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Story Notes:
Diese Story ist aus der Sicht von Tony geschrieben, wobei natürlich die anderen Charas nicht zu kurz kommen. Der kursive Text sind Rückblenden! Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Author's Chapter Notes:
Habt ihr schon einmal das Bedürfnis verspürt, das Leben einer anderen Person führen zu wollen?
Dies ist jedenfalls der größte Wunsch des Mannes mit dem Namen Christopher und um sich diesen Wunsch zu erfüllen, würde er alles tun. Er entführt einen Mann, sperrt ihn in einen Raum ein und übernimmt sein Leben. Sein Plan scheint reibungslos zu funktionieren, jedenfalls am Anfang...
Washington D.C.
Montag, 11. Mai
18:23 Uhr


Die Sonne wanderte bereits Richtung Horizont und ihre schwächer werdenden Strahlen verwandelten das anfängliche Blau des Himmels in ein blutrot, auf dem die Vögel wie schwarze Kleckse wirkten. Ein wunderschöner lauer Frühlingstag ging somit langsam zu Ende und der dichte Abendverkehr wurde noch um einen Tick stärker, da viele Berufstätige sich auf den Weg nach Hause machten, um die restlichen Stunden mit ihren Familien zu verbringen – oder mit Freunden. Auf den Straßen herrschte das übliche Chaos und in der Ferne konnte man die Sirene eines Krankenwagens ausmachen, dicht gefolgt von dem Signalton der Polizei. Noch wusste man nicht, was geschehen war – vielleicht ein Unfall oder ein Verbrechen – aber die Medien waren wie die Geier und würden sich auch noch auf die kleinste Story stürzen, um die Auflagen der Zeitungen zu steigern.
Die lauten Geräusche der Autos, die Abgase und selbst die Stimmen der Passanten interessierten den Mann mit dem Namen Christopher – von seinen wenigen Freunden einfach Chris genannt – nicht im Geringsten. Seit Jahren war er nicht mehr in Washington gewesen und es hatte ihn immense Überwindung gekostet, einen Fuß auf den Boden der Stadt zu setzen. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, die er hier verbracht hatte. Aber er hatte es geschafft, seine inneren Dämonen besiegt und jetzt saß er in seinem funkelnagelneuen Wagen, das Fenster der Fahrerseite war geöffnet, um die Luft einzulassen und beinahe lässig trank er an seiner Cola. Aus dem Radio erklang leise sanfte Musik, die eine beruhigende Wirkung auf ihn haben sollte, aber heute war er zu aufgeregt, um seinen Puls in normale Bereiche zu befördern. Heute war der Tag, an dem sich sein Leben für immer verändern sollte, ein Leben, das er bisher gehasst hatte. Es war seine Entscheidung gewesen, sich vor Jahren von seiner Familie loszusagen, eine Familie, die ihm eigentlich Liebe und Halt hätte geben sollen, ihm aber meistens nur die kalte Schulter gezeigt hatte. Dabei hatte Chris alles versucht, um anerkannt zu werden, hatte gute Noten in der Schule gehabt, war ein Sportass gewesen und hatte sogar einmal bei einem Wettbewerb in Physik teilgenommen und gewonnen, aber niemand hatte sich wirklich darum gekümmert. Selbst als er seine erste Freundin mit nach Hause genommen hatte, waren seine Eltern nicht wirklich bei der Sache gewesen. Und dann – drei Jahre später - hatte ihn sogar seine neueste Flamme betrogen. Damals war er erst 17 Jahre alt gewesen und dennoch hatte er das Gefühl gehabt, die Frau fürs Leben gefunden zu haben. Aber dieser Vertrauensmissbrauch hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und Chris war noch in derselben Nacht – ohne eine Nachricht zu hinterlassen - abgehauen, mit einem Rucksack voll Klamotten und der dicken Geldtasche seines Vaters, der natürlich am nächsten Tag sofort die Kreditkarten hatte sperren lassen – genauso wie sein Konto. Er hatte den ersten Zug genommen, den er erwischt hatte und der ihn schließlich aus der Stadt herausgebracht hatte. Kein einziges Mal hatte er bei sich zu Hause angerufen, um Bescheid zu geben, dass es ihm gut ging. Sollten sie doch glauben, was sie wollten. Zwei Tage später auf seiner Fahrt nach Los Angeles hatte er dann in der Zeitung gelesen, dass man ihn als vermisst gemeldet hatte, was ihn etwas gewundert hatte. Immerhin hatte er beinahe geglaubt, er würde niemandem fehlen. Dennoch hatte er seine Entscheidung nicht rückgängig gemacht und schlug sich von nun an mehr schlecht als recht durchs Leben.
Die ersten Jahre waren die Härtesten gewesen, aber dann hatte Chris durch Betrügereien und einigen kriminellen Aktivitäten eine Stange Geld verdient und sich ein größeres und vor allem luxuriöseres Apartment mit Blick auf das Meer leisten können. Die Frauen waren ihm scharenweise zu Füßen gelegen und er hatte sich einen gewissen Ruf in der Unterwelt erarbeitet – allerdings unter falschem Namen. Das war das Erste, was er in seiner neugewonnenen Freiheit gemacht hatte – seinen Nachnamen geändert, denn er wollte das Risiko so weit wie möglich minimieren, aufgespürt zu werden. Aber Chris war dennoch nicht glücklich gewesen, trotz der vielen Kohle und Affären. Nein, er hätte sich viel lieber ein Leben mit der Liebe seiner Eltern gewünscht, aber dies war ihm verwehrt geblieben und so hatte er sich die Anerkennung von Frauen und Kleinkriminellen, die zu ihm empor geblickt hatten, geholt. Jedoch war das ein leidiger Ersatz gewesen.
Damals und auch noch heute gab er nicht nur seinen Erzeugern die Schuld daran, dass er nicht geliebt worden war, sondern einem Jungen oder besser gesagt, mittlerweile einem Mann. Einen Mann, an den er jeden Tag gedacht hatte, ob er wollte oder nicht. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass er sein Gesicht ständig vor sich sah, seinen Körper und besonders die Augen. Sogar den Klang seiner Stimme konnte er nicht vergessen, genauso wenig wie sein Lachen. Oh ja, er gab diesem Mann die Schuld, dass sein Leben derart verlaufen war. Aber nun war die Zeit der Abrechnung gekommen und darauf freute er sich schon seit Monaten.

Ein lautes Hupen in der Nähe riss Chris aus seinen Gedanken über seine mehr als deprimierende Vergangenheit. Während den letzten Minuten, die er geistig ein wenig abwesend gewesen war, war die Sonne ein weiteres Stückchen untergegangen und das blutige Rot wurde noch dunkler, um nur darauf zu warten, bis es sich in dunkles Blau verwandeln konnte. Die sanfte Musik aus dem Radio war einem Rocksong gewichen, der seiner Stimmung eher entsprach. Er nahm einen weiteren großen Schluck aus der Colaflasche, schraubte sie zu und legte sie auf den Beifahrersitz. Gleich darauf blickte er zu dem großen Gebäude, welches er seit einer Stunde im Auge behielt, vor allem jedoch die Ausfahrt der Tiefgarage, um ja nicht den Wagen zu übersehen, auf den er wartete. Es wäre doch zu schade, wenn er den richtigen Zeitpunkt verpassen würde, obwohl ihm sein „Opfer" nicht entkommen konnte, dafür hatte er heute Nachmittag gesorgt, während dieser bei der Arbeit gewesen war. Eine Arbeit, die er nun in Zukunft erledigen würde. Besonders darauf hatte er sich gut vorbereitet, aber selbst Bücher hatten ihm nicht alles Wissen verliehen, welches er haben musste. Dennoch hoffte er, den Job gut erledigen zu können, aber er war immerhin lernfähig. Chris prägte sich Gelesenes sehr schnell ein und lernte aus Fehlern. Nur durfte er sich diesmal keine Fehler leisten, sonst würde sein Plan sofort auffliegen und alles wäre umsonst gewesen: das kleine abgelegene Haus, welches er sich extra gekauft hatte, die Einrichtung des Raumes im Keller, die er selbst zusammengebaut hatte und er hatte sich sogar ein gewisses Macho Image zugelegt, um seiner neuen Rolle gerecht zu werden. Das Geld, welches er dafür gebraucht hatte, um seinen Plan umzusetzen, hatte er größtenteils durch Schmugglereien und massenhaft Glück in Casinos zusammengebracht und ihm war sogar noch etwas übrig geblieben, das er jedoch mit größter Sorgsamkeit einsetzen würde. Die Jahre, die er in L.A. gelebt hatte, war er viel zu verschwenderisch gewesen, aber damit war nun Schluss. Immerhin begann ja jetzt sein neues Leben.
Ein Strahl der untergehenden Sonne traf auf eine Windschutzscheibe und wurde leicht reflektiert, aber dies genügte, um Chris' Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ein Grinsen bildete sich auf seinen Lippen, als er das Fahrzeug, das gerade die Tiefgarage verließ, und dessen Insassen erkannte. Für einen kurzen Moment erblickte er sein Gesicht, ein Gesicht, das ihn verfolgte, ohne dass er es verhindern konnte. Wut und maßloser Zorn breitete sich in seinem Inneren aus und er hatte plötzlich das Gefühl, das Lächeln würde auf seinen Zügen gefrieren. Chris ballte seine Hände zu Fäusten, entspannte sich aber gleich darauf wieder. Jetzt war nicht der richtige Moment, um seinem Ärger freien Lauf zu lassen, das konnte er später immer noch.
„Wird auch langsam Zeit, dass du auftauchst", murmelte er boshaft, startete seinen Wagen und folgte dem anderen in sicherem Abstand. Der Verkehr war ziemlich dicht – eine endlos lange Blechschlange, die sich langsam vorwärts bewegte - und es bestand die Gefahr, dass Chris sein Ziel aus den Augen verlor, was jedoch kein Problem darstellen sollte. Er wusste, wohin der Mann unterwegs war - zu dem Haus, das bald seines sein würde, genauso wie der Name und das Leben, das er sich so sehr gewünscht hatte. Und endlich würde sein Wunsch in Erfüllung gehen. Die Wut verflog so schnell wie sie gekommen war und machte Aufregung Platz. Fröhlich pfiff er den Song aus dem Radio mit, während ihm der Fahrtwind durch die braunen Haare fuhr und sie leicht zerzauste.
Den Blick abwechselnd auf die Straße und auf das Auto, das durch zwei weitere Wagen von ihm getrennt war, gerichtet, folgte er Anthony DiNozzo – seinem Zwillingsbruder.

Gerade als die Sonne komplett hinter dem Horizont verschwand, stellte ich meinen Wagen in der Einfahrt zu meinem Haus ab und blieb noch einen kurzen Moment sitzen, um mir die Nachrichten fertig anzuhören. Dabei ließ ich meinen Blick über die Straße schweifen, die ruhig hinter und vor mir lag. Die Laternen warfen schwaches Licht auf den Asphalt und erhellten die gepflegten Vorgärten, sowie die Fassaden der Gebäude. Um diese Uhrzeit war es hier immer etwas idyllischer, als untertags. Die Bewohner saßen meist beim Essen oder vor dem Fernseher, während ihre Kinder, die nach der Schule lieber im Garten gespielt hatten, von ihren Müttern wachsam im Auge behalten, die Hausaufgaben erledigten. Das Bedürfnis, sich nach zahlreichen Unterrichtseinheiten auszutoben, kannte ich nur zu gut. Ich war selbst in meiner Kindheit nachmittags mit Freunden unterwegs gewesen, anstatt mich an den Schreibtisch zu setzen und zu büffeln – was zu manchen Konflikten mit meinen Eltern geführt hatte. Einst war das Leben noch viel einfacher gewesen, jedenfalls bis…
Unwillkürlich ballte ich meine Hände zu Fäusten, als die schmerzhafte Erinnerung von damals an die Oberfläche kam – eine Erinnerung, die ich gekonnt verdrängt hatte, die mich aber hin und wieder zu quälen anfing, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Aber heute würde ich mir meinen Feierabend deswegen nicht vermiesen lassen, zumal das Wochenende ins Wasser gefallen war, da Gibbs darauf bestanden hatte, dass wir selbst am Sonntag nach dem verschwundenen Sohn eines Marines suchen sollten, der, wie sich herausgestellt hatte, seinen Eltern nur einen Schreck einjagen wollte. Dieser dumme Jungenstreich hatte mich um das Date mit einer heißen Brünetten gebracht und um ein freies Wochenende, auf das ich mich so sehr gefreut hatte. Das Leben eines Bundesagenten war manchmal ganz schön hart, aber trotzdem würde ich es um keinen Preis hergeben wollen.
Leise seufzend nahm ich meinen Rucksack vom Beifahrersitz, stieg aus und sperrte meinen Wagen ab. Die Luft war noch angenehm warm, obwohl die Sonne bereits verschwunden war und die ersten Sterne am Himmel aufblitzten. Das perfekte Wetter, um den Tag mit einem kühlen Bier auf der Terrasse ausklingen zu lassen – und mit einer guten Folge Magnum.
Bevor ich zur Haustür ging, machte ich einen kurzen Umweg über den Postkasten, holte mir die Briefe und zu meinem Leidwesen auch Rechnungen. In dem blassen Schein der Laterne neben meiner Einfahrt las ich mir die jeweiligen Absender durch und als ich mich bereits umdrehen wollte, um hineinzugehen, stellten sich mir von einer Sekunde auf die andere die Nackenhaare auf und ein kalter Schauer jagte mir über meinen Rücken. Auf einmal kam mir die Luft ziemlich kühl vor. Ich hob meinen Kopf und das Gefühl, beobachtet zu werden, ergriff Besitz von mir. Langsam drehte ich mich im Kreis, konnte jedoch niemanden erkennen. Kein Auto bog in die Straße und sonst war auch kein Fußgänger unterwegs. Nicht einmal mein schrulliger Nachbar Joe, der fast den gesamten Tag auf seiner Veranda saß und Rätsel löste. Die einzigen Geräusche kamen von den Vögeln, die ein letztes Konzert gaben, bevor sie sich in ihre Nester zurückzogen. „Du siehst schon Gespenster, DiNozzo", murmelte ich leise und obwohl ich wusste, dass es lächerlich war, blickte ich mich noch einmal sorgfältig um, bevor ich die Haustür aufschloss und die Post auf einen kleinen Tisch warf. Das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb jedoch aufrecht, ich gab aber schließlich dem versäumten Schlaf der letzten Tage die Schuld daran, dass ich derart sensibel reagierte.
Ich schloss die Tür und da ich mich jetzt in meinen eigenen vier Wänden befand, fühlte ich mich gleich viel sicherer. Kurz darauf machte ich Licht, legte die Schlüssel neben die Post, ließ den Rucksack achtlos neben der Treppe, die rechts in den ersten Stock führte, auf den Boden fallen und ging durch den bogenartigen Durchgang ins Wohnzimmer – meinen Lieblingsraum, da sich hier der Fernseher befand. Die Wände waren in einem warmen Gelbton gestrichen und die gesamte Einrichtung war farblich damit abgestimmt – das helle Sofa mit den dazugehörigen beiden gemütlichen Sesseln, der rechteckige Glastisch, der Teppich, der den Parkettboden vor Kratzern schützte und selbst die Bilder, die ich aufgehängt hatte. Auf dem Kamin standen gerahmte Fotos von meiner Familie, gemeinsam mit einem von Kate, die ich jeden Tag aufs Neue vermisste. Obwohl ich mich mit Ziva hervorragend verstand und es mir Spaß machte, mich mit ihr zu streiten, war es dennoch anders als mit meiner Kollegin, die noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt hätte. Manchmal kam es mir vor, als ob es erst gestern gewesen wäre, als sie von Ari erschossen worden war und mein Gesicht voll von ihrem warmen Blut bedeckt gewesen war.
Langsam ging ich auf den Kamin zu und kniff meine Augen zusammen, als mir etwas auffiel. ‚Komisch', dachte ich und betrachtete das Bild meiner Eltern. ‚Hat das heute Morgen nicht weiter links gestanden?' Ich legte meinen Kopf schief und entschied aber nach ein paar Sekunden, dass ich mich getäuscht hatte. „Anthony, du bist wohl reif für die Insel", sagte ich zu mir selbst, wandte mich ab und ging durch eine Tür, die in die Küche führte und sich rechts neben meinem gut gefüllten Bücherregal befand. Genauso wie im Wohnzimmer war die Einrichtung hier aufeinander abgestimmt. Die Einrichtung war hell und modern und schimmerte in dem weichen Licht der Deckenlampe. Es gab einen separaten Essbereich, der mit einem Tresen vom Kochbereich abgetrennt wurde und vor dem drei Hocker standen. Auf dem Tisch unter dem großen Fenster lag noch die Morgenzeitung, die ich mir heute nicht mehr ansehen hatte können, da ich wieder einmal zu spät aufgestanden war. In der Spüle befand sich das benützte Geschirr vom Frühstück, aber da ich momentan keine Lust hatte, abzuwaschen oder die Spülmaschine einzuräumen, beachtete ich es nicht weiter, sondern nahm mir ein Glas aus einem der Schränke und öffnete den Kühlschrank. „Na super", sagte ich und betrachtete die beinahe gähnende Leere. Ich hatte komplett vergessen, dass ich einkaufen hätte sollen und so hatte ich nicht einmal mehr ein Bier, das ich zu Magnum trinken konnte, also blieb mir nur noch der Orangensaft, den ich heute Morgen geöffnet hatte. Während ich mir ein Glas voll einschenkte, ging ich im Gedächtnis bereits die Nummern der Pizzalieferanten durch, da ich auch nichts Essbares im Haus hatte. Ich trank einen Schluck des Getränkes und starrte kurz darauf stirnrunzelnd die Flüssigkeit an – irgendwie schmeckte sie bitter, was in der Früh sicher nicht der Fall gewesen war, jedenfalls so weit ich mich erinnerte. Das Ablaufdatum auf der Packung war auch erst in zwei Monaten, wie ich nach einem kurzen Blick feststellte. Vorsichtig probierte ich noch einen Schluck, aber der bittere Nachgeschmack blieb. Anscheinend hatte sich sogar der Orangensaft dazu entschlossen, sich gegen mich zu verschwören.
Ich ging zur Spüle, um das Glas auszuleeren, als mich auf einmal ein heftiger Schwindelanfall überkam. Die Küche verschwamm vor meinen Augen, und ich musste mich an der Anrichte abstützen, um nicht hinzufallen. Dabei rutschte mir das Glas aus den Fingern, zerschellte auf den Fliesen und die Flüssigkeit verbreitete sich am Boden. „Was…?" begann ich, hielt aber inne, da sich die Welt für eine Sekunde verdunkelte, bevor sie sich wieder manifestierte. In meinem Kopf fing es zu brummen an, so als ob sich ein Schwarm Wespen eingenistet hätte. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und ich fühlte mich, als ob ich auf einmal eine Grippe hätte. Ich wollte einen Schritt nach vorne machen, aber ich kam nicht einmal so weit. Meine Knie gaben unter mir nach und ich knickte ein. Hätte ich mich nicht noch immer festgehalten, wäre ich auf den Boden geknallt. Ich versuchte mich aufzurichten, aber ich hatte plötzlich keine Kraft mehr in meinen Füßen. Erneut fing sich die Küche um mich zu drehen an und nicht einmal tiefes Luftholen half dagegen. ‚Was geht hier nur vor sich?' fragte ich mich und suchte eine logische Erklärung, aber mein Verstand schien auf einmal Urlaub zu machen – jedenfalls war ich zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig.
„Musstest du so eine Schweinerei in meiner Küche anstellen?" Eine Stimme, die meiner so schrecklich ähnlich war, drang wie durch Watte gedämpft an meine Ohren. „Jetzt muss ich auch noch den Boden sauber wischen." Ich kniff meine Augen zusammen und blickte in Richtung Tür, durch die eben ein Mann auf mich zukam und obwohl ich ihn nur verschwommen sah, hatte ich plötzlich das Gefühl, in einen Spiegel zu starren. „Nein, das ist nicht möglich", keuchte ich leise. Unglauben breitete sich in meinem Inneren aus und ich fragte mich, ob ich träumte. ‚Genau, du hast einen Albtraum. Das ist des Rätsels Lösung', antwortete ich mir selbst, aber noch im selben Moment wurde mir klar, dass ich mich selbst belog, dass ich nicht fantasierte und es die Realität war, die ich vor Augen hatte – wenn auch verschwommen. Ich versuchte erneut, mich aufzurichten, knickte aber sofort ein. Ich wollte weg von ihm, kam aber nicht einmal einen Zentimeter weit. Langsam, so als ob er alle Zeit der Welt hätte, näherte er sich bis auf einen Schritt und sah mich mit seinen grünen Augen hämisch an – Augen, die hätten meine sein können. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen – ein Grinsen, mit dem ich immer Ziva bedachte, wenn ich sie ärgerte. Ich spürte, wie ich das Bewusstsein verlor und ich konnte mich nur mehr mit größter Mühe an der Anrichte festhalten. Irgendwo in meinem Gehirn meinte eine Stimme, dass ich lieber auf meinen Instinkt hätte hören und das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht ignorieren hätte sollen.
„Zeit zum Schlafen, Anthony", sagte er höhnisch und betonte dabei extra meinen Namen. Sein Gesicht, welches meinem vollkommen glich, verschwamm immer mehr vor meinen Augen. Ohne dass ich es verhindern konnte, glitt ich zu Boden, wo ich mit dem Rücken zu liegen kam. Die Kühle der Fliesen drang durch den Stoff meines Hemdes und ließ mich leicht zittern. Erneut kam er in mein Blickfeld, beugte sich zu mir herunter und musterte mich kalt. Ich versuchte meinen Arm zu heben, um ihn wegzustoßen, aber er fühlte sich an, als ob er mit tonnenweise Blei gefüllt wäre.
Schwärze begann mich von allen Seiten einzuengen, egal wie hartnäckig ich dagegen ankämpfte. „Chris", brachte ich leise über meine Lippen, wobei ich fast meine eigene Stimme nicht hören konnte. Das Letzte was ich sah, bevor mich tiefe Dunkelheit umgab, war das Gesicht meines vor Jahren verschwundenen Zwillingsbruders.

Chris blieb ein paar Sekunden lang in der gebeugten Haltung und betrachtete Tonys reglosen Körper, seine Gesichtszüge und seine geschlossenen Augen. Alleine das regelmäßige Heben und Senken seines Brustkorbes deutete daraufhin, dass er noch lebte. Sein Kopf war zur Seite gedreht und der Mund stand leicht offen. Er wirkte beinahe friedlich, wie er da so lag und tief schlief – ein Schlaf aus dem er erst in mehreren Stunden erwachen würde, dafür hatte er gesorgt. Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass das Beruhigungsmittel, das er in den Orangesaft geschüttet hatte, derart schnell wirken würde. Dabei hatte er heute Nachmittag, als er bereits einmal hier gewesen war, geglaubt, sein Bruder würde eine bessere Kondition haben, aber anscheinend hatte er sich da geirrt. Andererseits hatte er eine hohe Dosis angewendet und so verwunderte es ihn nicht wirklich, dass Tonys Kampf gegen die Bewusstlosigkeit nicht lange gedauert hatte – ein Kampf, dessen Verfolgung ihn mit tiefer Befriedigung erfüllt hatte, vor allem da er von Anfang an gewusst hatte, dass er erfolglos verlaufen würde.
Chris betrachtete die Pfütze auf dem Boden und runzelte ärgerlich die Stirn. Vielleicht hätte er doch nicht so verschwenderisch mit dem Beruhigungsmittel sein sollen, denn jetzt durfte er auch noch den Mist wegräumen, den sein Bruder verursacht hatte. Hätte er das Glas nicht eine Sekunden früher abstellen können? Nein, er hatte es ja unbedingt fallen und einen See aus Orangensaft hinter lassen müssen. So hatte er sich die Einweihung seiner neuen Küche – die ihm äußerst gut gefiel - nicht ausgemalt. Aber dennoch übertraf ihr erstes Treffen seit so vielen Jahren seine Vorstellungen. Das Entsetzen, das sich auf Anthonys Gesicht abgezeichnet hatte, als er erkannt hatte, wer vor ihm stand, war einfach unbezahlbar gewesen und das Unglauben in seiner Stimme, als er seinen Namen gesagt hatte, hätte ihn beinahe laut auflachen lassen. Er hatte ihn die ganze Zeit über angesehen, so als ob er ein Gespenst vor sich hätte. ‚Nun, vielleicht trifft das auch zu', überlegte er und grinste. Denn er konnte sich lebhaft vorstellen, dass seine Familie davon ausging, dass er schon längst tot wäre.
Chris erhob sich und blickte weiter auf Tony hinunter, der zu seinen Füßen lag und nicht einmal den kleinen Finger rührte. Wenn er ehrlich war, hatte er ihn noch nie so ruhig gesehen. In ihrer Kindheit war er ständig auf Achse gewesen, selbst wenn er einmal krank gewesen war, wollte er nie im Bett liegen bleiben, egal was ihrer beider Mutter unternommen hatte, um ihn dazuzubewegen. Ihre Eltern hatten ihm vieles durchgehen lassen und das nur, weil er gerade mal lausige 10 Minuten älter als Chris war. ‚Was 10 Minuten für einen riesengroßen Unterschied ausmachen können', dachte er bitter, lehnte sich an die Anrichte und starrte leicht geistesabwesend aus dem Fenster in die beginnende Nacht hinaus. Sie waren am selben Tag geboren worden, glichen sich äußerlich bis ins letzte Detail – weshalb er sein Schicksal ständig verfluchte – und er war immer besser in der Schule gewesen, aber dennoch waren seine Leistungen nie so anerkannt worden wie die von Tony. Er hatte lauter Einser nach Hause bringen können und hatte dafür nur ein „gut gemacht" zu hören bekommen, während sein Bruder umarmt worden war und sich das Abendessen aussuchen hatte dürfen. Und jedes Mal hatte sich Christopher einzureden versucht, es würde bald anders werden, aber je älter die beiden geworden waren, desto mehr hatte er eingesehen, dass dies wohl nur ein Wunschdenken von ihm gewesen war.
Die altbekannte Wut stieg in ihm auf und ließ seine Hände zu Fäusten ballen. Jetzt, wo Anthony bewusstlos zu seinen Füßen lag, hätte er ihm locker alles Mögliche antun können, aber er hielt sich zurück. Ihn zu verprügeln wäre auch nicht die richtige Lösung, vor allem da er nichts spüren würde. Nein, es gab andere Möglichkeiten, ihn zu peinigen. Er wusste nur zu gut, dass der andere viel Bewegungsfreiheit brauchte – das war schon in ihrer Kindheit so gewesen – und die würde er ihm nehmen. In einem Raum ohne Fenster eingesperrt zu sein, würde ihn mehr quälen als harte Schläge. Er würde ihm die seelischen Qualen bereiten, die er erleiden hatte müssen. Chris würde ihm sein bisheriges Leben rauben – das Leben, was er sich so sehnlichst gewünscht hatte. Und jeden Abend würde er zu ihm kommen und ihm erzählen, wie seine Freunde und Kollegen auf ihn reinfielen, wie die Frauen, die dachten, mit Tony auszugehen, ihn anschmachteten und er würde genüsslich dabei zusehen, wie er immer mehr verzweifeln würde.
Ein Lächeln huschte ihm über die Lippen, als er das Bild vor sich sah, indem sein Bruder auf dem Bett kauern und ihn anflehen würde, ihn endlich rauszulassen – was er natürlich nicht tun würde. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg, denn Chris wusste, er hatte eine starke Persönlichkeit und würde sich nicht so leicht unterkriegen lassen – das hatte er noch nie. Aber dennoch war er zuversichtlich, dass er es schaffen würde, wenn auch mit großer Mühe. Dennoch, ein paar Wochen ohne Sonnenlicht würden selbst die hartnäckigste Person zermürben.
„Das wird ein Spaß werden", sagte er zu dem Bewusstlosen. „Du wirst schon sehen. Mit der Zeit wirst du dich daran gewöhnen, von mir abhängig zu sein. Ich werde von nun an dein Leben in meiner Hand halten. Wenn ich will, kann ich dich verhungern, verdursten oder sogar ersticken lassen. Das werden die ersten Dinge sein, die dir bewusst werden, wenn du aufwachst, da bin ich mir sicher." Er hielt in seinem Monolog inne, blickte auf Tony, neben dem sich die Pfütze Orangensaft befand und es war diese, die ihn aus seinen Vorstellungen über die Zukunft in die Gegenwart zurückholte. Bevor er seinen Bruder zu dem kleinen Haus brachte, musste er wohl oder übel noch die Küche sauber machen. Er konnte es einfach nicht ausstehen, wenn irgendwo Unordnung herrschte – noch ein Punkt, in dem sich die beiden unterschieden. Während Anthony eher der Chaotische war, war Christopher derjenige gewesen, der sein Zimmer immer in einem sauberen Zustand gehalten hatte. Auch wenn sie sich äußerlich wie ein Ei dem anderen glichen, so waren sie doch vom Charakter ganz unterschiedliche Personen und es war diese Tatsache, die ihm ein wenig Angst machte. Er wusste nicht annährend alles über Tony, um ihn perfekt spielen zu können, aber dennoch hegte er die Hoffnung, er würde dies bald erlernen. Die größte Hürde würden seine Kollegen beim NCIS werden, die mit ihm fast jeden Tag zu tun hatten und ihn sicher gut kannten. Auch wenn es ihm nicht gefiel, war ihm mehr als bewusst, dass er auf die Hilfe seines Bruders angewiesen war – was ihn mehr als wurmte. Nur wusste er noch nicht, wie er ihn dazu bringen sollte, ihm zu verraten, wie sein Leben bis ins kleinste Detail verlief. Das war der einzige Punkt seines Planes, von dem er nicht wusste, wie er ihn umsetzen sollte, denn er bezweifelte stark, dass ihm Tony von sich aus alles erzählen würde. Bis er eine Lösung dafür gefunden hatte, musste er eben darauf hoffen, dass seine Kollegen nichts mitbekommen würden. Und falls sie doch Verdacht schöpfen sollten, dann musste er sich eben eine Ausrede einfallen lassen. Im Improvisieren war er schon immer gut gewesen, sonst hätte er die ersten Jahre in L.A. kaum überlebt.
Chris seufzte leise, stieß sich von der Anrichte ab und begann nach einem Besen und Lappen zu suchen, um den Orangensaft vom Boden aufzuwischen. Währendessen fing er an, sein derzeitiges Lieblingslied zu summen, um seiner guten Laune Ausdruck zu verleihen. Endlich war er am Ziel seiner Träume angelangt.

Fortsetzung folgt...
Chapter End Notes:
Diese Story ist aus der Sicht von Tony geschrieben, wobei natürlich die anderen Charas nicht zu kurz kommen.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
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