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Etwas außerhalb von Washington
21:17 Uhr


Noch nie zuvor war die Zeit so langsam verronnen wie jetzt. Innerhalb der letzten fünf Minuten hatte ich sicher gut und gerne 10 Mal auf die Uhr gesehen, wobei ich jedoch beim fünften Mal aufgehört hatte zu zählen. Ich war halb am Verhungern, mir war sterbenslangweilig, ich vermisste das Sonnenlicht und vor allem Bewegungsfreiraum. Seit ein paar Stunden hatte ich das Gefühl, die Wände würden immer näher rücken, mich langsam erdrücken und mir die Luft zum Atmen nehmen. Ich konnte nicht einmal mehr ruhig sitzen bleiben und lief seit etwa einer viertel Stunde ständig auf und ab, in dem Bestreben, so meinen Tatendrang ein wenig zu bezähmen. Hätte ich mich vor ein paar Tagen noch maßlos darüber aufgeregt, wenn mich Gibbs an einem Tatort von einem Ende zum anderen gescheucht hatte, so hätte ich das jetzt gerne willkommen geheißen. Wahrscheinlich hätte ich sogar irgendwelche Botendienste übernommen, nur um diesem Nichtstun zu entkommen. Nicht einmal zum Fernsehen hatte ich mehr Lust und er lief eigentlich nur, um diese sonst drückende Stille zu durchbrechen. Selbst lesen mochte ich nichts mehr, da die Buchstaben sofort vor meinen Augen verschwammen, wenn ich auch nur ein Buch aufschlug. Die Anzeichen, dass ich wohl bald durchdrehen würde, waren mehr als eindeutig.

Wenn ich bei meiner Wanderung durch den Raum an der verschlossenen Tür vorbeikam, verspürte ich jedes Mal den fast unwiderstehlichen Drang, mit einem Fäusten dagegen zu schlagen und mir die Seele aus dem Leib zu schreien, in der Hoffnung, dass mich vielleicht jemand hören würde. Selbst Liegestütze oder Sit-ups hatten nicht geholfen, dass es mir wieder besser ging. Um nicht den Verstand zu verlieren, brauchte ich unbedingt frische Luft, den Anblick des Himmels, etwas zu Essen und vor allem jemanden mit dem ich mich unterhalten konnte. Ich würde sogar Duckys lange Geschichten ertragen, nur damit ich ein wenig Gesellschaft hätte oder sogar Gibbs auf Koffeinentzug. Alles war besser als diese trostlosen Betonwände, durch die kein einziger Lichtschimmer von draußen drang.
Rastlos fuhr ich mir mit meinen Händen durch meine Haare, während ich weiter in meinem Gefängnis auf und ab ging, wobei ich das Gefühl hatte, dass die Mauern schon wieder näher gekommen waren und die Umgebung verschwamm ein wenig vor meinen Augen, bevor sie sich wieder manifestierte. „Na toll", murmelte ich und selbst meine eigene Stimme kam mir fremd vor. „Nicht mehr lange und du bekommst einen Kellerkoller oder wie das auch immer heißen mag." Gleich darauf verspürte ich das Bedürfnis loszulachen, hielt mich aber zurück. „Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen", sagte ich vor mich hin und wiederholte die Worte jedes Mal, wenn ich eine Kehrtwende machte. Ich zwang mich, tief Luft zu holen und langsam ebbte die Panik, die in mir aufgestiegen war, wieder etwas ab, blieb aber weiterhin präsent.

Meine Hände wanderten von den Haaren zu meinem Magen und rieben darüber, in der Hoffnung, ihn so etwas zu beruhigen. Der Essvorrat, den mir Chris dagelassen hatte, war bereits geschrumpft und fast vernichtet. Ich wusste nicht, wie lange er mich noch festhalten wollte, aber wenn er mir nicht bald Nachschub brachte, würde ich sicher verhungern. Unwillkürlich kam mir unser Streit von gestern wieder in den Sinn und ich fragte mich, ob er überhaupt auftauchen würde. Was wäre, wenn er einfach beschloss, mich nicht sehen zu wollen aus der Befürchtung heraus, ich könnte erneut anfangen, ihn über die letzten 15 Jahre auszufragen? Was wäre, wenn es ihm so gefiel ich zu sein, dass er beschloss, mich hier einfach versauern zu lassen?

„Hör auf den Teufel an die Wand zu malen. Chris wird dich schon nicht sterben lassen." Aber weshalb kam er nicht zu mir, um mir etwas zu Essen zu bringen, so wie er es gestern getan hatte? War ihm vielleicht etwas passiert, als er auf dem Weg hierher war? Oder hatte Gibbs herausgefunden, dass in den letzten beiden Tagen jemand anderes an meinem Schreibtisch gesessen hatte und nicht ich? Hatte er meinen Bruder vielleicht in einen Verhörraum gesteckt und versuchte herauszufinden, wo ich war? Aber gleich darauf verneinte ich die letzte Frage. Ich spürte genau, dass meine Freunde noch immer ahnungslos waren.
Erneut blickte ich auf die Uhr, die auf dem Fernsehbildschirm unten rechts eingeblendet war. Zwei Minuten waren vergangen, seit ich das letzte Mal darauf gesehen hatte und mir war es wie zwei Stunden vorgekommen. Meiner Kehle entrang sich ein frustriertes Knurren und ich legte in einer hilflosen Geste meinen Kopf in den Nacken, nur um festzustellen, dass die Betondecke über mir einen feinen Riss hatte, den ich noch gar nicht entdeckt hatte. Ob sie wohl in nächster Zeit herabstürzen würde, um mich darunter zu begraben? Ich spürte, wie ich langsam die Kontrolle über mich verlor und so ging ich zum Sofa und ließ mich in die Polster fallen. Das rastlose hin und her Wandern hatte meine Situation eher noch verschlimmert, anstatt zu verbessern.

Ich zog meine Knie bis zu meinem Kinn hoch, legte meine Stirn darauf, zählte bis 50 und stieß schließlich einen langen Seufzer aus, als sich mein Herzschlag wieder etwas beruhigte und ich wieder ein wenig klarer denken konnte. Es war immerhin nicht das erste Mal, dass ich irgendwo eingesperrt war, mit dem Unterschied jedoch, dass es diesmal mein eigener Bruder war, der mich gefangen hielt. War ich gestern noch wütend auf ihn gewesen, so hatte sich diese Wut mittlerweile verflüchtigt und hatte das Bedürfnis hinterlassen, den alten Chris wieder zum Vorschein zu bringen. Und bis jetzt hatte ich noch immer keine Ahnung, wie ich das schaffen sollte – nicht, wenn er ständig mauerte und aus der Haut fuhr, wenn ich von der Vergangenheit anfing.
Ich schloss meine Augen und versuchte mich zu entspannen. Die Stimmen der Nachrichtenmoderatoren taten schließlich ihr übriges und ich dämmerte langsam weg. Die Zeit spielte keine Rolle mehr und ich war in einem Stadium zwischen wach sein und schlafen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich so dagesessen war, meine Stirn auf meine Knie gebettet und mich in einer Art Trancezustand befindend, als mich das überdeutliche Geräusch eines Schlüssels, der in ein Schloss gesteckt wurde, erschreckte. Ich fuhr so schnell herum, dass ich beinahe vom Sofa gefallen wäre, hätte ich nicht eine akrobatische Nummer hingelegt, um nicht auf dem Boden zu landen. Gerade als die Tür sich öffnete, schaffte ich es mich wieder in eine normale Position aufzurichten und blickte zu Chris, der mit einem ungewohnt breiten Grinsen den Raum betrat und eine große Tüte in seiner rechten Hand hin und her schwenkte. „Essen ist da", sagte er fröhlich und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich einen anderen Mensch vor mir hatte. Etwas war anders an ihm und er kam mir viel entspannter als gestern vor, obwohl er momentan ein wenig durch den Wind wirkte, trotz des freundlichen Grinsens. Mit großen Schritten kam er auf mich zu und ließ sich wie am Vorabend auf den gemütlichen Stuhl fallen, stellte die Tüte auf den Tisch und begann sie auszupacken. „Tut mir leid, dass ich dich so lange habe warten lassen", fuhr er fort und brachte zwei große Hamburger mit Pommes, zwei Flaschen Cola, eine große Schachtel Doughnouts, zwei Packungen Schokokekse, ein paar Äpfel und jede Menge Weintrauben zum Vorschein. Mir fiel der Unterkiefer nach unten, ob bei dem Anblick von dem vielen Essen oder weil sich Chris entschuldigt hatte, dass er mich so lange hatte warten lassen, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich einen völlig veränderten Menschen vor mir hatte. Keine Spur war mehr von dem Mann zu sehen, der mich noch gestern voller Hass angesehen und angebrüllt hatte. Es war so, als ob er einen plötzlichen Sinnungswandel durchgemacht hätte und seit langem sah ich wieder meinen Bruder vor mir, so wie ich kannte. Mein Herz begann vor unerwarteter Freude schneller zu schlagen und ich vergaß, dass ich kurz davor gestanden war, meinen Verstand zu verlieren.

„Ich war noch nie so froh, dich zu sehen", brachte ich schließlich hervor und schnappte mir einen der Hamburger, die einen verführerischen Duft verbreiteten. Gierig wickelte ich ihn aus und sog erst einmal den herrlichen Geruch ein, der meinen Magen sofort laut knurren ließ und mich daran erinnerte, dass ich besser einen großen Bissen nehmen sollte – was ich gleich darauf auch machte. Genießerisch schloss ich meine Augen und seufzte zufrieden.
„Ich hätte nie gedacht, diese Worte je wieder aus deinem Mund zu hören", entgegnete Chris, weshalb ich ihn anblickte und mit den Schultern zuckte. „Wenn man halb am Verhungern ist, würde ich mich über jeden Menschen freuen, der mir nur was zu Essen bringen würde. Noch dazu so viel", fügte ich hinzu und schielte auf den Berg an Nahrungsmitteln, der auf dem Tisch vor mir lag. Meine Sorge, dass ich nichts mehr zu futtern hätte, hatte sich mit einem Mal in Luft aufgelöst. „Ich kenne dich doch, Tony. Du hast ständig Hunger und da dachte ich mir, ich besorge dir ein wenig mehr, bevor du mir noch vom Fleisch fällst." Unwillkürlich legte ich meinen Kopf schief und sah zu meinem Bruder, der sich eine Cola schnappte, die Flasche öffnete und einen großen Schluck nahm. Das Lächeln von vorhin war verschwunden und hatte einem nachdenklichen Gesichtsausdruck Platz gemacht. Meine Annahme, dass er etwas durch den Wind war, bestärkte sich dadurch. „Ich hatte schon gedacht, ich würde heute gar nicht mehr aus dem Büro rauskommen", sagte Chris schließlich nach ein paar Sekunden und ließ sich in den Sessel zurückfallen. Diese Worte erinnerten mich wieder daran, weshalb ich hier in diesem Keller war – für kurze Zeit hatte ich das doch tatsächlich vergessen. Äußerlich ließ ich mir jedoch nichts anmerken, sondern nahm noch einen Bissen von dem köstlichen Hamburger. „Gibbs kann ein Sklaventreiber sein", erwiderte ich mit vollem Mund und verspürte eine leichte Schadenfreude darüber, dass es mein Bruder nicht leichter als ich hatte. „Und was für einer", meinte er und nahm noch einen Schluck von der Cola. „Hat die anderen Feierabend machen lassen und ich durfte noch einen Bericht fertig schreiben." Ich konnte nicht anders als breit zu grinsen. „Das ist auch der Grund, weshalb ich so spät komme. Ich wäre schon viel früher da gewesen, aber dann habe ich…" Chris unterbrach sich und blickte auf seine Hände. Verwirrt runzelte ich die Stirn, ließ ihm aber Zeit, sich zu sammeln. Wenn ich es schaffen wollte, ihn davon zu überzeugen, dass es ein Fehler war, was er mit mir machte und wenn ich ihn wieder zurückhaben wollte, so musste ich lernen, mich in Geduld zu üben. Er musste von sich aus weiterreden. Zudem hatte ich Angst, dass er mich wieder anschreien würde, würde ich ihn drängen, mir etwas zu erzählen.

Mit einer heftigen Bewegung stellte er die Flasche auf dem Tisch ab, stand auf und begann, so wie ich vor ein paar Minuten, auf und ab zu gehen. Jetzt war es an ihm, rastlos zu sein und wenn ich ehrlich war, kannte ich ihn so gar nicht. Von uns beiden war er es immer gewesen, der stundenlang still sitzen hatte können, ohne das Bedürfnis zu verspürt zu haben, herumzurennen. „Ich habe es vermasselt", sagte er schließlich und drehte sich zu mir um, die offene Tür in seinem Rücken, die in die Freiheit führte. Aber das interessierte mich im Moment nicht, sondern ich konzentrierte mich auf Chris, der sich mit seinen Händen durch seine Haare fuhr. „Was hast du vermasselt?" wollte ich wissen und kaute nachdenklich an meinem Hamburger. Ich war mir sicher, dass er damit nicht meinte, dass sein falsches Spiel aufgeflogen war, sonst würde er nicht hier sein, oder Gibbs würde bereits in den Raum stürmen. Aber da das nicht der Fall war, musste ihm etwas anderes auf dem Herzen liegen. Ungläubig beobachtete ich, wie er sich verlegen am Kopf kratzte und sich wieder in den Sessel fallen ließ. Seine Finger klopften unruhig auf seinem Oberschenkel und er seufzte leise. „Als ich die Hamburger geholt habe, da traf ich Ziva in dem Imbiss", sagte er schließlich und er musterte intensiv die Tischplatte, so als ob er nach Kratzern suchen würde. „Wir haben uns normal unterhalten und dann habe ich…" Er räusperte sich und holte tief Luft, bevor er fortfuhr: „Und dann habe ich Ziva geküsst." Der Hamburger verharrte auf halbem Weg zum meinem Mund, der mir ein zweites Mal innerhalb von wenigen Minuten aufklappte und ich brauchte ein paar Sekunden, um überhaupt zu realisieren, was ich da gerade gehört hatte. Meine Augen weiteten sich und ich konnte einfach nur dasitzen und meinen Bruder sprachlos anstarren. Dieser hob, da ich nichts sagte, seinen Kopf und als er mein Gesicht sah, grinste er verlegen. „Du hast was?" brachte ich irgendwie hervor, wobei meine Stimme unnatürlich hoch war. „Du hast Ziva geküsst? Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?" Vergessen war der Hamburger und mein Hunger. „Ich sage es ja: ich habe es vermasselt." „Du hast es mehr als vermasselt", erwiderte ich ziemlich laut, was ihn aber nicht zu stören schien. „Mich wundert es, dass du überhaupt noch lebst", fuhr ich etwas ruhiger fort und ich konnte mich gerade nicht entscheiden, ob ich lieber schreien oder lachen sollte – wahrscheinlich beides. Lachen, weil ich es mehr als komisch fand, wie Chris vor mir saß, sein Gesicht vor Verlegenheit mit einem Hauch Rot überzogen und schreien, weil Ziva glaubte, ich wäre es gewesen, der sie geküsst hatte und nicht mein Bruder. Was für eine verzwickte Situation.

„Das wundert mich auch", meinte er und stieß einen langgezogenen Seufzer aus. „Ich dachte, sie würde mich erwürgen. Hat mich am Kragen gepackt und gesagt, wenn mir mein Leben lieb ist, solle ich das nie wieder machen." Das Lachen gewann über das Schreien die Oberhand. „Das ist nicht witzig", sagte er und funkelte mich böse an, aber ich konnte einfach nicht anders. „Für mich irgendwie schon", brachte ich atemlos hervor, als ich mich ein wenig beruhigt hatte. „Das hätte ich zu gerne gesehen. In dem Imbiss gibt es nicht zufällig eine Überwachungskamera, die das aufgenommen hat?" „Hör auf, Tony. Meinst du etwa, für mich wäre das jetzt leicht? Verdammt, Ziva denkt, du wärst es gewesen, die sie geküsst hat. Sie hat ja nicht einmal eine Ahnung, dass ich überhaupt existiere!" Seine Stimme war immer lauter geworden und vertrieb mir das Grinsen aus dem Gesicht. Schuldgefühle übermannten mich, als ich daran dachte, dass ich nie erwähnt hatte, dass ich einen Zwillingsbruder hatte. Chris hatte Recht. Keiner meiner Kollegen wusste, dass es ihn gab und das stimmte mich ein wenig traurig. Innerlich hoffte ich jedenfalls, dass sie es irgendwann erfahren würden und dass sie ihn so akzeptierten, wie er war.

„Es tut mir leid. Ich hätte nicht…" begann ich mich zu entschuldigen, wurde aber von einem energischen Schlenker seiner Hand unterbrochen. „Schon in Ordnung." Erleichtert stellte ich fest, dass seine Stimme wieder ruhiger war und sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen stahl. „Es war mein Fehler und nicht deiner. Und jetzt muss ich es wieder ausbaden. Nur habe ich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll." „Da musst du durch", meinte ich schulterzuckend und nahm mir wieder den Hamburger. „Ich an deiner Stelle würde die Sache ganz schnell aus der Welt schaffen. Ziva kann ganz schön nachtragend sein und du solltest vor allem aufpassen, dass es Gibbs nicht erfährt. Immerhin hast du gegen die heiligste seiner Regeln verstoßen." „Welche Regeln?" wollte er perplex wissen. „Du kennst ihn jetzt schon seit zwei Tagen und dann weißt du nichts von seinen Regeln? Kaum zu glauben." Ich schüttelte meinen Kopf und biss von dem Burger ab. „Welche Regeln?" wiederholte Chris seine Frage, diesmal eine Spur ungeduldig. Ich seufzte, schnappte mir die offene Colaflasche und nahm einen großen Schluck, bevor ich antwortete: „Gibbs hat Regeln. So weit ich weiß, sind es insgesamt 50. Ich kenne nicht einmal annähernd alle, aber Regel 12 ist eine der Wichtigsten. Fange nie etwas mit einem Arbeitskollegen an. Und Gibbs wird ziemlich sauer, wenn man sich nicht daran hält." „Oh", gab er von sich und starrte wieder auf seine Hände, aber gleich darauf blickte er mich wieder an, mit einem Funkeln in den Augen, das mir ein wenig unheimlich war. „Aber keine Bange, Tony. Ich werde das schon klären, bevor ich…" Er brach ab und setzte sich aufrechter hin. Neugierig geworden, stopfte ich mir den letzten Rest des Burgers in meinen Mund, spülte ihn mit Cola hinunter, stellte die Flasche auf den Tisch zurück und rückte an die Kante des Sofas. „Bevor du was?" fragte ich nach und kniff meine Augen zusammen, so als ob ich ihn alleine durch meine Willenskraft zum Weiterreden bringen wollte.

Chris entspannte sich, beugte sich nach vorne, legte seine Unterarme auf seine Oberschenkel und sah mich direkt an. „Ich habe nachgedacht", begann er leise. „Über das hier." Mit einem kurzen Schlenker seiner Hand deutete er auf den Raum, bevor er sie wieder auf seinem Bein platzierte, mich weiterhin fixierend. Mein Atem wurde schneller, genauso wie mein Herzschlag und ich rückte noch näher an die Sofakante, bis ich beinahe hinunterfiel. Aufregung breitete sich in meinem Inneren aus und ich wartete gespannt, bis er weitersprach.
„Die letzten Jahre war ich blind vor Hass. Ständig habe ich dir die Schuld gegeben, dass mich Mom und Dad nicht so geliebt haben wie dich. Und das hat sich auch auf mein Leben ausgewirkt. Ich war so verbittert, dass ich niemanden an mich herangelassen habe, egal wie sehr ich ihn gemocht habe. Irgendwann habe ich den Entschluss gefasst, mir endlich das zu holen, was mir zusteht. Dein Leben." Chris hielt inne und in seine Augen trat ein trauriger Ausdruck, der in mir den Wunsch erweckte, ihn fest in meine Arme zu nehmen und ihn wie ein kleines Kind hin und her zu wiegen. Er holte tief Luft, bevor er fortfuhr: „Ich dachte, ich mache das Richtige, als ich dich hier eingesperrt habe. Endlich war ich am Ziel, aber dann lernte ich deine Kollegen kennen. Sie waren die ersten, die mich seit langem respektiert haben und die mir ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt haben. Aber sie denken ja, dass du es wärst, der mit ihnen zusammen ist und nicht ich und deswegen habe ich angefangen, mir alles durch den Kopf gehen zu lassen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nicht ewig so weitermachen kann, auch wenn es sich herrlich anfühlt, nach so langer Zeit wieder richtige Freunde zu haben. Weißt du eigentlich, wie viel Glück du hast, deine Teamkollegen als Freunde zu haben? Und Abby und Ducky? Ihr alle haltet wie Pech und Schwefel zusammen und da passe ich einfach nicht rein." Chris' Stimme wurde immer leiser, bis er schließlich ganz aufhörte zu reden. Bei seinen letzten Worten keimte in mir Hoffnung auf, aber gleichzeitig fürchtete ich mich ein wenig vor seiner Entscheidung. „Bedeutet das etwa, dass du…" „Ja, genau das bedeutet es", unterbrach er mich und schenkte mir ein kleines trauriges Lächeln, das mir einen Stich versetzte. „Wenn der jetzige Fall gelöst ist, was morgen wahrscheinlich so weit sein wird, werde ich dich rauslassen und werde anschließend von hier verschwinden. Ob du nachher deinen Freunden von mir erzählst und dass ich es gewesen bin, der in den letzten Tagen bei ihnen gewesen ist, überlasse ich dir. Es wird auch nichts bringen, nach mir zu suchen. Ich habe mittlerweile Übung darin, meine Spuren zu verwischen."

Wir saßen uns gegenüber und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Chris wollte mich tatsächlich frei lassen, wollte mich hier rauslassen, damit ich wieder in mein normales Leben zurückkehren konnte? Es war das, was ich mir die ganze Zeit gewünscht hatte, aber wider Erwarten stieg keine Freude in mir auf – im Gegenteil. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich daran dachte, dass er für immer verschinden wollte und ich wusste, ich würde ihn dann wahrscheinlich nie wieder sehen. Chris hatte mich entführt, mich hier eingesperrt, nicht wissend, was mit mir passieren sollte, aber er war immer noch mein Bruder. Und der Teufel sollte mich holen, wenn ich einfach so zulassen würde, dass er sich erneut aus dem Staub machte, so wie er es vor 15 Jahren schon einmal getan hatte. Diesmal würde ich ihn nicht einfach so abhauen lassen – nicht nachdem wir nach dieser langen Zeit endlich anfingen, wieder zueinander zu finden.
„Wieso bleibst du nicht einfach hier?" fragte ich leise, aber dennoch zuckte er wie bei einem Peitschenhieb unter meinen Worten zusammen. Er starrte mich ungläubig an, da er anscheinend nicht mit dieser Reaktion gerechnet hätte. „Das kann ich nicht", antwortete er schließlich und wich meinem Blick aus. „Wieso nicht? Verdammt, Chris! Glaubst du wirklich, du kannst einfach wieder so abhauen wie vor 15 Jahren?!" Ich schüttelte frustriert meinen Kopf und ließ mich in die Polster zurücksinken. „Wieso gehen wir jetzt nicht einfach zusammen aus diesem Keller raus und ich werde dich allen vorstellen?" Meine Stimme wurde wieder ruhiger und da er nichts erwiderte, nutzte ich die Chance, um ihn weiter zu bearbeiten. Das kurze hoffnungsvolle Funkeln in seinen Augen gab mir Mut, dass er sich seiner Sache nicht so sicher war, wie er es mir vormachte. „Warum bis morgen warten, bis du mich frei lässt? Weißt du eigentlich, wie super es sein könnte, wenn du nicht mehr vorgeben musst, ich zu sein? Wenn dich alle als Christopher DiNozzo kennen lernen, als meinen Zwillingsbruder?" Er schüttelte seinen Kopf und sah mich weiterhin traurig an. „Wenn Gibbs erfährt, dass ich dich entführt habe, steckt er mich doch gleich in den Knast. Vergiss es, Tony. Egal was du auch sagst, du wirst mich nicht umstimmen können." Ehe ich auch nur reagieren konnte, stand er auf und Panik überkam mich. Er durfte mich nicht wieder einsperren. Die Erinnerung daran, wie die Wände vor nicht allzu lange Zeit auf mich zugekommen waren, um mich zu erdrücken, kamen wieder hoch und ich wusste, noch ein paar Stunden hier in diesem Raum und ich würde durchdrehen.

„Chris, bitte, geh nicht. Lass uns darüber reden." Meine Stimme nahm einen flehenden Tonfall an, wogegen ich aber nichts machen konnte. „Tut mir leid. Aber meine Entscheidung steht fest. Morgen bist du ein freier Mann und kannst deinen Platz dort draußen wieder einnehmen." „Und was ist, wenn ihr den Fall nicht löst? Wirst du mich dann so lange hier festhalten, bis ihr den Täter geschnappt habt?" An seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er darüber noch gar nicht nachgedacht hatte. Er seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Dann lasse ich dich trotzdem frei. Aber der Fall wird morgen garantiert gelöst sein, da bin ich mir sicher. Gib mir einfach die Chance, einmal etwas richtig zu machen. Außerdem muss ich das mit Ziva noch in Ordnung bringen, bevor du wieder auf sie triffst." Chris ging auf die Tür zu und holte bereits den Schlüssel heraus. Voller Panik sprang ich auf und eilte ihm nach. „Sperr mich nicht wieder ein!" schrie ich ihn an. „Noch ein paar Stunden mehr hier drinnen und ich drehe durch! Wenn du unbedingt den einen Tag haben willst, dann nimm ihn dir, aber lass wenigstens die Tür offen! Ich schwöre dir, ich werde nicht abhauen und dir die Chance damit nehmen, die du haben willst! Ich gebe dir mein Wort, aber bitte, sperr mich nicht wieder ein!" In diesem Moment war es mir sogar egal, dass ich anfing – obwohl es gegen meine Natur war - ihn anzuflehen. Ich wusste, ich würde es keine Minute mehr aushalten, sollte er die Tür wieder abschließen. Die Decke würde mir einfach auf den Kopf fallen und in dem Versuch, rauszukommen, würde ich mich wahrscheinlich selbst verletzen.

Chris sah mich verblüfft an, trat aber einen Schritt zurück, als ich ihn an den Schultern packen wollte und schüttelte seinen Kopf. „Du meinst, ich glaube dir, dass du nicht abhauen wirst, wenn ich nicht abschließe? Das kannst du vergessen." Mein Herz zog sich zusammen und ich war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. „Ich gebe dir mein Wort", sagte ich leise, da ich mit Schreien anscheinend nicht weiter kam. „Bitte, Chris, vertrau mir. Vertrau mir einfach." Ich hielt meinen Atem an und wartete, wie er reagieren würde. Für ein paar Sekunden stand er einfach auf dem Fleck, musterte mich von oben bis unten und schüttelte seinen Kopf. Ehe ich reagieren konnte, drehte er sich wortlos um, eilte auf den Gang hinaus und schmiss die Tür mit einem Krachen ins Schloss. Unfähig mich zu rühren, starrte ich auf das Hindernis, das mir die Freiheit verwehrte und wartete darauf zu hören, wie sich der Schlüssel drehte und mich erneut hier einsperrte – aber es blieb aus.
Mit laut klopfendem Herzen blieb ich eine ganze Minute starr stehen, bevor ich mich endlich wieder bewegen konnte und schließlich langsam auf die Tür zu ging. Ich legte meine zitternde Hand auf die Klinke und flüsterte: „Bitte, bitte." Vorsichtig, so als ob sie mit einem Sprengsatz verbunden wäre, drückte ich sie hinunter und einen Augenblick lang hatte ich die Befürchtung, dass sie Chris wirklich abgeschlossen und ich es in meiner Panik nicht mitbekommen hatte. Aber die Tür schwang lautlos nach innen auf und gab den Blick auf den Betongang frei, an dessen Ende Stufen nach oben führten. Von meinem Bruder war nichts mehr zu sehen, aber etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Auf meinem Gesicht bildete sich ein erleichtertes Lächeln und ich atmete tief durch, bis die Panik in meinem Inneren verebbte.
„Dafür hast du was gut bei mir", murmelte ich und betrat den Flur, um ihn entlangzueilen, vorbei an drei weiteren Türen, die in andere Kellerräume führten. Mit schnellen Schritten ließ ich mein Gefängnis hinter mir, lief die Treppe hinauf und stieß die Holztür auf – und fand mich ein einem freundlich eingerichteten Vorraum wieder. Sanftes Licht kam von einer Deckenlampe und ließ den Parkettboden schimmern, der vor kurzem poliert worden war. Die Wände waren cremefarben und darauf waren Bilder von Landschaften aufgehängt worden, die die Atmosphäre viel freundlicher machten.
Staunend drehte ich mich einmal im Kreis und nahm die Umgebung in mich auf. Neben der Eingangstür stand ein kleiner Tisch, auf dem sich eine Vase mit frischen Blumen befand. Linkerhand führte eine Treppe, die mit einem dunkelblauen Teppich ausgelegt war, in das Obergeschoss. Das Holzgeländer war genauso so sauber poliert wie der Fußboden. Rechts lag das Wohnzimmer, aber bevor ich es betrat, wandte ich mich der Eingangstür zu. Zu meiner größten Verblüffung ließ sie sich problemlos öffnen und herrlich frische Luft kam mir entgegen. Am nächtlichen Himmel blinkten abertausende Sterne und umrahmten einen Mond, den ich noch nie so schön gefunden hatte. Gierig atmete ich tief ein und trat ein paar Schritte nach draußen, nur um mich gleich wieder umzudrehen. Der Keller, in dem ich zwei Tage eingesperrt gewesen war, befand sich in einem kleinen einstöckigen Familienhaus, dessen Fassade sauber verputzt war und eine weiße Farbe hatte. Der Rasen davor war kurz und roch einfach herrlich. Der Weg, der von der Auffahrt zu der Tür führte, war mit großen quadratischen Platten verlegt und kein einziges Unkraut lugte durch die Ritzen. Blumen waren am Rand gepflanzt worden und verströmten einen schweren Duft. Es war unverkennbar, dass Chris hier lebte, hatte er doch schon immer darauf geachtet, dass alles sauber und ordentlich war.
Neugierig ließ ich meinen Blick über die Umgebung schweifen und ich erkannte, dass das Haus ziemlich weit abgelegen war. Es gab nichts weiter als endlos lange Wiesen und Felder. Irgendwo in der Ferne konnte ich ein kleines Licht erkennen, das von einem entfernten Nachbarn stammen musste.

Die Versuchung, einfach die Auffahrt hinunterzugehen, weiter bis zur Straße, um ein Auto aufzuhalten, war verführerisch, aber ich hatte meinem Bruder mein Wort gegeben. Auch wenn es nicht so ausgesehen hatte, so hatte er anscheinend großes Vertrauen in mich, wenn er nicht einmal die Haustüre absperrte. Gleich darauf kam mir jedoch der Gedanke, dass ich auch aus einem Fenster hätte klettern können, um zu entkommen und Chris war das dem Anschein nach mehr als klar. Ein herrlich warmes Gefühl strömte von meinem Herzen in meinen gesamten Körper aus und ich konnte einfach nicht anders als breit zu grinsen. Glücklich – und noch immer überrascht über die Wendung – ging ich in das Haus zurück und schloss leise die Tür. Ich war nicht länger ein Gefangener, sondern konnte mich frei bewegen und sogar endgültig in die Freiheit entfliehen, aber ich würde das Vertrauen, das er in mich setzte, nicht missbrauchen. Er hatte eine Chance verdient und diese wollte ich ihm geben. Diesen einen Tag sollte er noch ich sein dürfen und einen Mörder hinter Gitter bringen können. „Ich bin stolz auf dich, Kleiner", murmelte ich und konnte es immer noch nicht glauben, welche Wandlung er in den letzten beiden Tagen durchgemacht hatte. Von seinem Hass auf mich war anscheinend nichts mehr übrig geblieben, etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Mein Bruder schien endlich damit zu beginnen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach vorne zu sehen. Und wenn ich dafür noch etwas länger in diesem Haus bleiben musste, sollte es mir Recht sein, solange ich nicht wieder in den Keller gesperrt wurde. Glücklich wie schon lange nicht mehr, betrat ich das freundlich eingerichtete Wohnzimmer, in dem Bewusstsein, dass der alte Chris, so wie ich ihn kannte, wieder da war und der mir vorbehaltlos vertraute – so wie er es früher getan hatte. Und während ich das Haus erkundete und mir ein Bild davon machte, wie er in der letzten Zeit gelebt hatte, überlegte ich mir, wie ich ihn dazu bewegen konnte, in Washington zu bleiben – oder besser gesagt: um bei mir zu bleiben.

Fortsetzung folgt...
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