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Etwas außerhalb von Washington
Kurz vor 19 Uhr


Irgendwann hatte ich mich wieder auf das Bett gesetzt, den Rücken gegen das hölzerne Kopfteil gelehnt und schmökerte in Moby Dick weiter. Ich hatte meine Beine angewinkelt, das Buch auf meinen Oberschenkeln platziert und die Hände, die ich nur rührte, wenn ich eine Seite umblättern musste, hinter meinem Kopf verschränkt. Meines Wissens nach hatte ich seit einer kleinen Ewigkeit nichts mehr gelesen – außer langweilige Akten, die mir Gibbs von Zeit zu Zeit auf den Tisch knallte, mit einem knappen Befehl begleitet, er wolle sie vor Feierabend fertig auf seinem Platz lieben haben. Hatte ich ihn früher dafür innerlich verflucht, so wünschte ich mir jetzt seine unnachahmliche nette Art herbei, mit der er mich regelmäßig behandelte. Momentan fehlte mir das Reden mit einer Person mehr als Sonnenlicht oder Bewegungsfreiheit – nicht dass ich mich über zu wenig Bewegungsfreiheit beklagen würde. Mir war bewusst, dass mich Chris irgendwo anketten hätte können, sodass ich mich fast gar nicht mehr rühren hätte können und dazu verdammt gewesen wäre, nur herumzusitzen. Dadurch, dass er mir ein paar Unterhaltungsmedien dagelassen hatte, war in mir ein kleiner Hoffnungsschimmer entstanden, dass er mich doch noch ein wenig mochte. Mittlerweile konnte ich mir auch nicht mehr vorstellen, dass er mich einfach so umbringen würde. Egal was in der Vergangenheit zwischen uns vorgefallen war, so war Chris nie gewalttätig oder gefühllos gewesen – sah man von dem einen harten Faustschlag ab, den er mir verpasst hatte und der eher eine sekundenschnelle Reaktion gewesen war, anstatt wohlüberlegt.
Er hätte mich gestern auch einfach bewusstlos schlagen können, aber stattdessen hatte er mich mit einem Beruhigungsmittel außer Gefecht gesetzt, das mir zwar Kopfschmerzen, aber keine Gehirnerschütterung eingebracht hatte. In den letzten Stunden hatte ich genügend Zeit gehabt, über unsere Kindheit nachzudenken und langsam begann ich meinen Bruder zu verstehen – konnte seinen Frust nachvollziehen. Deshalb war meine anfängliche Wut auf ihn auf ein geringes Maß gesunken, obwohl ich es immer noch nicht gut hieß, dass er mich hier einfach einsperrte und meine Identität übernommen hatte. Anscheinend spielte er seine Rolle wirklich überzeugend, sonst hätten mich meine Freunde schon längst befreit – außer Chris weigerte sich zu verraten, wo ich mich befand. Würde er mich hier wirklich versauern lassen? Mir war bewusst, dass er den Schlüssel zu der Tür einfach wegschmeißen und mich verhungern lassen könnte. Das mit dem Verhungern würde wahrscheinlich ziemlich schnell gehen, da die Snacks, die er mir dagelassen hatte, nicht wirklich nahrhaft waren. Mein Magen knurrte seit geraumer Zeit und ließ sich nicht einmal mit ein paar Keksen beruhigen. Ich sehnte mich nach einem großen Hamburger oder noch besser: nach einer Pizza mit extra viel Käse.
Obwohl es durchaus sein könnte, dass mich Chris einfach vergaß, so spürte ich tief in meinem Inneren, dass er mir heute noch einen Besuch abstatten würde. Und wenn es so weit war, hoffte ich, dass er mir etwas zu Essen mitbringen würde – am Besten, eine ganze Wagenladung davon.
Ich seufzte leise, löste eine Hand von meinem Hinterkopf und blätterte eine weitere Seite des Buches um, nur um gleich darauf über meinen Magen zu reiben, der sich laut zu Wort meldete und sogar das Lied, welches gerade auf MTV lief, übertönte. Mein Blick schweifte zu der Kommode, in der die Snacks verstaut waren und förmlich darauf warteten, von mir verschlungen zu werden. Ich wollte mir die Sachen eigentlich aufheben, da ich ja nicht wusste, wann sich mein Bruder hierher bequemen würde. Immerhin war es nicht zu übersehen gewesen, dass dem NCIS ein neuer Fall ins Haus geflattert war und wie ich Gibbs kannte, bedeutete das jede Menge Überstunden.
Ein weiteres Knurren nahm mir aber schließlich die Entscheidung ab. Ich bog eine Ecke der Seite, die ich gerade zu lesen begonnen hatte, um, klappte das Buch zu und wollte gerade die Beine über das Bett schwingen, als mich das unverkennbare Geräusch eines Schlüssels, der in ein Schloss gesteckt wurde, inne halten ließ. Unwillkürlich fing mein Herz schneller an zu schlagen und ich rührte mich nicht vom Fleck. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich auf die Tür, deren Klinke langsam hinuntergedrückt wurde und schließlich lautlos aufschwang. Eine Sekunde später tauchte Chris auf, mit einem glücklichen Gesichtsausdruck, den ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Seine Körperhaltung war entspannt und er hatte ein freudiges Lächeln auf den Lippen, das nicht gespielt war. Er hatte seine Kleidung vom Vorabend gewechselt und trug nun eines meiner Hemden und Jeans. Meine Marke und die Pistole waren noch immer an seiner Hüfte befestigt und erinnerten mich erneut daran, wer er jetzt war. Aber diesmal interessierte ich mich nicht sonderlich dafür. Viel wichtiger war der Gegenstand, den er in beiden Händen hielt – ein große Pizzaschachtel, bei deren Anblick mein Magen sofort ein Knurren von sich gab und mir das Wasser im Mund zusammenlief.
„Hey, Tony", begrüßte er mich fröhlich, betrat den Raum und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt. „Angenehmen Tag gehabt?" Meine Muskelstarre löste sich bei seinen Worten in Luft auf und ich schnaubte. „Wenn du untätig auf einem Bett herumliegen, ein wenig lesen und fernsehen als einen angenehmen Tag bezeichnest, ja, dann hatte ich einen", antwortete ich eine Spur sarkastisch und schwang die Beine über das Bett. Gleichzeitig versuchte ich nicht allzu auffällig auf die Schachtel in seinen Händen zu starren, die mich wie magisch anzog. Chris sah mich für einen Moment an, bevor er zu lachen anfing. „Deinen Humor habe ich wirklich vermisst", erwiderte er schließlich belustigt, stellte die Pizza auf den Tisch und holte aus einem Rucksack – oder besser gesagt, meinen Rucksack - zwei Flaschen Bier heraus. Anschließend ließ er sich auf das Sofa fallen und streckte seine Beine aus. „Ich habe mir gedacht, du wirst sicher schon Hunger haben", fuhr er fort, da ich nichts gesagt hatte und auch jetzt noch keine Anstalten machte, ein Gespräch mit ihm anzufangen oder mich vom Fleck zu rühren, obwohl ich am liebsten aufgesprungen und mir die Pizza geschnappt hätte, die mittlerweile einen verführerischen Duft verströmte. „Ich habe nicht vergessen, dass du derjenige von uns beiden mit dem größeren Magen bist. Ich hoffe, du magst deine Pizza immer noch mit viel Käse?"
Chris beugte sich vor und öffnete die Schachtel, aus der prompt ein wenig Dampf entstieg und nahm sich ein Stück heraus, hielt aber inne, bevor er abbeißen konnte. „Was ist los?" wollte er wissen und sah mich mit einer erhobenen Augenbraue an. „Jetzt sag nicht, dass du keinen Hunger hast, Tony. Ich konnte das Knurren deines Magens vorher deutlich hören." Ich schüttelte den Kopf. „Was erwartest du eigentlich von mir?" fragte ich ihn etwas zu laut, weshalb er seine Augen zusammenkniff. „Glaubst du wirklich, ich setze mich gemütlich zu dir und könnte so tun, als ob nichts passiert wäre? Verdammt, du hast mich hier eingesperrt und ich war dabei, mich zu Tode zu langweilen. Und dann tauchst du wieder auf und glaubst, ich würde jetzt mit dir ein nettes Gespräch führen? Du hast vielleicht Nerven."
„Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist und…" „Sauer auf dich?!" unterbrach ich ihn. „Du nimmst an, ich wäre sauer auf dich?! Ich war es heute Morgen und auch noch teilweise am Nachmittag, aber mittlerweile tust du mir nur noch leid! Was kann ich denn dafür, wenn dich Mom und Dad nicht so wie mich behandelt und dich öfters gar nicht beachtet haben? Und du gibst mir die Schuld daran, habe ich Recht? Gibst mir die Schuld an einer Sache, für die ich im Prinzip nichts kann." Er zuckte mit den Schultern, hatte aber sichtlich Mühe, seinen Ärger zu verbergen, der in ihm während meiner Worte aufgestiegen war. „Du bist so ein Vollidiot, Chris!" Obwohl ich damit gerechnet hatte, ließ er sich durch meine Worte nicht aus dem Konzept bringen. „Du bist nicht der Erste, er mir das sagt." Gleich darauf biss er herzhaft in das Stück Pizza und kaute genüsslich. Ich schüttelte erneut den Kopf und wusste, mein kleiner Vortrag würde nicht dazu beitragen, dass ich hier herauskam. Meinen kleinen Widerstand aufgebend, stand ich auf und setzte mich ans andere Ende des Sofas, um zu meinem Bruder ein klein wenig Abstand zu wahren. Ohne lange zu zögern, schnappte ich mir ein Stück der Pizza, nahm einen großen Bissen und unterdrückte gerade noch einen zufriedenen Seufzer. „Und ich habe schon gedacht, du lässt mich hier verhungern", sagte ich mit vollem Mund. „Ich hatte auch vor, dich hungern zu lassen", erwiderte Chris und grinste bei meinem geschockten Gesichtsausdruck. „Ich war heute Vormittag richtig wütend auf dich, nachdem ich bemerkt habe, dass du mich angelogen hast." Mit Mühe schluckte ich den Bissen hinunter und versuchte gar nicht erst so zu tun, als ob ich nicht wüsste, wovon er sprach. „Ich wette, McGee hat ziemlich dumm aus der Wäsche gesehen, als du ihn mit seinem Vornamen angeredet hast." „Wenn sein Unterkiefer noch weiter hinuntergewandert wäre, hätte man ihm problemlos die Mandeln entfernen können." Er grinste, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Es war nicht gerade nett von dir, mich in Bezug auf McGee anzulügen. Du weißt genau, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn jemand nicht die Wahrheit sagt." „Hast du von mir etwas anderes erwartet? Ich bitte dich. Du übernimmst einfach mein Leben und glaubst, ich würde dir jedes noch so kleine Detail davon offenbaren. Da muss ich wohl meine Aussage von vorhin korrigieren. Du bist ein riesiger Vollidiot." Chris kniff seine Augen zusammen und funkelte mich ärgerlich an. „Hör auf, mich einen Vollidioten zu nennen." „Und ich dachte, ich wäre nicht der Erste, der dich als solchen bezeichnet." Ich nahm mir ein weiteres Stück und verschlang es innerhalb kürzester Zeit. Man hätte glatt den Eindruck haben können, ich hätte seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen. Während ich mit kauen beschäftigt war, ließ ich meinen Blick zu der nur angelehnten Tür schweifen, der Weg in die Freiheit. Aber ich müsste mehr als schnell sein, um überhaupt so weit zu kommen, immerhin saß ich am entfernteren Ende der Couch. Aber dennoch, es war nicht unmöglich, vor allem, da Chris dabei war, einen Schluck von seinem Bier zu nehmen. „Denk nicht einmal daran, Tony", sagte er im Plauderton und setzte die Flasche ab. „Woran soll ich nicht denken?" „An eine Flucht. Deine Augen kleben viel zu auffällig an der Tür. Du überlegst sicher gerade, ob du es schaffen könntest, ungehindert den Raum zu verlassen. Aber ich muss dich daran erinnern, dass ich derjenige mit der Waffe bin." Mit seiner freien Hand strich er über das Holster, zog sie aber nicht heraus. „Meine Waffe, wären wohl die richtigeren Worte." Ich ließ mich gegen die Sofalehne sinken, da ich wusste, dass Chris Recht hatte. Eine Kugel war viel schneller als ich und ob er es wirklich riskieren würde, auf mich zu schießen, wollte ich lieber nicht herausfinden. Es gab sicher eine andere Möglichkeit, um aus diesem Raum zu entkommen und bis ich ihn gefunden hatte, musste ich mich ein wenig gedulden.
„Jetzt ist sie nicht mehr deine Waffe, sondern meine." „Sei dir da nicht so sicher. Ich werde sie mir wieder zurückholen, wenn meine Freunde dein falsches Spiel durchschauen." Diese Worte entlockten ihm nur lediglich ein Grinsen und er bediente sich ein weiteres Mal von der Pizza. Anscheinend war ich nicht der Einzige, der hungrig war. So wie ich Gibbs kannte, hatte er wieder einmal verhindert, dass alle zu ihrem wohlverdienten Essen kamen. Aber gleich darauf wurde ich durch seinen nächsten Satz in die grausame Wirklichkeit zurückgeholt. „Deine Kollegen haben keinen blassen Schimmer, dass sie den ganzen Tag nicht mit Anthony DiNozzo zusammen gewesen sind." Meine Hand, die zu der Bierflasche gewandert war, hielt inne und ballte sich unwillkürlich zu einer Faust. Das konnte doch nicht wahr sein, dass sie nichts gemerkt hatten. Sie mussten doch aus einer Meile Entfernung riechen, dass etwas nicht stimmte. Wo war nur Gibbs' feines Gespür für Lügen? Bei jedem Verhör merkte er sofort, wenn ihm jemand nicht die Wahrheit erzählte und dann entging es ihm, dass nicht ich es war, der an meinem Schreibtisch gesessen und in Quantico gewesen war?
„Zwar hatte ich ein paar Startschwierigkeiten", fuhr Chris fort und grinste wegen meiner geschockten Reaktion. „Aber die haben sich schließlich in Luft aufgelöst. Ich muss sagen, mein erster Tag als Special Agent war unglaublich. Jeder hat mich respektiert und nicht einfach links liegen lassen. Du hast ein Glück, solche Freunde zu haben, weißt du das? Sogar Gibbs scheint dich zu mögen, wenn auch auf andere Art und Weise wie die anderen. Allerdings scheint er seine Mitarbeiter gerne zu schlagen, oder täusche ich mich da?" War ich vor Sekunden noch wegen der Tatsache, dass es niemandem auffiel, dass nicht ich im Büro gewesen war, mehr als deprimiert gewesen, so hellte sich meine Stimmung prompt auf. Auf meinem Gesicht breitete sich ein schadenfrohes Grinsen aus und ich griff nach der anderen Bierflasche, um einen großen Schluck zu trinken.
„Dann bist du also in den Genuss einer von Gibbs' Kopfnüssen gekommen?" fragte ich und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme einen höhnischen Klang annahm. Die Vorstellung, wie Chris einen saftigen Klaps erhielt und nicht ich, amüsierte mich mehr als die witzigste Komödie und ich vergaß für einen Moment, dass ich eigentlich in Schwierigkeiten steckte.
„Nicht nur eine. Es waren zwei." Mein Grinsen wurde noch breiter und ich nahm mir zur Belohnung, dass er es doch nicht so leicht gehabt hatte wie er gedacht hatte, ein weiteres Stück Pizza. „Wenn du weiterhin mich spielen willst, musst du dich wohl oder übel daran gewöhnen", sagte ich mit vollem Mund. „Es vergeht kein Tag, an dem er keine Kopfnüsse austeilt und sei es nur, weil du eine Sekunde länger brauchst, um einen seiner Befehle auszuführen." „Ich denke, dass werde ich schon aushalten oder ihm einfach keinen Anlass mehr dazu geben, mir eine zu verpassen. Allerdings würde es mehr als komisch aussehen, wenn ich mich plötzlich am Riemen reißen würde. Mich haben ja schon alle schief angesehen, nur weil ich vor sieben Uhr aufgetaucht bin." Ich schluckte den Bissen hinunter und hatte das Gefühl, mein Grinsen würde gar nicht mehr aus meinem Gesicht verschwinden. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie alle Chris mit großen Augen angestarrt hatten, weil er pünktlich zur Arbeit erschienen war. „Tja, ich habe da das kleine Problem, dass ich gerne verschlafe", erwiderte ich noch immer grinsend, worauf mein Bruder seine Mundwinkel ebenfalls nach oben zog. „Was mich eigentlich nicht wundern sollte. Es war schon früher eine Schwerstarbeit, dich aus dem Bett zu schmeißen." „Manche Sachen ändern sich eben nie." Das Schweigen, das sich nach dem kurzen Dialog ausbreitete, war überraschend friedlich und nicht feindselig. In unserer Kindheit waren wir öfters so beisammen gesessen ohne ein Wort zu sagen, hatten einfach den Geräuschen um uns herum gelauscht, so wie jetzt dem Fernseher. Ich sah zu dem Bildschirm, wo Madonna gerade erschien und ihren neuesten Hit zum Besten gab.
„Ich habe dich heute im Fernsehen gesehen", durchbrach ich schließlich unser Schweigen und blickte wieder zu Chris, der mit seinen Gedanken ganz wo anderes gewesen war. Wahrscheinlich wäre es ein Leichtes gewesen, jetzt abzuhauen, aber irgendwie wollte ich es gar nicht. Ich wollte die Kluft zwischen uns wieder verschließen und wenn ich davonlief, würde ich ihn wahrscheinlich für immer verlieren. Ich erinnerte mich an mein Versprechen, das ich mir vor Stunden selbst gegeben hatte. Egal wie lange es dauerte, ich würde hartnäckig versuchen, meinen Bruder, so wie ich ihn kannte, hervorzuholen. „Wirklich?" fragte er überrascht, nachdem er sich ein wenig aufgesetzt und seine Aufmerksamkeit wieder mir zugewandt hatte. „Ihr seid in den Nachrichten gewesen, als ihr den Stützpunkt in Quantico verlassen habt. Muss ein grausamer Mord gewesen sein, jedenfalls hat das die Reporterin erzählt." „Grausam ist nicht einmal annähernd der richtige Ausdruck dafür. Es ist nicht gerade ein netter Anblick, wenn einem der Schädel mit einem Baseballschläger eingeschlagen wurde." „Und Gibbs hat euch nicht zu Überstunden verdonnert?" fragte ich verblüfft und trank einen weiteren Schluck Bier. Wenn es einen neuen Fall gab, dann kam es nicht selten vor, dass wir bis spät in die Nacht hinein arbeiteten, um den Mörder zu finden. „Nein, hat er nicht. Um kurz nach sechs hat er uns in den Feierabend geschickt." „Da bin ich einmal nicht in der Arbeit und schon dürft ihr früher nach Hause. Das ist echt nicht fair." Ich ließ mich in die Polster zurücksinken und starrte abwesend an die Decke. Seit ich Jethro kannte, war es nicht oft vorgekommen, dass er uns vor sechs Uhr erlaubt hatte, Schluss zu machen. Wurde er vielleicht ebenfalls durch einen Zwillingsbruder ersetzt? Bei dieser Vorstellung schüttelte ich den Kopf und setzte mich wieder aufrecht hin. Obwohl es mich brennend interessierte, mehr über den Fall zu erfahren, so hielt ich mich zurück. Für mich war es wichtiger, mich mit Chris zu beschäftigen. Ich wollte etwas über die letzten 15 Jahre wissen, in denen ich keinen Kontakt zu ihm gehabt hatte, wollte wissen, wie es ihm so ergangen war, was er alles gemacht hatte.
Bestimmt stellte ich die Bierflasche auf den Tisch zurück und rückte in wenig an ihn heran, verringerte die Distanz zwischen uns, ließ aber noch genügend Abstand, damit er sich nicht bedrängt fühlte. „Wo hast du bloß die ganzen Jahre über gesteckt?" fragte ich vorsichtig, da ich mir nicht sicher war, wie er darauf reagieren würde. „Ich habe mich ziemlich oft gefragt, wo du bist und was du gerade machst." „Da wirst du sicher der Einzige gewesen sein", erwiderte er leise und für einen kurzen Moment verfinsterte sich sein Gesicht. „Komm schon, Chris. Erzähl mir etwas von deinem Leben. Ich würde gerne…" „Was würdest du gerne?" unterbrach er mich unwirsch. „Mich mit deinen Worten einlullen? Mich um den kleinen Finger wickeln, damit ich dich gehen lasse?" „Nein, ich will mich nur ein wenig mit dir unterhalten und mehr über dich erfahren." Er beugte sich ein wenig vor und kniff seine Augen zusammen. „Du willst also mehr über mich erfahren? Ich war die ganze Zeit in L.A. und habe mir dort ein neues Leben aufgebaut. Und weißt du was das Erste gewesen ist, was ich gemacht habe? Ich habe meinen Nachnamen geändert, mich damit für allemal von den DiNozzos losgesagt und somit meine Vergangenheit hinter mir gelassen. Zum ersten Mal habe ich mich so richtig frei gefühlt und habe tun und lassen können, was ich wollte, ohne gleich die Befürchtung zu haben, ich würde Dad dadurch gegen mich aufbringen. Es gab keinen, der mir Vorschriften gemacht hat und vor allem keine Menschen, die mich hintergangen haben."
Es war offensichtlich, dass mein Versuch, mehr über sein Leben herauszufinden, gerade nach hinten losgegangen war. Wut glomm in seinen Augen auf und er hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Ich schluckte und widerstand nur mit Mühe dem Drang, seinem Blick auszuweichen. „Hör auf damit, Chris", sagte ich leise. „Das liegt über 15 Jahre zurück. Ich habe dir sogar verziehen, dass du mir beinahe den Unterkiefer gebrochen hast und…" „Schön für dich", erwiderte er laut und seine Stimme hatte einen kalten Klang angenommen. „Aber ich habe dir nicht verziehen. Ich hatte wirklich gedacht, du wärst anders als unsere ach so tollen Eltern, aber ich habe mich nur in dir getäuscht." „Es war nicht so wie es ausgesehen hat. Lass mich…" „Halt deine Klappe, Tony!" schrie er mich an und sprang auf. „Ich weiß genau was ich gesehen habe, also spar dir deine Erklärung! Ich will sie nicht hören, es würden doch nur Lügen über deine Lippen kommen!"
„Chris…" begann ich, musste aber einsehen, dass es sinnlos war. Er hatte vor sich wieder eine Mauer aufgebaut und sie einzureißen war momentan ein Ding der Unmöglichkeit. „Halt einfach deinen Mund", sagte er, bückte sich und schnappte sich den Rucksack. „Ich werde jetzt gehen und…" „Du kannst mich doch nicht schon wieder einfach hier zurücklassen!" Nun war es an mir, laut zu werden. „Das kann ich und werde es auch machen! Glaubst du, für einen einzigen Tag hätte ich es auf mich genommen, diesen Raum einzurichten, nur um dich hier so kurz einzusperren?! Jetzt bist wohl du der Vollidiot!" Mit großen Schritten ging er zur Tür, öffnete sie und trat in den schwach erleuchteten Gang hinaus. „Warte!" rief ich, stand auf, blieb aber stehen, als seine Hand gefährlich nahe zu der Waffe an seiner Hüfte kam. „Bis morgen, Tony. Vielleicht", fügte er hinzu, schlug die Tür mit einem lauten Krachen zu und sperrte ab. „Verdammt!" entfuhr es mir und ich lehnte meine Stirn gegen die Tür, nur um gleich darauf mit der Faust dagegen zu schlagen. Allerdings war ich nicht auf Chris wütend sondern auf mich selbst. Wieso hatte ich auch unbedingt etwas über sein Leben in den letzten 15 Jahren erfahren wollen? Und was hatte es mir eingebracht? Ich war erneut hier eingesperrt, ohne Aussicht, bald aus meiner misslichen Lage rauszukommen. „Das hast du klasse hinbekommen, Anthony", murmelte ich und schlug erneut auf die Tür ein. „Wirklich toll gemacht." Frustriert fuhr ich mir durch meine Haare, drehte mich um und ging zum Sofa zurück. Der erste Versuch, den alten Chris zurückzubekommen, war fehl geschlagen, aber ich würde sicher nicht aufgeben. Irgendeinen Weg musste es doch geben, um die Mauer einzureißen, die er um sich aufgebaut hatte und ich würde ihn finden, egal wie lange es dauern würde. So schnell gab ein Anthony DiNozzo nicht auf.

Fortsetzung folgt...
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