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Chris brauchte ein paar Sekunden, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden, zu präsent waren die Erinnerungen an den Tag, an dem sein Großvater gestorben war. An diesem stürmischen und kalten Morgen hatte er eine wichtige Bezugsperson verloren – ein Person, die ihn immer aufgebaut hatte, wenn ihn seine Eltern wieder einmal ignoriert hatten, als er eine gute Note nach Hause gebracht oder sonst irgendeinen Erfolg errungen hatte. Für die beiden hatte nur das Geld gezählt, dass sie mit ihrer Arbeit verdienten und nicht ihr Sohn. Allerdings hatte er an diesem Tag auch eine wichtige Erkenntnis gewonnen. Seine Mutter liebte ihn anscheinend viel mehr als sie zeigte, sonst wäre sie ihm nicht mit der Hand durch die Haare gefahren und hätte ihm damit nicht ein wenig Trost gespendet. Aber kaum war sein Vater in dem Schlafzimmer erschienen, hatte sie sich wieder in die unterwürfige Frau verwandelt und ihr Kind nicht mehr wahrgenommen. Seit diesem Zeitpunkt wusste Chris, dass sein Vater eigentlich an allem schuld war, aber dennoch war er wütend auf seine Mom gewesen. Immerhin hätte sie sich gegen diesen Mann wehren können, anstatt ständig alles zu machen, was er von ihr verlangte. Nur weil er glaubte, der Hausherr zu sein, hieß dass noch lange nicht, dass sich jeder seinen Wünschen und Befehlen beugen musste. Seit dem Tag, an dem Chris' Großvater ihn für immer verlassen hatte, war auch ein Teil von ihm gestorben und er hatte begonnen, sich gegen seinen Vater aufzulehnen. In den nächsten drei Jahren noch weniger, aber dann immer mehr, bis er sich nichts mehr von seinem alten Herrn hatte sagen lassen, was ständig zu heftigen Streits geführt hatte. Aber jedes Mal hatte sich Chris danach gut gefühlt, denn er hatte förmlich gespürt, dass er sich immer mehr von den DiNozzos entfernte und sich nicht mehr wirklich als Familienmitglied betrachtete - was vielleicht eine andere Person betrübt hätte, ihn aber nicht. Er hatte sich ein eigenständiges Leben aufgebaut und dass ohne den Einfluss seines Erzeugers, was ihm am Wichtigsten gewesen war.
Von seiner Mutter war er mehr als enttäuscht gewesen, dass sie ihn nicht in Schutz genommen hatte und so hatte er sich auch vor ihr zurückgezogen, obwohl er gemerkt hatte, dass es sie schmerzte. Aber ihm war das egal gewesen. Sollte sie ruhig spüren, was sie ihm angetan hatte, als sie ihn ignoriert hatte, als er sie dringend gebraucht hatte.
Die Einzigen, die ihm Trost gespendet hatten, waren Tony und Lucille gewesen. Sein Bruder hatte genauso an ihren Großvater gehangen, hatte seinen Schmerz aber niemandem gezeigt, außer Chris. Vor ihm hatte er die starke Maske fallen lassen und am Abend waren sie einfach stumm nebeneinander auf Anthonys Bett gesessen, hatten sich alleine durch ihre körperliche Anwesenheit gegenseitig getröstet. Damals hatten ihn Tony und Lucille davor bewahrt, sofort in ein schwarzes Loch zu fallen und hatten ihn von dem tiefen Abgrund weggezerrt. Aber je mehr Jahre vergangen waren, desto dicker war der Panzer geworden, den er um sich aufgebaut hatte, um die teilweise verletzenden Worte seines Vaters an ihm abprallen lassen zu können. Und so kam es, dass nach einiger Zeit nicht einmal mehr Tony zu ihm hatte durchdringen können.

Chris war so in seine Gedanken vertieft, dass er die Hand von Gibbs nicht kommen sah, die ihn eine Sekunde später hart am Hinterkopf traf und ihn somit vollkommen in die Wirklichkeit zurückholte. War er beim ersten Mal noch schockiert gewesen, so begrüßte er jetzt den kurzen Schmerz, der die dunklen Wolken, die sein Gehirn umnebelt hatten, vertrieb und ihn daran erinnerte, dass er sich mitten in einem Großraumbüro befand und nicht mehr in der Villa, in der er aufgewachsen war und von der er hoffte, sie nie wieder sehen zu müssen.
„Du wirst nicht dafür bezahlt, um Tagträumen nachzuhängen, DiNozzo", sagte Gibbs bemerkenswert ruhig, aber Chris hatte in den wenigen Stunden, seit er ihn kannte, gelernt, dass dies kein gutes Zeichen war. „Tschuldigung, Boss", murmelte er deswegen und konzentrierte sich wieder auf das Bild des Commanders, der unten in der Pathologie lag.
Gibbs hingegen wandte seinen Blick nicht von seinem Agent ab, der in den letzten Sekunden geistig vollkommen weggetreten gewesen war. In seinen grünen Augen hatte sich auf einmal eine Trauer gespiegelt, die er bei ihm noch nie gesehen und die ihm sofort verraten hatte, dass er sich gerade an etwas Schmerzhaftes erinnert hatte. Was der Auslöser dafür gewesen war, konnte er nicht sagen, und wenn er ehrlich war, interessierte es ihn in diesem Moment auch gar nicht. Vielleicht war es wieder einmal an der Zeit, ein Gespräch unter vier Augen im Fahrstuhl mit dem Jüngeren zu führen. Es war offensichtlich, dass ihn etwas bedrückte und er konnte es sich nicht leisten, einen Agent zu haben, der nicht hundertprozentig bei der Sache war, jedenfalls nicht, solange irgendwo ein Mörder frei herumlief.
„Was habt ihr noch über Commander Emmerson herausgefunden?" fragte Jethro und bemerkte erleichtert, dass sich Tony anscheinend wieder gefangen hatte. Es ging doch nichts über eine saftige Kopfnuss, um einen wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen.
„Der Commander ist seit gut sechs Jahren in Quantico stationiert", fuhr Chris weiter, froh darüber, dass Gibbs nicht sauer auf ihn war. „Vorher war er in Norfolk gewesen, hat sich aber auf eigenen Wunsch versetzen lassen. Keiner seiner Kameraden weiß weshalb, da er nicht gerne über seine Vergangenheit geredet hat, außer über seinen Sohn und seine Frau." Und schon wieder verspürte er einen Stich in seinem Herzen. Die Emmersons waren anscheinend eine glückliche Familie gewesen und Tyler hatte die Liebe bekommen, die ein Kind von seinen Eltern auch erhalten sollte. Zu gern hätte er das Gefühl einmal erlebt wie es ist, richtig geliebt zu werden.
„Ich habe mit dem ehemaligen Vorgesetzten des Commanders in Norfolk telefoniert", nahm Ziva den Faden auf, zog kurz ihre Notizen zu Rate und blickte anschließend wieder in die Runde. Drei Augenpaare sahen sie erwartungsvoll an und selbst Tony schien wieder ganz bei der Sache zu sein. Sie hatte ihn noch nie so durch den Wind erlebt, wie vor zwei Minuten. Und hatte sie sich getäuscht, oder waren seine Augen für ein paar Sekunden Tränenverschleiert gewesen? Irgendetwas musste ihn aus den Konzept gebracht haben, aber da Gibbs ungeduldig eine Augenbraue hob, zog sie es vor, sich nicht länger den Kopf darüber zu zerbrechen, sondern sich wieder auf den Fall zu konzentrieren.
„Wie Tony bereits erwähnt hat, ist Commander Emmerson eines Tages im Büro seines Vorgesetzten aufgetaucht und hat um Versetzung gebeten. Er hat keinen Grund angegeben und hat sich wie eine Auster verschlossen, wenn die Sprache darauf gekommen ist, zumal er keine Probleme oder etwas Ähnliches mit Kameraden gehabt hatte. Zwei Monate später sind er und seine Familie nach Quantico gezogen."
„Und was ist mit Freunden in Norfolk? Wissen die, weshalb er sich plötzlich versetzen lassen wollte?" „Da sind wir noch dran, Boss", erwiderte McGee. „Allerdings könnte das noch ein wenig dauern, da Mrs. Emmerson momentan nicht in der Verfassung ist, klar zu denken. Sonst weiß niemand etwas über Freunde oder Bekannte. Die Nachbarn in Quantico wissen jedenfalls nicht, weshalb die Emmersons hierher gezogen sind."
„Na schön", meinte Gibbs und rollte seine Schultern, um seine Muskeln ein wenig zu entspannen. So wie es aussah, kamen sie momentan nicht vom Fleck und es würde schwer werden, den Einbrecher zu finden, da er anscheinend keine Spuren hinterlassen hatte. Aber sein Instinkt verriet ihm, dass da irgendetwas faul war. Noch konnte er jedoch nicht sagen, was ihn an der ganzen Sache störte. Diesen Gedanken konnte er allerdings nicht weiterverfolgen, da sein Handy klingelte und ihn somit störte. Mit zwei großen Schritten war er bei seinem Schreibtisch, nahm das kleine Gerät, klappte es auf und meldete sich mit einem üblichen knappen „Gibbs." Ein paar Sekunden später legte er wieder auf und blickte zu seinem Team, das ihn neugierig musterte. „Ducky ist mit der Autopsie fertig", sagte er und eilte so schnell zum Fahrstuhl, dass die anderen eine Sekunde lang brauchten, um zu realisieren, dass er nicht mehr vor seinem Schreibtisch stand. Kurz bevor sich die Türen aber schließen konnten, quetschten sich die Drei in die kleine Kabine, die sie in Sekundenschnelle in den Keller brachte.

Es war das erste Mal, dass Chris in der Pathologie war und als sich die Türen des Fahrstuhles mit einem leisen Pling öffneten, versuchte er den Eindruck zu erwecken, er wäre jeden Tag hier unten. Im Gegensatz zum Großraumbüro herrschte im Keller eine angenehme Stille. Es gab keine hektisch herumlaufende Agents, kein Telefongeklingel oder laute Stimmen. Genauso wenig waren hier Fenster zu finden, die etwas Sonnenlicht in die Räume hätte bringen und somit die Atmosphäre ein wenig aufheitern hätten können. Das einzige Licht kam von beinahe kalt wirkenden Lampen hoch oben an der Decke und ließ Chris unwillkürlich frösteln. Der Keller war ein Ort des Todes, dass erkannte er sofort, kaum dass er einen Fuß in den Gang gesetzt hatte. Zielsicher steuerte Gibbs auf die Glastür zu, hinter der sich unverkennbar zwei Personen aufhielten, die sich unterhielten. ‚Das ist also Duckys Reich', dachte der junge Mann, schluckte eher unbewusst und widerstand nur mit Mühe dem Drang, seine Hände nervös zu kneten. Irgendwie fühlte er sich hier unten unwohl, was wahrscheinlich an dem fehlenden Sonnenlicht lag. Er war schon immer ein Mensch gewesen, der sich gerne im Freien aufhielt und nicht unter der Erde. Außerdem erinnerte ihn der Gang und die Räume der Pathologie – die sie eine Sekunde später betraten – ein wenig an Krankenhäuser. Und wenn es etwas gab, was er überhaupt nicht ausstehen konnte, dann waren es Spitäler. Er musste schon halbtot sein, wenn er einmal zum Arzt ging. Chris konnte vor allem den Geruch nach Desinfektionsmitteln nicht ausstehen und es war dieser Geruch, der sich in seiner Nase festsetzte, als sich die Türen leise zischend öffneten und sie in den großen Raum einließen. Am liebsten wäre er einfach stehen geblieben und hätte beim Fahrstuhl, oder noch besser, im Großraumbüro, auf die anderen gewartet, aber dadurch würde er nur riskieren, dass sein falsches Spiel aufflog und er im Knast landete, während sein Bruder wieder frei herumlief und sein ursprüngliches Leben lebte – vorausgesetzt, er verriet sein Versteck.
Ein einziges Mal hatte er ein Gefängnis von innen gesehen und auch nur, weil er übersehen hatte, dass das Haus, in das er eingedrungen und dessen Besitzer er um ihren Schmuck und Bargeld erleichtern hatte wollen, eine gut versteckt installierte Alarmanlage gehabt hatte, die einen stummen Alarm ausgelöst hatte. Noch während er die Schränke durchwühlt hatte, hatten ihn zwei Cops dabei überrascht und sofort festgenommen. Sechs Monate später war er wieder ein freier Mann und seitdem viel vorsichtiger gewesen, wenn er andere Leute um ihr Bares erleichtert hatte.
Chris schüttelte den Kopf, um die nicht sehr schönen Erinnerungen an die enge Zelle loszuwerden und konzentrierte sich auf die Leiche, die auf einen der beiden Stahltische lag und die Jimmy gerade zunähte. „Da seid ihr ja endlich", sagte Ducky und wandte sich kurz darauf an seinen Assistenten: „Mister Palmer, passen Sie auf, dass Sie alles ordentlich machen und nicht wieder einen Stich auslassen." „Natürlich, Doktor", erwiderte dieser, wobei seine Wangen von einem Hauch von Rosa überzogen wurden und er schnell den Kopf senkte, damit es die anderen nicht mitbekamen.
Obwohl Commander Emmerson von dem Blut - das am Morgen noch seinen Schädel, Gesicht und Kleidung bedeckt hatte - befreit worden war, sah er jetzt noch viel schlimmer aus. Dadurch, dass die rote lebensnotwendige Flüssigkeit nun verschwunden war, kamen die zahlreichen Verletzungen wunderbar zur Geltung und hoben sich deutlich von der blassen Haut ab. Sein Kopf wirkte noch deformierter als am Tatort und die Wunden noch größer und grässlicher. Dass sein Oberkörper jetzt zusätzlich mit einer Y-förmigen Narbe verziert wurde, machte den Anblick nicht unbedingt erträglicher. Das Einzige, was an dem Toten noch heil zu sein schien, waren die Beine.
„Was kannst du uns sagen, Duck?" fragte Gibbs und wünschte sich, er hätte sich vorher einen Becher Kaffee besorgt. Denn wie nicht anders zu erwarten, begann sein Freund mit einer seiner üblichen langen und ausschweifenden Reden. „Nun, Jethro, der Arme hat ziemlich viele Schläge mit einem harten länglichen Gegenstand abbekommen. Der Mörder hat mit viel Wucht zugeschlagen und bereits beim ersten Mal den Kopf getroffen, wodurch der Knochen des Schädels wie eine Eierschale gesprungen ist. Das erinnert mich übrigens an eine Geschichte aus dem Jahre 1988. Leider war ich nicht selbst dabei, aber mein guter Freund Trevor aus Edinburgh hat damals einen Mann obduziert, der ähnliche Verletzungen aufgewiesen hat. Zwei Tage später wurde erneut eine Leiche gefunden, die genauso…" „Könnten wir uns auf diesen Fall konzentrieren, Duck?" fragte Gibbs und presste seine Kiefer so fest aufeinander, dass es beinahe schmerzte. Heute hatte er absolut keinen Nerv für eine dieser langen Geschichten.
Chris hingegen fand es schade, dass der Pathologe unterbrochen worden war. Wenn es nach ihm ging, hätte er die Geschichte zu Ende erzählen dürfen, denn sie hörte sich durchaus spannend an und er liebte nun einmal alle Art von Krimis. Allerdings schien er der Einzige zu sein, der nicht gerade glücklich darüber war, dass es nicht weiterging, denn sowohl Ziva als auch McGee hatten einen erleichterten Gesichtsausdruck aufgesetzt.
„Wo war ich stehen geblieben?" fragte Ducky und runzelte die Stirn, so als ob er sich zu erinnern versuchte. „Ah ja, genau, bei den Schlägen. Der Commander wurde durch den ersten Schlag sofort bewusstlos und bekam somit zu seinem Glück nicht mehr mit, wie der Mörder mehrmals auf ihn einschlug. Nach der Anzahl der Verletzungen dürfte er sechs Mal getroffen worden sein, drei Mal am Kopf und drei Mal im Brustbereich. Dabei wurden sieben Rippen gebrochen, wobei sich eine davon in die Lunge gebohrt hat. Der Arme ist an den Schlägen am Kopf gestorben, aber so wie es aussieht, wollte der Täter auf Nummer sicher gehen und hat ihm zusätzlich ein Messer genau ins Herz gerammt." „Ein wirklich unglaublich guter Stich", meldete sich Jimmy zu Wort. „Genau mitten in…" Als ihn fünf Augenpaare ansahen, zog er es jedoch vor, sich wieder ans Zusammennähen zu machen.
„Und was ist mit dem Todeszeitpunkt?" fragte Chris aus einem Impuls heraus und plötzlich war er es, der angestarrt wurde. Er kam sich vor, als ob ihn zahlreiche helle Scheinwerfer anstrahlen würden. „Was ist?" Irritiert hob er seine Augenbrauen. Ducky schüttelte leicht seinen Kopf und lächelte. „Du wirst Gibbs immer ähnlicher, Tony", meinte er und zwinkerte ihm zu. „Ihr beide seid ungeduldig und ihr könnt nicht schnell genug an Informationen gelangen. Fehlt nur noch, dass du anfängst, in deinem Keller ein Boot zu bauen." „Ein Boot in einem Keller bauen? Wie geht denn das?" Überrascht sah er zu Jethro, der ihn mit einem amüsierten Funkeln in den Augen musterte. „Indem man einzelne Holzbalken so anordnet und sie miteinander verbindet, dass sie die Form eine Bootes haben, DiNozzo", erwiderte dieser. „Und wie willst du das Ding da rausbekommen?" fragte Chris interessiert und überhörte geflissentlich die Anleitung mit den Holzbalken. Außerdem fühlte er sich seit langem wieder einmal mehr als stolz. Denn dass der Pathologe gemeint hatte, er wäre Gibbs ziemlich ähnlich, zeigte ihm, dass er seine Rolle überzeugend spielte, denn es war anscheinend nichts Neues, dass sich Tony wie der Chefermittler verhielt.
„Keine Ahnung", antwortete Jethro auf die Frage, wie er sein Boot aus dem Keller herausbringen wollte. „Darüber werde ich mir den Kopf zerbrechen, wenn es fertig ist. Und könnten wir uns jetzt endlich wieder um den Fall kümmern, anstatt über meine Freizeit zu reden? Sonst habt ihr gleich massenhaft davon." Ducky schüttelte den Kopf, wobei er sich ein Lächeln verkneifen musste. Auch wenn sich hinter seiner Aussage die Drohung zur Kündigung versteckte, so wusste er genau, dass er niemals einen seiner Agents feuern würde. Dazu mochte er sie viel zu gerne, auch wenn er dies wohl nie zugeben würde – jedenfalls, wenn andere Leute anwesend waren.
„Wenn ich mich recht erinnere, waren wir beim Todeszeitpunkt", sagte der Pathologe, legte seine Fingerspitzen aneinander und fuhr fort: „Der Commander ist zwischen sieben und acht Uhr heute Morgen verstorben." „Seine Frau kann von Glück reden, dass sie mit ihrer Freundin frühstücken war", meinte Ziva. „Sonst würde sie womöglich auch noch hier liegen." „Und der Junge wäre somit ein Vollwaise", spann McGee den Faden weiter. „Ich wäre lieber ein Vollwaise gewesen", murmelte Chris so leise, dass ihn niemand hören konnte - außer Gibbs. Zwar waren seine Augen nicht mehr die Besten, dafür funktionierte sein Gehör umso ausgezeichneter. Verwundert sah er zu dem jungen Mann, der ein wenig betrübt auf die Leiche starrte. ‚Was soll das bedeuten, Tony wollte lieber Vollwaise sein?' fragte er sich und runzelte die Stirn. Dieser hatte noch nie über seine Eltern oder Familie gesprochen, aber irgendetwas bedrückte ihn in diese Richtung, dass war unverkennbar. Auf ihn machte es den Eindruck, dass sein Agent alles andere als eine glückliche Kindheit gehabt hatte. Aber wieso kam diese Sache gerade heute an die Oberfläche und nicht schon viel früher? Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie einen Fall hatten, wo ein Vater oder eine Mutter oder sogar beide ermordet worden waren. Und jedes Mal war Tony wie immer gewesen, hatte nicht so ausgesehen, als ob ihn das an seine Vergangenheit erinnern würde. ‚Also, weshalb gerade heute?' überlegte Gibbs und musterte Anthony. Es war wirklich Zeit, ein klärendes Gespräch mit ihm zu führen – und zwar so bald wie möglich.

Kaum hatten sich die Türen geschlossen, setzte sich der Fahrstuhl mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck in Bewegung. Gibbs starrte auf den Rücken von Tony, der vor ihm stand und seine Hände in den Hosentaschen vergraben hatte. Wären sie jetzt alleine in der kleinen Kabine, würde er ohne Zögern den Aufzug anhalten und ihn fragen, was nur mit ihm los sei, warum er sich heute so komisch benahm. Sein Instinkt sagte ihm, dass vor seiner Nase etwas geschah, das er zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstand, aber er würde nicht locker lassen, bis er die Wahrheit erfuhr. Nicht umsonst war er einer der besten Ermittler, die der NCIS hatte.
„Ein Boot in einem Keller bauen? Wie geht denn das?" Die Worte hallten noch immer in Jethros Kopf wider und ließen ihm keine Ruhe mehr. Es war, als ob Tony das erste Mal gehört hatte, dass er ein Boot in seinem Keller baute. Den überraschten Ausdruck in den grünen Augen hatte er vor ein paar Minuten mehr als amüsant gefunden und sich eine trockene Antwort nicht verkneifen können, aber jetzt erfüllte es ihn mit Unbehagen. Sein Agent war schon einmal in seinem Keller gewesen, hatte das unfertige Boot gesehen und Witze darüber gerissen, dass er das Ding wohl nie hinausbringen würde, denn er könne es ja schlecht in den Händen die Stufen hinauftragen, geschweige denn, dass er es nicht einmal durch die Tür bringen würde. Und von einer Sekunde auf die andere hatte er das Alles vergessen? Konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er sich damals lustig darüber gemacht hatte? Litt er etwa unter Gedächtnisverlust? Denn genau das schien der Fall zu sein, obwohl die Momente des Unwissens nicht häufig waren. Man könnte glatt den Eindruck haben, Tony wäre nicht er selbst.
Oder hatte das Alles etwas mit dem Fall zu tun, der ihnen heute Vormittag ins Haus geflattert war? Was war so besonderes daran? Was war der Auslöser dafür gewesen, dass sich sein Agent plötzlich wünschte, Vollwaise gewesen zu sein? Irgendetwas musste in seiner Vergangenheit geschehen sein, das jetzt wieder hervorbrach und ihn bedrückte, obwohl er das mit seinem üblichen Gehabe zu überspielen versuchte. Gibbs konnte nur hoffen, dass Anthony genug Vertrauen ihm gegenüber hatte, um sich ihm anzuvertrauen. Wenn er wüsste, was in ihm vorging, dann konnte er ihm vielleicht auch helfen und die Dämonen der Vergangenheit austreiben. Er wusste nur zu gut, wie es war, wenn man von Erinnerungen eingeholt wurde, die man am liebsten vergessen würde, die aber immer da waren und einen zum ungünstigsten Zeitpunkt überfielen. Man musste lernen damit umzugehen und vor allem damit zu leben, egal wie schmerzhaft es war.
Das leise Pling, mit dem sich die Fahrstuhltüren öffneten, riss den Chefermittler aus seinen Gedanken und gleich darauf schallte ihm laute Musik entgegen, die seine Ohren klingeln ließen. Abby war wieder einmal in ihrem Element, was sich kurz darauf, als sie das Labor betraten, bestätigte. Wie ein Wirbelwind fegte sie durch ihre heiligen Hallen, bediente eine Maschine nach der anderen, tippte in atemberaubender Geschwindigkeit auf ihrer Tastatur herum und schaffte es nebenbei im Takt des Liedes mit dem Kopf zu wippen.
Wie immer führte Gibbs der erste Weg zur Stereoanlage, dessen Off Knopf er mittlerweile mit verbundenen Augen finden würde, so oft hatte er ihn schon gedrückt, um den Lärm in wohltuende Stille zu verwandeln. Von dieser plötzlichen Ruhe aufgeschreckt, merkte die Forensikerin erst jetzt, dass sie Besuch hatte und ein strahlendes Lächeln, das noch so finstere Wolken ohne Mühe vertrieben hätte, erhellte ihr Gesicht. „Hey, Leute", begrüßte sie alle mit freudiger Stimme und ihre Augen blieben eine Sekunde länger an Chris hängen, dem das nur allzu bewusst war. Ihm war klar, dass sie weiterhin misstrauisch war und er fragte sich, was er wohl dagegen tun konnte. Abwarten war das einzig Sinnvolle, was ihm auf die Schnelle einfiel und so erwiderte er einfach ihr strahlendes Lächeln. Abby wandte sich wieder von ihm ab, was ihn erleichtert durchatmen ließ und blickte zu Gibbs, der seine Augenbrauen zusammengezogen hatte – ein Zeichen, dass er bereits ungeduldig wurde.
„Hast du schon etwas Wichtiges herausgefunden?" fragte er und versuchte seine Stimme bedrohlich wirken zu lassen, was an der jungen Goth jedoch wie ein Gummiball von einer harten Oberfläche abprallte. „Kommt ganz auf die Definition von Wichtig an", kam prompt die Antwort. „Manche glauben, dass…" „Abbs, komm zur Sache. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit." „Wie wahr", murmelte Chris und linste unauffällig auf seine Uhr – es war kurz vor 17 Uhr. Verdammt, er hatte doch tatsächlich vergessen, Tony zu fragen, wann regulärer Feierabend war oder ob das Gibbs bestimmte. Er konnte nur hoffen, dass er nicht bis in die späte Nacht hier festsaß. Immerhin wollte er seinem Bruder noch einen kleinen Besuch abstatten und ihm von seinem ersten Tag, der seiner Meinung nach gar nicht so schlecht verlaufen war, erzählen. Andererseits, was machte es schon, wenn er etwas länger im Hauptquartier bleiben musste. Es war ja nicht so, dass Anthony irgendwo hin konnte, von daher konnte er ihn auch spät in der Nacht besuchen und ihn – falls es erforderlich wäre – aus dem Schlaf reißen.
„Zu Befehl, mein silberhaariger Fuchs", sagte Abby, tippte etwas in ihre Tastatur und auf dem großen Plasmabildschirm erschien ein Foto des Baseballschlägers, den sie in dem Haus gefunden hatten, allerdings war es eine vergrößerte Aufnahme, sodass man wunderbar die Kerben in dem Holz erkennen konnte, gepaart mit Blut, das bereits geronnen war. „Die Tatwaffe", meinte die Forensikerin und die betonte die beiden Worte, so als ob sie in einer Werbung ein neues Produkt vorstellen würde. „Das Blut stammt definitiv von Commander Emmerson. Außerdem habe ich zusätzlich ein wenig Hirnmasse gefunden. Ein weiterer Beweis dafür, dass er mit diesem Baseballschläger erschlagen worden ist. Zusätzlich befinden sich frische Kerben in dem Holz." „Also wurde damit auch die Wohnzimmereinrichtung zertrümmert", stellte McGee fest und besah sich das Bild mit zusammengekniffen Augen, wodurch er den Eindruck erweckte, dass er Pixel für Pixel nach wertvollen Hinweisen absuchen würde. „Ganz Recht, Timmy", erwiderte Abby, drückte eine Taste, der Baseballschläger verschwand und machte einem blutverschmierten Messer Platz. „Das hier dürfte schon viel interessanter werden", fuhr sie fort und grinste Gibbs an, der nur die Augenbrauen hob und sie fragend ansah. „Inwiefern?" wollte er gleich wissen und schien alleine mit seiner Willenskraft zu versuchen, die Goth zum Weiterreden zu bringen. Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, öffnete sie ihren Mund und sagte: „Neben dem ganzen Blut des Commanders habe ich welches gefunden, dessen Blutgruppe nicht zu der des Toten passt." „Also hat sich der Mörder geschnitten?" fragte Chris, obwohl es mehr als offensichtlich war, dass es sich so zugetragen hatte. „Genau. Und damit haben wir die DNA des Täters." „Kannst du uns auch einen Namen nennen?" wollte der Chefermittler wissen, aber er wusste bereits, wie die Antwort lauten würde. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn sich der Fall als so leicht entpuppt hätte. „Tut mir leid, Gibbsman", entgegnete Abby und verzog entschuldigend ihren Mund. „Ich habe jede Datenbank abgesucht, oder besser gesagt, hat das der Computer für mich erledigt. Aber keinen Treffer." „Und was ist mit Fingerabdrücken?" meldete sich Ziva. „Negativ. Der Griff des Messers war sauber und am Baseballschläger habe ich nur Abdrücke des Commanders gefunden." „Also stehen wir wieder am Anfang", sagte McGee und fuhr sich durch seine kurzen Haare. „So würde ich das nicht ausdrücken", erwiderte Chris und grinste. „Immerhin können wir jetzt die DNA mit einem Verdächtigen abgleichen." „Wenn wir einen Verdächtigen hätten", gab Ziva ihren bissigen Kommentar dazu ab. „Und da wir keinen haben, werden wir uns so schnell wie möglich einen suchen", entgegnete Gibbs und unterband damit den aufkeimenden Streit der beiden. Für diese Kindereien hatte er momentan keinen Nerv. Außerdem brauchte er dringend einen Kaffee, sein Koffeinspiegel war bereits am unteren Level angelangt, was seiner Laune nicht gerade förderlich war. Er wollte seinen Agents bereits aus dem Labor folgen, als ihn Abbys Stimme inne halten ließ: „Kann ich dich kurz sprechen, Gibbs?" Überrascht sah er sie an, wie sie wie ein kleines Mädchen von einem Fuß auf den anderen trat und auf ihn einen nervösen Eindruck machte. „Sicher. Ich komme gleich nach", wandte er sich an die Drei, die auf der Schwelle der Tür stehen geblieben waren und auf ihren Boss warteten. Ein stechender Blick aus seinen Augen genügte, um sie das Labor endgültig verlassen zu lassen.
„Also, worum geht es?" wollte er wissen und drehte sich zu Abby um, die unsicher an ihrer Unterlippe herumkaute. Jetzt, wo sie mit Jethro alleine war, hatte sie das Gefühl, keine richtigen Worte zu finden, obwohl sie sie sich vorher zurechtgelegt hatte. Aber irgendwie waren sie jetzt verschwunden, also entschied sie sich für den Frontalangriff. „Irgendetwas stimmt nicht mit Tony", sagte sie schließlich, als sich die Stille bereits wie ein besonders zäher Kaugummi gedehnt hatte. „Ich weiß auch nicht, wie ich das beschreiben soll", fuhr sie ganz schnell fort, jetzt, wo ihr die Worte wieder einfielen. Gibbs sah sich mit erhobenen Augenbrauen an, aber sie ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. „Etwas ist anders an ihm. Ich könnte schwören, dass seine Haare auf einmal länger sind, so als ob sie über Nacht ein wenig gewachsen wären und seine Haut ist brauner. Tony hat behauptet, er wäre in einem Sonnenstudio gewesen, aber…" „Aber du kaufst ihm das nicht ab", vollendete der Chefermittler den Satz und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Also war er nicht der Einzige der fand, dass mit seinem Agent etwas nicht stimmte. „Tony ist nicht der Typ, der ins Sonnenstudio geht, außer er hegt die Hoffnung, dort Frauen aufzureißen." Jethro grinste bei diesen Worten, war ihm doch mehr als bekannt, dass der Jüngere keine Möglichkeit ausließ, um Frauen kennenzulernen. Aber er wurde gleich darauf wieder Ernst. Abby sah ihn unsicher an und wartete darauf, dass er etwas zu ihrer Vermutung sagte. „Du hast Recht, Abbs. Irgendetwas ist mit DiNozzo los", erwiderte er schließlich. „Aber ich denke, dass liegt an dem Fall, den wir bearbeiten. An irgendetwas scheint ihn das zu erinnern." „Wie meinst du das?" „Vorher in der Pathologie hat er fast unhörbar geflüstert, dass er lieber Vollwaise hätte sein wollen." „Vollwaise?" wiederholte die Forensikerin verblüfft und blickte ihn skeptisch an. „Ich hatte aber ständig den Eindruck, dass Tony eine glückliche Kindheit hatte, wenn er von seiner Familie gesprochen hat, was, zugegeben, nicht oft vorgekommen ist. Dennoch schien er ein recht gutes Verhältnis mit seinen Eltern gehabt zu haben. Wieso sollte er plötzlich so etwas sagen?" Gibbs schüttelte ein wenig frustriert den Kopf. Er hasste es, wenn er mitbekam, dass einem seiner Agents etwas zu schaffen machte, er aber nichts dagegen tun konnte. Wieso vertraute sich Tony ihm nicht einfach an? Hatte er Angst, er würde von dem Fall abgezogen werden oder sonst irgendwelche Konsequenzen tragen müssen?
„Ich weiß es nicht, wieso er das gesagt hat, aber ich werde es sicher herausfinden", meinte Jethro schließlich. „Ein Gespräch unter vier Augen wirkt manchmal wahre Wunder. Ich hatte sowieso vor, bald mit ihm zu reden. Am Besten noch heute." Abby verzog skeptisch ihren Mund. „Ich weiß nicht, Bossman. Wenn Tony wegen einem Ereignis in seiner Vergangenheit durcheinander ist und du ihn auf deine nette Art und Weise drängst, es dir zu verraten, kann es sein, dass die Sache nach hinten losgeht und er sich noch weiter zurückzieht. Lass ihm ein wenig Zeit. Vielleicht ist er morgen schon wieder ganz der Alte."
Gibbs ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Innerlich wusste er, dass sie Recht hatte. Er würde Tony wahrscheinlich in die Enge treiben und ihn einem regelrechten Verhör unterziehen, nur um herauszufinden, was mit ihm los war. Aber dennoch wusste er, dass sie beide um ein Gespräch nicht herumkamen, vorausgesetzt, DiNozzo benahm sich bald nicht wieder wie er selbst. Auch wenn er spürte, wie es ihm unter den Fingernägeln brannte, herauszufinden, was damals geschehen ist, weshalb Anthony lieber Vollwaise hätte sein wollen. Ihm war bewusst, würde er mit ihm noch heute im Fahrstuhl verschwinden, würde er ihn sicher anbrüllen und das Ganze würde in einen Streit ausarten, mit dem Ergebnis, dass er nicht schlauer als vorher sein würde. Dem Chefermittler war klar, dass er erst einmal selbst seine Ungeduld unter Kontrolle bringen musste, bevor er mit Tony redete. Denn mit schreien und Drohungen würde er diesmal nicht weit kommen. Es wäre das Beste, wenn er alle in den Feierabend schicken würde und einfach bis morgen abwartete, wie sich die Sache entwickelte. Und vielleicht hatte es sich bis dahin von selbst geregelt. Wenn nicht, musste er wohl oder übel seine einfühlsame Seite hervorkramen und Anthony klar machen, dass er sich ihm anvertrauen konnte und dass er ihm bei seinen Problemen helfen würde.
„Du hast Recht, Abbs", sagte er nach ein paar Sekunden des Überlegens. „Ich werde bis morgen warten, aber wenn sich DiNozzo bis dahin nicht wieder in sich selbst zurückverwandelt hat, werde ich mit ihm sprechen." „Aber ohne ihn anzubrüllen. Damit würdest du ihn nur vergraulen", erwiderte sie und blickte ihn etwas zweifelnd an, nicht sicher, ob er das auch machen würde. Ihr war bewusst, dass sich hinter Tonys selbstbewusster Fassade und seiner humorvolle Art ein ganz anderer Mann versteckte. Ein Mann, der Angst hatte, verletzt zu werden, wenn er seine wahren Gefühle zeigte.
„Ich weiß", meinte der Chefermittler auf ihre letzte Aussage. Die Idee, früher Feierabend zu machen, fand er immer reizvoller und während er an seinem Boot baute, konnte er sich eine Strategie zulegen. Es ging doch nichts über das beruhigende Schleifen von Holz, um zu verhindern, dass man seinen Agent zur Schnecke machte.
„Du bekommst das bestimmt hin", sagte Abby und klopfe ihm auf die Schulter. „Und vielleicht ist alles nur halb so schlimm wie wir glauben." „Ich hoffe es, Abbs. Ich hoffe es", erwiderte Gibbs, auch wenn er nicht wirklich daran glaubte.

Fortsetzung folgt...
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