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Etwas außerhalb von Washington D.C.
Dienstag, 12. Mai
00:13 Uhr


Als ich wieder zu mir kam, war es so, als ob ich eine unendlich lange Reise durch einen pechschwarzen Tunnel hinter mir hatte. Das Erste, was ich bewusst spürte, waren die bohrenden Kopfschmerzen, die mein Gehirn gnadenlos malträtieren. Hinter meinen geschlossenen Lidern tanzten kleine bunte Sternchen, die nach mehrmaligem tiefem Luftholen jedoch verblassten, die spitzen Pfeile unter meiner Schädeldecke blieben mir allerdings erhalten. Zusätzlich hatte sich in meinem Magen ein flaues Gefühl festgesetzt, das mich in regelmäßigen Abständen mit leichter Übelkeit quälte – es war ein beständiges auf und ab. In meinem Mund hatte sich ein übler Geschmack – den ich nicht einmal etwas Bestimmtem zuordnen konnte – ausgebreitet und meine Zunge kam mir viel zu groß vor, was aber auch daran liegen konnte, dass mein Mund staubtrocken war. Ich schluckte krampfhaft, um meinen ausgedörrten Rachen zu befeuchten und ließ meinen Kopf noch weiter in den äußerst gemütlichen Polster sinken. Die Matratze unter meinem Rücken war herrlich weich und verlockte mich geradezu wieder in den Untiefen des Schlafes zu versinken, aber eine innere Stimme hielt mich davon ab.
Ich begann mit beiden Händen meine Schläfen zu massieren, in der Hoffnung, den Schmerz so zum Abklingen zu bringen. Gleichzeitig überlegte ich, weshalb ich mich fühlte, als ob ich einen Kater hätte. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, Alkohol getrunken zu haben und schon gar nicht in solchen Ausmaßen, dass jetzt in meinem Gehirn eine Erinnerungslücke klaffte. Außer ich war mit meinen Freunden unterwegs gewesen und hatte derart über die Stränge geschlagen, wobei mir mein Instinkt jedoch etwas anderes sagte. Und weshalb kam ich mir beobachtet vor? Befand sich denn noch jemand in meinem Schlafzimmer?
Leise stöhnend rieb ich mir weiter meine Schläfen und versuchte die Bilder des vergangenen Abends zusammenzusetzen. Das Letzte woran ich mich bewusst erinnerte, war, dass ich nach Hause gekommen war, festgestellt hatte, dass ich nichts Essbares im Kühlschrank hatte und ein Glas Orangensaft in der Hand gehabt hatte, der komischerweise bitter geschmeckt hatte. Bitter – bei diesem Wort beschleunigte sich mein Herzschlag. Plötzlich setzten sich alle Puzzleteilchen zusammen und ich hörte wieder das Splittern von Glas, das auf Fliesen zerschellte, sah mich selbst auf mich zukommen, obwohl ich mich mitten in meiner Küche befand. Wie konnte das nur sein? War ich vielleicht in einem schlimmen Albtraum gefangen oder…? Aus den Tiefen meines Unterbewusstseins formte sich ein Name – der Name einer Person, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Erschrocken riss ich meine Augen auf, als mich die gesamten Erinnerungen mit einer unglaublichen Wucht überrollten und setzte mich abrupt auf. Mein Kopf nahm mir diese schnelle Bewegung jedoch äußerst übel und die Umgebung begann sich unbarmherzig zu drehen. Mein Magen revoltierte und wanderte immer weiter Richtung Hals. Ich schloss gequält meine Augen, schluckte heftig und holte tief Luft, um die Übelkeit zu bezwingen.
„Endlich wach, Dornröschen?" fragte eine Stimme, die ich nur allzu kannte und die meiner ziemlich ähnlich war. „Und ich hatte schon geglaubt, ich müsste es selbst in die Hand nehmen und dich wecken. Weißt du, mich hat es schon immer verwundert, dass du so lange schlafen kannst, Anthony." Die Erwähnung meines vollen Namens riss mich aus meinem benommenen Zustand und ich öffnete zaghaft meine Augen. Helles Licht ließ meine Kopfschmerzen noch stärker werden, aber diesmal widerstand ich dem Drang, meine Lider erneut zu schließen. Nach mehrmaligem Blinzeln sah ich vollkommen klar und die Umgebung hörte auf sich zu drehen.
Graue Betonwände umgaben mich, an denen jedoch in regelmäßigen Abständen Fotos aufgeklebt worden waren. Auf jedem einzelnen waren immer die gleichen Personen abgebildet – Personen die ich nur zu gut kannte: meine Eltern, ich selbst und mein Bruder Christopher. Ich vermied es, weiter die Bilder anzublicken und sah mich weiter um. Der Raum in dem ich mich befand, war überraschend groß und wie ein Wohnzimmer eingerichtet. Das Doppelbett, auf dem ich saß, stand an der hinteren rechten Ecke. Gegenüber an der Wand stand ein Regal, gefüllt mit den verschiedensten Büchern. Einige schienen neu zu sein, bei anderen war der Einband bereits abgegriffen und lädiert. Daneben hatte eine Kommode mit zwei Schubladen ihren Platz gefunden, auf der mehrere gerahmte Bilder standen. Darauf waren anscheinend ebenfalls Personen abgebildet, nur konnte ich sie nicht erkennen, da sich das Licht der Deckenlampe in dem Glas spiegelte.
Rechts neben der Kommode war erneut ein Regal aufgestellt worden, aber diesmal niedriger und anstatt Bücher stand dort ein kleiner Fernseher, der jedoch ausgeschaltet war.
In der Mitte des Raumes war der graue Betonboden von einem runden dunkelroten Teppich bedeckt, auf dem ein Tisch aus hellem Holz, ein gemütlicher Sessel und ein dazupassendes Sofa standen. Obwohl die Einrichtung des Zimmers genau meinem Geschmack entsprach, war sie mir im Moment jedoch herzlich egal. Ich konzentrierte mich auf den Mann, der lässig auf der Couch saß, eine Flasche Bier in seiner rechten Hand hielt und mich mit einem leichten Lächeln ansah.
„Verdammt, Chris, was soll der Mist?" fragte ich mit leicht kratziger Stimme, ignorierte meine Kopfschmerzen und schwang mit einiger Mühe meine Beine über den Rand des Bettes. Mein Körper fühlte sich seltsam kraftlos an, was wahrscheinlich die Folge der Betäubung war. Ich stütze meine Arme links und rechts neben meinen Oberschenkeln ab und blickte zu meinem Bruder, der die Flasche auf dem Tisch abstellte und aufstand. Erst jetzt bemerkte ich, dass er eines meiner Hemden trug, genauso wie die schwarze Hose, die mir gehörte. Meine Augen blieben jedoch auf Höhe seiner Hüfte hängen und Entsetzen breitete sich in meinem Inneren aus, als ich meine Marke und meine Waffe erkannte, die an dem Gürtel befestigt waren und die noch vor Stunden in meinem Besitz gewesen waren. Verwirrt sah ich Chris ins Gesicht und sein Lächeln wurde noch breiter.
„Kannst du dir das nicht denken?" antwortete er mit einer Gegenfrage, kam auf mich zu, blieb jedoch vor der Kommode mit den gerahmten Bildern stehen. Er steckte seine rechte Hand in die Hosentasche und kurz darauf hielt er einen Gegenstand in seinen Fingern, den ich nur zu gut kannte – es war mein Dienstausweis. Langsam klappte er ihn auf, betrachtete selig das kleine Bild, das sowohl mich als auch ihn zeigte und sah mir nach einigen Sekunden direkt in meine Augen. „Special Agent Anthony DiNozzo. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Es hat mich echt überrascht, als ich erfahren habe, dass du Bundesagent bist. Dabei hatte ich immer angenommen, du würdest in Daddys Fußstapfen treten. Der erstgeborene Sohn übernimmt die Leitung des Familienunternehmens." Seine Stimme hatte einen eiskalten Klang angenommen und mir lief prompt ein eisiger Schauer über den Rücken. „Was meinst du, Tony? Findest du nicht auch, dass mir die Waffe und die Marke äußerst gut stehen?" Und auf einmal wurde mir klar, weshalb Chris aufgetaucht war, weshalb er mich aus meinem eigenen Haus entführt hatte und sogar meine Kleidung trug.
„Das ist nicht dein Ernst", sagte ich entsetzt und ballte vor lauter Zorn meine Hände zu Fäusten. „Das kannst du nicht machen!" schrie ich ihn an. „Sag du mir nicht, was ich machen soll und was nicht!" fuhr er mich an, steckte den Dienstausweis in die Hosentasche zurück und kam langsam auf mich zu. „Diese Zeit ist endgültig vorbei! Ich habe mir lange genug gefallen lassen müssen, dass andere mir ständig befohlen haben, was ich zu tun habe! Dauernd hieß es: Christopher mach dies, Christopher mach das! Alles habe ich gemacht, einfach alles! Aber war es genug?! Nein, ständig gab es etwas zu bemängeln! Und immer verglich mich Mom mit dir! Wie großartig du doch nicht bist!" Er beugte sich zu mir herunter, in seinen grünen Augen funkelte es zornig und ich hatte beinahe die Befürchtung, er würde auf mich einschlagen, seinen ganzen Frust an mir auslassen, aber stattdessen steckte er seine Hände in die Hosentaschen. „Und alles nur, weil du 10 Minuten älter bist als ich! Wie oft habe ich dich dafür verflucht, wie oft habe ich dich dafür gehasst und wie oft habe ich mir vorgestellt, du zu sein?! Kannst du dir das vorstellen?! Aber damit ist jetzt Schluss! Jetzt ist es an mir, die Zügel in die Hand zu nehmen und während du dazu verdammt bist, hier herum zu sitzen, werde ich Anthony DiNozzo sein! Das Leben leben, das mir zusteht!"
Sein Atem strich warm über mein Gesicht und ich brauchte einige Sekunden, um komplett zu realisieren, was Chris mir da gerade erzählt hatte. Er richtete sich wieder auf, seine Wut schien verflogen zu sein und er musterte mich neugierig. „Du bist verrückt, weißt du das?" sagte ich und wollte aufstehen, aber da seine Hand blitzschnell zu der Waffe an seiner Hüfte glitt, ließ ich es bleiben. „Glaubst du wirklich, du wirst damit durchkommen? Glaubst du wirklich, du kannst alle, die mit mir zu tun haben, derart hinters Licht führen? Verdammt, was denkst du dir dabei eigentlich? Du verschwindest einfach, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, tauchst Jahre später wieder auf und entführst mich, in dem Bestreben, mein Leben zu übernehmen?!" Hatte ich gedacht, ich würde ihn durch meine Fragen verunsichern, so hatte ich mich in diesem Punkt deutlich geirrt. „Ich sehe es als Herausforderung an", erwiderte er und überging meinen Einwurf, dass er verrückt wäre. Er trat vom Bett zurück, ging zur Kommode hinüber, nahm eines der Bilder in seine Hand und drehte es so, dass ich die Person darauf erkennen konnte – es war Gibbs. Verwirrt sah ich zu Chris, der erneut lächelte. „Leroy Jethro Gibbs", sagte er. „Sieht ziemlich streng aus und da er dein Vorgesetzter ist, nennst du ihn sicher nur Gibbs oder Boss, habe ich Recht?" Da ich schwieg – ich war noch immer verwirrt, weshalb er Bilder meiner Teamkollegen in diesen Raum gestellt hatte – fuhr er fort: „Ja, das dachte ich mir. Ihn zu überzeugen wird sicher am Schwierigsten sein. Aber wie schon gesagt, es ist für mich eine Herausforderung." Er stellte das Foto zurück und nahm das Nächste: es war Tim. „Timothy McGee, er ist noch ziemlich neu in eurem Team, aber nicht so neu wie Ziva David. Sie ist wirklich hübsch. Es wird sicher Spaß machen, mit ihr zusammenzuarbeiten." Ich schnaubte verächtlich und obwohl mich grenzenlose Wut überkam, hielt ich mich zurück. Ich wusste, Chris wartete nur darauf, dass ich ausrastete, aber diesen Wunsch würde ich ihm nicht erfüllen. Nur, ob er soviel Spaß mit Ziva haben würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Immerhin war sie ziemlich schlagfertig und ließ sich nichts gefallen.
Er betrachtete weiter das Foto von McGee. „Ihr versteht euch sicher super, oder?" „Wie man es nimmt", erwiderte ich betont gleichgültig. „Wie nennst du ihn? McGee oder Timothy?" „Tim", antwortete ich aus einem Impuls heraus. „Einfach nur Tim?" Ich nickte und konnte mir ein Grinsen fast nicht verkneifen. Ich würde meinem Bruder sicher nicht auf die Nase binden, dass ich meinen Kollegen nie mit seinem Vornamen ansprach und darüber, dass ich ihn ziemlich oft Bambino nannte, ließ ich ihn auch im Unklaren. Es war immerhin eine Chance, dass die anderen merken würden, dass etwas nicht stimmte. „Tim also", fuhr Chris fort, stellte das Foto neben den anderen ab und drehte sich zu mir um. „Und nicht zu vergessen Abigail, eure Forensikerin. Ich weiß ja nicht wie es mit dir steht, aber ich finde ihre Klamotten ziemlich schräg." Bei dieser Aussage musste ich gegen meinen Willen lächeln. Abby und ihre Kleidung waren wirklich schräg und die Chance, dass sie sein falsches Spiel aufdeckte, war noch größer als bei McGee – immerhin waren wir sehr gute Freunde.
„Und du glaubst wirklich, ich werde einfach hier tatenlos herumsitzen und zusehen, wie du mein Leben übernimmst?" fragte ich und spannte meine Muskeln an. Wenn er dachte, ich würde ihn einfach kampflos gehen lassen, hatte er sich gewaltig geschnitten. „Dir wird nichts anderes übrig bleiben, Tony", antwortete er und lächelte leicht. „Und versuch gar nicht erst, dich gegen mich zu wehren. Du würdest nur verlieren. Das Beruhigungsmittel, das ich dir verabreicht habe, schwächt deinen Körper immer noch, dass sehe ich dir an. Wie geht es deinen Kopfschmerzen?"
Ich presste meine Lippen zusammen und schwieg eisern. Er hatte Recht. Während unserer kleinen Unterhaltung hatte ich die Schmerzen komplett vergessen, aber jetzt, da er sie erwähnte, schienen sie mit doppelter Intensität zurückzukommen. „Falls du ein Aspirin willst, im Bad ist eine Schachtel." Er deutete auf eine Tür etwa vier Meter neben dem Bett, die ich noch gar nicht bemerkt hatte. Verwundert riss ich meine Augen auf. „Ein Bad? Mit soviel Luxus hätte ich jetzt nicht gerechnet", meinte ich sarkastisch. „Wir sind immerhin Brüder", erwiderte Chris. „Und da du hier ziemlich viel Zeit verbringen wirst, habe ich mir gedacht, ich mache es dir ein wenig gemütlich. Aber ich warne dich. Falls du auf die Idee kommen solltest, abhauen zu wollen, werde ich andere Seiten aufziehen. Es liegt an dir, wie du dir deinen Aufenthalt hier gestaltest." In seinen Augen glitzerte es Unheil verkündend und ich wusste, er würde seine Drohung ohne zu zögern wahr machen.
„Du bist wirklich verrückt", wiederholte ich meine Worte von vorhin. „Das mag schon sein", meinte er darauf und blickte demonstrativ auf seine Uhr – oder besser gesagt, meine Uhr. „Also, ich werde dich jetzt alleine lassen. Immerhin will ich noch ein wenig schlafen, bevor mein erster Arbeitstag beginnt." Er ging rückwärts auf eine weitere Tür am anderen Ende des Raumes zu. Anscheinend hatte er die Befürchtung, ich würde ihn von hinten angreifen, wenn er mir auch nur den Rücken zukehren würde – wie Recht er doch hatte.
„Ich wünsche dir noch eine angenehme Nacht, Anthony. Wir sehen uns heute Abend. Und dann werde ich dir erzählen, wie es mir ergangen ist." Chris öffnete die Tür, drehte sich aber noch einmal zu mir um. „Falls du Hunger bekommst, in der Kommode habe ich ein paar Snacks verstaut. Wasser findest du im Bad und wenn du willst, kannst du auch das Bier austrinken." Damit deutete er auf die Flasche, die immer noch auf dem Tisch stand.
„Warte!" schrie ich, aber er grinste nur und schloss die Tür. Ich sprang vom Bett auf, ignorierte meine weichen Knie, den Schwindelanfall, der mich erneut bei der heftigen Bewegung überkam und lief zur Tür – aber es war zu spät. Überdeutlich hörte ich den Schlüssel, der umgedreht wurde. Ich rüttelte vergebens an der Klinke. „Mach die verdammte Tür auf, Chris! Das kannst du nicht machen!" Verzweifelt schlug ich mit meiner rechten Faust gegen das Metall. „Verdammt, lass mich hier raus!" Aber er kam nicht mehr zurück. Immer wieder rüttelte ich an der Klinke, wollte nicht einsehen, dass ich hier gefangen war, dass ich tatenlos zusehen musste, wie mein Zwillingsbruder mein Leben übernahm.
„CHRIS!" schrie ich und meine eigene Stimme hallte laut in meinen Ohren wider. Plötzlich verließ mich meine gesamte Kraft – die wegen der Betäubung ohnehin nicht groß gewesen war – und ich ließ mich zu Boden gleiten. Verzweifelt vergrub ich meinen Kopf in meinen Händen und versuchte, die Hoffnungslosigkeit, die in mir aufstieg, zurückzudrängen. Das alles konnte doch nicht wahr sein. Ich war in einem schlechten Albtraum gelandet, aus dem ich bestimmt gleich aufwachen würde. Aber auch nach einer endlos langen Minute änderte sich nichts an dem Bild, das sich mir bot – ein Raum, der wie ein Ein-Zimmer Apartment eingerichtet und der für mich zu einem Gefängnis geworden war.

Fortsetzung folgt...
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