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Etwas außerhalb von Washington
10:34 Uhr


Warmes Wasser prasselte auf meinen Kopf, lief in langen Strömen meinen Nacken entlang, den Rücken und die Beine hinunter, um schließlich im Abfluss zu verschwinden. Die feinen Strahlen lockerten ein wenig meine verspannten Schultermuskeln und hinterließen feine Tröpfchen auf den Fliesen und auf der Tür der Duschkabine, wo sie sich vereinten und in Schlieren über das Glas rannen. Weiße Dampfwolken breiteten sich in dem kleinen Bad aus, erhöhten die Raumtemperatur und beschlugen den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Langsam aber sicher wurde die Müdigkeit, die mich seit dem Aufwachen gefangen hielt, aus meinem Körper vertrieben und ich spürte, wie meine Lebensgeister zurückkehrten. Die Kopfschmerzen, die durch die beinahe schlaflose Nacht entstanden waren, reduzierten sich dank des Aspirins und des warmen Wassers auf ein erträgliches Maß. Langsam fühlte ich mich wieder wie ein lebendiger Mensch und nicht wie eine von Duckys Leichen.

Über meine Lippen kam ein leiser Seufzer und ich griff nach dem Duschgel, das nach Kokos roch - Chris hatte nicht vergessen, dass ich diesen Duft mochte. Man hätte glatt meinen können, mein Wohlergehen lag ihm am Herzen, wäre da nicht eine mehr als stabile Tür, die von außen verschlossen war und die mir den Weg ins Freie versperrte. Während ich mit meinen Händen das Duschgel auf meiner Haut verteilte und sich wohlriechender Schaum bildete, dachte ich über den letzten Abend nach. Das Gefühl, das mich gestern überkommen hatte, als ich mit Chris auf dem Sofa gesessen hatte und wir Pizza gegessen hatten, war so herrlich vertraut gewesen und ich musste mir eingestehen, dass ich es genossen hatte. Man hätte meinen können, es wäre wie früher gewesen, als wir in der Küche gewesen waren und das Abendessen verschlungen hatten, während wir uns gegenseitig von unserem Tag erzählten. Damals hatten wir es geschafft, stundenlang ohne Unterbrechung zu reden, egal wer gerade den Raum betrat oder verließ. Wir hatten uns nicht stören lassen, hatten es genossen, sich unsere Gedanken anzuvertrauen. Und gestern war es dasselbe gewesen. Mein Bruder hatte mir von seinem Tag erzählt, während ich ihm zugehört hatte, wobei ich aber die ganze Zeit nicht vergessen hatte, weshalb wir wirklich gemeinsam auf der Couch gesessen und eine Pizza vertilgt hatten. Aber dennoch hatte ich nicht verhindern können, dass ich mich in Chris' Gesellschaft wohl gefühlt hatte. Mir war mehr als bewusst, was er mir antat, aber er war immer noch mein Bruder. Wir waren 17 Jahre lang durch dick und dünn gegangen, hatten Höhen und Tiefen durchlebt, wobei wir derzeit ein ziemlich langes Tief erreicht hatten. Aber nach einem Fall ging es bekanntlich wieder aufwärts und ich würde dafür sorgen, dass es auch bei uns so sein würde. Allerdings war mein erster Versuch, zu meinem Bruder vorzudringen, gründlich in die Hose gegangen. Dabei hatte ich gedacht, er würde mir erzählen, was er die letzten 15 Jahre alles gemacht hatte. All die Zeit über hatte ich ihn vermisst, auch wenn ich nicht immer an ihn gedacht hatte und hätte ich auch nur annähernd gewusst, dass er sich in L.A. aufhielt, wäre ich sofort an die Westküste geflogen, um ihn zu suchen und nach Hause zu holen, vorausgesetzt, er hätte mich nicht gleich erwürgt. Ich konnte mir vorstellen, dass Chris nicht glücklich darüber gewesen wäre, hätte ich ihn in Kalifornien aufgespürt. Aber vielleicht hatte ich jetzt die Chance, ihn zurückzubekommen. Ein paar Minuten würden schon genügen, die er mir zuhörte, um das Missverständnis aus der Welt zu schaffen, das uns entzweit hatte. Mich schmerzte es allerdings, dass er überhaupt daran dachte, ich würde ihm so etwas antun. Die Worte, die er mir damals an den Kopf geworfen hatte, hatte ich nie vergessen und auch in diesem Moment hätte ich sie Buchstabe für Buchstabe wiedergeben können. Unbewusst fuhr ich mir mit einem Finger über meinen Unterkiefer, berührte die Stelle, die seine Faust getroffen hatte. Damals war ich über eine Woche mit einer buntschillernden Prellung herumgelaufen, aber dieser körperliche Schmerz war harmlos im Vergleich zu dem Wissen gewesen, dass ich meinen Bruder verloren hatte. Seit diesem Tag war es nie wieder wie früher gewesen und ich hatte auch erkannt, wie herzlos und kalt mein Vater war, vor allem, als er ein Jahr nach Chris' Verschwinden ihn für tot hatte erklären lassen. Ein paar Tage später war ich ausgezogen und aufs College gegangen, mit einem Sportstipendium in der Tasche. Dem Einfluss meiner Eltern entzogen, hatte sich mein Leben wieder normalisiert. Dass ich nicht das Geschäft meines Dads übernommen hatte, war die beste Entscheidung gewesen, die ich je getroffen hatte und stattdessen war ich das geworden, was er überhaupt nicht gewollt hatte: Polizist und anschließend Bundesagent, als mich Gibbs in sein Team geholt hatte. Und ich hatte es keine einzige Sekunde lang bereut.

Ein weiterer Seufzer kam über meine Lippen und ich sah dem Schaum zu, wie er von dem Wasser von meiner Haut gespült wurde und der Schwerkraft folgend, nach unten rann. Seit ich hier eingesperrt war, dachte ich ziemlich viel über die Vergangenheit nach, was ich vorher nicht gemacht hatte, aus Angst, ich würde alles noch einmal durchleben. Aber hier hatte ich nichts anderes zu tun, als herumzusitzen und dadurch, dass Chris so unverhofft aufgetaucht war, wurde ich wieder damit konfrontiert, was alles passiert war. Und dabei war ich auf dem besten Wege gewesen, alles so weit zu verdrängen, dass ich es vergessen konnte. Aber jetzt geisterte meine Vergangenheit durch meinen Kopf, ein Grund, weshalb ich in dieser Nacht nicht viel geschlafen hatte und erst in den frühen Morgenstunden in das Reich der Träume entflohen war, während der Fernseher im Hintergrund gelaufen war und mich berieselt hatte. Um kurz nach 10 war ich wie gerädert aufgewacht, mit Kopfschmerzen, so als ob ich einen Kater gehabt hätte. Mittlerweile waren aber keine fiesen Männchen mehr in meinem Gehirn am Werk, sodass ich wenigstens wieder klar denken konnte.
Der Schaum war inzwischen im Abfluss verschwunden, aber ich machte keine Anstalten, die Dusche abzustellen. Stattdessen stützte ich meine Hände gegen die Fliesen und ließ meinen Kopf nach unten hängen, um das Wasser auf meinen Nacken prasseln zu lassen. In Gedanken ging ich noch einmal das Gespräch mit Chris vom Vorabend durch, wobei mich der Vorwurf, ich sei nicht besser als unsere Eltern, mehr als alles andere als kalt ließ. Wieso konnte er mir nicht einfach zuhören? Mich erklären lassen, was wirklich geschehen war? Aber ich wusste, würde ich das nächste Mal, wenn er mich besuchen kam, erneut darauf zu sprechen kommen, würde er sicher wieder abhauen. Wieso musste dieser Mann so stur sein? Konnte er nicht einfach seinen Stolz hinunterschlucken?
Während das Wasser unermüdlich auf meinen Körper prasselte, schloss ich die Augen und ließ meine Gedanken zu dem Abend schweifen, an dem eigentlich alles begonnen hatte, an dem ich ein Mädchen namens Amy Parker kennengelernt hatte…

Der Freitag Ende Februar war verregnet und kalt. Hatte noch vor Tagen eine dicke Schneedecke Washington überzogen, so hatte sich diese mittlerweile von flockig in hart verwandelt und war durch den heftigen Regen um die Hälfte geschrumpft. Bereits den gesamten Tag über war es düster gewesen und es war nie so richtig hell geworden. Und jetzt, wo der Abend angebrochen war, war es draußen richtig unheimlich. Die Straßenlampen schafften es nicht, die Dunkelheit annähernd zu vertreiben und wirkten wie verwaschene Kleckse. Der Asphalt war nass und rutschig und man musste aufpassen, um nicht auszurutschen und sich etwas zu brechen. Vor ein paar Tagen war es Lucille beinahe so gegangen. Sie war gerade dabei gewesen, die Einkäufe vom Auto in das Haus hineinzutragen, als sie auf eine Eisplatte getreten war und innerhalb einer Sekunde auf dem Boden gelegen hatte, die Papiertüte mit den Lebensmitteln war neben ihr gelandet und der Inhalt verstreut worden. Zum Glück hatte sie sich nur eine schmerzhafte Prellung zugezogen, gepaart mit einem verstauchten Knöchel. Mittlerweile ging es ihr wieder gut und das Humpeln war fast verschwunden. Obwohl sie sich laut ärztlicher Anweisung noch schonen musste, ließ sie es sich nicht nehmen, an diesem Abend am Herd zu stehen und zu kochen. Ein köstlicher Duft zog durch die Räume und veranlasste meinen Magen dazu, sich lautstark zu melden. Nach dem Aroma zu schließen war Lucille gerade dabei, eine Köstlichkeit zu zaubern, die mir jetzt schon das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie war die beste Köchin weit und breit und egal ob es eine einfache Suppe oder ein dreigängiges Menü war, sie schaffte es immer wieder, meinen Gaumen zu erfreuen. Und auch heute würde es nicht anders sein.

Ich wusste, dass sie sich eigentlich ausruhen und ihren Fuß entlasten sollte, aber sie hatte sich strikt dagegen gewehrt. Sie hatte einfach gemeint, Chris hätte es verdient, ein wunderbares Essen zu bekommen, noch dazu, da er seine neue Freundin zum ersten Mal eingeladen hatte. Er hatte sogar meine Eltern gefragt, ob sie an diesem Abend hier sein würden, da er ihnen jemanden vorstellen wollte, aber wie zu erwarten, hatten beide einen dringenden Termin. Vater war in New York, um sich dort mit einem Geschäftspartner zu treffen und unsere Mutter konnte sich aus der Kanzlei nicht losreißen. Die Enttäuschung, die meinen Bruder ergriffen hatte, hatte ich deutlich gespürt und am liebsten hätte ich die beiden bei den Schultern genommen und sie heftig gerüttelt.
Schon als kleines Kind hatte ich mitbekommen, dass sie Chris nicht so behandelten wie mich. Damals hatte ich es nicht verstanden und heute tat ich es schon gar nicht. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte ich einmal Dad danach gefragt, aber er hatte mich einfach ignoriert, sich einen Drink eingeschenkt und ein Footballspiel im Fernsehen verfolgt, so als ob ich Luft gewesen wäre. Es war das erste Mal gewesen, dass er mich so behandelt hatte und ich hatte somit einen kleinen Einblick erhalten, wie sich Chris fühlen musste, wenn er einfach ignoriert wurde. Aber ich wusste, den Grund würde ich wohl nie erfahren und der Blick, mit dem mich mein Vater bedacht hatte, ließ mich jedes Mal, wenn ich davon anfangen wollte, die Worte hinunterschlucken. Seitdem begann ich mich jedoch ein wenig gegen ihn aufzulehnen, machte nicht mehr alles, was er von mir wollte und schlug mich immer auf die Seite meines Bruders, wenn er kritisiert wurde. Zwar brachte mir das ziemlich oft Hausarrest ein, aber ich fühlte mich alles andere als schlecht. Sollte er ruhig mitbekommen, dass ich dabei war, mich seinem Einfluss zu entziehen und mich nicht mehr herumscheuchen ließ. Die Zeiten, wo er mir sagen konnte, was ich machen sollte und was nicht, waren vorbei.

Obwohl Chris enttäuscht war, dass unsere Eltern heute nicht anwesend sein würden, war ich innerlich froh darüber. Die gemeinsamen Abendessen fanden zwar nicht mehr allzu oft statt, aber wenn sie es taten, dann wurden sie von Schweigen beherrscht. Es war jedes Mal ein Krampf und ich war froh, wenn ich wieder in meinem Zimmer verschwinden konnte. Aber diesmal würden sie die Stimmung nicht zerstören oder meinen Bruder vor seiner Freundin blamieren. Vielleicht war es ganz gut, dass Amy, wie das Mädchen hieß, die beiden nicht kennenlernte. Wenn sie wüsste, wie es wirklich hinter der Fassade der DiNozzofamilie aussah, würde sie eventuell das Weite suchen.
Ich war gerade dabei mein Hemd zuzuknöpfen, als die Tür zu meinem Zimmer aufging und ein nervöser Chris den großen Raum betrat, der so ganz anders als das restliche Haus aussah. Hier hatte ich mir mein eigenes Reich aufgebaut, mit hellen und freundlichen Möbeln und keine Antiquitäten, die man sonst überall in der Villa fand. Selbst der Parkettfußboden war aus einem hellen Holz und schimmerte in dem Licht der Deckenlampe. Überall lagen Sachen verstreut herum: Kleidung, Bücher, Mappen, Zeitschriften und ein paar Papierbälle. Das Bett war nicht gemacht und auf den Regalen hatte sich ein wenig Staub angesammelt. Auch wenn es unordentlich war, es war mein Zimmer und ich fühlte mich in dem leichten Chaos pudelwohl.

„Meinst du, Amy wird pünktlich kommen?" fragte Chris und ließ sich auf die Matratze sinken. Er knetete seine Hände und blickte mich von unter herauf an. Seit er mit ihr zusammen war, strahlten seine Augen und ich spürte förmlich, wie er mit jedem Tag lebendiger wurde und die Nachdenklichkeit, in der die er viel zu oft verfiel, abschüttelte.
„Sicher wird sie das", versuchte ich ihn zu beruhigen und drehte mich zu ihm um. „Du weißt doch, Mädchen sind immer pünktlich." „Aber was ist, wenn sie wegen dem Wetter nicht aus dem Haus will? Was ist, wenn sie sich verfährt? Was ist wenn…?" Mein Lachen unterbrach seine Fragen und er blickte mich leicht ärgerlich an. „Mannomann, dich hat es aber ordentlich erwischt", sagte ich, grinste und ließ mich neben ihm auf das Bett fallen. Chris fuhr sich durch seine Haare und brachte sie somit in Unordnung. „Sie ist die Frau, mit der ich mein Leben verbringen will", flüsterte er schließlich und blickte zu Boden, aber ich hatte bereits bemerkt, dass sich seine Wangen gerötet hatten. „Das ist doch verrückt, oder? Dabei kenne ich sie doch erst seit einem Monat." Ich verpasste Chris einen freundschaftlichen Boxhieb gegen seinen rechten Oberarm und brachte ihn somit dazu, mich anzusehen. „Das ist überhaupt nicht verrückt, im Gegenteil. Ich kann es mir vorstellen, wenn man seiner großen Liebe begegnet, dass man es sofort weiß, dass sie vor einem steht. Und Amy wird dich glücklich machen, das weiß ich." „Bist du sicher?" „Aber klar doch." Ich sah ihn von der Seite an und grinste. „So unsicher kenne ich dich gar nicht." „Ich war vorher auch noch nie verliebt." „Das hat sich nun ja geändert." Ich klopfte ihm aufmunternd auf den Oberschenkel und er blickte auf seine Uhr, was ihn dazu veranlasste, aufzuspringen. „Sie wird gleich da sein." Kaum hatte er den Satz beendet, erklang die Türglocke und ließ ihn zusammenzucken. Chris' Hände fuhren aufgeregt durch seine Haare und zupften daran. „Wie sehe ich aus?" „Großartig", versicherte ich ihm und hob beide Daumen. Meinen Worten folgte ein strahlendes Lächeln seinerseits, das ich schon lange nicht mehr bei ihm wahrgenommen hatte und das mir das Herz wärmte. Meinen Bruder so glücklich zu sehen, war einfach Gold wert. „Und jetzt geh. Nicht das Amy zu lange vor der Tür warten muss." Er nickte und eilte aus meinem Zimmer. Kopfschüttelnd sah ich ihm nach, stand auf, knöpfte mein Hemd fertig zu und folgte ihm hinaus auf den Flur. Je weiter ich mich der Treppe näherte, desto deutlicher konnte ich die Stimme einer jungen Frau hören, gefolgt von einem hellen Lachen, das mir eine Gänsehaut verursachte. Langsam stieg ich die Stufen hinab und in mein Blickfeld kam ein braunhaariges Mädchen, dessen Wangen von der Kälte draußen gerötet waren. Ihre langen Beine wurden von einer schwarzen Hose umhüllt. Passend dazu trug sie ein rotes Top, das deutlich erkennen ließ, dass sie bereits voll zur Frau herangewachsen war. Ihre langen Haare fielen ihr in weichen Locken auf den Rücken und glänzten sanft in dem Licht der Eingangshalle. Schlanke Finger hielten eine kleine Handtasche und ihr rechtes Handgelenk wurde von einem silbernen Armband verziert. Bereits auf dem ersten Blick war mir klar, weshalb Chris ihr verfallen war, weshalb er mit einem Dauergrinsen durch die Gegend lief.

Ich brachte die restlichen Stufen hinter mich und kam auf die beiden zu. Braune Augen musterten mich neugierig von oben bis unten und ihre dezent geschminkten Lippen lächelten mich freundlich an. „Du musst Tony sein", sagte sie mit einer Stimme, die wohlklingend mein Ohr erreichte und mir erneut eine Gänsehaut verursachte. „Chris hat mir schon viel von dir erzählt." „Ich hoffe, er hat dabei die schmutzigen Details weggelassen", erwiderte ich und brachte sie zum Lachen. „Ich bin Amy Parker", stellte sie sich schließlich vor und reichte mir ihre Hand, die ich schüttelte. Der Griff war überraschend fest, so als ob in den zierlichen Armen viel mehr Kraft stecken würde, als man anfangs vermuten würde. „Nett dich kennen zu lernen", meinte ich und zwinkerte meinem Bruder zu. Ich wusste, er hatte die richtige Wahl getroffen, was seine Freundin betraf und ich konnte mir vorstellen, dass er mit ihr durchaus glücklich werden konnte. „Du kannst ja Amy schon ein wenig herumführen", schlug ich vor, da Chris etwas nervös von einem Fuß auf den anderen trat und nicht so recht wusste, was er machen sollte. „Ich werde mal sehen, wie weit Lucille mit dem Essen ist." Dankbar nickte er und umschlang seine Finger mit denen seiner Freundin. Ich durchquerte die Halle, bekam aber noch mit wie sie meinte: „Tony sieht wirklich genauso aus wie du. Das ist verblüffend." „Ich habe dir ja gesagt, wir sind eineiige Zwillinge. Und es ist immer wieder ein wenig seltsam, wenn ich ihm gegenüberstehe und das Gefühl habe, in einen Spiegel zu sehen." „Er scheint nett zu sein." „Oh ja, das ist er. Du wirst ihn mögen." Amys Erwiderung bekam ich aber nicht mehr mit, da ich die Küche betrat, in dem Wissen, dass sich alles zum Guten wenden würde. Wie sehr ich mich an diesem Abend täuschte, sollte ich drei Monate später erfahren…


Blinzelnd öffnete ich meine Augen und anstatt die warme Küche vor mir zu sehen, mit Lucille am Herd, erblickte ich weiße Fliesen. Das warme Wasser prasselte noch immer auf meinen Körper ein, dessen Haut wahrscheinlich schon eine rötliche Farbe angenommen hatte. Der Dampf in dem Raum war um einiges dichter geworden und man hätte meinen können, es hätte sich Nebel gebildet.
Der Abend, an dem ich Amy kennengelernt hatte, war noch immer präsent in meinem Kopf. Ich konnte noch immer das Essen in meinem Mund schmecken, das Lucille gezaubert hatte, konnte noch immer die Worte hören, die wir gesprochen hatten, als wir um den großen Tisch gruppiert gesessen hatten, konnte noch immer Amys liebliche Stimme und das helle Lachen hören, mit dem sie uns alle in ihren Bann gezogen hatte. Sie war unbestreitbar das hübscheste Mädchen, das ich jemals getroffen hatte und auch gerade deswegen hatte ich Chris sein Glück gegönnt. Er hatte es einfach verdient, nachdem er von unseren Eltern nicht beachtet worden war und ich hatte bereits damals gewusst, dass ich alles tun würde, um zu verhindern, dass sie etwas tun könnten, dass ihn verletzen würde - aber dann war ich es gewesen, der ihn verletzt hatte, jedenfalls glaubte er das.

Über meine Lippen kam ein lauter Seufzer und ich hob mein Gesicht dem Wasserstrahl entgegen, spürte die Tropfen, die auf meine Haut prasselten und sie leicht massierte. Obwohl es ein gutes Gefühl war, entschloss ich mich dennoch nach ein paar Sekunden, die Dusche abzustellen, da ich nicht wie eine verschrumpelte Feige aussehen wollte. Kaum verstummte das Wasserrauschen, umfing mich Stille, die nur durch die leisen Stimmen aus dem Fernseher durchbrochen wurde, wo gerade eine Sitcom lief.
Ich verließ die Kabine und nahm mir eines der flauschigen Handtücher, um es mir um die Hüfte zu wickeln. Eine Sekunde später stellte ich mich vor den Spiegel, der noch immer beschlagen war, weshalb ich mit der flachen Hand darüber fuhr. Grüne Augen sahen mir aus einem Gesicht entgegen, über das Wassertropfen rannen und dessen Wangen leicht gerötet waren. Meine Haare standen in alle Richtungen ab, aber ich machte keine Anstalten, sie zu richten. Wieso auch? Hier konnte mich doch sowieso niemand sehen.
Ich wusste nicht, wie lange ich einfach so dastand und mich selbst im Spiegel betrachtete. Die Stimmen aus dem Fernseher rückten in den Hintergrund und ich dachte nur an Chris. An Chris, wie er in das Eis eingebrochen und beinahe gestorben war, Chris, der gemeinsam mit mir um unseren Großvater getrauert hatte, Chris, der mir ständig bei den kniffligen Hausaufgaben geholfen hatte, Chris, der endlich glücklich war – und Chris, der mich voller Hass und Verachtung angefunkelt hatte, als er in mein Zimmer gekommen war, damals vor über 15 Jahren.
Ich schüttelte den Kopf, um die Bilder aus meinem Gehirn zu vertreiben. „Du musst dir wirklich was einfallen lassen, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen", sagte ich zu meinem Spiegelbild und schenkte mir selbst ein aufmunterndes Lächeln. Ich konnte von Glück sagen, dass mich niemand so sah, ansonsten würde ich schneller in einer Gummizelle landen als ich Amen sagen konnte. Und dort hätte ich es sicher nicht so komfortabel wie in meinem derzeitigen Gefängnis.
„Denk nach, Anthony, denk nach", flüsterte ich und kniff meine Augen zusammen. Aber mir fiel einfach keine Lösung ein, wie ich Chris dazu bringen konnte, mir zuzuhören, ohne gleich auszurasten. Der Frust, der sich die letzten Jahre über in ihm aufgestaut hatte und der sich jetzt Luft verschaffte, hinderte ihn daran, mir auch nur ein Wort zu glauben. Dennoch, irgendwie würde ich es hinbekommen und dann würde die Mauer, die er um sich aufgebaut hatte, wie ein Kartenhaus einstürzen und den Chris zum Vorschein bringen, den ich kannte – und noch immer gerne hatte. „Immer positiv denken", sprach ich mir Mut zu, grinste mich selbst ein letztes Mal an und begann mich abzutrocknen.
Bereits jetzt fieberte ich der nächsten Begegnung mit meinem Bruder entgegen. Heute Abend würde ich erneut die Chance nutzen, um ihm ins Gewissen zu reden und vielleicht bekam ich ihn ja so weit, dass er mich gehen ließ. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich jedoch noch nicht, dass er viel zu aufgekratzt sein würde, um sich meine Version der damaligen Geschehnisse anzuhören.

Fortsetzung folgt...
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