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Etwas außerhalb von Washington
15:39 Uhr


Über drei Stunden später, nachdem ich Chris im Fernsehen gesehen hatte, saß ich auf dem breiten Bett, den Rücken gegen das Kopfteil gelehnt und las eines der Bücher, die er mir dagelassen hatte. Moby Dick hatte ich schon seit Jahren nicht mehr in Händen gehalten und ich wusste nicht genau, weshalb ich mich ausgerechnet für diese Geschichte entschieden hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass ich vor über 1 ½ Jahren Gibbs empfohlen hatte, diesen Roman zu lesen, nachdem er mich ungewohnt heftig zusammengeschrieen hatte, da ich wieder einmal einer Frau hinterhergelaufen und somit viel zu spät von der Mittagspause in den Dienst zurückgekehrt war. Wie sich später herausgestellt hatte, war sie eine Terroristin gewesen, die unter Aris Kommando gestanden hatte – Ari, den wir zu diesem Zeitpunkt für einen Mossadagenten gehalten hatten, was sich aber als Irrtum herausgestellt hatte. Ari, der Kate auf dem Gewissen hatte, der ihr ohne Skrupel eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte, um damit Gibbs möglichst viel Schaden zuzufügen.
Obwohl seit dem Tod meiner Kollegin bereits über sechs Monate vergangen waren, vermisste ich sie noch immer schrecklich. Ihre braunen Augen, die mich jedes Mal funkelnd angesehen hatten, als sie erkannte, dass ich wieder einmal ihre Schreibtischschubladen oder ihre Handtasche durchwühlt hatte, auf der Suche nach Informationen über ihren neuesten Freund. Ihr Lachen, das ich noch immer hören konnte, wenn ich mich darauf konzentrierte, aber am meisten vermisste ich unsere kleinen Streitereien. Jetzt hatte ich zwar Ziva, mit der ich mir ständig Wortgefechte lieferte, aber es war anders als mit Kate. Wir hatten ein Verhältnis wie Bruder und Schwester gehabt und hatten uns gegenseitig ständig aufgezogen. Allerdings hatte sie nie diese witzigen kleinen Versprecher gehabt, mit denen mich die Ex-Mossad Agentin tagtäglich zum Grinsen brachte und die ich automatisch korrigierte, ohne wirklich darüber nachzudenken. Wie ich diese kleinen Wortverdrehungen vermisste, genauso wie ich es vermisste, McGee Bambino zu nennen, Abbys schreckliche Musik, die sicher auch heute wieder ihre geheiligten Hallen erfüllte und Gibbs' brummige Art und die Kopfnüsse, die er mir immer verpasste, wenn ich vorlaut gewesen war.
Ich blinzelte und erst jetzt bemerkte ich, dass ich schon seit ein paar Minuten immer wieder dasselbe Wort anstarrte. Obwohl ich es verhindern hatte wollen, waren meine Gedanken erneut zu meinen Kollegen abgeschweift. In den letzten Stunden hatte ich es mühelos geschafft, nicht an sie zu denken, aber jetzt hatte mein Gehirn erneut ein Eigenleben entwickelt und sich nicht mehr von der wundervollen Welt des Moby Dick einlullen lassen. Ich wusste, dass es nichts bringen würde, wenn ich versuchte, mich auf das Buch zu konzentrieren. Die Buchstaben schienen vor meinen Augen zu verschwimmen und komplett andere Worte zu bilden, als die, die auf dem dünnen Papier standen. Deshalb knickte ich ohne zu überleben die Ecke der Seite um, die ich gerade gelesen hatte und klappte die Lektüre zu. Ich legte das Buch neben mir auf die Matratze und fuhr mir einer Hand über das Gesicht, in der Hoffnung, so die Bilder meiner Kollegen aus meinem Gehirn zu verbannen, was aber nicht so recht funktionierte. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sie jemals herausfinden würden, dass nicht ich im Hauptquartier an meinem Schreibtisch saß, sondern Chris. Wie ich ihn kannte, hatte er bereits meinen Schokoriegelvorrat entdeckt, den ich mir in weiser Voraussicht angelegt hatte, da es nicht selten vorkam, dass ich nicht zum Essen kam. Sicher, Schokolade war nicht das gesündeste Nahrungsmittel, aber besser als gar nichts und sie verhinderte, dass ich verhungerte, bevor mir Gibbs endlich erlaubte, mir einen Burger oder sonst etwas zu beißen zu kaufen.
Ich seufzte leise, legte meinen Kopf in den Nacken und verfluchte den Umstand, dass ich nie meinen Zwillingsbruder erwähnt hatte. Es war nicht so, dass ich ihn aus meinem Inneren verbannt hatte, aber je mehr Jahre vergangen waren, desto seltener hatte ich an ihn gedacht. Chris hatte mir nie eine Nachricht zukommen lassen, die mir verriet, dass es ihm gut ging. Am Tag seines Verschwindens und auch noch Wochen später hatte ich versucht herauszufinden, wohin er abgehauen war, aber es war unmöglich gewesen, ihn aufzustöbern, so als ob er von der Bildfläche verschwunden war. Mein Vater hatte sich nicht sonderlich Mühe gegeben, nach ihm zu suchen und hatte nur sein Konto gesperrt und gemeint, ohne Geld würde er schon wieder zurückkommen. Aber Chris hatte sich nie wieder blicken lassen. Die Gleichgültigkeit, mit dem das mein Dad aufgenommen hatte, hatte mir vor Augen geführt, was für ein Mensch er wirklich war: kalt, herzlos und ohne Emotionen. Ein Grund mehr, weshalb ich gleich nach der Highschool ausgezogen und aufs College gegangen war, aber nicht um Wirtschaft zu studieren, so wie er es von mir verlangt hatte, sondern Sport. Und ich hatte meine Entscheidung nie bereut.
Meiner Mutter hingegen war Chris' Verschwinden viel näher gegangen und das humorvolle Funkeln in ihren Augen, das ich immer so gemocht hatte, war von einem Tag auf den anderen erloschen. Ich hatte sie einmal gefragt, weshalb ich immer bevorzugt worden war, aber sie hatte mir keine Antwort gegeben und ich hatte erkannt, dass sie es mir auch nie verraten würde. Jetzt im Nachhinein wurde mir bewusst, dass ich härter nachbohren hätte sollen. Vielleicht hätte ich sie somit aus ihrem Schneckenhaus herausholen können und das Funkeln in ihre Augen wäre wieder zurückgekehrt. Kurz bevor ich mit dem College fertig geworden war, war sie gestorben und meine Chance zu erfahren, was mein Bruder getan hatte, dass er nicht die Liebe erhalten hatte, die mir zu Teil geworden war, war dahin gewesen. Denn von meinem Vater hätte ich sicher nichts herausbekommen. Er hätte mich höchstens aus dem Haus geschmissen. Ich hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen, aber vielleicht sollte ich ihn wieder besuchen, falls ich hier herauskommen sollte, und ihm von Chris erzählen. Wie würde er wohl reagieren, wenn er erfuhr, dass sein anderer Sohn wohlbehalten nach Washington zurückgekehrt war? Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich noch einige Zeit in meinem – zugeben netten – Gefängnis verbringen musste.
Ich seufzte erneut und schüttelte meinen Kopf, um die deprimierenden Gedanken zu vertreiben. Ich sollte anfangen, dass Glas als halbvoll und nicht als halbleer zu betrachten. Normalerweise war ich auch nicht so ein Pessimist. Um mich ein wenig zu bewegen, schwang ich die Beine über die Matratze und stand auf. Den Fernseher, den ich auf einen Musiksender eingestellt hatte, berieselte mich mit einem Rocksong, den ich noch nie gehört hatte, der aber nicht schlecht war. Auf dem Bildschirm konnte man endlose Sandstrände, blaues Meer und einen mit kleinen Wölkchen bedeckten Himmel sehen. Dazu sang ein junger Mann von der Endlosigkeit des Horizontes und Freiheit. Freiheit war genau das, was ich in meinem Leben immer so sehr geschätzt hatte, was mir aber momentan verwehrt blieb. Von jeher hatte ich es gehasst, nicht genügend Bewegungsraum zu haben, aber noch hatte ich keine Probleme damit, mich in diesem Zimmer aufzuhalten. Aber ich wusste, es würde der Zeitpunkt kommen, an dem mir die Decke auf den Kopf fallen würde.
Um nicht weiter den verlockenden weißen Sandstrand sehen zu müssen, drehte ich dem Fernseher den Rücken zu und zum ersten Mal konzentrierte ich mich bewusst auf die Bilder, die Chris auf die Betonmauer geklebt hatte. Es waren Schnappschüsse, die im Laufe unserer Kindheit entstanden waren und von denen ich wusste, dass sie sich bis vor kurzem noch in einer Schachtel im Schrank meines Schlafzimmers befunden hatten. Was mir wiederum vor Augen führte, dass mein Bruder schon länger in Washington sein musste und mein Haus durchsucht hatte. Allerdings hatte er es so geschickt angestellt, dass ich nichts bemerkt hatte und das Fehlen der Bilder wäre mich so oder so nie aufgefallen, da ich sie schon seit Jahren nicht mehr betrachtet hatte. Aber jetzt, wo ich massig Freizeit und nichts anderes zu tun hatte, als mir eine Beschäftigung zu suchen, um mich ein wenig abzulenken, war der richtige Moment, um damit anzufangen.
Die Fotos waren an die Wand links neben der verschlossenen Tür geklebt worden, chronologisch geordnet, wie ich kurz darauf feststellte. Das erste Bild zeigte Chris und mich als Babys, beide mit einem blauen Strampler bekleidet. Während mein Bruder die Zehen seines rechten Fußes umklammerte, war ich gerade dabei, an meinem Daumen zu nuckeln. Äußerlich unterschieden wir uns überhaupt nicht und nur durch die kleinen goldenen Kettenanhänger, die ein A und ein C darstellten, konnte ich erkennen, wer wer war. Ein Grinsen huschte über meine Lippen und leicht wehmütig strich ich über das Foto. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen und wir hatte noch nicht einmal ansatzweise geahnt, was auf uns zukommen würde. Lucille hatte zu uns immer gesagt, wir wären die süßesten Babys gewesen, aber kaum hatten wir laufen gelernt, hatten wir ständig versucht, ihr zu entkommen. Dadurch hatte sie sich das Geld für ein Fitnessstudio erspart, hatte sie eines Tages gemeint und uns dabei liebevoll angelächelt.
Das nächste Bild zeigte Chris und mich an unserem vierten Geburtstag, wie wir gemeinsam versuchten, die Kerzen auf der großen Schokoladentorte auszupusten. Unsere Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab und die Augen hatten wir in vollster Konzentration zusammengekniffen. Obwohl dieser Tag schon sehr lange zurücklag, erinnerte ich mich noch sehr genau daran – an die zahlreichen Verwandten, die zu Besuch gekommen waren und uns in die Wangen gekniffen hatten, Großtante Roberta, die uns beiden einen dicken Schmatz verpasst und dabei einen großen Lippenstiftabdruck hinterlassen hatte. Und die vielen Geschenke, die sich in einer Ecke gestapelt hatten.
Ich ließ meinen Blick weiterschweifen, sah Chris in einem Krankenhausbett, kurz nachdem er in das Eis des Sees eingebrochen war, wir beide im Alter von 10 bei einem Wanderausflug der Schule, bei dem sich ein Mitschüler im Wald verlaufen hatte, nachdem er von einem anderen Jungen so lange gehänselt worden war, dass er einfach davongelaufen war. Stunden später hatten ihn Rettungskräfte auf einer großen Lichtung gefunden, wo er zusammengekauert auf den Boden gesessen hatte.
Ein weiteres Foto zeigte Chris und mich an unserem ersten Tag an der Highschool. Nebeneinander standen wir vor dem Eingang des großen Gebäudes und unsere Augen strahlten vor Freude. Noch immer konnte ich das großartige Gefühl, das ich damals gehabt hatte, spüren und wie glücklich wir gewesen waren, dass wir nicht mehr länger zu den Kleinen gehörten. An diesem Tag hatte die Sonne hell geschienen und der Tag war ungewöhnlich heiß gewesen. Lucille hatte uns zur Schule gefahren und hatte darauf bestanden, dieses Bild zu machen. Allerdings war es einer der letzten Momente gewesen, wo Chris und ich friedlich beisammen gestanden waren. Zwar hatten wir uns auch weiterhin super verstanden, aber wir wurden beide erwachsen, hatten verschiedene Freundeskreise und während ich lieber nach der Schule mich mit anderen Mitschülern traf, fuhr er nach Hause, um seine Nase in Bücher zu vergraben - außer er spielte Football. Was mich zum letzten Bild blicken ließ, das an der Wand hing. Es zeigte meinen Bruder im Trikot der Footballmannschaft und er saß auf den Schultern zweier Mitspieler, alle drei verschwitzt, aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Chris hatte an diesem Tag einen Touchdown hingelegt und somit die damals beste Mannschaft von einer New Yorker Highschool besiegt. Ich war bei dem Spiel dabei gewesen und war richtig stolz auf ihn gewesen. Bis nach Mitternacht hatten wir in der Turnhalle gefeiert, wobei die Hälfte der Schüler anwesend gewesen war und massenhaft Professoren, die aufgepasst hatten, dass kein Alkohol floss. Aber dennoch hatten wir jede Menge Spaß gehabt.
Eine Woche später hatte mir Chris jedoch mit einem harten Schlag beinahe den Unterkiefer gebrochen und der hasserfüllte Blick, den er mir zugeworfen hatte, jagte mir noch heute einen eiskalten Schauer über den Rücken. Mit einem Schlag hatte sich die Welt verändert und es war das letzte Mal, dass ich meinen Bruder gesehen hatte - bis gestern, wo er ohne Vorwarnung aufgetaucht war, um mein Leben zu übernehmen.
Ich hatte mich im Laufe der letzten 15 Jahre manchmal gefragt, ob er überhaupt noch lebte. Aber es auf diese Weise zu erfahren, hätte ich gut und gerne verzichten können. Hätte er mir nicht einfach eine Postkarte schicken können?
Hilflos ballte ich meine Hände zu Fäusten und gemeinsam mit der Wut auf Chris überkam mich auch Traurigkeit. Traurigkeit darüber, dass die Chance, dass ich meinen Bruder wieder zurückbekommen würde, mehr als gering war. Wenn ich ihm erklären könnte, was damals wirklich vorgefallen war, würde er mir vielleicht verzeihen, aber ich wusste, würde ich auf dieses Thema zu sprechen kommen, würde er sich taub stellen, so wie er es vor Jahren bereits einmal getan hatte. Aber trotzdem musste ich es versuchen. Möglicherweise schaffte ich es ja, den Panzer, den er unübersehbar um sich aufgebaut hatte, zu durchbrechen. In dem Mann, der heute mein Bruder war, steckte irgendwo tief verborgen der alte Chris und ich würde versuchen, ihn wieder ans Tageslicht zu zerren.
Meine Hände entspannten sich und ich fuhr mit dem Zeigefinger meiner rechten Hand über das Babyfoto. Vielleicht würden wir eines Tages erneut so friedlich zusammen sein – ein Wunsch, von dem ich hoffte, dass er sich erfüllen würde.

Fortsetzung folgt...
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