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Gibbs saß an seinem Schreibtisch und sah sich bereits zum zweiten Mal an diesem Morgen die Bilder vom Tatort an. Für jedes einzelne Foto nahm er sich ausreichend Zeit, betrachtete sie Zentimeter für Zentimeter und ließ die Brutalität des Mordes auf sich wirken. Überall war so viel Blut, dass es ihn wunderte, dass in dem Körper des Commanders überhaupt noch ein Tropfen gewesen war. Der eingeschlagene Kopf erinnerte den Chefermittler an eine zerplatzte Melone, nur dass in diesem Fall kein Fruchtfleisch, sondern ein wenig Gehirnmasse aus den Bruchstellen austrat, was nicht gerade einen appetitlichen Eindruck machte. Erneut überkam ihm das Gefühl, dass es mit diesem Mord etwas anderes auf sich hatte als einen Einbruch. Wieso hatte der Täter die Wohnzimmereinrichtung derart zerstört, dass nur mehr ein Trümmerhaufen übrig geblieben war? Warum hatte er die anderen Räume verschont? Und vor allem beschäftigte Jethro die Frage, weshalb derjenige dem Commander ein Messer in das Herz gerammt hatte, nachdem er ihm die Schädel eingeschlagen hatte. Dieser hätte so oder so nicht überlebt, zu stark waren die Verletzungen des Gehirns gewesen, also weshalb die Aktion mit dem Messer? Wollte er nur auf Nummer sicher gehen oder steckte mehr dahinter? Immer mehr drängte sich Gibbs der Gedanke auf, dass der Einbruch nur vorgetäuscht war, dass das Motiv für diesen Mord ein ganz anderes war. Der teilweise wertvolle Schmuck von Mrs. Emmerson war wahrscheinlich eine nette Einnahmequelle gewesen und man konnte ihn immerhin leicht am Schwarzmarkt zu Geld machen.

Ein Tastendruck später erschien ein weiteres Foto auf dem Bildschirm, diesmal eine Übersichtsaufnahme des Wohnzimmers, das nur mehr ein Trümmerhaufen war. Das nächste Bild zeigte die Küche und vor allem die Hintertür, die aufgebrochen worden war. Deutlich konnte man die Kratzer am Schloss sehen, die das Brecheisen hinterlassen hatte. Was Gibbs zu seiner nächsten Frage brachte. Weshalb hatte der Täter den Baseballschläger, mit dem er den Commander getötet hatte, zurückgelassen und das Stemmeisen hatte er wieder mitgenommen? Dieser Fall schien jetzt, einen Tag später, viel komplizierter zu sein, als es zuerst den Eindruck gemacht hatte. Jethros Instinkt sagte ihm, dass es sich um einen hinterhältigen Mord handelte, aber noch konnte er es nicht beweisen.
Ein weiterer Tastendruck, die Küche verschwand von dem Bildschirm und wurde durch die leeren Schmuckschatullen ersetzt, die in einem Schrank des Ehepaars aufbewahrt worden waren. Die Kästchen waren geschmackvoll verziert und hatten sicher ein kleines Vermögen gekostet. Allerdings hatte Abby darauf nur die Fingerabdrücke von Valerie Emmerson gefunden und keine des Täters. Es wäre auch zu leicht gewesen, hätte ihnen der Einbrecher die Sache so leicht gemacht.
Gibbs seufzte leise und fuhr sich mit einer Hand über sein Gesicht. Die Bilder verschwammen vor seinen Augen und deshalb schloss er die Datei. In der letzten Nacht hatte er nicht sonderlich viel Schlaf bekommen, da er wieder einmal bis nach Mitternacht an seinem Boot gebaut hatte. Zu viel war ihm durch den Kopf gegangen, als dass er Ruhe gefunden hätte. Sein Körper hatte zwar nach Schlaf verlangt, aber sein Geist war hellwach gewesen. Während er das Holz abgeschliffen hatte, hatte er zuerst über den Fall nachgedacht, war alles immer wieder durchgegangen, bis schließlich seine Gedanken bei Tony gelandet waren. Dieser hatte ihn, nachdem er gestern um kurz nach 18 Uhr verkündet hatte, dass sie Feierabend machen konnten, mit großen Augen angesehen und sich wahrscheinlich gefragt, ob mit Gibbs alles in Ordnung sei. Gleich darauf hatte er sich aber seine Sachen geschnappt und war verschwunden, so als ob er Angst gehabt hätte, es wäre vielleicht doch nur ein Scherz gewesen. In der Zeit, als der Chefermittler von Abby zurückgekommen war und bis zum Feierabend, hatte sich sein Agent normal verhalten, nichts hatte darauf hingewiesen, dass ihn etwas bedrückte. Genauso wie ihm sein Instinkt sagte, dass es sich bei dem Fall nicht vorrangig um einen Einbruch handelte, verriet er ihm auch, dass die Sache, was auch immer Tony derart beschäftigte, noch nicht ausgestanden war. Zwar war er an diesem Morgen wie immer, war zu spät gekommen und hatte seine Kollegen genervt, aber dennoch hatte er das Gefühl, dass diese Fassade nur aufgesetzt war.

Gibbs schüttelte seinen Kopf und griff automatisch nach einem Kaffeebecher, als ihm einfiel, dass er diesen bereits ausgetrunken hatte und er im Mülleimer lag. Vielleicht sollte er sich einen weiteren kaufen und auf dem Weg zu seinem Koffeindealer konnte er ein wenig frische Luft schnappen, um seine Gedanken zu ordnen. Anschließend würde er sich noch einmal die Bilder vom Tatort vornehmen, in der Hoffnung, dann endlich darauf zu kommen, was ihn an der ganzen Szene störte.
Jethro wollte schon aufstehen, als sein Blick zu Tony fiel, der an seinem Platz saß und auf den Computerbildschirm starrte. Man hätte meinen können, dass er sich ganz auf die Informationen konzentrierte, die darauf standen. Sah man jedoch genauer hin, konnte man deutlich erkennen, dass es nicht die Buchstaben vor ihm waren, auf die er seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Zusätzlich hatte er seinen Kopf auf seine linke Hand gestützt, während die andere auf der Tischplatte lag und sich keinen Zentimeter rührte. Er schien die gesamten Geräusche des Großraumbüros nicht wahrzunehmen, genauso wenig wie die Tatsache, dass sein Telefon anfing zu klingeln. DiNozzo blinzelte nicht einmal, als es läutete und der Anrufer es nach ein paar Sekunden wieder aufgab. Seine Augen waren weiterhin starr auf den Bildschirm gerichtet, wobei er seine Lippen ein wenig zusammengekniffen hatte. Es war mehr als offensichtlich, dass er mit seinen Gedanken nicht bei dem Fall war, sondern schon wieder irgendwo anders. Und dabei hatte Gibbs gedacht, Tony wäre wieder er selbst geworden und hätte die Sache, die ihn bedrückte, so weit unter Kontrolle, dass er seiner Arbeit ungehindert nachgehen konnte. Nun, das war anscheinend nicht der Fall. Anthony war unbestreitbar sein bester Agent, aber in diesem abwesenden Zustand konnte er ihn einfach nicht gebrauchen. Wenn sie keinen Fall hätten, wäre es etwas anderes, aber sie mussten immerhin einen Mörder finden. Gibbs beschloss, dass sein Kaffee noch ein wenig warten konnte und stand auf. Es war an der Zeit, Tony in den Fahrstuhl zu zerren und mit ihm ein kleines Gespräch zu führen, in der Hoffnung, dieses würde Licht in die ganze Angelegenheit bringen.

Chris war mit seinen Gedanken immer noch bei Amy und ihren wunderschönen braunen Augen, die ihn noch heute manchmal in seinen Träumen verfolgten. Obwohl die Party, bei der er sie kennengelernt hatte, mehr als 15 Jahre zurücklag, konnte er sich noch an jede Einzelheit erinnern. Die enganliegenden Jeans, die sie getragen hatte, dass schwarze Top, das ihre aufreizende Figur vorteilhaft betont hatte, das Lächeln, das sie ihm geschenkt hatte und ihn damit in den siebten Himmel geschickt hatte. Und vor allem ihre samtene Stimme, die ihn an einen leise dahinplätschernden Bach erinnert hatte, als sie als erstes das Schweigen gebrochen hatte und ein schüchternes „Entschuldigung" gesagt hatte, gerade so laut, dass er es bei der Musik verstanden hatte. Vergessen waren Zack oder Trevor gewesen. In diesem Moment hatte nur Amy gezählt, die ihn mit nur einem Blick in seinen Bann gezogen hatte. Es hatte ihm auch gar nichts mehr ausgemacht, dass sein Lieblingshemd voller Cola war und unangenehm auf seiner Haut klebte.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hatten sich die beiden in einen ruhigen Raum zurückgezogen, ein kleines Arbeitszimmer im ersten Stock. Sie hatten es sich auf der Ledercouch bequem gemacht und Chris war in seinem gesamten Leben noch nie so nervös gewesen. Der zarte Duft ihres Parfüms hatte ihn leicht schwindelig gemacht und er hatte einfach nicht genug davon bekommen können. Immer wieder hatte er tief die Luft eingesogen, so als ob der Geruch sein Lebenselixier gewesen wäre. Die Deckenlampe hatte Amys Haar glitzern lassen und die widerspenstige Haarsträhne hatte noch immer ihre Wange umschmeichelt. In dieser Nacht hatten sie stundenlang geredet, gelacht und geflirtet, allerdings ohne dass etwas zwischen ihnen geschehen wäre. Chris hatte erfahren, wie ihr Name war, dass sie ein paar Straßen weiter wohnte und dass sie sogar in dieselbe Schule gingen, ohne sich jedoch vorher jemals getroffen zu haben. Sie hatte Zack schon seit ihrer Kindheit gekannt, da ihre Eltern miteinander befreundet waren und mit der Zeit waren sie wie Geschwister gewesen, da jeder von ihnen ein Einzelkind war.
Irgendwann nach drei Uhr morgens hatte er Amy nach Hause gefahren, obwohl sie nur fünf Minuten zu Fuß gebraucht hätte. Sie hatte ihm einen kleinen Kuss auf die Wange gegeben, ihm für den wunderschönen Abend gedankt und war schließlich im Inneren des Hauses verschwunden. Chris hatte die gesamte Autofahrt zurück zur DiNozzo Villa ein Dauergrinsen im Gesicht gehabt und nicht einmal die schlechten Straßenverhältnisse hatten ihm die gute Laune verderben können. In dieser Nacht hatte er von Amy geträumt und auch das restliche Wochenende war sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Tony, dem das Grinsen seines Bruders nicht entgangen war, hatte natürlich sofort nachgebohrt, was denn los sei und Chris hatte ihm schließlich von dem hübschen Mädchen erzählt. Anthony hatte sich sichtlich darüber gefreut und ihm nahegelegt, es nicht zu versauen.
Am Montag hatte er Amy am Eingang der Schule getroffen und sie vor ihren Freundinnen gefragt, ob sie nicht mit ihm später Mittagessen wolle. Erfreut hatte sie zugestimmt und er konnte jetzt noch die teilweise neidvollen Blicke der anderen Mädchen vor sich sehen. Seit diesem Tag waren sie unzertrennlich, hatten viele Stunden miteinander verbracht, bis sich Chris zehn Tage nach der Party durchgerungen hatte, ihr seine Liebe zu gestehen. Am Anfang hatte er Angst gehabt, er würde Amy damit verschrecken, hatte aber ein paar Sekunden später ein strahlendes Lächeln ihrerseits erhalten, das ihm schier den Atem genommen hatte. Der nachfolgende Kuss hatte ihm beinahe den Verstand geraubt und er hatte es nicht für möglich gehalten, jemals so glücklich zu sein. Es hatte ihm nichts mehr ausgemacht, dass ihn seine Eltern nicht wirklich beachteten. Er hatte Amy gehabt, die ihm die Liebe geschenkt hatte, die ihn aus seinem tristen Leben befreit hatte und er hatte gewusst, dass es von nun an bergauf ging. Nichts hatte seine gute Laune trüben können und er hatte jede Minute als Geschenk angesehen, die er mit seiner Freundin hatte verbringen dürfen. Alles war wunderbar verlaufen, bis zu jenem Abend im Mai, an dem sich alles verändert hatte.

Das Klingeln des Telefons riss Chris aus seinen Gedanken, aber er machte keine Anstalten, abzunehmen. Egal wer dran war, derjenige sollte es ruhig später noch einmal versuchen. Zurzeit hatte er keinen Kopf, sich auf irgendetwas außer auf Amy zu konzentrieren. Es war kein Tag vergangen, an dem er nicht an sie gedacht hatte, auch wenn das mit Schmerz verbunden gewesen war. Und seit er Ziva begegnet war, die ihr so ähnlich sah, hatte er Mühe, sie nicht allzu oft in seinen Kopf zu lassen. Und es hätte beinahe auch geklappt, wäre der jungen Frau ihm gegenüber nicht eine Haarsträhne ins Gesicht gefallen – eine Haarsträhne, die sicher weich und nach…
„DiNozzo!" Der laute Schrei ließ Chris zusammenzucken und er wusste sofort, wer vor ihm stand. Gibbs' Stimme würde er überall erkennen. Verwirrt blinzelte er, um wieder in die Realität zurückzufinden und hob seinen Kopf von seiner linken Hand. Eine Sekunde später blickte er in blaue Augen, die ihn ärgerlich anfunkelten und am liebsten hätte er sich unter seinem Schreibtisch verkrochen, um ihnen zu entkommen.
„Was gibt es?" fragte er so locker wie möglich und setzte ein entwaffnendes Lächeln auf, was sein Gegenüber jedoch kalt ließ. „Mitkommen", befahl der Chefermittler knapp und seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Verwirrt sah er zu McGee, der nur die Schultern zuckte und dann zu Ziva, die ihn mit erhobenen Augenbrauchen musterte. Aber keiner von beiden schien ihm helfen zu wollen, deshalb fügte er sich in sein Schicksal, da er seinen Kopf noch ein wenig länger behalten wollte.
„Wohin gehen wir?" fragte Chris und stand auf. Aber er erhielt keine Antwort. Gibbs drehte sich wortlos um und steuerte auf den Fahrstuhl zu. Eine Sekunde sah er ihm noch nach, bis er sich in Bewegung setzte, nicht sicher, wohin es ihn bringen würde. Vielleicht fuhren sie ja nur zu Abby hinunter oder zu Ducky, der doch noch etwas Interessantes bei der Leiche gefunden hatte.

Er stellte sich neben Gibbs, der auf den Aufzug wartete und sah ihn von der Seite her an. Dessen Miene war verschlossen und nichts deutete darauf, woran er gerade dachte, was ihn mehr beunruhigte als eine laute Standpauke. Die Türen öffneten sich mit einem leisen Pling, drei Agenten verließen die kleine Kabine, die kurz darauf der Chefermittler betrat, gefolgt von Chris, der ein wenig nervös war, wobei er nicht wusste, weshalb. Jethro drückte den Knopf für die Pathologie, worauf sich die Türen schlossen. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, woraufhin der Jüngere erleichtert aufatmete. Anscheinend waren sie wirklich zu Ducky unterwegs. Aber noch bevor er sich entspannen konnte, betätigte der andere blitzschnell den Stopphebel und der Aufzug kam ruckend zum Stehen. Die Lichter gingen aus und die Notbeleuchtung an, wodurch des dämmrig in der Kabine wurde. Irritiert sah Chris zu Gibbs, der ihn von oben bis unten musterte, ohne ein Wort zu sagen. Die blauen Augen schienen ihn förmlich zu röntgen und bis in sein Innerstes zu blicken. Er wurde immer unruhiger und begann sich unwohl zu fühlen. Die Wände schienen auf ihn zuzukommen und ihn erdrücken zu wollen. Die Luft wurde für seinen Geschmack viel zu warm und er widerstand nur knapp dem Drang, seine Hemdsärmel nach oben zu schieben. In seinem Hals bildete sich ein dicker Kloß, den er mühsam hinunterschluckte und um ein wenig Halt zu finden, lehnte er sich gegen eine Wand, die ihm ein wenig Stabilität vermittelte.

„Verdammt, was soll das?" fragte Chris ein wenig zu laut und gleich darauf hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Gibbs kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen, kam auf ihn zu und blieb nur ein paar Zentimeter vor ihm stehen. Sein Atem strich über sein Gesicht und er konnte eine Spur von Kaffee riechen.
Jethro beobachtete seine Reaktion genau und er konnte ein wenig Angst in den grünen Augen erkennen. Er wusste, dass er die Privatsphäre des anderen verletzte, da er nur wenige Zentimeter zwischen ihnen freiließ, aber durch die laute Frage seines Agents war unvermittelt Wut in ihm aufgestiegen. Er konnte sich nicht erinnern, dass Tony jemals seine Stimme so gegen ihn erhoben hatte. Aber er wusste, mit Wut und schreien würde er jetzt nicht weiterkommen, genauso wie Abby es gestern gesagt hatte. Deshalb atmete er tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen, verringerte aber den Abstand zwischen ihnen nicht.
„Was das soll?" wiederholte Gibbs die Frage mit leiser Stimme, was Chris mehr als verwunderte. Irgendwie hatte er damit gerechnet, dass der andere anfangen würde, ihn anzubrüllen. Aber er wusste nicht, ob er jetzt erleichtert sein sollte oder nicht. „Ganz einfach", fuhr der Chefermittler fort und nagelte ihn mit seinem Blick fest. „Der Fahrstuhl ist der einzige Ort, wo wir ungestört reden können, ohne dass uns jemand stört." „Ungestört reden?" plapperte Chris wie ein Papagei nach und schluckte. „Worüber denn reden?" Gibbs sah ihn ein paar Sekunden weiterhin durchdringend an, bevor er einen Schritt nach hinten machte. „Darüber, weshalb du seit gestern ständig in Gedanken versunken bist, anstatt dich auf deine Aufgaben zu konzentrieren. Darüber, dass du anscheinend vergessen hast, dass ich ein Boot in meinem Keller baue und vor allem darüber, weshalb du lieber Vollwaise sein willst." Bei jedem Wort, das über seine Lippen gekommen war, hatte sich Chris' Herzschlag erhöht, und hämmerte jetzt laut in seinen Ohren. Kleine Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn und er wusste, er hatte ein großes Problem. Gibbs hatte also alles mitbekommen und sich seine Gedanken darüber gemacht und ihm wurde klar, dass er doch nicht so gut schauspielern konnte, wie er geglaubt hatte. Die Umgebung begann sich um ihn zu drehen und er wusste nicht, was er sagen sollte. „Ich…" begann er, brach aber wieder ab.

Jethro fuhr sich durch seine Haare, als er merkte, dass er den anderen ein wenig in die Ecke gedrängt hatte. Es war offensichtlich, dass dieser sich unwohl fühlte, was er alleine schon durch die angespannte Körperhaltung merkte und dadurch, dass er nicht wusste, was er antworten sollte, was bis jetzt noch nie vorgekommen war. „Was ist nur mit dir los, Tony?" fragte er vorsichtig und trat noch einen Schritt zurück, um seinem Agent ein wenig mehr Freiraum zu geben. „Ich habe seit gestern das Gefühl, dass du nicht du selbst bist. Deine Gedanken sind irgendwo nur nicht in der Gegenwart. Irgendetwas bedrückt dich und auf mich macht es den Eindruck, dass es etwas mit deinen Eltern zu tun hat. Weshalb willst du lieber Vollwaise sein?"
Chris war sich gar nicht bewusst gewesen, dass irgendjemand seine Worte in der Pathologie gehört hatte und das es ausgerechnet Gibbs gewesen war, brachte ihn ganz schön in Bedrängnis. Andererseits machte sich sein Gegenüber ein wenig Sorgen, sonst hätte er nicht mit ihm alleine sein wollen, um mit ihm darüber zu sprechen. Es war offensichtlich, dass dem Chefermittler das Wohl seiner Agents am Herzen lag, auch wenn er dies wohl nicht zugeben würde. Aber dennoch war er sich nicht sicher, was er jetzt sagen oder was er tun sollte. Er wusste ja nicht einmal, wie viel Tony von seiner Kindheit erzählt hatte. Hatte er jemals erwähnt, dass er einen Bruder hatte? Hatte er jemals über seine Eltern gesprochen?
„Rede mit mir, Tony", sagte Gibbs schließlich, da er noch immer kein Wort von dem anderen gehört hatte. „Was bedrückt dich, dass du dich nicht einmal auf einen Fall konzentrieren kannst? Ich kann keinen Agenten gebrauchen, der nicht vollkommen bei der Sache ist." Gleich darauf hätte er sich am liebsten selbst eine Kopfnuss verpasst. Der letzte Satz war ihm einfach so rausgerutscht und er wusste, er hatte somit alles versaut. Der junge Mann vor ihm war sichtlich zusammengezuckt und er ballte seine Hände zu Fäusten. Zwischen ihnen dehnte sich das Schweigen aus und Jethro wurde klar, dass er wohl kein Wort aus seinem Agent herausbringen würde. Ein weiterer Beweis dafür, dass er nicht gut darin war, jemanden dazu zu bringen, ihm sein Herz auszuschütten. Was sollte er jetzt machen? Sollte er Tony bedrängen, ihm zu verraten, was in seinem Inneren vorging oder es ein anderes Mal versuchen? Er brannte darauf zu erfahren, weshalb sein Agent so durch den Wind war und obwohl er wusste, dass es nicht sinnvoll war, stieg Wut in ihm auf, dass er sich ihm nicht anvertrauen wollte. Wie er es hasste, nicht zu wissen, was vor sich ging. Gibbs sah weiterhin zu seinem Agent, der mittlerweile interessiert seine Füße musterte und er öffnete bereits seinen Mund, um ihm den Kopf zu waschen, als ihn eine leise Stimme innehalten ließ: „Hast du eine Ahnung, wie es ist, von seinen eigenen Eltern nicht geliebt zu werden?"

Chris hatte sich nach langer Überlegung dazu entschlossen, etwas zu sagen. Seit Jahren fraß er die ganze Sache in sich hinein und jetzt bot sich ihm eine Gelegenheit, alles raus zu lassen, allerdings würde er sich davor hüten, zu erwähnen, dass er Tony in einem Keller eingesperrt hatte. Dann hätte er zwar sein Herz ausgeschüttet, dafür würde er aber wahrscheinlich im Gefängnis landen.
Langsam hob er seinen Kopf und Gibbs zuckte innerlich zusammen, als er den traurigen und verbitterten Ausdruck in den grünen Augen sah. „Hast du eine Ahnung, wie es ist, einfach links liegen gelassen zu werden, egal wie oft man versucht, Aufmerksamkeit zu erregen?" Jethro hörte schweigend zu und ließ sich gegen die Fahrstuhlwand sinken. Bisher hatte er nie den Eindruck gehabt, dass die Kindheit von Tony derart verlaufen war. Zwar redete er nicht oft von seinen Eltern, aber er hatte nie angenommen, dass seine Vergangenheit dermaßen schmerzlich gewesen war. Aber weshalb kam das Ganze erst jetzt zum Vorschein und nicht schon vor Jahren?
„Nichts konnte ich ihnen Recht machen, war für sie teilweise nur Luft, außer wenn es darum ging, mich anzubrüllen. Dabei war ich derjenige, der die besseren Noten nach Hause brachte. Ich war immer der brave Sohn gewesen, habe immer alles gemacht, um sie zufrieden zu stellen. Aber hat es gereicht? Nein. Egal was ich auch gemacht habe, es war nie gut genug. Ihre gesamte Aufmerksamkeit und Liebe schenkten sie…" Chris brach ab, als ihm gerade noch rechtzeitig klar wurde, dass er beinahe Tony erwähnt hätte. Seine Stimme hatte einen verbitterten Klang angenommen und war immer lauter geworden. Ungläubig darüber, dass er einem für ihn fremden Menschen dabei war, sein Herz auszuschütten, schloss er seinen Mund. Verdammt, was tat er hier überhaupt? Wieso vertraute er sich plötzlich einem Mann an, der ihn ins Gefängnis bringen konnte, wenn er erfuhr, wer er war und was er hier überhaupt machte. Die Mauer, die er um sich aufgebaut und die Risse bekommen hatte, schloss sich wieder und schottete seine Vergangenheit von der Gegenwart ab.
Gibbs entging diese Veränderung keineswegs. Aus den grünen Augen verschwand die Bitterkeit und Traurigkeit und machte Entschlossenheit Platz. Tonys Worte hatten ihn berührt und er verstand ein wenig, weshalb er lieber Vollwaise sein wollte. Aber dennoch, er spürte, dass noch mehr dahinter steckte. Der letzte Satz, den dieser abgebrochen hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wer hatte nur die gesamte Aufmerksamkeit und Liebe bekommen, die ihm verwehrt worden war? Oder war es eine Sache? Es gab immerhin genug Menschen, die sich lieber um ihren Job kümmerten als um ihre Kinder.

„Wer oder was war wichtiger als du, Tony?" fragte er schließlich und stieß sich von der Wand ab, aber sein Gegenüber schüttelte nur den Kopf, was ihn erneut wütend machte. Wieso verschloss er sich bloß? Wieso konnte er ihm nicht einfach alles anvertrauen? Hatte er etwa Angst, es würde ihr gutes Verhältnis dadurch zerstören? „Weshalb gerade jetzt?" fuhr Gibbs fort und ging auf den anderen zu. „Warum kommt das alles erst jetzt an die Oberfläche und nicht schon früher? Was war der Auslöser? Und komm mir nicht mit dem aktuellen Fall. Wir hatten schon öfters mit glücklichen Familien zu tun." Jethro wusste genau, er würde so nicht weiterkommen, aber es erfüllte ihn mit Ärger, dass sein Agent einfach nichts mehr sagen wollte, dass er sich ihm nicht anvertrauen wollte.
Chris wich dem Blick aus den blauen Augen aus und sah erneut zu Boden. Er wusste, es war ein Fehler gewesen, auch nur einen Satz zu sagen. Er hatte Gibbs Brotkrumen hingeworfen, die dieser gierig aufgenommen hatte und jetzt noch mehr davon wollte. Wieso hatte er nicht einfach den Mund halten können? ‚Weil es sich gut anfühlt, mit jemandem darüber zu reden', gab er sich gleich darauf selbst eine Antwort und schluckte mühsam. Es war Jahre her, seit sich jemand um ihn Sorgen gemacht hatte und es war diese Tatsache, die ihn dazu veranlasst hatte, seinen Schutzschild ein wenig zu lockern. Obwohl er sich Gibbs gerne anvertraut hätte, wusste er, wenn er auch nur einen weiteren Satz sagen würde, würde er ihm von Tony erzählen, würde ihm von Amy erzählen, würde sich alles von der Seele reden, nur um danach höchstwahrscheinlich in den Knast zu wandern. Aber so weit würde es nicht kommen, das schwor er sich. Deshalb schwieg er eisern und als er spürte, wie der Chefermittler erneut nur wenige Zentimeter von ihm entfernt war, sah er auf und setzte eine versteinerte Miene auf.

„Weshalb beschäftigt dich das ausgerechnet jetzt?" Gibbs ließ nicht locker, wobei er jedoch merkte, dass er auf verlorenem Boden stand. „Verdammt, hör auf dich wie eine Auster zu verschließen!" schrie er und seine Stimme hallte laut in dem engen Raum wider. „Irgendetwas geht in deinem Kopf vor, was sicher nicht nur mit deinen Eltern zu tun hat! Seit gestern benimmst du dich beinahe wie ein anderer Mensch, so als ob dir jemand eine Gehirnwäsche verpasst hätte! Wieso vertraust du mir nicht, Tony?! Wieso verschließt du dich vor mir, anstatt dich zu öffnen?!"
Öffnen! Das Wort hämmerte in Chris' Kopf und löste eine wahre Bilderfolge in seinem Gehirn aus, was allerdings nichts mit dieser Konfrontation zu tun hatte. Vergessen war, dass er sich in einem Fahrstuhl befand und ihn Gibbs gerade zusammenstauchte, in der Hoffnung, er würde weiterreden. Stattdessen sah er den Tatort vor sich, den ermordeten Commander und die Küche mit der Hintertür, die aufgebrochen worden war. Und plötzlich wusste er, was ihn die ganze Zeit an dem Bild gestört hatte. „Das ist es!" rief er unwillkürlich, woraufhin der Chefermittler ihn verwundert ansah und er nicht wirklich wusste, was sein Gegenüber meinte. Was war was? Verwirrt runzelte er die Stirn und fragte: „Hättest du vielleicht die Güte, mich aufzuklären, DiNozzo?" In die Augen des anderen Mannes war ein Funkeln getreten, das er seit langem vermisst hatte und das ihm sagte, dass der andere wieder ganz Agent war. Die Schatten seiner Vergangenheit lösten sich in Luft auf und auf seinem Gesicht breitete sich Begeisterung aus. „Das Küchenfenster", meinte Chris und blickte Gibbs an. Vergessen war der Grund, weshalb dieser ihn beinahe mit seinem Körper berührte. „Was für ein Küchenfenster?" Jethro war sich nicht sicher, ob der Jüngere noch alle Tassen im Schrank hatte. „Das Fenster am Tatort", fuhr Chris fort. „Ich meine, das Küchenfenster, das neben der Hintertür ist, die aufgebrochen wurde. Es war offen und nicht geschlossen. Weshalb hat sich der Täter extra die Mühe gemacht, die Tür aufzubrechen, wenn er durch das Fenster hätte einsteigen können?"
Gibbs brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass es gerade um den Fall ging und jetzt wurde ihm auch klar, was ihn die ganze Zeit an der Sache gestört hatte. Wie hatte er das nur übersehen können? „Der ganze Einbruch war nur vorgetäuscht." Erregung hatte Chris gepackt. Jetzt hatten sie endlich etwas in der Hand, mit dem sie arbeiten konnten. Jethro betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf und nickte schließlich. Ihm war nur allzu bewusst, dass er momentan keine Chance mehr hatte, näheres über den Auslöser zu erfahren, was die Vergangenheit seines Agents betraf. Dieser schien anscheinend durch die paar Sätze, die er ihm anvertraut hatte, wieder besser damit klar zu kommen und seine Professionalität zurück gewonnen zu haben. Deshalb trat er einen Schritt zurück und betätigte den Stopphebel, wodurch sich der Fahrstuhl wieder in Bewegung setzte. Jetzt war es an der Zeit, sich mit dem Fall zu beschäftigen, aber Gibbs schwor sich, den jungen Mann nicht aus den Augen zu lassen. Bei dem ersten Anzeichen dafür, dass er wieder in seiner Gedankenwelt gefangen war oder sich sonst anders verhielt, würde er ihn erneut ins Gebet nehmen und zwar so lange, bis er endlich herausgefunden hatte, was mit ihm los war.
„Gut gemacht, Tony", sagte er und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, als der andere wie ein Honigkuchenpferd strahlte. Etwas Anerkennung von seinem Boss und er war schon wieder ganz der Alte. Vielleicht sollte ihn Gibbs etwas öfters loben, nur um sicher zu gehen, dass er ihm nicht wieder entglitt.
Chris atmete erleichtert auf, als der Chefermittler wieder den Aufzug in Gang setzte und ihn auch noch lobte – etwas, was ihm nur selten widerfuhr. Ein herrlich warmes Gefühl breitete sich in ihm aus und verdrängte seine Eltern und seinen Bruder in den Hintergrund. Aber in der Euphorie vergaß er nicht, dass er in Zukunft aufpassen musste, nicht wieder in Gedanken zu versinken, denn es war anscheinend das, was Jethro aufgefallen war und was ihn dazu veranlasst hatte, ihn in den Fahrstuhl zu verfrachten. Es war an der Zeit, sich nur mit dem Fall zu beschäftigen und nicht mit seiner Vergangenheit. Dazu hatte er Gelegenheit, wenn er alleine war.
Mit einem Pling öffneten sich die Türen und Chris folgte Gibbs aus der kleinen Kabine, vor der sich bereits eine Gruppe Agenten versammelt hatte und die beiden einen ärgerlichen Blick zuwarfen. Allerdings sagten sie nichts, weshalb es anscheinend keine Seltenheit war, dass der Chefermittler für längere Zeit den Aufzug anhielt, um ein Gespräch unter vier Augen zu führen. Chris würde aufpassen, dass es nicht wieder so weit kommen würde. Zu viel stand auf dem Spiel. Aber jetzt galt es erst einmal einen Fall zu lösen und wie es danach weiterging, würde sich zeigen – und vielleicht würde sich ja alles zum Guten wenden.

Fortsetzung folgt...
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