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Washington D.C.
Mittwoch, 13. Mai
07:05 Uhr


Es war kurz nach sieben Uhr, als Chris den Fahrstuhl in der Tiefgarage betrat, um in die dritte Etage zu fahren. Kaum hatten sich die Türen geschlossen, ließ er den Rucksack auf den Boden fallen, lehnte sich an die hintere Wand und schloss für einen Moment seine Augen. In der kleinen Kabine war es herrlich still und er wusste, wenn er das Großraumbüro erreichte, würde es für viele Stunden mit der Ruhe vorbei sein. Immerhin mussten sie noch einen Mörder fangen, der frei herumlief und vielleicht schon seinen nächsten Einbruch plante – vorausgesetzt, es handelte sich überhaupt um einen. Als er gestern nach Hause gefahren war, hatte er erneut über den Fall nachgedacht und irgendetwas störte ihn weiterhin an dem ganzen Bild. Aber Chris hatte keinen freien Kopf gehabt, um die einzelnen Puzzleteilchen an ihren richtigen Platz zu legen. Der Besuch bei Tony hatte ihn doch mehr mitgenommen, als er sich eingestehen wollte. Er hatte vorgehabt, einfach in den Raum zu gehen, seinem Bruder zu sagen, dass sein erster Tag als Agent hervorragend verlaufen war und anschließend einfach wieder verschwinden. Aber es war alles ganz anders gekommen. Angefangen hatte es bereits damit, dass er sich kurzerhand entschlossen hatte, eine Pizza zu kaufen, da er wusste, dass Anthony sicher Hunger hatte, auch wenn er ihn ein wenig leiden hatte lassen wollen, da er ihn in Bezug auf McGee angelogen hatte. Aber da alles mehr oder weniger glatt verlaufen und er deswegen guter Laune gewesen war, hatte er nicht weiterhin böse auf ihn sein können. Zu schön war das Gefühl gewesen, dass es plötzlich Menschen gab, die ihn mochten und nicht nur deswegen, weil sie von ihm etwas wollten. Es war nicht so, dass er in seiner Kindheit keine Freunde gehabt hatte, aber seit er sich von seiner Familie losgesagt hatte und nach L.A. abgehauen war, hatte er keine engen Bindungen geknüpft, aus Angst, er würde erneut enttäuscht werden. Deshalb hatte er sich vorwiegend nur auf geschäftliche Beziehungen eingelassen und Menschen nicht zu nahe an ihn herangelassen. Es war schon seltsam, dass er sich nach Jahren wieder einmal geborgen fühlte, auch wenn er wusste, dass die Personen um ihn herum ihn für Tony hielten, was ihm doch ein wenig schmerzte. Was würden sie nur sagen, wenn sie herausfinden würden, wer er wirklich war? Würde er gleich in den Knast wandern oder würden sie Milde walten lassen, wobei er sich nicht sicher war, ob dieses Wort Gibbs überhaupt kannte. Immerhin war er Bundesagent. Und Chris war sich mehr als bewusst, dass er Tony entführt und somit ein Verbrechen begangen hatte, über dessen Konsequenzen er sich noch nicht wirklich den Kopf zerbrochen hatte. Er wusste nicht einmal was er machen sollte, sollte sein falsches Spiel auffliegen. Aber eines war sicher: er würde bestimmt nicht ins Gefängnis gehen. Einmal hatte ihm gereicht und er hatte sich geschworen, diese äußerst tristen Räumlichkeiten kein weiteres Mal von innen zu sehen, sei es als Besucher oder als Insasse.
Chris schüttelte seinen Kopf, um die Gedanken von der Zukunft wieder dorthin zu bringen, wo sie vorher gewesen waren: bei dem gestrigen Abend. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er das Zusammensein mit Tony vermisst. Früher waren sie oft zusammengesessen, hatten über alles und jeden geredet und dabei Pizza gegessen, während Lucille in der Nähe und damit beschäftigt gewesen war, zu stricken. Mit den Jahren waren diese Gespräche zwar immer seltener geworden, aber wenn sie stattgefunden hatten, dann stundenlang und manchmal sogar die ganze Nacht lang. Und gestern hatte er erneut das geborgene Gefühl gehabt, wenn er mit Anthony geredet hatte. Für ein paar Minuten war es wie früher gewesen, sie hatten Pizza gefuttert und sich gegenseitig etwas erzählt. Diese kurze Zeit über hatte er nicht daran gedacht, dass sein Bruder eigentlich ein Gefangener war, hatte nicht daran gedacht, dass er ihn gekidnappt und seinen Platz eingenommen hatte, zu sehr hatte er es vermisst, mit ihm zusammen zu sein, hatte seinen trockenen und teils schweinischen Humor vermisst. Und dann musste Tony unbedingt von den letzten 15 Jahren anfangen. Wieso wollte er unbedingt etwas von seinem Leben wissen? Chris erinnerte sich nicht immer gerne an seine nicht gerade legalen Tätigkeiten in L.A. und schon gar nicht an den Grund, weshalb er Washington noch vor seinem Highschoolabschluss verlassen hatte. Die Wut von damals war erneut an die Oberfläche gekommen und hatte die ganze Stimmung zerstört, hatte ihm die Geborgenheit genommen, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Trotz des Ärgers, der in ihm gebrodelt hatte, hatten ihn die Worte von Tony nicht mehr in Ruhe gelassen. Dieser hatte ihm verziehen, dass er ihn geschlagen hatte, wieso also konnte er es nicht umgekehrt genauso? Die Sache lag immerhin 15 Jahre zurück, eine lange Zeit, um wirklich nachtragend zu sein.

Chris war am Abend im Bett gelegen und hatte sich darüber seine Gedanken gemacht, während draußen der Mond seine Bahn gezogen und der Dienstag in den Mittwoch übergegangen war. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und Tony zu verzeihen. Aber dennoch konnte er nicht verhindern, sich vorzustellen, wie sein Leben ausgesehen hätte, wäre er an diesem Abend nicht in das Zimmer seines Bruders gestürmt. Vielleicht wäre er dann nicht abgehauen und hätte stattdessen ein elitäres College besucht, anstatt sich mehr schlecht als Recht durchzuschlagen. Aber er konnte die Zeit nicht mehr zurückdrehen und er würde versuchen, aus der Situation das Beste zu machen. Wenn der jetzige Fall abgeschlossen war und der Mörder hinter Gittern sah, dann würde er sich noch einmal in Ruhe mit Anthony, ihrer Kindheit und den einen verhängnisvollen Abend beschäftigen, würde alles überdenken und vielleicht kam er zu einem Schluss, wie seine weitere Zukunft aussehen würde.

Das leise Pling des Fahrstuhls brachte Chris wieder in die Gegenwart zurück und als sich die Türen öffneten, schnappte er sich den Rucksack und verließ die kleine Kabine, in dem Bewusstsein, dass er zu spät dran war. Aber da die anderen ihn gestern mehr als seltsam angesehen hatten, da er vor sieben im Büro aufgetaucht war, hatte er sich heute etwas mehr Zeit gelassen und dank des dichten Morgenverkehrs hatte er das Hauptquartier erst um kurz nach sieben erreicht. Wenn Tony es überlebt hatte, dass er sooft zu spät kam, dann würde er auch nicht den Kopf verlieren – hoffte er zumindest.
Chris eilte zum Schreibtisch, ließ den Rucksack achtlos auf den Boden fallen und setzte sich auf den Stuhl. „Deine guten Vorsätze haben ja nicht allzu lange gehalten", begrüßte ihn Ziva und schenkte ihm ein etwas spöttisches Grinsen. „Der Verkehr war ziemlich stark", erwiderte er und fuhr den PC hoch. „Du hattest auch schon einmal bessere Ausreden", meinte McGee, dessen Kopf hinter seinem Computerbildschirm auftauchte und ihn direkt ansah. „Das ist keine Ausrede, Bambino. Und hast du nichts anderes zu tun, als mich zu nerven?" Dieser verzog eine Spur beleidigt seinen Mund und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Aber innerlich atmete er auf. Tony schien wieder ganz der Alte zu sein, wenn er anfing, erneut zu spät zu kommen und er nicht mehr allzu freundlich zu ihm war. Vielleicht hatte er gestern einfach nur einen schlechten Tag gehabt oder zu wenig Schlaf gefunden. Was auch immer der Grund für seine kurzfristige Veränderung gewesen war, es war ihm egal, solange er nicht erneut das Gefühl hatte, eine andere Person würde am Schreibtisch neben ihm sitzen.
Chris sah zu, wie sein Computer hochfuhr und unterdrückte ein Gähnen. Für seinen Geschmack hatte er viel zu wenig Schlaf gefunden. Nicht, dass er ein Morgenmuffel wäre, aber nicht einmal fünf Stunden im Bett hatten definitiv nicht ausgerecht, um komplett ausgeruht aufzustehen.

„Anstrengende Nacht gehabt, DiNozzo?" erklang Gibbs' Stimme links neben ihm und ließ ihn zusammenzucken. Wieder einmal hatte er es geschafft, sich lautlos anzuschleichen. Irgendwann musste er den Chefermittler fragen, wie er das machte. „Ich konnte gestern nicht einschlafen", antwortete Chris wahrheitsgemäß, wobei seine Worte bei Ziva ein Grinsen auslöste, die sich nur allzu gut vorstellen konnte, weshalb ihr Gegenüber nicht gerade munter war. „Hattest du noch Besuch?" konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen, wobei sie als Erwiderung einen funkelnden Blick aus grünen Augen erhielt. Er hatte bereits einen passenden Satz auf seiner Zunge liegen und öffnete seinen Mund, hielt aber rechtzeitig inne, als er eine kurze Bewegung von Jethros rechtem Arm wahrnahm und anstatt ein Wort zu sagen, rollte er aus der Reichweite der Hand, die sicher ihren Weg zu seinem Hinterkopf gesucht und problemlos gefunden hätte.
Seine leicht übertriebene Reaktion entlockte Gibbs ein Grinsen und er stellte eine Spur erleichtert fest, dass Tony anscheinend die niedergeschlagene Phase von gestern überwunden hatte. Seine Körperhaltung war entspannt, seine Augen strahlten wieder mehr und er hatte es geschafft, erneut zu spät zu kommen – eigentlich alles wie immer. Aber dennoch blieb ein leichtes Gefühl der Besorgnis zurück. Die Worte, das sein Agent lieber Vollwaise gewesen wäre, ließen ihm einfach keine Ruhe mehr. Er hatte sich noch nie sonderlich für das Privatleben seiner Kollegen interessiert, aber diesmal sollte er vielleicht eine Ausnahme machen. Was war nur in der Vergangenheit passiert, dass er sich wünschte, keine Eltern zu haben? Eventuell sollte er Abby ein wenig in der DiNozzo Familiengeschichte graben lassen, aber wäre das nicht Verrat gegenüber Tony? Wenn dieser nichts davon erzählte, dann wollte er wahrscheinlich, dass es weiterhin im Verborgenen blieb. Deshalb beschloss Gibbs, den jungen Mann nicht aus den Augen zu lassen, seine Reaktionen in den nächsten Stunden zu beobachten und wenn die Arbeit nicht darunter litt, dann musste er wohl oder übel einsehen, dass Tony sich durch seine Erinnerungen nicht aus dem Konzept bringen ließ und er doch stärker war, als er allen immer weismachen wollte.

„Das nächste Mal solltest du früher losfahren, um nicht im Morgenverkehr festzustecken", sagte Gibbs und schenkte Chris einen bedrohlichen Blick, der sich unwillkürlich fragte, wie dieser seine Worte an McGee mitbekommen hatte, obwohl er sich nicht im Großraumbüro aufgehalten hatte. „Ich werde es mir merken, Boss", erwiderte er, was den Chefermittler anscheinend zufrieden stellte, da er zu seinem Platz ging und seinen Kaffee austrank, den er die ganze Zeit in der linken Hand gehalten hatte. „Davon gehe ich aus", meinte er nachdrücklich und warf den leeren Becher in den Mülleimer neben seinem Schreibtisch. „Und jetzt macht euch an die Arbeit. Ich will wissen, weshalb Commander Emmerson vor fünf Jahren plötzlich von Norfolk nach Quantico gezogen ist." „Ist das denn wichtig?" fragte McGee und runzelte die Stirn. „Ich dachte, es wäre ein Einbruch, was hat das mit der Vergangenheit des…" Ein scharfer Blick aus blauen Augen ließ ihn inne halten und er spürte, wie sich seine Wangen mit einem Hauch von Rot überzogen. „Andererseits kann es nicht schaden, ein wenig tiefer zu graben", fügte Tim hinzu und konzentrierte sich wieder auf den Computerbildschirm, nur um dem stechenden Blick zu entkommen, der ihn jedes Mal wie Espenlaub zittern ließ.
Chris konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er McGee beobachtete, der sich intensiv mit seinem PC beschäftigte. Irgendwie fand er es amüsant, dass nicht nur er sich unwohl fühlte, wenn Gibbs einen direkt ansah. Noch immer lächelnd drehte er sich um und blickte zu Ziva, die ruhig an ihrem Platz saß und konzentriert Informationen von dem Bildschirm vor ihr ablas. Dabei hatte sich eine Strähne ihres Haares, das sie heute zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte, aus dem Zopf gelöst und fiel ihr ins Gesicht. In diesem Moment erinnerte Chris die junge Frau mehr denn ja an Amy. Bilder von seiner damaligen Freundin überfluteten sein Gehirn, weshalb er sich schnell auf seinen Computer konzentrierte, in der Hoffnung, sie zurückzudrängen. Aber er sah nicht die Buchstaben vor sich, sondern das Gesicht des Mädchens, das er über alles geliebt und die sein Leben in einer Art und Weise geprägt hatte, mit der er niemals gerechnet hätte. „Amy", flüsterte er beinahe tonlos. Das Großraumbüro rückte in den Hintergrund, verschwand aus seiner bewussten Wahrnehmung, genauso wie die Gespräche der anderen Agenten. Seine Erinnerungen schweiften zu dem Tag ab, an dem er sie kennen gelernt hatte, an dem sie wie ein Wirbelwind in sein Leben getreten war…

Während draußen dicke Schneeflocken lautlos vom Himmel segelten und auf dem gefrorenen Boden aufkamen, um sich dort zu einer dicken weißen Decke zu vereinigen, hallte in dem großen Einfamilienhaus in einem Vorort von Washington laute Musik. Es war der letzte Tag des Januars und somit der Geburtstag von Zack Brewer, dem besten Freund von Chris, der heute 17 Jahre alt wurde. Seine Eltern hatten ihm erlaubt, eine große Party zu schmeißen, während sie auf Skiurlaub in den Rocky Mountains waren. Die Nachbarn waren nicht gerade begeistert davon gewesen, sich eine halbe Nacht lang laute Musik anhören zu müssen, hatten sich aber dann doch umstimmen lassen und waren bereit, ein Auge zuzudrücken, wenn es etwas zu stürmisch wurde. Zack war in der Nachbarschaft überall beliebt und hatte viele Freunde, vor allem seit der im Footballteam der Highschool, die er besuchte, spielte. Er und Chris kannten sich seit zwei Jahren und hatten sich auf Anhieb verstanden und so war es auch nicht verwunderlich, dass dieser der Erste gewesen war, der eine Einladung zu der Party bekommen hatte. Zack wollte eigentlich beide DiNozzo Brüder auf dem Fest haben, aber Tony hatte sich vor zwei Tagen eine schlimme Grippe eingefangen und durfte das Bett nicht verlassen, auch wenn er stark dagegen protestiert hatte und jedem damit auf die Nerven gegangen war. Und so war Chris alleine losgefahren, hatte aber seinen Eltern fest versprechen müssen, keinen einzigen Tropfen Alkohol anzurühren, ansonsten könne er sich auf einen Monat Hausarrest gefasst machen. Seit er jedoch 17 Jahre alt geworden war, hatte er aufgehört, auf die beiden zu hören und hatte sich deshalb einfach wortlos verabschiedet, ungeachtet dessen, dass ihm sein Vater nachgeschrien hatte, sie wären noch nicht miteinander fertig. Aber das war ihm egal gewesen. Jede Minute, die er weit entfernt von diesem Mann verbringen konnte, war ein Geschenk Gottes und er würde sich garantiert den Abend nicht durch irgendwelche Drohungen vermiesen lassen. Dass er vor hatte, sowieso nichts zu trinken, da er mit dem Auto unterwegs war, hatte er wohlweislich verschwiegen, da er es immer wieder gerne sah, wenn sein alter Herr wegen ihm aus der Haut fuhr. Sollte er ruhig mitbekommen, was sein Sohn von ihm hielt.

Mittlerweile war die Party seit mehr als zwei Stunden im Gange und die Zeiger der Uhr näherten sich immer mehr 23 Uhr. Das große Wohnzimmer des Hauses war mit Teenagern beinahe überfüllt, die sich auf jede sich bietende Sitzgelegenheit gequetscht hatten und sich lauthals mit ihren Freunden unterhielten. Der dunkle Parkettboden war bereits mit zahlreichen Knabbereien übersät, die den Weg in die Münder nicht gefunden hatten. Auf den Tischen standen überall Pappbecher herum, teilweise leer oder noch mit den verschiedensten Getränken gefüllt. Einige Pärchen bewegten sich in der Mitte des Raumes rhythmisch zu den Klängen der Musik, wobei vor allem die Mädchen durch aufreizende Bewegungen den männlichen Anteil der Gäste anheizten.
Chris stand bei dem gut gefüllten Bücherregal und hielt einen Becher Cola in der Hand, der allerdings fast leer war. Neben ihm befand sich Trevor, ein weiterer Spieler des Footballteams, ein großgewachsener Junge mit langen blonden Haaren und braunen Augen, die die Farbe von Whiskey hatten. Sie hatten sich etwa 15 Minuten lang unterhalten, wobei schreien der bessere Ausdruck dafür wäre. Durch die laute Musik war eine normale Unterredung so gut wie unmöglich und jetzt waren beide ein wenig heiser. Außerdem hatte Trevor vor kurzem ein Mädchen ins Auge gefasst, das wild tanzte und dabei ihre Haarmähne ständig von links nach rechts warf. Da dieser nicht den Anschein machte, auch in den nächsten Sekunden wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren, beschloss Chris in die Küche zu gehen und sich seinen Becher wieder zu füllen. Im Gegensatz zum Wohnzimmer war es hier nicht ganz so überfüllt und die Musik wurde ein wenig durch die dicke Holztür gedämpft. Die Küche selbst war mit den modernsten Geräten, die es zurzeit auf dem Markt gab, eingerichtet und auf dem großen Tisch, an dem gut und gerne zehn Personen Platz fanden, standen unordentlich die Getränkeflaschen herum. Neben ihm waren noch vier weitere Personen hier anwesend und einer davon war Zack, der sich ein Bier aus dem Kühlschrank holte und sichtlich unsicher auf den Beinen war, aber dennoch schaffte er es ohne Mühe, sich die Flasche zu schnappen und einen gierigen Schluck daraus zu nehmen.

„Hey", sagte Chris, damit sich der andere nicht erschreckte, wenn er sich umdrehte. „Alles klar?" hakte er gleich darauf nach und stellte seinen Becher auf den Tisch ab, um ihn mit Cola zu füllen. „Aber sicher", erwiderte Zack mit schwerer Zunge und grinste, wobei er eine Reihe weißer Zähne enthüllte. Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab und sein T-Shirt hatte vorne einen kleinen Fleck, wo er sich vor etwa einer halben Stunde mit einem Bier bekleckert hatte. „Mir ist nur ein wenig schwindelig", fügte er hinzu und kniff seine blauen Augen zu Schlitzen zusammen. Chris fing zu lachen an und klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Kein Wunder, bei der Menge, die du bereits getrunken hast." „Man wird nur einmal 17. Und muss ich dich daran erinnern, wie es dir bei Tonys und deiner Geburtstagsparty gegangen ist? Ich war nicht derjenige, der draußen im Garten hinter einen Busch getorkelt ist, um seinen Magen auszuleeren." Chris verzog bei dieser Erinnerung das Gesicht. Es war das erste Mal gewesen, dass er betrunken gewesen war und er hatte sich seit dem geschworen, nie wieder so viel zu konsumieren – jedenfalls nichts Alkoholisches. Er hatte von Glück reden können, dass seine Eltern an diesem Tag nicht zu Hause gewesen waren, sonst hätte er sich gleich einen ellenlangen Vortrag anhören dürfen. Aber die beiden hatten nicht einmal etwas von der Party erfahren, nur Lucille war eingeweiht gewesen und sie hatte es so eingefädelt, dass die Bedienstenten sich diese Nacht frei genommen hatten. Es war einer der besten Abende seines Lebens gewesen.
Zack grinste spöttisch, zwinkerte seinem Freund zu und verließ die Küche, um zu seinen Gästen zurückzukehren. Für einen kurzen Augenblick blieb Chris noch stehen, nahm sich schließlich den vollen Becher und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo bereits das nächste Lied gespielt wurde. Die Menschenmenge schien noch mehr geworden zu sein und mittlerweile war es ziemlich stickig in dem Raum, dessen Einrichtung wie durch ein Wunder noch heil geblieben war. Grinsend schüttelte er den Kopf angesichts der vielen Teenager und wollte sich bereits auf den Weg zurück zu Trevor machen, der noch immer keine Anstalten gemacht hatte, die Schwarzhaarige anzusprechen, die ihn so faszinierte, als plötzlich jemand mit voller Wucht in ihn hineinlief, ihn damit aus dem Gleichgewicht brachte und somit der Inhalt seines Bechers auf sein Hemd befördert wurde. Die klebrige Flüssigkeit durchnässte den Stoff innerhalb einer Sekunde und blieb unangenehm auf seiner Haut kleben. Und ausgerechnet heute hatte er sein Lieblingshemd anziehen müssen, das vorher Tony gehört hatte, der es ihm aber geschenkt hatte, nachdem dieser mitbekommen hatte, wie sehr es Chris mochte.
Etwas ärgerlich darüber, blickte er sich nach dem Verursacher des Zusammenstoßes um. Vor ihm stand ein Mädchen, das einen Kopf kleiner als er war und ihn entschuldigend ansah. Ihre Haut war makellos und schimmerte weich in der Beleuchtung des Raumes. Ihre langen braunen Haare waren zu einem Zopf gebunden, aus dem sich allerdings eine Strähne gelöst hatte und ihre linke Wange umschmeichelte. Ihre vollen Lippen waren mit einem dezenten roten Lippenstift geschminkt, ihre Wangenknochen wurden durch ein wenig Rouche hervorgehoben und durch den dunklen Lidschatten wurden ihre Augen besonders betont. Und es waren diese braunen Augen, die Chris derart in den Bann zogen, sein Herz schneller schlagen ließen und seinen gesamten Körper mit einem Prickeln überzogen. Vergessen war sein nasses Hemd, vergessen waren die laute Musik und die vielen Menschen, die sich mit ihm in dem Raum aufhielten. Sein Hals wurde staubtrocken und der Kloß in seinem Hals hatte die Ausmaße des Mount Everests erreicht.
Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich einer von ihnen rührte oder den Blickkontakt unterbrach und in dieser Zeitspanne veränderte sich in seinem Inneren etwas und ließ die Luft zwischen ihnen knistern. Chris hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt und hatte es immer für ein Märchen gehalten, aber jetzt musste er seine Ansicht revidieren. Es gab sie tatsächlich und er wusste, vor ihm stand seine zweite Hälfte, die Person, die sein Leben ausfüllen und ihn aus seinem Alltagstrott reißen würde. In diesem Augenblick verschenkte er sein Herz und seine Seele – verschenkte sie an das Mädchen mit dem Namen Amy Parker.


Fortsetzung folgt...
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