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Washington D.C.
Kurz vor 19 Uhr


Seit geraumer Zeit blickte Chris immer wieder auf seine Uhr. Es war fast sieben, die Sonne begann langsam unterzugehen und Gibbs hatte ihnen immer noch nicht erlaubt, Feierabend zu machen. Hatte er sie gestern noch vor sechs nach Hause geschickt, so schien er heute die verlorene Zeit wieder reinholen zu wollen. Es könnte allerdings auch daran liegen, dass es endlich eine konkrete Spur gab, was den Mord an Commander Emmerson betraf. Der Chefermittler hatte seine Kollegen nicht einmal eine Minute zum Luft holen gelassen, als er mit Chris von Quantico zurückgekommen war. Die sanftere Seite an ihm, die er dem jungen Mann sowohl am Morgen im Fahrstuhl als auch bei der Autofahrt gezeigt hatte, war wieder verschwunden und hatte dem knallharten Agent Platz gemacht, der er war. Mit einem Becher voll Kaffee hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt und McGee und Ziva knapp aufgefordert zu berichten, was sie von Mrs. Emmerson erfahren hatten - was nicht sehr viel gewesen war. Das einzig Interessante war, dass sie angenommen hatte, ihr Mann hätte sich auf Grund von unüberwindbaren Differenzen mit seinem Vorgesetzten versetzten lassen. Wie das Team aber am Vortag von diesem erfahren hatte, hatten sie sich super miteinander verstanden und es gab nicht ansatzweise irgendwelche Probleme. Was wiederum bedeuten musste, das etwas geschehen war, dass den Commander dazu veranlasst hatte, seine Frau anzulügen. Und an dieser Stelle kam Petty Officer First Class Theodore Diggs ins Spiel.

Gibbs hatte Ziva und McGee von Chris' Verdacht erzählt und ohne Umschweife befohlen, so viele Informationen wie möglich über den Marine und seinen Freund Harold Paulsen herauszufinden, der ohne zu zögern das Alibi bestätigt hatte. Aber dennoch blieb das Gefühl, dass beide etwas mit dem Mord zu tun hatten, aufrecht und die DNA Analyse, die Abby gerade durchführte, würde das hoffentlich bestätigen. Allerdings mussten sie bis morgen Mittag warten, bis ein Ergebnis vorliegen würde. So super die moderne Wissenschaft auch war, war es doch mehr als nervenaufreibend, dass sie manchmal derart viel Zeit in Anspruch nahm.
Um zu verhindern, dass die beiden Verdächtigen während dieser Stunden das Weite suchten, hatte Gibbs eine Überwachung angeordnet – natürlich, ohne dass sie etwas davon merkten. Vielleicht bekamen die Ermittler auch so schon einen Hinweis, der ihnen verriet, ob die Marines Dreck am Stecken hatten.
Jethro wusste, alleine durch ein Bauchgefühl konnte mein keinen Mörder entlarven – dazu brauchte man hieb und stichfeste Beweise – aber er hatte gelernt, darauf zu hören. Bereits in Quantico hatte er beschlossen, dem Instinkt seines Agents zu vertrauen. Zwar bestand immer die Möglichkeit, dass sich dieser Verdacht als unbegründet herausstellte, aber je länger der Chefermittler darüber nachdachte, desto deutlicher sagte ihm seine innere Stimme, dass sie auf der richtigen Spur waren. Jetzt mussten sie nur noch beweisen, dass das Alibi gefälscht war und die beiden jungen Männer so weit in die Enge treiben, bis sie endlich mit der Wahrheit herausrückten. Wie sie das anstellen sollten, wusste Jethro zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich, aber ihm würde sicher eine Taktik einfallen – später, wenn er alleine war und an seinem Boot weiterbauen konnte, gepaart mit ein oder zwei Gläsern guten Bourbon. Es ging doch nichts über das Abschleifen von Holz, um sich dabei Gedanken über einen Mordfall zu machen. Aber bis es so weit war, wollte er sich noch die Informationen anhören, die seine Agens über die beiden Marines gesammelt hatten. Deshalb trank er seinen Kaffee aus, entsorgte den Becher im Mülleimer und stand auf, mit der Gewissheit, dass er damit die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Der untere Teil des Computerbildschirms hatte auf Chris in den letzten Minuten eine gewaltige Anziehungskraft gehabt. Mittlerweile hatte er bereits das fünfte Mal auf die Uhr gesehen und die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Inzwischen war es kurz nach sieben und er konnte nur mit Mühe dem Drang widerstehen, unruhig auf seinem Stuhl herumzurutschen. Wie er Tony kannte, hatte er sicher schon einen so großen Hunger, dass er alles essen würde, was man ihm vor die Nase setzte und je länger er hier im Büro war, desto länger musste dieser auf Nahrung warten. Und er kannte seinen Bruder gut genug, um mit Sicherheit sagen zu können, dass er gerade jetzt nicht in allerbester Laune war, da sein Magen ein riesiges Loch aufwies. Es hatte ihn schon immer verwundert, wie viel dieser essen konnte, ohne jedoch sichtlich an Gewicht zuzunehmen. Chris konnte ebenfalls große Mengen verschlingen, aber bei weitem nicht so viel wie Anthony. Obwohl, wenn er darüber nachdachte, hatte er den Schokoriegelvorrat in dem Schreibtisch in den letzten beiden Tagen ziemlich schrumpfen lassen und es waren nicht mehr viele übrig. Noch eine Sache, die er auf die Liste der Dinge setzte, die er einkaufen wollte, bevor er Tony wieder frei ließ. Dieser sollte am Montag immerhin keine leere Schublade vorfinden, wenn er sich einen seiner Riegel gönnen wollte. Vielleicht sollte er noch eine Schachtel Doughnouts mit Vanille dazulegen, als kleine Entschädigung. Aber Chris wusste, es brauchte schon mehr als Süßigkeiten, damit ihm sein Bruder verzeihen würde, dass er ihn in einem Keller eingesperrt und sein Leben übernommen hatte. Noch vor Tagen hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht, hatte geglaubt, er würde sein Recht auf das Leben einfordern, dass eigentlich ihm zustand, aber mittlerweile hatte er eingesehen, dass er auf dem totalen Holzweg gewesen war. Anthony war nicht derjenige, der Schuld daran hatte, dass er der erstgeborne Sohn oder dass er mehr geliebt worden war. Nein, die Schuldigen waren ihre Eltern, die sich mehr um ihre Karriere und um das Geld gekümmert hatten, als um ihre Kinder. Und er musste erst zum Kidnapper werden, um das herauszufinden. Vorher war er vor Wut und Hass einfach blind gewesen, hatte das Offensichtliche nicht gesehen und seinem Bruder die ganze Schuld in die Schuhe geschoben.

Jetzt, etwa 48 Stunden später, nachdem er angefangen hatte, seinen Plan umzusetzen, wünschte er sich, er hätte es nie getan. Allerdings musste Chris zugeben, dass es ein wunderbares Gefühl war, andere helfen zu können und dabei mitzuwirken, einen Mörder zu fangen, hatte einen gewissen Reiz. Hatte er noch vor kurzem die Arbeit von Gesetzeshütern verachtet, so hatte er mittlerweile Einblick in das Ganze gewonnen und es war irgendwie toll, einen Teil beizutragen, um die Straßen sicherer zu machen und einen Mörder hinter Gitter zu bringen. Der Adrenalinkick, den man bekam, wenn man des Rätsels Lösung immer näher kam, war besser als jeder noch so heftige Rausch und es erfüllte ihn mit Befriedigung. Er wusste, endlich würde er etwas richtig machen, tat etwas für die Gesellschaft, bevor er bald wieder von der Bildfläche verschwinden würde – möglichst weit weg von Washington, weit weg von den schmerzhaften Erinnerungen an seine Kindheit und weit weg von Tony. Erst jetzt war ihm so richtig klar geworden, wie sehr er ihn vermisste und wie gerne er noch immer in seiner Nähe war, aber je länger er hier bleiben würde, desto schwieriger wäre es für ihn, aus dieser Stadt zu verschwinden. Aber er musste einfach raus, musste allem den Rücken kehren, musste seine Vergangenheit hinter sich lassen, um sich endlich ein neues Leben aufbauen zu können - und diesmal nicht mit illegalen Geschäften.
Allerdings war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über seine Zukunft nachzudenken – schon gar nicht, da Gibbs aufgestanden war und damit unmissverständlich klar machte, dass er Informationen hören wollte. Später, wenn Chris alleine wäre, hatte er noch genug Zeit, um sich Gedanken über den Rest seines Lebens zu machen. Vorher galt es jedoch, die Aufmerksamkeit wieder auf den Fall zu lenken.

„Was habt ihr?" fragte Jethro knapp und stellte sich vor den großen Plasmabildschirm. McGee sprang wie ein übereifriger Schüler, der die richtige Antwort kannte, auf, nahm sich die Fernbedienung und holte das Bild von Theodore Diggs auf den Schirm. „Petty Officer Theodore Diggs", begann er und hielt für eine Sekunde inne, um sich die wichtigsten Details aus seinem Gedächtnis zu suchen, um nicht Gefahr zu laufen, um den heißen Brei herumzureden – etwas, was der Chefermittler nicht ausstehen konnte und meistens mit einem ruppigen Kommentar oder einer Kopfnuss bestrafte.
„25 Jahre alt, wurde in Norfolk geboren und wuchs am dortigen Stützpunkt auf, da sein Vater ein Marine war, genauer gesagt ein Corporal. Diggs' Mutter war Hausfrau und kümmerte sich um ihren Sohn. Sie starb allerdings an Leukämie, als dieser 10 Jahre alt war. Theodore wurde schließlich alleine von seinem Vater, Kurt Diggs, aufgezogen, welcher wahrscheinlich ziemlich viel Einfluss auf seinen Sprössling gehabt hatte, weshalb dieser ebenfalls dem Marine Corp beigetreten ist, als er die High School abgeschlossen hatte. Und das, obwohl er ein Stipendium für Harvard in der Tasche gehabt hatte. Keine Ahnung, wie man sich so eine Chance entgehen lässt. Hätte ich die Wahl…" Tim brach aber ab, als er den leicht verärgerten Blick von Gibbs auf sich spürte und seine Wangen überzogen sich mit einem Hauch von Rot.

„Harold Paulsen wurde in Washington geboren", nahm Chris den Faden auf und versuchte sich ein Grinsen zu verkneifen. Um McGee jedoch aus seiner Verlegenheit zu befreien, bedeutete er ihm mit einem Kopfnicken, dass er das Bild des jungen Mannes auf den Bildschirm holen sollte, was dieser auch tat – dankbar, etwas machen zu können, was ihn von der Röte auf seinen Wangen ablenkte. „Sein Vater war ein Lieutenant und in Quantico stationiert. Er wurde aber nach Norfolk versetzt, als Harold 14 Jahre alt gewesen war. Er kam auf dieselbe High School wie Theodore Diggs, wo sie sich nach dessen eigener Aussage auch kennengelernt hatten. Paulsen hatte eine kleine Schwester, die mit 19 Jahren Selbstmord beging. Das war einen Monat bevor Commander Emmerson nach Quantico gezogen war. Ich denke, dass das kein Zufall sein kann." „Du denkst, DiNozzo?" wandte sich Gibbs an den Jüngeren und fixierte ihn mit seinen stechend blauen Augen. Chris widerstand dem Drang, einen Schritt zurückzutreten, nur um diesem Blick auszuweichen, blieb aber mutig auf dem Fleck stehen. „Nun ja", fuhr er etwas zögernd fort und sah für ein paar Sekunden auf die Akte, die er in den Händen hielt, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. „Theodore Diggs und Karen Paulsen, also die Schwester von Harold, waren damals in Norfolk ein Paar, jedenfalls habe ich das von ihrer Mutter erfahren." Er räusperte sich kurz und schloss den Ordner, bevor er seine Theorie aussprach. „Ich würde sagen, dass Commander Emmerson irgendetwas mit dem Ganzen zu tun gehabt hat. Weshalb sonst hätte er sich ohne einen ersichtlichen Grund nach Quantico versetzen lassen sollen? Und Diggs war anzusehen, dass er mir etwas verheimlichte. Glaub mir Gibbs, mir sind in meinem Leben bereits so viele Menschen begegnet, die versucht haben, mich anzulügen, dass ich mittlerweile ein Gefühl dafür entwickelt habe, wenn jemand nicht die Wahrheit sagt. Und der Petty Officer hat gelogen bis sich die Balken gebogen haben."

Der Chefermittler kniff die Augen zusammen und war von den Worten seines Agents ein wenig verwundert. So weit er sich erinnerte, hatte dieser noch nie gemeint, dass er eine Lüge ohne weiteres von der Wahrheit unterscheiden hatte können und die Hartnäckigkeit, mit dem er seinen Standpunkt verteidigte, war ein wenig seltsam. Aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern meinte nur: „Ob er gelogen hat, dass werden wir morgen herausfinden. Ziva, McGee, ihr holt Diggs und Paulsen gegen Mittag zum Verhör. Bis dahin sollten uns die Ergebnisse der DNA Analyse vorliegen." „Geht klar", erwiderten die beiden synchron und machten damit den Eindruck, dass sie nur auf diesen Befehl gewartet hatten. „Habt ihr sonst noch etwas Wichtiges?" fragte Gibbs und sah einen nach dem anderen an. Tim schüttelte den Kopf, Chris begnügte sich mit einem Schulterzucken und Ziva sagte: „Nein. Ich habe vor ein paar Minuten die zwei Teams kontaktiert, die unsere beiden Verdächtigen im Auge behalten. Bis jetzt ist alles ruhig."
Jethro nickte und fuhr sich mit einer schnellen Bewegung durch seine Haare. Zu diesem Zeitpunkt konnten sie nichts weiter machen als abzuwarten und es war gerade das, was er nicht gerne tat. Er spürte genau, dass sie kurz davor standen, den Fall aufzuklären und am liebsten würde er die beiden des Mordes verdächtigen noch heute verhören und sie so lange weichklopfen, bis sie gestanden. Aber er wollte stichhaltige Beweise haben, mit denen er sie konfrontieren konnte, um sie so weit in die Ecke zu drängen, dass sie keinen anderen Ausweg mehr hatten, als zu gestehen.
„Na schön. Ihr könnt jetzt Feierabend machen. Tony, bevor du gehst, schreibst du deinen Bericht von den Verhören fertig. Ich will ihn in 20 Minuten auf meinem Tisch haben." Chris, der bei dem Wort Feierabend bereits ein breites Grinsen auf dem Gesicht gehabt hatte, erstarrte augenblicklich und sah ungläubig zu Gibbs. So knapp war er dran gewesen, endlich aus dem Büro verschwinden zu können. Aber nein, jetzt musste er auch noch einen Bericht fertig schreiben. Ungeduldig blickte er auf seine Uhr – es war fast halb acht. Sein Bruder war bestimmt schon am Verhungern und so wie es im Moment aussah, musste er wohl noch länger auf sein Essen warten. Gestern wäre es ihm noch egal gewesen, wenn Anthony hungern hätte müssen, aber heute hatte sich die Sache mehr als geändert. Die Erkenntnis, dass nicht er schuld an Chris' verkorkster Kindheit war, hatte sein Gewissen, von dem er gedacht hatte, er hätte es verloren, wieder an die Oberfläche geholt und er wollte Tony den restlichen Aufenthalt in dem Keller, bevor er wieder in die Freiheit entlassen wurde, erträglicher machen. Und hungern zählte ganz bestimmt nicht dazu.
„Das ist nicht dein Ernst, Boss", sagte er deshalb und blickte ihn eine Spur flehend an. „Sehe ich vielleicht so aus, als ob ich scherzen würde?" fragte Gibbs und kam auf den Jüngeren zu, wodurch dieser schnell ein paar Schritte nach hinten machte. „Ähm, nein", erwiderte er und da er an seinem Leben hing, hielt er es für klüger, sich auf seinen Stuhl zu setzen. Frustriert knallte er die Akte auf den Tisch und grummelte vor sich hin.
„Tja, da muss deine Freundin wohl ein wenig länger auf dich warten", meinte Ziva grinsend und schnappte sich ihre Sachen. „Ich werde jetzt einmal etwas essen gehen und mich anschließend schön entspannen. Viel Spaß mit dem Bericht." Und bevor Chris auch nur die Möglichkeit hatte, etwas zu erwidern – oder ihr einen Papierball hinterher zu schleudern - war sie schon bei den Fahrstühlen. Auf McGees „Schönen Abend noch", reagierte er gar nicht, sondern konzentrierte sich auf seine Arbeit. Egal wie verärgert er war, dass er länger bleiben musste, aber je schneller er fertig war, desto eher konnte er endlich Feierabend machen. In dem Bewusstsein, dass ihn Gibbs beobachtete, begann er zu tippen, während er versuchte, seinen immer größer werdenden Hunger zu ignorieren.

Genau 35 Minuten später betrat Chris einen Imbiss mit dem sehr aussagekräftigen Namen „Rays Imbiss", der gerade einmal fünf Blocks vom Hauptquartier entfernt war. Das Lokal war in einem ebenerdigen Gebäude mit gelber Fassade – die bereits ein wenig bröckelte und von feinen Rissen durchzogen wurde – untergebracht. Von außen wirkte es ein wenig heruntergekommen und schmuddelig, aber öffnete man die Glastür, auf der die Öffnungszeiten vermerkt waren, fand man sich in einer komplett anderen Atmosphäre wieder. Der Raum, den man betrat, war überraschend groß und nahm den größten Teil der Etage ein. Der Boden war mit hellen Fliesen, die in dem sanften Licht leicht glitzerten, ausgelegt. An der Fensterfront waren rechteckige Tische aufgestellt worden, auf denen saubere rote und weiße Decken ausgebreitet waren, um das Holz zu schützen. Genau in der Mitte befanden sich jeweils ein Serviettenständer, Gewürze und Salz- und Pfefferstreuer.
Zu linker Hand war ein langer Tresen aufgestellt worden, dessen dunkles Holz mit viel Mühe poliert worden war und keinen einzigen Kratzer zu haben schien. Davor standen zahlreiche Hocker mit einer dicken schwarzen Polsterung, die einen geradezu zum Verweilen einluden. Hinter der Theke war an der Wand ein langes Regal befestigt worden, das Gläser in allen Formen und Größen enthielt, genauso wie verschiedenste alkoholische Getränke. Eine Schwingtüre führte in die Küche, aus der herrliche Essensdüfte in den Speiseraum strömten und Chris' Magen mit Vorfreude knurren ließ.
Das Lokal war um diese Uhrzeit bestens besucht und dementsprechend war es laut und hektisch. Die Musik, die aus den kleinen Boxen erklang, die an der Decke angebracht worden waren, hörte man fast nicht, unterstrich aber die gemütliche Atmosphäre. In einer Ecke hing ein Fernseher, dessen Ton jedoch ausgeschaltet war und der ein Footballspiel zeigte. Ein paar der Gäste sahen wie gebannt auf das Gerät, während sie an ihrem Bier schlürften oder sich mit großen Hamburgern vollstopften. Zwischen den Tischen liefen junge Frauen in kurzen schwarzen Kleidern mit weißer Schürze herum und bedienten die zahlreichen Kunden. Normalerweise hätte Chris jetzt den Kellnerinnen ihre Aufmerksamkeit geschenkt und vielleicht sogar mit einigen von ihnen geflirtet, aber sein Interesse galt einer anderen Frau, die am Tresen auf einem der Hocker saß und sich ihre Finger gerade an einer Serviette abwischte. Vor ihrer Nase stand ein leerer Teller - auf dem noch Überreste von Ketchup klebten - und eine Flasche Bier, die zur Hälfte geleert worden war. Sein Herz machte unverhofft einen großen Hüpfer und der Ärger, dass er länger im Büro hatte bleiben müssen, um seinen Bericht fertig zu schreiben, verflog innerhalb eines Sekundenbruchteils. Auf seinen Lippen breitete sich ein breites Grinsen aus und bevor er es sich wieder anders überlegen konnte, setzte er sich rasch in Bewegung und war mit wenigen Schritten bei Ziva angelangt, die gerade einen großen Schluck aus der Flasche nahm. Sie hatte Chris natürlich bereits bemerkt und kniff ihre Augen zusammen, um ihm damit zu signalisieren, dass sie lieber alleine sein möchte. Aber er ignorierte diese Geste und setzte sich auf den freien Barhocker links neben ihr.

„Verfolgst du mich etwa?" fragte sie und stellte die Flasche etwas zu heftig auf dem Tresen ab, weswegen das Geräusch trotz der lauten Stimmen zu hören war. Sie legte ihren Kopf schief, wobei ihr eine Haarsträhne auf die Wange fiel und Chris konnte nur knapp dem Drang widerstehen, sie ihr hinter das Ohr zu streichen. Das Licht ließ ihre braunen Augen glitzern und ihre langen Locken verführerisch schimmern, wodurch sie erneut verblüffende Ähnlichkeit mit Amy aufwies. In seinem Hals bildete sich ein großer Kloß und er musste mehrmals schlucken, um überhaupt ein Wort hervorzubringen.
„Mache ich etwa den Eindruck, als ob ich dich verfolgen würde, Zivaaaa?" wollte er wissen, wobei er den letzten Buchstaben ihres Namens in die Länge zog. „Hast du schon vergessen, dass mich Gibbs dazu verdonnert hat, den Bericht fertig zu schreiben? Wie hätte ich da wissen sollen, dass du hier etwas essen wolltest? Zufällig hatte ich großen Appetit auf einen Hamburger und da dachte ich mir, ich schaue hier vorbei." Sie spitzte ihre Lippen und schien über seine Worte nachzudenken. Schließlich nickte sie zufrieden und griff erneut nach ihrer Flasche. „Hast du denn heute keine Verabredung mit einer deiner zahlreichen Freundinnen?" fragte sie und trank einen Schluck. Chris schüttelte seinen Kopf und verkniff sich gerade noch ein Grinsen. Er hätte es wissen müssen, dass sein Bruder ein wahrer Schürzenjäger war. Schon damals, als er ein Teenager gewesen war, hatte er seine Augen nicht von den hübschen Mädchen lassen können, genauso wie von…
Nein, er würde jetzt nicht daran denken. Schon gar nicht in der Gegenwart von Ziva. „Nein, habe ich nicht." Bevor er jedoch zu einer Erklärung ansetzen konnte, trat ein großer Mann in sein Blickfeld, dessen weißes T-Shirt sich um seine breite Brust spannte, wodurch die Nähte beinahe zu platzen schienen. Sein Schädel war kahl rasiert und die Kopfhaut schimmerte poliert in dem Licht des Lokals. Um seine Taille war eine Schürze gebunden und nur die Tatsache, dass er einen kleinen Block in seinen riesigen Händen hielt und dass er hinter dem Tresen stand, wiesen daraufhin, dass er hier arbeitete.

„Was kann ich Ihnen bringen?" wollte er mit tiefer Stimme wissen, die jedoch überraschend freundlich klang. Man hätte ihn eher für einen Rausschmeißer als für einen Kellner halten können. „Zwei große Hamburger mit allem drum und dran zum Mitnehmen", antwortete Chris ohne nachzudenken und beobachtete, wie der Mann sich seine Bestellung notierte, nickte und in der Küche verschwand.
„Erzähl mir jetzt nicht, dass du das alles selbst essen willst", sagte Ziva und hob eine Augenbraue. „Was?" Verwirrt runzelte er die Stirn, nicht so recht wissend, wovon die junge Frau sprach. „Die zwei Hamburger", wiederholte sie eine Spur ungeduldig. „Nicht einmal du würdest die alleine schaffen. Hast du vielleicht doch noch ein heißes Date mit einer Frau, die gerne auf Fastfood steht?" Chris lachte leise und schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Der eine Burger ist für mich, der andere für meinen Br…" Bevor er jedoch das letzte Wort komplett aussprechen konnte, unterbrach er sich hastig. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und er wäre ganz schön in Erklärungsnot gekommen. Irgendwie schien er in Zivas Gegenwart schneller zu reden als zu denken. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass sie Amy ähnlich sah oder an dem dezenten Duft, der von ihren Haaren ausging, durch die er gerne einmal mit seinen Händen fahren würde.

Chris räusperte sich und setzte ein unschuldiges Grinsen auf. „Ich meine, meinen besten Freund", korrigierte er sich schnell, wobei er der jungen Frau ansehen konnte, dass sie ihm nicht wirklich glaubte. „Deinem besten Freund?" Erneut legte sie ihren Kopf schief und sah ihn zweifelnd an. „Ja. Wir treffen und nachher. Du weißt schon, ein richtiger Männerabend." Irgendwie tat es ihm weh, Ziva anlügen zu müssen, aber würde sie die Wahrheit kennen, würde sie ihm wahrscheinlich hier mitten in dem Lokal ohne zu zögern Handschellen anlegen. Dass er in Wirklichkeit vorhatte, Tony zu treffen, brauchte sie nicht wissen - jedenfalls noch nicht.
„Ah, ich verstehe", erwiderte sie und auf ihren Lippen erschien ein breites Grinsen. „Männerabend. Was bedeutet, ihr guckt euch schmutzige Filme an und redet über heiße Frauen, habe ich Recht?" Chris konnte nicht anders als zu lachen. Es war lange her, dass er sich so unglaublich entspannt gefühlt und dass ihn jemand so viel zum Lachen gebracht hatte. Hatte er Ziva vor mehr als einer halben Stunde am liebsten einen Papierball an den Kopf werfen wollen, so wollte er sie jetzt so lange küssen, bis sie beide keine Luft mehr bekamen. Bei dem Gedanken wurde ihm ganz heiß und er wünschte sich unwillkürlich, er hätte sich ein kaltes Bier bestellt, mit dem er sich abkühlen hätte können. Er zwang sich, nicht auf ihre Lippen zu starren, sondern weiter in ihre braunen Augen. Sein Herz klopfte wie verrückt in seiner Brust und sein Hals wurde staubtrocken. Nach außen hin ließ er sich jedoch nichts anmerken und grinste. „Du schätzt mich vollkommen falsch ein, Ziva. Ich sehe mir keine schmutzigen Filme an." „Wer es glaubt, wird heilig." „Selig." „Was?" „Es heißt: wer es glaubt, wird selig." Sie schnaubte und schüttelte ihren Kopf. „Schon wieder so eine dämliche Redewendung. Und hör auf, mich ständig zu verbessern."

Für einen kurzen Moment versank sie in den grünen Augen, in denen es humorvoll funkelte. Seit gestern hatte sie ihren Kollegen nicht mehr derart entspannt gesehen und war sie vorhin noch verärgert gewesen, dass er sich einfach ohne zu fragen neben sie gesetzt hatte, so musste sie sich eingestehen, dass sie seine Gegenwart mittlerweile ein wenig genoss. Irgendwie kam er ihr noch immer verändert vor, so als ob sie einen anderen Tony vor sich hätte. Äußerlich war er wie immer, aber etwas an ihm war anders. Sie konnte es jedoch nicht mit Worten ausdrücken – es war eher ein Gefühl. Was auch immer es war, es gefiel ihr jedenfalls. Ziva schluckte und zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung, aber ihr Herz begann bereits viel zu schnell zu schlagen. Auf einmal kam ihr der große Raum viel zu eng vor und die körperliche Nähe von DiNozzo wurde ihr nur allzu bewusst. Um sich abzulenken, nahm sie einen Schluck aus der Flasche und bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Tony hatte noch nie so eine Wirkung auf sie gehabt. Wieso ausgerechnet jetzt?
„Was machst du heute noch so?" fragte Chris neugierig, bemüht, nette Konversation zu machen und seinen Herzschlag wieder zu beruhigen. „Ich weiß nicht", antwortete Ziva wahrheitsgemäß. „Vielleicht nehme ich ein langes Bad." „Alleine?" Sie hob eine Augenbraue und erst jetzt wurde ihm bewusst, was er da gefragt hatte. Er spürte, wie Hitze in seine Wangen schoss – etwas, das ihm schon seit Jahren nicht mehr passiert war. „Ja, alleine, Tony", erwiderte sie mit einem Nachdruck in der Stimme, die ihn erschauern ließ. Gleichzeitig durchströmte ihn Erleichterung, da sie anscheinend keinen festen Freund hatte. Allerdings wurde sein Herzschlag dadurch nicht langsamer – im Gegenteil. Ihm wurde ganz schwummrig zu Mute und in seinem Magen begann eine Horde von Schmetterlingen herumzuschwirren.

Ohne darüber nachzudenken, beugte er sich vor, sodass ihm erneut Zivas zarter Duft in die Nase stieg. Ihre braunen Augen weiteten sich unmerklich, aber sie wich nicht zurück, obwohl sie es gerne getan hätte, aber ihre Muskeln schienen auf einmal verlernt zu haben, wie sie sich bewegen konnten.
Chris vergaß, dass sie sich in einem Imbiss befanden. Die Stimmen der anderen Gäste waren nicht mehr wichtig und er hörte nur mehr die sanfte Musik im Hintergrund, die leise aus den Lautsprechern rieselte. Langsam näherte er sich Zivas Gesicht, verringerte den Abstand Zentimeter für Zentimeter, bis sie nur noch ein Hauch von Luft voneinander trennte. „Ziva", flüsterte er beinahe tonlos, bevor er die letzte Distanz überbrückte und seinen Mund sanft auf den ihren presste. Ein Stromschlag schien seinen gesamten Körper zu durchfließen, als er ihre weichen Lippen spürte. Das Blut rauschte laut in seinen Ohren und im hintersten Winkel seines Gehirns sagte eine Stimme, dass es ein Fehler war, was er hier machte. Aber es war zu spät, um den Rückzug anzutreten – was er auch gar nicht wollte.
Chris hob seine Hand, um sie in Zivas Haaren zu vergraben, aber da zog sie bereits blitzschnell ihren Kopf zurück und sah ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Ärger an. Ihr Atem ging in für sie untypischen raschen Stößen und für ein paar Sekunden war sie sprachlos.

Sie konnte einfach nicht glauben, was da gerade eben passiert war. Es war doch eine ganz normale Unterhaltung gewesen, aber irgendetwas hatte sich plötzlich zwischen ihnen verändert. Sie konnte nicht genau sagen, was es gewesen war, aber auf einmal war alles andere unwichtig gewesen. Und als Tony seinen Kopf immer weiter vorgebeugt hatte, war sie einfach starr sitzen geblieben, unfähig sich bewegen zu können. Für einen kurzen Moment war sie in seinen grünen Augen versunken und bevor sie auch nur ansatzweise reagieren hatte können, hatte sie schon seine Lippen auf den ihrigen gespürt. Diesmal war es anders als bei ihrem Undercovereinsatz gewesen, wo sie ein Ehepaar gespielt hatten. Damals war der Kuss im Prinzip nur gespielt und nicht annähernd zärtlich gewesen, aber heute war er es gewesen. Es war diese Tatsache, die Ziva wieder in die Realität zurückgeholt und ihr bewusst gemacht hatte, was sie hier überhaupt machte, was für einen Fehler sie beging. Ihr Herz hämmerte laut in ihrer Brust und ihre Knie waren ungewohnt weich. Gerade deswegen stieg in ihr plötzlich Wut auf, Wut darüber, dass sie auf DiNozzo derart heftig reagierte.

Chris konnte Ärger in Zivas Augen aufblitzen sehen und er wusste, er war zu weit gegangen, aber er hatte einfach nicht widerstehen können. Das Bedürfnis, sie zu küssen, war übermächtig geworden und hatte alles andere in den Hintergrund verdrängt. Allerdings stürzte die Umgebung jetzt wieder auf ihn ein und erinnerte ihn daran, dass sie sich mitten in einem Lokal befanden, wo sie jeder beobachten konnte. Ihm wurde klar, dass er eine Grenze überschritten hatte und dafür hätte er sich selbst von dem höchsten Wolkenkratzer der Welt stürzen können. Dennoch war er noch immer ein wenig in dem Zauber des kurzen Kusses gefangen, konnte noch immer ihre weichen Lippen spüren und ihren Duft riechen.

„Ziva, ich…" Chris setzte zu einer Entschuldigung an, aber er kam nicht einmal annährend dazu, sie auszusprechen. Ihre Hand schnellte vor, packte seinen Hemdkragen und zog sein Gesicht nahe an ihres, das jetzt vor Wut verzerrt war. „Wenn dir dein Leben lieb ist", zischte sie und verstärkte ihren Griff noch mehr, „dann mach das nie wieder." Sie betonte jedes einzelne Wort und funkelte ihn derart kalt an, dass er sich wunderte, nicht zu einer Eisskulptur zu erstarren. Abrupt ließ sie ihn los, holte ein paar Dollarscheine aus ihrer Hosentasche, schmiss sie auf den Tresen und glitt vom Hocker. Ohne ihn auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, stürmte sie aus dem Lokal.
„Ziva, warte!" rief er, aber sie war schon verschwunden. „Verdammt!" Mit der Faust schlug er auf das Holz ein, in dem Bewusstsein, dass er es mächtig vergeigt hatte. Und noch dazu glaubte sie, Tony hätte sie geküsst. Am liebsten würde er ihr jetzt nachlaufen und alles aufklären, ihr erzählen, wer er war und was er hier machte. Aber wahrscheinlich würde sie ihn eher erschießen, anstatt ihm zuzuhören. Wenn er ehrlich war, konnte er froh sein, überhaupt noch zu leben.
„Das war wohl nichts." Die Stimme des Barkeepers riss Chris aus seinen Gedanken und er blickte in das Gesicht des Riesen. Dessen Augen sahen ihn mitfühlend an und er stellte die Tüte mit den Hamburgern auf den Tresen ab. „Ich schätze, ich habe es vermasselt", erwiderte er und kramte nach ein wenig Geld. Wenn er ehrlich war, war ihm der Hunger vergangen, was aber nicht bedeutete, dass er seinen Bruder nichts zu Essen bringen würde. Er sollte nicht für seinen dämlichen Fehler leiden.
„Bloß nicht den Kopf hängen lassen", sagte der Mann und nahm das Geld entgegen. „Frauen machen doch immer so einen Aufstand. Eigentlich wollen sie nur umgarnt werden. Versuchen Sie es einmal mit Blumen." Chris lachte freudlos auf. „Ziva ist nicht gerade der Blumentyp." Aber vielleicht sollte er ihr ein neues Messer kaufen, als kleine Wiedergutmachung – in der Hoffnung, sie würde es nicht verwenden, um es ihm ins Herz zu rammen. „Aber danke für den Tipp." Er nahm die Tüte mit den Hamburgern und rutschte vom Barhocker. Der Riese nickte und lächelte ihn aufmunternd an. „Das wird schon! Nur nicht locker lassen!" rief er ihm auf dem Weg hinaus hinterher.
Chris atmete erleichtert die milde Frühlingsluft ein, als er wieder nach draußen trat. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden, hinterließ aber am Himmel noch ein blutrotes Licht. Wie in Trance ging er zu seinem Wagen, sich ständig einen Idioten schimpfend. Was hatte er sich dabei nur gedacht, Ziva zu küssen? „Du hast gar nicht gedacht. Jedenfalls nicht mit deinem Gehirn", murmelte er vor sich hin und verfluchte sich für seine Dummheit, dass er es so weit hatte kommen lassen. Und jetzt musste er es irgendwie schaffen, aus dem knietiefen Tümpel herauszukommen, in den er sich selbst hineinmanövriert hatte. Vielleicht wusste Tony ja einen Rat…

Fortsetzung folgt...
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