ich diese Unterhaltung nicht unterbrechen wollte, außerdem war es eine gute Möglichkeit, Chris ein wenig abzulenken. „Würde ich Blumen vorschlagen. Es würde mehr als komisch aussehen, wenn du Ziva zu eurer ersten Verabredung ein Messer schenkst, obwohl sie sicher Verwendung dafür hätte. Aber ich denke, sie würde sich sicher über einen großen Strauß freuen, auch wenn sie nicht gerade wie der Blumentyp aussieht." Er nickte und dachte ein paar Sekunden darüber nach, während mein Blick über die vertraute Gegend schweifte. Seit ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich nichts verändert, alles war genauso üppig grün, wie ich es in Erinnerung hatte.
„Was hältst du von roten Rosen? Meinst du, sie wären ein wenig…?" Chris brach abrupt ab, als die uns nur allzu vertraute Auffahrt rechts von uns wie aus dem Nichts auftauchte. Sein gesamter Körper spannte sich innerhalb kürzester Zeit an und seine Miene verfinsterte sich, als ich abbog und das hohe, schwarze Schmiedeeisentor in unser Blickfeld kam.
Da Dad ein Gewohnheitstier war, wunderte es mich nicht, dass das Tor offenstand, so wie es jeden Sonntag der Fall gewesen war. An diesem Tag hatte er immer Besuch von Freunden erhalten und da er mit ihnen alleine sein wollte, war nur der Koch anwesend, ansonsten niemand, der sie hätte stören können. Es war nicht einmal 11 Uhr, von daher nahm ich an, dass er noch keine Gäste zu bewirten und nicht so viel von seinem Whiskey getrunken hatte.
Mein Bruder machte mittlerweile den Eindruck eines steifen Brettes mit steinerner Miene, während sich bei mir der Herzschlag um ein Vielfaches erhöht hatte. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, gab ich wieder Gas, brauste durch das Tor und die schnurgerade Allee entlang. Die Bäume hatten ein dichtes Blattwerk und warfen Schatten auf die saftig grünen Wiesen, die die Villa umgaben.
Die Straße stieg ein wenig an und nach ein paar Sekunden kam der Ort zum Vorschein, wo wir unsere Kindheit verbracht hatten. Das große Haus war ganz aus grauen Steinen aufgebaut worden und sah ein wenig wie ein Schloss aus. Vor den Fenstern im ersten und zweiten Stock blühten bunte Blumen und verliehen dem Anwesen eine freundliche Atmosphäre. Die Haustüre wurde von zwei weißen Marmorlöwenstauen flankiert und der bronzene Türklopfer in Form eines Löwenkopfes glänzte in der strahlenden Sonne. Überall waren Blumen gepflanzt worden und seit ich das letzte Mal hier gewesen war, war die Vegetation noch üppiger geworden. Sträucher waren zu den verschiedensten Figuren geschnitten worden und jede einzelne war ein reinstes Kunstwerk.
Ich stellte meinen Mustang auf dem gepflasterten Vorplatz ab, auf dem sonst kein einziger Wagen zu finden war. Wie vermutet, war es noch viel zu früh für die ersten Gäste und uns blieb etwa eine Stunde, bevor sie eintreffen würden – genug Zeit, um mit der Vergangenheit abzuschließen und wieder von hier zu verschwinden.

Ich zog den Zündschlüssel ab und steckte ihn in meine Hosentasche, bevor ich mich zu Chris umdrehte, der das Haus anstarrte, so als ob er ein Geisterschloss vor sich hätte. „Alles in Ordnung?" fragte ich und berührte ihn leicht an der Schulter. Er zuckte zusammen und blinzelte ein paar Mal. „Sicher", antwortete er ein wenig zögernd und setzte ein Lächeln auf, das seiner ernsten Stimme Lügen strafte. „Ich bin nur überrascht, dass sich hier nicht viel verändert hat, außer den vielen Blumen. Sieht fast so aus, als hätte Dad wieder geheiratet. Aber was soll's, bringen wir es hinter uns." Mit diesen Worten öffnete er entschlossen die Tür und stieg aus. Ich folgte seinem Beispiel und die warme Frühlingsluft nahm mich in Empfang. Von jeher hatte ich den Duft der Pflanzen, das Gezwitscher der Vögel und die Abgeschiedenheit geliebt, aber diesmal kam es mir ein wenig bedrohlich vor – vielleicht hatte es auch mit Chris' Aussage, dass unser Vater wieder geheiratet hätte, zu tun. Ich wusste nicht, ob es erneut eine Frau an seiner Seite gab und wenn ja, hatte er es versäumt, mir Bescheid zu sagen. Aber was kümmerte es mich schon? Ich war schon lange kein Teil mehr seines Lebens und wenn er nicht gerade eine Wandlung durchgemacht hätte, würde ich es auch weiterhin nicht sein.

Mein Bruder stand neben dem Mustang und blickte in den ersten Stock hinauf, fixierte mit zusammengekniffenen Augen das Fenster ganz rechts außen, hinter dem sein altes Zimmer lag und das für ihn 17 Jahre lang sein Zufluchtsort gewesen war. „Komm", sagte ich, legte ihm eine Hand auf den Rücken und brachte ihn mit sanfter Gewalt dazu, die Stufen zur Tür hinaufzusteigen. Sie war noch genauso wie ich sie in Erinnerung hatte, breit, weiß und mit kleinen bunten Fensterchen an den Seiten. Während Chris genau davor stehen blieb, stellte ich mich mit dem Rücken neben die Tür, genau in den blinden Winkel. Das war meine Idee gewesen und ich hatte sie zuvor mit ihm besprochen, was mich noch einmal 15 Minuten gekostet hatte, bis er damit einverstanden gewesen war. Obwohl ich innerlich wusste, was gleich passieren würde, hoffte ich doch, dass ich mich irrte. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, bildete sich auf meinen Armen eine Gänsehaut und mir wurde kalt, ungeachtet dessen, dass die Sonne warm vom Himmel schien.
Mein Bruder stand noch immer am selben Fleck und blickte mich unsicher an. „Na los", sprach ich ihm Mut zu. „Der Klingelknopf beißt nicht." „Ich finde es ein wenig seltsam, dass wir läuten müssen. Immerhin haben wir her gewohnt." „Aber wir können schlecht einfach hineinspazieren, oder? Außerdem ist die Tür sicher abgeschlossen, vor allem, wenn das Tor vorne offensteht. Und ich habe keinen Schlüssel mehr. Den hat er von mir zurückverlangt, kurz bevor er mich hinausgeworfen hat." „Also, dass hätte ich nur zu gerne gesehen", erwiderte Chris mit einem leichten Grinsten, wurde aber gleich darauf wieder ernst, atmete ein letztes Mal tief durch und drückte zögernd auf den Klingelknopf. Im Inneren des Hauses erklang ein melodischer Ton, der mich immer an ein Harfenspiel erinnerte.
Für ein paar Sekunden war nichts zu hören, bis leise Schritte erklangen, die wieder verstummten und ich wusste sofort, wer hinter der Tür stand und dass er durch den Spion, den man Dank des Türklopfers nicht sehen konnte, lugte. Mein Bruder ballte seine Hände zu Fäusten und zuckte zusammen, als das Geräusch eines Schlüssels, der umgedreht wurde, zu hören war. Ich stand weiterhin mit dem Rücken gegen die Wand, aber nichtsdestotrotz hatte ich den Eingang im Blickfeld und bekam genau mit, wie sich die Tür langsam öffnete und Dad zum Vorschein kam, dessen Gesicht noch nie so einen überraschten Ausdruck gehabt hatte. Er hatte sich in all den Jahren kein bisschen verändert, sah man von den vereinzelten grauen Strähnen in seinen braunen Haaren ab. Seine Erscheinung war tadellos und selbst an einem Sonntag trug er einen Anzug mit perfekt sitzender Krawatte – stets der Geschäftsmann. Dad war eine ältere Ausgabe von uns beiden, außer den Augen, die hatten wir von Mum.

Seine Miene verwandelte sich von überrascht in erfreut und er öffnete schließlich die Tür komplett, ließ sie aber nicht los. „Anthony", sagte er freudig und es war genau das falsche Wort. Chris' Miene verfinsterte sich von einer Sekunde auf die andere, seine gesamten Muskeln spannten sich an und er trat einen Schritt zurück, bevor er seinen Kopf drehte und mich anblickte. „Siehst du?" gab er mit bemerkenswert ruhiger Stimme, die nicht zu seiner Körperhaltung passte, von sich. „Ich habe dir ja gesagt, dass er mich für dich halten wird."
Die Hoffnung, dass Dad es endlich schaffte, uns auseinanderzuhalten, war dahin und ich wusste sofort, dass er sich kein bisschen geändert hatte. Ich stieß mich von der Wand ab, kam hinter der Löwenstatue hervor und trat neben meinem Bruder. Unser Vater starrte uns verwirrt an, sein Mund öffnete sich, aber er brachte kein Wort hervor. Sein Blick huschte im Sekundentakt zwischen uns hin und her und ich bemerkte genau, wie er seine Hand um die Tür krampfte, um daran Halt zu suchen.
„Hey, Dad", sagte ich und legte Chris eine Hand auf die Schulter, damit er sich nicht auf den Älteren stürzte – die fest zusammengebissenen Kiefer gefielen mir überhaupt nicht. Aber er blieb weiterhin ruhig stehen und seine Muskeln fühlten sich steinhart unter meinen Fingern an.
Noch ein letztes Mal sah unser Vater zwischen uns her, bevor seine Augen auf meinem Bruder zu ruhen kam, der dem Blick mühelos standhielt. „Christopher?" fragte er überrascht und mit heiserer Stimme. „Wow", meinte dieser in demselben kalten Ton, mit dem er mir vor Tagen seinen Plan, mir mein Leben wegnehmen zu wollen, erzählt hatte. „Ich bin beeindruckt. Ich hätte nicht gedacht, dass du noch meinen Namen weißt. Nicht, nachdem du es für nötig gehalten hast, mich für tot zu erklären."
Unser Gegenüber erstarrte und er trat einen winzigen Schritt in die Vorhalle zurück. Seine grauen Augen hatten sich in eisige Murmeln verwandelt und nichts war mehr von der Freude übriggeblieben.
„Ruhig", flüsterte ich meinen Bruder zu, der schon wieder seine Hände zu Fäusten geballt hatte und der sichtlich Mühe hatte, nicht einfach loszubrüllen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass er damit zu kämpfen hatte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Nach 15 Jahren stand er dem Mann gegenüber, für den er nur Ballast gewesen war und der ihn im Endeffekt aus seinem zu Hause vertrieben hatte. Die Gefühle, die in seinem Inneren toben musste, konnte ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen. Aber dennoch musste er da durch, wollte er wirklich mit allem abschließen.

„Können wir kurz reinkommen?" brachte ich Dads Aufmerksamkeit auf mich zurück und Chris entspannte sich ein wenig, als er aus dem kalten Blick entlassen wurde. „Es wird nicht lange dauern." Obwohl ich eher damit gerechnet hatte, dass er uns die Tür nach der Aussage meines Bruders vor der Nase zuschlagen würde, nickte er schließlich nach ein paar Sekunden und trat zurück. Anscheinend war er doch nicht kaltherzig genug, um seine eigenen Söhne ein kurzes Gespräch zu verwehren, egal was zwischen uns vorgefallen war.
Bevor ich Chris einen Schubs geben konnte, setzte er sich bereits in Bewegung und meine Hand rutschte von seiner Schulter. Ohne dem älteren Mann einen Blick zuzuwerfen, betrat er die Eingangshalle und ich folgte ihm. Nach der warmen Luft war es hier herinnen angenehm kühl und ein wenig dämmrig. Es war ein komisches Gefühl, nach so langer Zeit wieder das Haus zu betreten, in dem wir aufgewachsen waren. Es hatte sich nichts geändert, der Marmorboden war noch immer sauber poliert, die Teppiche wiesen keinen Fleck auf und es waren keine neuen Gemälde an den Wänden dazugekommen. Die lange gewundene Treppe, die in die erste Etage führte, hatte ein neues Geländer bekommen, aber sonst war alles gleich geblieben – sogar der Geruch.
Hinter uns fiel die Tür ins Schloss, wurde aber nicht wieder abgesperrt und ohne ein Wort zu sagen, ging Dad an uns vorbei, den Gang hinunter und ins Wohnzimmer, dessen Einrichtung sich ebenfalls nicht verändert hatte. Die Terrassentür stand weit offen und ließ die milde Frühlingsluft ein. Vor uns erstreckte sich der ausgedehnte Garten und das Wasser des Pools glitzerte im hellen Sonnenlicht. Die Rosenbüsche, die Mum gepflanzt hatten, gab es weiterhin und verströmten einen betörenden Duft.
Chris ließ sich ohne Aufforderung auf das schwarze Ledersofa fallen und ich setzte mich neben ihm, während Dad zu der kleinen Bar ging und sich ein Glas Whiskey einschenkte – etwas, wovon ich keineswegs überrascht war. Die feinen Äderchen auf seinem Gesicht und die leicht rote Nase wiesen darauf hin, dass er in letzter Zeit dem Alkohol reichlich zugesprochen hatte.
„Wollt ihr auch etwas?" fragte er, sich auf seine guten Manieren besinnend, aber wir schüttelten den Kopf – ich musste noch Autofahren und Chris mochte keinen Whiskey. Allerdings hätten wir etwas anderes verlangen können, aber wir hatten nicht vor, so lange zu bleiben, um es uns gemütlich zu machen.

„Ich muss schon sagen, ich bin mehr als überrascht", sagte er und setzte sich auf einen ausladenden Sessel uns gegenüber. „Und dabei überrascht mich so schnell nichts mehr. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehen würde, Chris." Dieser zuckte die Schultern und versuchte seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, was ihm aber nicht ganz gelang. „Das kann ich mir lebhaft vorstellen", erwiderte er und sah zu, wie Dad einen Schluck seines Lieblingsgetränkes zu sich nahm. „Du scheinst in mich ja nicht wirklich viel Vertrauen zu haben, wenn du mich nach nur einem Jahr für tot erklären hast lassen. Aber mir geht es prima und ich bin quicklebendig. Du kannst also aufhören, mich anzustarren, als ob du ein Gespenst vor dir hättest." Er lehnte sich zurück und schlug lässig die Beine übereinander, vermittelte damit einen entspannten Eindruck, aber innerlich brodelte er, das spürte ich sofort.
Unser Vater umklammerte sein Glas so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten und ich wusste, dass es nicht klug war, dass mein Bruder so mit ihm redete, aber ich konnte es ihm nicht verübeln, zu oft war er von diesem Mann verletzt worden.
„Was erwartest du von mir?" fragte dieser, stellte das Glas übertrieben heftig auf dem Glastisch ab und funkelte seinen jüngsten Sohn wütend an. „Du warst doch derjenige, der einfach ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verschwunden ist, du hast nicht einmal den Schneid besessen, anzurufen und uns wissen zu lassen, ob es dir gut geht. Und du wunderst dich, dass ich angenommen habe, du wärst tot?! Und nach 15 Jahren tauchst du plötzlich auf und glaubst, du kannst in diesem Ton mit mir reden?!" „Wundert es dich?! Du schaffst es doch nicht einmal, Tony und mich auseinanderzuhalten und dabei sind wir deine Söhne! Aber dieses Wort bedeutet dir ja anscheinend nicht viel!"
„Chris", sagte ich warnend, aber er schüttelte nur den Kopf – er begann, seiner Wut freien Lauf zu lassen. „Ich hatte wirklich für einen winzigen Moment gedacht, du hättest dich geändert! Als du die Tür aufgemacht hast, hatte ich wirklich geglaubt, du würdest mich erkennen und nicht Tony! Aber in all den Jahren ist er noch immer dein Liebling, während ich weiterhin Ballast bin! Nicht einmal eine Umarmung hast du für mich bereit! Nicht ein Lächeln, obwohl du gedacht hast, ich wäre tot! Würde ich dir etwas bedeuten, würdest du dich freuen, mich zu sehen! Ich habe ja gesagt, das es ein Fehler ist, hierher zu kommen", meinte er leise an mich gewandt und ich legte ihm beruhigend die Hand auf den Oberschenkel.
„Du lässt es zu, dass er so mit mir redet?" fragte Dad mich, nahm seinen Whiskey und leerte ihn in einem Zug aus. „War es also deine Idee, ihn her zu bringen, damit er mir all diese Sachen an den Kopf werfen kann?" „Was hast du denn gedacht, dass ich etwa hier bin, um dir mitzuteilen, dass ich doch in dein Unternehmen einsteigen will?" entgegnete ich ruhig und ich wusste sofort, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Er zuckte schuldbewusst zusammen und starrte in das leere Glas.
„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass mich Wirtschaft nicht die Bohne interessiert." „Und du meinst, dein jetziger Job ist besser? Als Polizist auf den Straßen…" „Bundesagent", unterbrach ich ihn und jetzt war es an mir, meine Wut unter Kontrolle halten zu müssen. „Ich bin seit Jahren kein Polizist mehr, sondern Bundesagent! Ich dachte, ich sei dein Liebling?! Aber anscheinend doch nicht, sonst hättest du dich am Laufenden gehalten, was dein Sohn so alles macht! Und soll ich dir was sagen?! Ich liebe meinen Job, auch wenn ich dabei mein Leben öfters aufs Spiel setze!" Hatte ich vor Minuten noch vorgehabt, ein normales Gespräch führen zu wollen, so war das mittlerweile unmöglich. Die Tatsache, dass er Chris wirklich nicht umarmt oder sonst irgendwie gezeigt hatte, dass er sich freute, dass er noch am Leben war, war einfach zu viel.

„Bevor ich es vergesse", fügte ich ruhiger hinzu und beugte mich nach vorne. „Hast du gewusst, dass ich vor knapp eineinhalb Jahren fast gestorben wäre?" Die Frage saß, das sah ich sofort. War Dad vor Sekunden noch wütend gewesen, dass wir hier auftauchten und ihm praktisch auf die Nase banden, dass er ein Mistkerl war, so verschwand alle Farbe aus seinem Gesicht und er starrte mich entgeistert an. „Wie bitte?" „Du hast mich schon richtig verstanden. Ich hatte das Pech, einen mit Lungenpestbakterien verseuchten Brief zu öffnen. Als ich mich im Krankenhaus erholt habe, habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass du mich besuchen kommst oder wenigstens eine Genesungskarte schickst, aber nichts ist gekommen. Meine Freunde und Kollegen haben sich praktisch die Türklinke meines Zimmers in die Hand gegeben, aber du bist nicht aufgetaucht."
Er sah mich schuldbewusst an und zum ersten Mal war deutlich zu erkennen, dass er bereits fast 60 Jahre alt war. Seine Schultern hingen nach unten und auf einmal zeichneten sich tiefe Falten in seinem Gesicht ab. „Ich habe nicht gewusst, dass…" „Dass ich eine mittelalterliche Krankheit gehabt habe, die mich beinahe umgebracht hat? Nun, es wundert mich nicht wirklich, dass du das nicht gewusst hast. Du interessierst dich doch nur für dein Geld. Und da wir gerade beim Thema Geld sind, deswegen sind wir auch hier."
Chris verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, stand auf, holte einen etwas zerknitterten Umschlag aus seiner Hosentasche und warf ihn auf den Tisch, genau vor Vaters Nase. Jetzt würde es sich entscheiden, was ihm wirklich wichtiger war: seine eigenen Kinder oder erneut sein geliebtes Geld. Zögernd nahm er den Umschlag in die Hand und blickte anschließend uns an. „Was ist das?" wollte er wissen. „Das sind die 4 000 Dollar, die ich dir vor 15 Jahren gestohlen habe, kurz bevor ich von hier verschwunden bin", erwiderte Chris ruhig und eine gewisse Befriedigung hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet. „Du kannst ruhig nachzählen, es fehlt nichts. Und keine Sorge, ich muss deswegen jetzt nicht am Hungertuch nagen. Ich bin nicht mittellos."
Ich stand ebenfalls auf und stellte mich neben meinen Bruder, während unser Gegenüber beinahe liebevoll den Umschlag in den Händen hielt. „Es sind nur Peanuts, im Gegensatz zu dem, was du pro Monat verdienst", meinte ich und sah ihn durchdringend an. „Und es war Chris' Idee, dir das Geld zurückzugeben, um damit die Schulden zu begleichen. Aber wenn du klug genug bist, nimmst du es nicht an und zeigst ihm und auch mir damit, dass du nicht mehr sauer bist, dass er dich bestohlen hat und er dir doch etwas bedeutet. Es ist deine Entscheidung, Dad." Ich stellte ihn beinhart vor die Wahl: wir oder das Geld.

Er blickte uns stumm an, die Schultern noch immer nach unten gesackt, der Umschlag zitterte leicht in seiner Hand. Schweiß war auf seine Stirn getreten und in diesem Moment sah er bedauernswert aus, aber ich ließ mich nicht täuschen, starrte ihn stur an, nicht bereit, nachzugeben. Nach endlos erscheinenden Sekunden, in denen nur die Geräusche der Natur zu hören waren – und mein eigener Herzschlag laut in meinen Ohren dröhnte – riss er seinen Blick von uns los und sah auf den Umschlag, umfasste ihn sogar noch fester – eine mehr als eindeutige Reaktion.
Ich schüttelte den Kopf und ich war nicht einmal wütend auf ihn, sondern empfand nur noch Mitleid. „Lass uns gehen, Chris", sagte ich leise und berührte ihn leicht an der Schulter. Aus seinen grünen Augen war die Wut verschwunden, sein Körper war entspannt und auf seinen Lippen lag ein kleines Lächeln, das überhaupt nicht zu der Situation passte. Ich erkannte sofort, dass er die Tür zur Vergangenheit endgültig geschlossen hatte, dass es ihm nichts ausmachte, wie Dad sich entschieden hatte, hatten wir beide insgeheim bereits damit gerechnet.
„Ja, lass uns gehen. Wir haben hier nichts mehr zu suchen. Nur damit du es weißt, ich werde bald offiziell wieder leben und den Namen DiNozzo führen. Und viel Spaß mit deinem Geld", fügte er kalt hinzu und atmete gleich darauf erleichtert aus. Unser Vater riss seinen Blick von dem Umschlag los, sah uns an, machte aber keine Anstalten, etwas zu sagen oder einzulenken. Ich schüttelte den Kopf und verließ ohne ein weiteres Wort zu sagen das Wohnzimmer, gefolgt von meinem Bruder, dessen Schritte sich beschwingt anhörten.
In der Vorhalle blieb er noch kurz stehen und blickte die Treppe nach oben, blickte dorthin, wo wir 17 Jahre lang unser Leben verbracht, gelacht aber auch gelitten hatten. „Sollen wir noch hinaufgehen?" frage ich leise, obwohl ich nicht das Bedürfnis verspürte, auch nur einen Fuß auf die Stufen zu setzen. „Nein", antwortete er und lächelte erleichtert. „Nein, ich will nicht mehr hinaufgehen. Wer weiß, was aus meinem Zimmer geworden ist und ich will es so in Erinnerung behalten, wie es gewesen ist, bevor ich von hier verschwunden bin. Lass uns einfach von hier verschwinden, okay?" Ich nickte und gemeinsam gingen wir zur Tür, öffneten sie und traten wieder hinaus in die warme Frühlingsluft.
„Es war doch keine so schlechte Idee, hierher zu kommen", sagte Chris, sah noch einmal in die Eingangshalle, so als ob er erwarten würde, dass uns Dad doch nachlaufen würde, aber er ließ sich nicht blicken. Entschlossen warf er die Tür ins Schloss und sein Lächeln wurde breiter.
„Ich habe immer gute Ideen", erwiderte ich gut gelaunt und stieg die Treppe hinunter, um zu meinem Wagen zu gehen. „Na klar, aber nur in deinen Träumen!" rief er mir hinterher, sprang leichtfüßig die Stufen hinab, so wie er es als Kind immer getan hatte. „Als ich ihn gesehen habe, war ich anfangs wirklich wütend, aber ich habe eingesehen, dass es nichts bringt. Ich bin froh, dass wir diesen Schritt gemeinsam gemacht haben. Jetzt weiß ich mit Bestimmtheit, dass er mir nicht mehr wehtun kann. Dad ist Vergangenheit." Chris ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, während ich hinter dem Steuer Platz nahm.
„Für mich ist er schon Vergangenheit, als ich erkannt habe, dass er sich mehr darüber aufgeregt hat, dass du sein Geld gestohlen hast, als darüber, dass du abgehauen bist. Er wird uns beiden nie wieder wehtun können." Ich startete den Motor, ließ ihn kurz aufheulen, bevor ich aufs Gaspedal trat und mit quietschenden Reifen losfuhr. Ich blickte in den Rückspiegel, wo die Villa immer kleiner wurde, ließ damit das zu Hause meiner Kindheit und meinen Vater hinter mir zurück. Es war wirklich die richtige Entscheidung gewesen, hierher zu kommen, um endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen, alles hinter uns zu lassen und um unbeschwert in die Zukunft sehen zu können – eine Zukunft, die ich mit meinem Bruder verbringen würde und ich wusste mit Bestimmtheit, dass uns nichts mehr auseinanderbringen würde.

Wie hatte es Zack Brewer, unser gemeinsamer Freund aus der Highschool, bei einer feuchtfröhlichen Party, nachdem er sich stockbetrunken auf einen Tisch gestellt hatte, einmal ausgedrückt?
„Anthony und Christopher DiNozzo: egal was die Zukunft für euch beide bereithalten wird, es gibt nichts, womit ihr nicht fertig werden würdet, zusammen seid ihr ein unschlagbares Team." – und er sollte Recht behalten.

Ende!!!
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