- Text Size +
Washington D.C.
Kurz nach Mittag


Es war unglaublich wie schnell die Zeit verging, wenn man damit beschäftigt war, einen Mörder zu finden. Seit Stunden waren alle dabei, sich durch die gesamten Akten zu wühlen, die es über die verschiedensten Angestellten des Navystützpunktes in Quantico gibt und die etwas mit Commander Emmerson zu tun gehabt hatten - genauso wurden Verwandte, Freunde und Bekannte überprüft. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass es kein Affektmord gewesen war und der mittlerweile Verstorbene den Einbrecher nicht überrascht hatte, hatte Gibbs seinen Leuten befohlen, sich auf das direkte Umfeld des Toten zu konzentrieren. Für Fremde war es schwer, sich auf dem Gelände des Stützpunktes aufzuhalten, also musste es jemand sein, der dort arbeitete oder wohnte und noch dazu den Commander kannte, oder besser gesagt, gekannt hatte. Irgendetwas musste in der Vergangenheit des Mannes passiert sein, dass jemand so wütend auf ihn war, ihm mit einem Baseballschläger den Kopf einzuschlagen, das gesamte Wohnzimmer zu zertrümmern und alles wie einen Einbruch aussehen zu lassen. Aber der Plan war nicht aufgegangen, der Täter hatte etwas übersehen und es war das offene Fenster, das ihm zum Verhängnis werden würde, genauso wie die DNA, die Abby auf dem Messer gefunden hatte.

McGee hatte mit der Witwe gesprochen und erfahren, dass ihrem Gatten am Morgen sein Frühstücksspeck angebrannt war und er deshalb frische Luft einlassen wollte, um den nicht gerade angenehmen Geruch wieder aus dem Haus zu entfernen. Jedenfalls war das Fenster offen gewesen, als sie sich auf dem Weg zu ihrer Freundin gemacht hatte. Gleich darauf war sie erneut in Tränen ausgebrochen und hatte Tim die Ohren voll geheult, der nur an seinem Schreibtisch gesessen hatte und sich das Geschluchze anhören musste, wobei ihm keine passenden Worte eingefallen waren, um sie zu trösten. Deshalb hatte er ihr einfach gedankt und aufgelegt, in dem Wissen, dass das nicht gerade nett gewesen war, aber sonst würde er jetzt noch da sitzen, den Telefonhörer in der Hand und eine trauernde Ehefrau am anderen Ende der Leitung zuhören, wie sich ein Schluchzer nach dem anderen aus ihrer Kehle löste.

Während seine Agenten eine Akte nach der anderen durchgingen, saß Gibbs an seinem Schreibtisch, trank bereits seinen fünften Becher Kaffee und hatte seine Aufmerksamkeit auf Tony gerichtet, der mit einer für ihn ungewöhnlichen Geschwindigkeit Ordner für Ordner durchging, auf der Suche nach Informationen, die schlussendlich dem Täter das Genick brechen würden. Seit sie den Fahrstuhl wieder verlassen hatten, war er wieder ganz der Alte. Nichts erinnerte mehr daran, dass er noch vor Stunden mit seinen Gedanken in der Vergangenheit gewesen war, die nicht gerade angenehm gewesen sein musste. Jethro konnte sich jetzt besser vorstellen, weshalb Anthony lieber Vollwaise hatte sein wollen. Die Worte, dass ihn seine Eltern nicht geliebt hatten, hatten ihn ein wenig geschockt und tief in seinem Inneren gerührt. Der Gedanke, dass jemand sein Kind nicht liebte, war entsetzlich und dennoch schien es passiert zu sein. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Tony ständig danach gierte, Aufmerksamkeit zu erregen und alles richtig zu machen, um ein wenig Lob von seinem Boss zu bekommen. Der kurze Moment, in dem DiNozzo seine Fassade des gut gelaunten und zu jedem Spaß aufgelegten Sonnyboys fallen gelassen hatte, hatte ausgereicht, um Gibbs vor Augen zu führen, dass diese im Prinzip ein Schutzmechanismus war, um zu verhindern, dass er erneut verletzt wurde. Obwohl er allen immer weiß machen wollte, dass er stark war und dass ihn nichts aus der Bahn werfen konnte, so war auch er nur ein Mensch mit Gefühlen, der genauso Angst hatte, auch wenn er es nie zeigte, wobei das kein Zeichen der Schwäche war, jedenfalls sah das Gibbs so. Zu wissen, dass Tony nie die Liebe seiner Eltern erhalten hatte, die er eigentlich bekommen hätte sollen, brachte Licht in sein gestriges Verhalten. Aber ihn interessierte brennend, weshalb die Sache jetzt an die Oberfläche kam, was der Auslöser dafür gewesen war. War es wirklich der Mord gewesen oder steckte etwas anderes dahinter? Hatte er vielleicht einen Anruf erhalten, der ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte? Oder war eine Person aufgetaucht, die ihn an seine Kindheit erinnerte? Aber egal was es war, sein Agent schien es unter Kontrolle zu haben – jedenfalls für den Moment. Aber Jethro hatte die Befürchtung, dass es noch nicht ausgestanden war und dass Anthony weiterhin in Gedanken versinken würde, auch wenn er jetzt den Anschein erweckte, alles hinter sich gelassen zu haben. Aber das war nur wieder die dicke Mauer, die er aufgebaut hatte, um seine Vergangenheit von der Gegenwart abzuschirmen. Irgendwann würde alles über ihn hereinbrechen und ihn überschwemmen. Manchmal war es einfach besser, sich jemandem anzuvertrauen, anstatt alles in sich hineinzufressen. Obwohl Gibbs kein Mann war, der gerne sein Innerstes offenbarte, so war er doch dazu bereit, sich die Sorgen anderer anzuhören, vor allem wenn es um seine Agenten ging. Auch wenn er es nicht oft zeigte, so mochte er doch jeden einzelnen, egal welche Fehler dieser haben mochte. Und er konnte es nicht leugnen, dass er zu Tony ein besonderes Verhältnis hatte. Selbst wenn er sich wieder einmal wie ein pubertierender Teenager verhielt, so war Jethro doch froh, dass er in seinem Team war. Er war unbestreitbar der beste Agent den er hatte und wenn ihn etwas bedrückte, so sollte er doch wissen, dass er immer zu seinem Boss kommen konnte, um ihm sein Herz auszuschütten. Vielleicht sollte er das Anthony klar machen und ihm sagen, dass er ihm seine Probleme anvertrauen konnte – ohne eine Kopfnuss zu kassieren. Zufrieden mit sich, trank Gibbs seinen Kaffee aus und warf den Becher in den Mülleimer, der neben seinem Schreibtisch stand. Anschließend sah er zu Tony, der an seinem Platz saß und Akte um Akte durchging, ohne jedoch auf ein zufriedenes Ergebnis zu kommen. Also beschloss der Chefermittler, die Taktik zu ändern und stand auf. Es war an der Zeit, die Offensive zu ergreifen – was den Fall und seinen Agent betraf.

Seit ein paar Minuten las Chris immer dieselbe Akte, ohne jedoch richtig mitzubekommen, was auf den Papieren stand. Das Leben der Personen, die etwas mit dem Commander zu tun gehabt hatten, war nicht sonderlich aufregend. Bis auf ein paar Ausnahmen, hatten sämtliche Personen eine reine Weste und schienen keiner Fliege etwas zu leide tun zu können. Aber irgendwo in dem ganzen Berg aus Schriftstücken war der Mörder verborgen, das spürte er ganz genau. Wenn es um Verbrechen ging, hatte er im Laufe der Jahre in den Straßen von L.A. einen sechsten Sinn entwickelt, um überleben zu können. Er konnte jemandem sofort ansehen, wenn dieser etwas ausgefressen hatte, egal wie hartnäckig er versuchte, es zu verbergen. Aber diese Akten zu wälzen, würde Chris nicht auf die richtige Spur bringen, dazu müsste er dem Täter gegenüberstehen, um seine Reaktionen mit eigenen Augen erfassen zu können, wenn er ihn mit dem Mord konfrontierte. Vielleicht wäre es besser, Gibbs zu sagen, sie sollten diese Männer direkt verhören, auch wenn es lange dauern sollte, immerhin waren es sicher gut 40 Personen. Obwohl nichts wirklich darauf hinwies, so glaubte er, dass die Tat etwas mit der Vergangenheit des Commanders zu tun hatte. Irgendetwas musste damals in Norfolk passiert sein, das ihn dazu veranlasst hatte, sich versetzen zu lassen, ungeachtet dessen, dass er sich mit seinen dortigen Kameraden hervorragend verstanden und sich nie etwas zu schulden kommen hatte lassen. Es gab insgesamt 18 Marines, die zu demselben Zeitpunkt in Norfolk gewesen waren wie der Commander und vielleicht sollten sie sich auf diejenigen konzentrieren.

Chris schloss die Akte vor sich und streckte sich genüsslich. Dabei fiel sein Blick auf Gibbs, der seinen Kaffee austrank, den Becher entsorgte und ihn direkt ansah. Unwillkürlich zuckte er zusammen und ließ seine Arme wieder sinken – er wollte nicht den Eindruck erwecken, zu faulenzen. Er wusste, dass ihn der andere, seit sie den Fahrstuhl verlassen hatten, ständig im Auge behielt, auf der Suche nach einem Anzeichen, dass er wieder in Gedanken versunken war. Aber Chris hatte aufgepasst. Obwohl die Erinnerungen an Amy ständig an die Oberfläche kamen, so drängte er sie immer wieder zurück und konzentrierte sich auf den Fall, der eine willkommene Ablenkung darstellte.
In der kleinen Kabine hatte er für ein paar Sekunden seine Fassade fallen gelassen und Jethro einen Einblick in seine Seele gegeben, aus dem Bedürfnis heraus, sich jemandem anzuvertrauen und es hatte sich gut angefühlt, etwas von dem Frust abzulassen, den er die ganzen Jahre über mit sich herumgetragen hatte und wahrscheinlich auch noch länger mit sich herumtragen würde. Aber er würde sich diesem Mann nie ganz anvertrauen können, da er wusste, wenn er herausfand, dass es nicht Tony war, der in an diesem Schreibtisch saß, konnte er gleich einen Fahrschein in den Knast einlösen. Es war ihm bereits gestern klar geworden, dass Gibbs jeden seiner Mitarbeiter mochte und alles tun würde, um sie zu beschützen und wenn er entdeckte, dass Chris Anthony entführt hatte, dann wäre er nicht einmal mehr am Nordpol sicher.

Er schüttelte seinen Kopf, um die nicht gerade rosigen Gedanken, was seine Zukunft betraf, zu verdrängen und wollte sich die nächste Akte vornehmen, als der Chefermittler aufstand. Obwohl er keinen Ton von sich gegeben hatte, hatte er sofort alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Es bringt nichts, wenn wir weiter diese Akten durchgehen", sagte er schließlich und fuhr sich mit einer Hand durch seine Haare. „Na, das höre ich doch gerne", meinte Chris und zuckte gleich darauf zusammen, als ihn ein funkelnder Blick aus blauen Augen traf. Er war noch nie jemand gewesen, der einfach seinen Mund gehalten hatte, aber jetzt kam ihn in den Sinn, dass es an der Zeit war, das zu lernen, wollte er seinen Kopf behalten.
Gibbs ging aber nicht weiter darauf ein und fuhr fort: „Ziva und McGee, ihr fahrt zu Mrs. Emmerson und fragt sie, was damals in Norfolk passiert ist. Ich will wissen, weshalb sich ihr Mann versetzen lassen wollte. Ich habe so das Gefühl, dass der Mord etwas damit zu tun hat. Wenn ihr wieder zurück seid, will ich Antworten haben." „Verstanden, Boss", erwiderte Tim sofort, ganz der untergebene Agent.
„Kann das McGee nicht alleine machen?" wollte Ziva wissen und griff widerwillig nach ihrer Waffe. Sie hatte es von jeher nicht ausstehen können, mit Opfern zu sprechen und konnte auch nicht gut mit Menschen umgehen, außer wenn es darum ging, sie zu verhören und ihnen ein Geständnis zu entlocken. Aber mit einer trauernden Frau zu reden, fiel nicht gerade in ihr Spezialgebiet und sie kam sich jedes Mal unbeholfen vor. „War an meinem Befehl etwas misszuverstehen, Officer David?" fragte Gibbs mit einem Ton in der Stimme, der jeden Kriminellen sofort in ein Mauseloch getrieben hätte, aber die junge Frau ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Dennoch hielt sie es für klüger, nicht weiter zu widersprechen und folgte McGees, der bereits aufgestanden war und auf sie wartete.

„Tony, du kommst mit mir", sagte Jethro und nahm sich ebenfalls seine Waffe. „Wo fahren wir hin?" wollte Chris wissen, der sich plötzlich ein wenig unbehaglich fühlte. Es gefiel ihm gar nicht, schon wieder alleine mit dem anderen zu sein und sei es nur für ein paar Minuten. Das letzte Gespräch unter vier Augen hatte er noch gut in Erinnerung und er konnte gut und gerne darauf verzichten, dieses zu wiederholen. Die Gefahr war einfach zu groß, dass ihm irgendetwas herausrutschte, das den Verdacht erregte, dass etwas nicht stimmte und Gibbs war sowieso schon die ganze Zeit misstrauisch. Aber er wusste, ihm blieb nichts anderes übrig als dem Chefermittler zu folgen, wollte er seinen Kopf behalten. Deshalb schnappte er sich seine Waffe und stand auf.
„Wir beide fahren nach Quantico und befragen die Kameraden von Commander Emmerson." „Etwa alle? Weißt du eigentlich, wie viele das sind? Da sitzen wir ja bis morgen dort fest." Jethro kam nahe zu ihm heran, so nahe, dass Chris seinen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. „Hast du ein Problem damit, DiNozzo? Wenn ja, kannst du auch gerne hier bleiben und weiter Akten durchgehen oder vielleicht suchst du dir gleich einen neuen Job?" Der Jüngere schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und hatte sichtlich Mühe, dem stechenden Blick standzuhalten. Wie er es hasste, sich klein wie ein Junge zu fühlen, wenn ihn der andere derart ins Visier nahm. Kein Wunder, dass jeder sofort machte, was er wollte. Es war nicht gerade angenehm, sich seinen Zorn auf sich zu ziehen. Da er seiner Stimme nicht ganz traute, schüttelte er schließlich seinen Kopf und war erleichtert, als Gibbs zurücktrat und meinte: „Das habe ich auch nicht gedacht."
Chris räusperte sich und nahm seinen Rucksack vom Boden. „Wäre es nicht sinnvoller, wenn wir uns auf diejenigen konzentrieren, die zur selben Zeit in Norfolk waren wie der Commander? Wie du vorher erwähnt hast, hat es sicher etwas mit der Sache vor fünf Jahren zu tun und ich denke, es wäre sinnvoller, in dieser Richtung zu suchen. Außerdem wären wir schneller fertig, da wir nicht so viele verhören müssen." Gleich darauf biss er sich auf die Zunge, da er dachte, eine Grenze überschritten zu haben. Aber zu seiner Verblüffung bildete sich auf Gibbs' Lippen ein kleines Lächeln, was McGee und Ziva dazu veranlasste, verwunderte Blicke auszutauschen.
„Ob du es glaubst oder nicht, DiNozzo, genau das hatte ich vor. Und damit du auf der Fahrt etwas zu tun hast, nimmst du dir die gesamten Akten mit und suchst jeden einzelnen heraus, der damals in Norfolk war. Und jetzt beweg endlich deinen Hintern. Ich will hier nicht übernachten." Ohne zu zögern schnappte sich Chris den Stoß und eilte den anderen nach, die bereits vor dem Fahrstuhl standen. Er konnte nicht verhindern, dass ihn Nervosität überkam, immerhin war es das erste Mal, dass er jemanden verhören sollte. Zwar hatte er in den letzten Jahren viele Krimis im Fernsehen gesehen und auch zahlreiche gelesen, aber er wusste, die Realität sah ganz anders aus. Die Menschen verhielten sich nie wie in einer Serie oder in einem Roman und ihm war nur allzu deutlich bewusst, dass er es an diesem Nachmittag versauen konnte. Aber er hatte jetzt immerhin die Chance, dem Mörder von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten und wenn es soweit war, konnte er nur hoffen, dass ihn sein sechster Sinn nicht im Stich lassen würde.

Die Autofahrt nach Quantico verlief größtenteils schweigsam. Chris war damit beschäftigt, die Akten zu sortieren, wobei er dazu nur etwa 15 Minuten brauchte. Um zu verhindern, dass Gibbs ihn in ein Gespräch verwickelte, kontrollierte er zweimal, ob er sich nicht vertan hatte, bevor er die Ordner in seinem Rucksack verschwinden ließ. Anschließend warf der dem Chefermittler einen Blick zu und stellte erleichtert fest, dass sich dieser auf den Verkehr konzentrierte, anstatt auf ihn. Seine Miene war wie eh und je verschlossen und es war unmöglich zu erraten, woran er gerade dachte, was ihn aber nicht daran hinderte, 20 Meilen pro Stunde schneller zu fahren als erlaubt wäre. Es schien ihn nicht einmal zu stören, dass es andere Autos auf der Straße gab, die sich an die Regeln hielten und er sie gnadenlos überholte, bevor er Gefahr lief, mit deren Stoßstangen zu kollidieren.
Diesmal störte sich Chris jedoch nicht an dem rasanten Fahrstil, sondern war eher froh darüber, immerhin bedeutete es, dass sie schneller an ihrem Ziel waren. Er riss seinen Blick von Jethro los und sah durch das Seitenfenster nach draußen, wo die Umgebung in atemberaubender Geschwindigkeit vorbeirauschte. Unwillkürlich fragte er sich, ob Tony es etwas ausmachte, wenn Gibbs so schnell unterwegs war, jede noch so kleine Verkehrsregel missachtend. Er wusste genau, was er seinem Bruder damit antat, ihm die Freiheit zu rauben und mittlerweile war er sich nicht mehr so sicher, das Richtige zu machen. Die Wut, die er seit Jahren mit sich herumschleppte, begann allmählich abzuflauen. Seit er Anthony nach so langer Zeit wieder gesehen und mit ihm gesprochen hatte, war ihm bewusst geworden, wie sehr er ihn im Grunde vermisst hatte. Er war der einzige Mensch gewesen – neben Lucille und seinem Großvater – der immer zu ihm gestanden und ihn unterstützt hatte. Und je älter sie geworden waren, desto häufiger hatte er sich auf seine Seite geschlagen, in dem Bewusstsein, den Zorn ihres Vaters auf sich zu ziehen. Damals hatte er deswegen sooft Hausarrest kassiert, dass er eigentlich öfters zu Hause gewesen war als unterwegs. Tony war sein Beschützer gewesen und wie dankte er es ihm? Chris hatte ihn entführt und ihn in einem Keller eingesperrt, um sein Leben zu übernehmen. Unwillkürlich zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen und zum ersten Mal seit langer Zeit begannen Schuldgefühle an ihm zu nagen. In einer hilflosen Geste ballte er seine Hände zu Fäusten und am liebsten hätte er auf irgendetwas eingeschlagen. Wut darüber, dass er begann, sich schuldig zu fühlen, stieg in ihm auf und nur mit Mühe unterdrückte er den Impuls, laut loszuschreien. Er hatte gedacht, die Begegnung mit Tony würde ihn kalt lassen, würde ihn nur noch mehr in seinem Plan bestärken, aber jetzt? Jetzt begann er ernsthaft darüber nachzudenken, ob es nicht ein Fehler gewesen war. Das Ereignis vor 15 Jahren kam ihm wieder in den Sinn, der Abend, der sie auseinandergerissen hatte, aber die Wut von damals wollte in diesem Moment nicht an die Oberfläche kommen. Chris spürte förmlich, wie er begann, Tony zu verzeihen und es war diese Tatsache, die ihn einen Entschluss fassen ließ. Und er wusste, er würde seit langer Zeit wieder etwas richtig machen und vielleicht würde er dann endlich Frieden finden.

Gibbs beobachtete seinen Agent aus den Augenwinkeln und ihm entging natürlich nicht, dass dieser abwesend aus dem Fenster starrte und über irgendetwas nachdachte, genauso wenig entgingen ihm seine Hände, die zu Fäusten geballt waren, sich aber gleich darauf wieder öffneten. Die gesamte Körperhaltung des Jüngeren entspannte sich und auf seinen Lippen bildete sich ein kleines Lächeln. Es war unübersehbar, dass er gerade einen inneren Kampf ausgefochten hatte und dass er mit dem Ergebnis zufrieden war. Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass er so richtig entspannt war und Jethro hatte den Eindruck, dass er mit sich ins Reine gekommen war. Erleichterung überkam ihn, aber dennoch hatte er die Befürchtung, dass Tony erneut in Grübeleien versinken würde, dass ihn erneut Erinnerungen an seine Eltern überschwemmen würden. Deshalb bremste er vor einer Ampel ab, die gerade auf gelb umschaltete, obwohl er normalerweise die Kreuzung noch überquert hätte.
„Alles in Ordnung?" fragte er und drehte sich zu seinem Agent um, der seinen Blick vom Seitenfenster losriss und ihn direkt ansah, wobei in seinen grünen Augen ein glückliches Funkeln getreten war. „Ja, alles bestens", erwiderte dieser und Gibbs spürte, dass es die Wahrheit war. „Hör zu, Tony", sagte er mit leiser Stimme und beugte sich ein wenig vor. „Wenn du Probleme hast, egal welche, du kannst immer zu mir kommen. Du weißt, meine Tür steht für dich offen und du kannst mit mir über alles reden."
Chris sah ihn für ein paar Sekunden schweigend an. Der harte Chefermittler war verschwunden und hatte einem sanfteren Platz gemacht. Aber so gerne er sich alles von der Seele geredet hätte, würde es ihn doch nur ins Gefängnis bringen, dass war so sicher wie die Tatsache, dass die Erde rund und keine Scheibe war. Und er würde garantiert nicht in den Knast gehen, dass hatte er sich geschworen, da würde er lieber den Tod in Kauf nehmen, als sich in eine kleine Zelle sperren zu lassen – noch ein Grund, der seine Entscheidung von vorhin festigte. Aber bevor er diese umsetzte, würde er mithelfen, einen Mörder zu finden.
„Danke für das Angebot", sagte Chris schließlich. „Vielleicht werde ich einmal darauf zurückkommen." Er wusste, dass das nie der Fall sein würde, aber alleine das Gefühl, dass es jemanden gab, der ihm zuhören würde, war einfach großartig. Ein breites Grinsen bildete sich auf seinen Lippen, unfähig es zurückzuhalten, obwohl er wusste, was es ihm einbringen würde. „Ich habe schon immer gewusst, dass unter dieser harten Schale ein weicher Kern steckt und du mich tief in deinem Inneren richtig gerne hast." Die flache Hand, die eine Sekunde später ihren Weg zu seinem Hinterkopf fand und ihm einen saftigen Klaps verpasste, bestätigte ihn nur in seiner Vermutung und ließ ihn noch breiter grinsen. In diesem Moment wurde Chris klar, welches Glück Tony hatte, Gibbs als Freund zu haben und er wünschte sich innerlich, dass ihn dieser Mann irgendwann genauso behandeln würde, ungeachtet dessen, wer er war und was er angestellt hatte.

Fortsetzung folgt...
You must login (register) to review.