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Washington D.C.
NCIS Hauptquartier
16 Uhr


Vier Stunden nachdem Chris seine Bewährungsprobe bei Abby hinter sich gebracht hatte, saß er im Großraumbüro und vertilgte den letzten Rest des großen Burgers, der noch vor ein paar Minuten ganz gewesen war. Gibbs hatte McGee losgeschickt, ihm einen Kaffee zu besorgen und da selbst der junge Agent kurz davor gestanden war zu verhungern, hatte er auf dem Weg zurück an einem Imbissstand Halt gemacht und jedem etwas zu Essen besorgt. Natürlich hatte die Gefahr bestanden, dass ihm der Boss deswegen eine Kopfnuss verpassen würde, aber ein Klaps war erträglicher als ein fußballgroßes Loch im Magen. Aber da er dem Chefermittler auch etwas mitgenommen hatte, hatte dieser nichts weiter getan als ein Brummen von sich zu geben. Selbst wenn es schien, als ob sein Grundnahrungsmittel aus Koffein bestand, so musste er ebenfalls hin und wieder etwas essen und wenn es dazu noch gratis war, sagte er natürlich nicht nein. Allerdings hätte es ihm mehr als amüsiert, wenn er Tim mit seinen Blicken durchbohren hätte können, weil er vergessen hatte, ihm etwas zu beißen zu besorgen. Aber nicht einmal seinen Kaffee hatte er auskühlen lassen und somit hatte er keinen Grund, eine übelgelaunte Miene aufzusetzen und hatte sich lediglich auf einen Brummlaut beschränkt. Kurz darauf hatte sich Jethro ein Grinsen fast nicht verkneifen können, als er zu Tony gesehen hatte, der mit einem riesigen Bissen ein Viertel des Burgers verschlungen hatte. Es hatte ihm mehr als verwundert, dass sein Agent einen derart großen Hunger hatte, immerhin hatte er pro Stunde einen Schokoriegel verputzt, wobei die Plastikverpackung seltsamerweise sofort im Mülleimer verschwunden war, anstatt auf der Tischplatte liegen zu bleiben. Eine Tatsache, die er mit einem Stirnrunzeln quittiert hatte. Überhaupt, der Platz von DiNozzo kam ihm viel sauberer als am Morgen vor. Wo waren die Papierbälle abgeblieben? Oder die Bleistifte, die kreuz und quer herumgelegen waren? Hatte er etwas McGee dazu verdonnert, seinen Schreibtisch aufzuräumen, während er und Ziva mit ein paar Kollegen des ermordeten Commanders gesprochen hatten?
Wenn er ehrlich war, kam ihm Tony heute überhaupt ein wenig anders vor. Und seit wann konnte er tippen? Normalerweise hatte er schon Probleme damit, die Buchstaben auf der Tastatur mit zwei Fingern zu finden. Allerdings könnte es sein, dass ihm eine seiner zahlreichen Freundinnen ein wenig Unterricht gegeben hatte, im Austausch gegen…Gibbs hielt in seinen Gedanken inne und schüttelte leicht den Kopf. Nein, er würde jetzt nicht daran denken, was sein Agent in seiner Freizeit alles machte. Es reichte bereits, dass dieser damit regelmäßig – vor allem nach einem Wochenende – prahlte. Es wurde höchste Zeit, dass er sich wieder mit dem Fall beschäftigte und sich nicht den Kopf darüber zerbrach, weshalb sein Agent heute eine Spur anders wirkte als sonst.

Chris leckte sich genüsslich die äußerst schmackhafte Soße von den Fingern, knüllte das Papier, in der der Burger eingewickelt gewesen war, zusammen und warf es gezielt in den Mülleimer, in dem sich bereits ein Teil des Mistes befand, den Tony hinterlassen hatte. Wie konnte man nur in so einem Chaos arbeiten, ohne dabei den Überblick zu verlieren?
„Du musst unbedingt an deinen Ess- und Tischmanieren nageln, Tony", sagte Ziva, da er sich schon wieder daran machte, seine Finger mit seiner Zunge zu reinigen, anstatt mit Wasser. „Du verdirbst ja jedem in deiner Nähe den Appetit, wenn du alles so in dich hineinstopfst." Chris nahm seinen Zeigefinger aus dem Mund, wischte ihn an seiner Hose trocken und schenkte der jungen Frau ein strahlendes Lächeln, das in ihre Augen lediglich ein ärgerliches Funkeln zauberte, statt ein Entzücktes, so wie er gehofft hatte. „Was regst du dich so auf?" fragte er mit sorgloser Stimme und setzte sich gerade hin. „Du musst mir ja nicht zusehen, wenn ich esse. Und außerdem heißt es, an den Ess- und Tischmanieren feilen und nicht nageln." „Könntest du endlich damit aufhören, mich ständig bei diesen Redewendungen zu verbessern?" „Wenn du aufhörst, bei besagten Redewendungen falsche Worte zu verwenden, dann ja." „Und könnt ihr beide endlich aufhören, euch wie Kinder zu benehmen und euch stattdessen wieder an die Arbeit machen?" unterbrach Gibbs die beiden von seinem Platz aus und selbst aus dieser Entfernung konnte man deutlich das gefährliche Funkeln in seinen Augen sehen. Mit einer einzigen Bewegung zerdrückte er den leeren Kaffeebecher und Chris hoffte innerlich, dass er dabei nicht an seinen Hals dachte, den er da soeben zerquetschte. Er senkte seinen Blick auf die Akte, die vor ihm lag und versuchte sich einen Reim darauf zu machen, weshalb es Ziva mühelos schaffte, ihn in einen kleinen Streit zu verwickeln, obwohl ihm gar nicht danach war.
„Also, was habt ihr über Commander Emmerson herausgefunden?" fragte Jethro, stand auf und stellte sich vor den großen Plasmabildschirm und signalisierte seinen Agents dadurch, dass sie es ihm gleich tun sollten. McGee sprang sofort auf, ließ seinen Burger, den er noch nicht ganz aufgegessen und der auf Chris eine verlockende Wirkung hatte, einfach liegen, schnappte sich die Fernbedienung und öffnete ein Bild des Ermordeten. Das Gesicht, das bis zur Unkenntlichkeit mit einem Baseballschläger zerstört worden war, erschien unversehrt auf dem Bildschirm und lächelte ihnen entgegen, wobei zwei Reihen strahlendweißer Zähne enthüllt wurden. Die braunen Augen waren voller Leben und starrten nicht reglos an eine Decke. Das volle dunkelbraune Haar war nicht vor Blut verklebt, sondern ordentlich frisiert und nur an den Schläfen leicht ergraut. Die hohen Wangenknochen waren nicht zerschmettert und die gebräunte Haut nicht verletzt. Der Commander war ein attraktiver Mann gewesen und er machte den Eindruck, als ob er keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte. Und jetzt war er das Opfer eines missglückten Einbruches geworden – jedenfalls sah es danach aus.
„Brandon Emmerson", begann McGee und blickte zu dem Bild. „45 Jahre alt, wäre nächsten Monat 46 geworden. Er ist in Washington geboren, wobei seine Mutter bei der Geburt gestorben ist. Drei Jahre lang hat er bei seinem Vater gewohnt, der aber bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist. Er war Pilot und hatte selbst eine einmotorige Maschine, mit der er einmal pro Woche einen Ausflug gemacht hat", fügte Tim nach einer Sekunde hinzu, als Gibbs fragend eine Augenbraue gehoben hatte. Er sah ein wenig hilfesuchend zu seinen Kollegen und da Chris fand, dass er ihn vorm Verhungern gerettet hatte, nahm er den Faden auf. „Für drei Monate wurde Brandon in einem Waisenhaus untergebracht, bis die Großeltern das Sorgerecht bekamen. Sie nahmen den Jungen mit nach New Jersey und zogen ihn groß. Seine Großmutter starb an Hautkrebs, als er 14 war und somit war sein Großvater der einzig lebende Verwandte, den er hatte. Dieser war bei den Marines gewesen und hat in Vietnam gekämpft. Brandon Emmerson ist ebenfalls den Marines beigetreten, kurz nachdem er die Highschool abgeschlossen hatte und ist somit in die Fußstapfen des Älteren getreten. Ich habe mit einem Freund des Toten telefoniert, der mir erzählt hat, dass er immer wieder voller Stolz von seinem Großvater gesprochen hat, obwohl dieser seit mehr als sechs Jahren tot ist. Die beiden hatten folglich ein inniges Verhältnis zueinander."
Chris hielt inne und ballte seine Hände, die plötzlich zu zittern angefangen hatten, zu Fäusten. Traurigkeit breitete sich in seinem Inneren aus und er starrte abwesend auf den Plasmabildschirm. Aber er sah nicht das Bild des Commanders und er hörte auch nicht mehr das Stimmengewirr und die ständig klingelnden Telefone. Das Großraumbüro rückte in den Hintergrund, genauso wie der gesamte Mordfall. Er dachte nicht an die entstellte Leiche, an die trauernde Ehefrau oder an den Mörder, der noch frei herumlief. Nein, in diesem Moment war er wieder zwölf Jahre alt, sah sich selbst, wie er rastlos durch die Gänge seines Zuhauses wanderte, den Kopf gebeugt, um zu verbergen, dass er geweint hatte – der Tag, an dem draußen ein Schneesturm getobt und an dem er erfahren hatte, dass sein Großvater an einem Herzinfarkt gestorben war…

Laut heulte der Wind und ließ die dicken Schneeflocken lustig zu Boden tanzen, wo sie sich zu einer hohen weißen Schicht vereinigten, die den sonst so grünen Rasen bedeckte. Obwohl es erst früher Nachmittag war, war es bereits düster, was durch die dunklen Wolken und den dichten Schneefall nur noch verstärkt wurde. Die Bäume in dem großen Garten des DiNozzo Anwesens wurden geschüttelt, als wären sie dünn wie Bleistifte und nicht teilweise über 50 Jahre alte Riesen. Schon lange waren keiner Blätter mehr an den Ästen, die ansonsten dem Sturm zum Opfer gefallen wären.
Es dauerte noch zwei Wochen bis Weihnachten und das Haus war bereits festlich geschmückt, mit bunten Lichtern und grünen Girlanden, die um das Geländer der Treppe gewickelt worden waren. In der Eingangshalle stand ein kleiner Christbaum, der mit goldenen Kugeln verziert worden war. Allerdings hatte Mister DiNozzo für so einen Kitsch nichts übrig und würde es Lucille nicht geben, gäbe es auch keine bunten Lichter oder Girlanden, die man bewundern konnte. Die Mutter der Zwillinge kümmerte sich ebenso wenig um diese Festlichkeiten, da sie tagtäglich im Gericht war und lieber Geld verdiente, anstatt das Haus zu schmücken oder Weihnachtskekse zu backen. Das überließ sie Lucille, die dafür mit ihren Schützlingen dabei viel Spaß hatte und ihnen als Belohnung jede Menge Kekse essen ließ, wobei Tony von den verschiedensten Köstlichkeiten viel mehr verschlang als Chris.
Aber an diesem Tag war keine Fröhlichkeit in der Villa zu spüren. Die Lichter waren zwar bunte Farbkleckse in dem Schneesturm, vermochten aber die düstere Stimmung nicht zu vertreiben, die sich seit dem heutigen Sonntagmorgen in jeder Ecke eingenistet hatte. Das Wetter passte hervorragend zu der Hiobsbotschaft, die heute per Telefon angekommen war und seit dem jedes Lachen vertilgt hatte.
Kaum war das Frühstück in dem mit einem großen Tisch für mindestens 12 Personen, einem Perserteppich und wertvollem Porzellan ausgestattetem Esszimmer serviert worden, hatte das Telefon geklingelt und Paul, einer der drei Brüder von Mrs. DiNozzo hatte seiner Schwester erzählt, dass ihr Vater in der Nacht an einem Herzinfarkt gestorben ist. Da sie nicht mehr zurückgekommen war, hatte Lucille schließlich nach ihr gesehen und sie völlig aufgelöst im Wohnzimmer gefunden.
Tom Franks war ein beliebter Mann gewesen. Er hatte zu seiner Tochter ein inniges Verhältnis gehabt und seine beiden Enkelsöhne vergöttert, die ihn öfters zum Narren gehalten hatten, wenn es darum ging, wer wer war und er hatte ständig darüber gelacht, wenn ihm die beiden die allerneusten Witze erzählt hatten.
Seit der Todesnachricht hatte sich Tony in seinem Zimmer zurückgezogen und sich nicht mehr blicken lassen. Großvater Tom hatte ihm immer zugehört, wenn er mit Problemen zu ihm gekommen war und er war es auch gewesen, der ihm über die Schuldgefühle hinweggeholfen hatte, die er sich gemacht hatte, nachdem Chris vor drei Jahren ins Eis eingebrochen war und beinahe gestorben wäre. Außerdem hatte er ihm in den letzten Wochen Ratschläge gegeben, wie er am besten mit dem weiblichen Geschlecht umging. Egal welche Probleme er gehabt hatte, Tony hatte immer zu ihm kommen können, um ihm sein Herz auszuschütten. Auch wenn er es nicht gezeigt hatte, so hatte ihn der Verlust hart getroffen.
Chris hingegen war seit dem Morgen kein einziges Mal in seinem Zimmer gewesen. Ruhelos war er von einem Zimmer zum anderen gewandert, unfähig, sich auch nur für eine Sekunde hinzusetzen. Wenn er zu lange an einem Fleck gewesen war, hatte er das Gefühl gehabt, die Decke würde ihm auf den Kopf fallen. Am liebsten wäre er hinausgelaufen und hätte sich seinen Schmerz von der Seele geschrien, aber aufgrund des Schneesturmes wäre das mehr als Lebensmüde gewesen.
Heute hatte er die Person verloren die ihn – neben Lucille – genauso wie seinen Bruder behandelte. Für ihn waren die beiden seine Eltern und nicht seine Erzeuger. Tom hatte ihm soviel Liebe geschenkt, dass es ihm in letzter Zeit nicht mehr so viel ausgemacht hatte, dass Tony bevorzugt wurde. Er brauchte die Anerkennung seiner Eltern nicht, dafür bekam er sie von seinem Großvater und von Lucille – und von Anthony. Dieser freute sich jedes Mal, wenn Chris eine Eins nach Hause brachte oder sonst mit seinen Leistungen auftrumpfte.
Seine Schritte hallten laut in seinen Ohren wider, als er einen weiteren, mit dunklen Fliesen ausgelegten Gang, entlangging, vorbei an dem Arbeitszimmer seines Vaters, hinter dessen Tür ein lautes Lachen ertönte, gefolgt von einem belustigten Wortschwall. Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten und steckte sie ihn seine Hosentaschen, um nicht in die Versuchung zu geraten, sie gegen die Tür zu schlagen und zu schreien, er solle mit dem Lachen aufhören. Sein Vater hatte als Einziger gleichgültig auf die Nachricht des Todes seines Schwiegervaters reagiert, was wohl auch daran liegen mochte, dass bekannt war, dass er nicht in dessen Testament erwähnt wird, was Tom ihm bereits vor Monaten gesagt hatte, mit der Begründung, er gäbe seinen Kindern nicht die Aufmerksamkeit, die sie brauchten. Ein heftiger Streit war die Folge gewesen und seitdem hatte sich Tom nur mehr sehen lassen, wenn Mr. DiNozzo außer Haus war, was jeden Tag der Fall war, außer Sonntag.
Ein Schluchzer bildete sich in Chris' Kehle, aber er schluckte ihn tapfer hinunter. Er wollte nicht schon wieder weinen, hatte er doch die letzten Minuten damit verbracht, während er in der Bibliothek in der 2. Etage auf und ab gelaufen war. Sein Blick war starr auf seine Füße gerichtet, die sich wie in Trance bewegten und die auf ihn den Eindruck erweckten, dass sie nicht zu seinem Körper gehörten. Ein Schritt nach dem anderen bewegte er sich weiter, bis ihn ein lautes Schluchzen inne halten ließ. Fast glaubte er, es stammte von ihm, aber dann erklang es erneut, begleitet von einem Schniefen. Wie gegen eine unsichtbare Mauer geprallt, blieb er stehen, genau neben einer nur angelehnten Tür. Dahinter lag das Schlafzimmer seiner Eltern – ein Raum, den er wegen der dunklen Möbel, die seinem Vater so gefielen - nicht gerne betrat. Aber heute war es anders, heute war alles anders.
Langsam, so als ob er sich an dem Holz verbrennen würde, legte er die Finger darauf und drückte die Tür auf, die sich lautlos aufschwang. Es war düster in dem Schlafzimmer, kein Licht brannte, dessen Helligkeit die Dämmrigkeit zu vertreiben vermochte. Die Einrichtung wirkte fast schwarz und bildete einen starken Kontrast zu dem hellen Teppich. Das Einzige, was hell hervorstach, waren die weißen Laken, mit denen das große Himmelbett bezogen war, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Seine Mutter hatte einen Faible, wenn es um Himmelbetten ging und ihm und Tony je eines gekauft, als sie fünf gewesen waren. Damals hatte sein Bruder immer behauptet, ein Vampir würde sich im Baldachin verstecken und nur darauf warten, ihm in den Hals zu beißen und beide waren erleichtert gewesen, als diese grässlichen Betten wieder verschwunden waren und normalen Platz gemacht hatten.
Auf der Matratze saß eine Frau, dessen schlanker Körper von Schluchzern gebeutelt wurde. Sie trug eine elegante schwarze Hose und eine Bluse, die hellgelb aber auch beige sein konnte, was man in dem schlechten Licht aber nicht erkennen konnte. Ihre langen braunen Haare fielen ihr wirr ins Gesicht und verdeckten es vor neugierigen Blicken. Chris blieb wie angewurzelt stehen. Er kannte seine Mutter als starke Frau, aber sie wirkte auf einmal zerbrechlich wie eine ihrer Porzellanfiguren, die sie auf einer der Kommoden aufgestellt hatte, die sich in dem Schlafzimmer befanden.
„Mom?" fragte er vorsichtig und mit leiser Stimme, um sie nicht zu erschrecken – jedoch zeigte sie keine Reaktion. Langsam betrat er das Schlafzimmer, seine Schritte wurden dabei von dem Teppich verschluckt. Immer näher kam er ihr, wobei ihr Schluchzen lauter wurde. „Mom, sag doch etwas." Jetzt klang seine Stimme ungewöhnlich ängstlich und ihm wurde klar, dass er an ihr hing, egal wie ungerecht sie ihn behandelte. In seine Augen traten erneut Tränen, die er versuchte wegzublinzeln, was aber nicht klappte. Das Nass begann über seine Wangen zu strömen, als er eine Hand auf ihre bebende Schulter legte und sie zusammenzuckte. Wie bei einer Marionette hob sie ihren Kopf und blickte in seine Augen – grüne Augen, die er von ihr hatte. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und ihr Make-up zerstört. Verschwunden war die starke Anwältin und hatte einer Frau Platz gemacht, die um ihren Vater trauerte. „Mom?" fragte er erneut, wobei seine Stimme seltsam erstickt klang. „Mir geht es gut, Chris", antwortete sie ihm so leise, dass er sie fast nicht verstehen konnte. Sie war der einzige Mensch, der ihn und Tony auseinanderhalten konnte, auch wenn sie gleich angezogen waren und ließ sich somit auch nicht zum Narren halten, wenn sie die Rollen tauschten.
Er wusste, dass es ihr nicht gut ging und er wollte sie trösten, von dem Schmerz erlösen, der auch auf ihn lastete. Aber er fand keine richtigen Worte. Stattdessen setzte er sich zu ihr auf die Matratze, legte einen Arm um ihre bebenden Schultern und kuschelte sich an sie. Eine Sekunde später fuhr sie ihm mit einer zitternden Hand durch die Haare, während ungehindert Tränen über ihr Gesicht strömten. Chris wagte es fast nicht zu atmen. Zu schön war das Gefühl, das ihn überkam, als er ihre Finger in seinen Haaren spürte. Für einen kurzen Augenblick ließ die Trauer um seinen Großvater nach, aber gleich darauf kehrte sie mit voller Wucht zurück, als Schritte erklangen und eine Stimme von der Tür her sagte: „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich nicht mit Schuhen ins Bett legen?" Erschrocken zuckte er zusammen und setzte sich kerzengerade auf. Groß, schlank und gutaussehend stand Mr. DiNozzo unter der Tür und sah seinen Sohn ärgerlich an. Chris hätte jetzt vorgeben können, Tony zu sein, aber er wusste, es würde ihm nichts bringen. Sein Vater würde die Lüge gleich durchschauen. Wut stieg in ihm auf und er wischte sich die Tränen ab, wollte sich keine Blöße geben. „Ich wollte doch nur Mom trösten", sagte er und stellte erleichtert fest, dass seine Stimme wie eh und je klang. „Immerhin ist Großvater…" „Ich weiß, was mit Tom geschehen ist", wurde er schroff unterbrochen. „Und jetzt geh in dein Zimmer." „Aber…" „Kein aber, Christopher. Du tust was ich dir sage. Morgen ist wieder Schule und wie ich dich kenne, hast du deine Hausaufgaben noch nicht erledigt, da ihr ja mit Lucille diese kitschige Beleuchtung aufhängen musstet." Die Stimme seines Vaters war lauter geworden und er trat jetzt komplett in den Raum, dessen Atmosphäre sich durch seine bloße Anwesenheit noch verdüsterte. Chris starrte ihn fassungslos an, sah schließlich hilfesuchend zu seiner Mutter, die ihren Kopf aber wieder gesenkt und völlig vergessen hatte, dass ihr Sohn neben ihr saß und sie trösten wollte. Um nicht zu riskieren, sich womöglich eine Ohrfeige einzufangen, glitt er von dem Bett, ging zur Tür, blieb aber aus einem Impuls heraus stehen und drehte sich um. „Du konntest Großvater doch nur nicht ausstehen, weil er dir kein Geld vererbt! Das ist doch das Einzige was dich interessiert: Geld! Wir sind dir doch alle egal!"
Mit diesen Worten rannte er hinaus, fort von seinen Eltern, hörte wie sein Vater wütend seinen Namen rief, ignorierte ihn aber. Eine Etage tiefer stieß er die Tür zu seinem Zimmer auf, warf sie mit einem lauten Knall wieder zu, sperrte ab und ließ sich auf den Boden sinken. Tränen stiegen ihm in die Augen und er fing heftig zu weinen an. Weinte um seinen geliebten Großvater, weinte um die nicht vorhandene Liebe und weinte darum, dass er nicht jemand anderes sein konnte.
Während draußen das Licht immer weniger wurde, sein Zimmer in Dunkelheit tauchte und der Schneefall noch mehr zunahm, zerbrach etwas in Chris, was dazu führte, dass er sich – je mehr Jahre vergingen – immer weniger als DiNozzo betrachtete und sich von seiner Familie entfremdete.


Fortsetzung folgt...
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