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Washington D.C.
Anacostia Park
Donnerstag, 14. Mai
06:00 Uhr


Die Sonne stieg langsam über den Horizont, tauchte den Himmel im Osten in ein blutrotes Licht und verdrängte die Sterne und den Mond vom Firmament. Noch war die Luft kühl, aber es versprach ein weiterer warmer Frühlingstag zu werden, der einen gerade dazu verlockte, die Zeit im Freien zu verbringen. Obwohl es bereits hell wurde, hatte die Dämmerung weiterhin die Oberhand und schaffte eine unheimliche Atmosphäre im Anacostia Park, dessen Bäume wie schwarze Schatten wirkten. Das Laub bewegte sich leicht in dem sanften Wind und verursachte leise, raschelnde Geräusche. Hin und wieder hörte man das Aufheulen eines Motors, wenn ein Auto in der Ferne vorbei fuhr oder eine Sirene eines Einsatzfahrzeuges den friedlichen Morgen störte. Je weiter die Sonne über den Horizont kletterte, desto mehr Vögel erwachten aus ihrem Schlaf und begrüßten den neuen Tag mit ihrem üblichen Konzert.
Die ausgedehnten Wiesen des Parks glänzten, dank des Taus, in dem Licht der Laternen feucht und verströmten einen herrlichen Geruch nach Gras. Bunte Blumen säumten die Wege, die sich durch die Grünanlage schlängelten und warteten darauf, ihre farbenprächtigen Blüten zu öffnen, um die ersten Sonnenstrahlen einzufangen.
Um diese frühre Uhrzeit war der Park bis auf vereinzelte Jogger und Menschen, die ihre Hunde ausführten, bevor sie in die Arbeit mussten, verwaist. Es gab kein lautes Kindergekreische, so wie es am Tage üblich war oder angeregte Unterhaltungen, um den neuesten Tratsch und Klatsch auszutauschen. Die zahlreichen Picknicktische waren unbesetzt, genauso wie die Bänke, die in regelmäßigen Abständen im Park aufgestellt worden waren, damit man sich von langen Spaziergängen erholen, oder sich mit anderen Personen unterhalten konnte. Nichts deutete daraufhin, dass es in einer oder zwei Stunden bereits wieder von Einwohner Washingtons oder Touristen wimmeln würde, die auf der Suche nach neuen Motiven waren, um damit die Filme in ihren Kameras zu füllen.

Mit gemächlichen Schritten, so als ob er alle Zeit der Welt hätte, ging Chris einen der asphaltierten Wege entlang, den Blick starr geradeaus gerichtet und nicht auf die Umgebung achtend. Das Hemd, das er trug, schützte nicht wirklich gegen die morgendliche Kälte, aber er registrierte nicht einmal den frischen Wind, der jeden hätte frösteln lassen, der keine Jacke angehabt hätte. Seine Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben, spazierte er ziellos durch den großen Park. Seine Augen registrierten zwar die langsam aufgehende Sonne, die bunten Blumen und die vielen Bäumen, in deren Schatten man wunderbar ein Nickerchen hätte abhalten können, aber ihn interessierte dieses Stück Natur mitten in der Großstadt nicht wirklich. Er war hierher gekommen, weil ihm die Decke sonst auf den Kopf gefallen wäre. In dieser Nacht hatte er nur wenig Schlaf gefunden, vielleicht zwei Stunden, wenn er alle Minuten zusammenzählte, in denen er nicht wach gewesen war. Die meiste Zeit hatte er sich ruhelos in dem Bett herumgewälzt, jede Position unbequemer als die vorhergehende. Und wenn er einmal eingeschlafen war, so war er von wirren Träumen heimgesucht worden, eine Mischung aus seiner Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Bilder von seinen Eltern hatten sich in rasender Geschwindigkeit mit denen von Amy, Ziva und Tony abgewechselt, bevor er sich selbst in einer kleinen, dunklen Zelle eines Gefängnisses wiedergefunden hatte, in die ihn Gibbs höchstpersönlich verfrachtet hatte, nachdem er herausgefunden hatte, wer er war und was er in Washington machte.
Obwohl Chris' Körper sich nach Schlaf sehnte, hatte er es schließlich gegen fünf Uhr aufgegeben und war aufgestanden. Eine kalte Dusche und einen starken Kaffee später hatte er wenigstens wieder klar denken können und die Träume, die ihn in den vergangenen Stunden gequält hatten, waren nur mehr formlose Schatten in seinem Gehirn. Rastlos war er schließlich durch Tonys Haus getigert und hatte die Sachen zusammengesucht, die er mitgebracht hatte und die er schließlich wieder in eine große Tasche verstaut hatte, um am Abend möglichst schnell verschwinden zu können und nicht Zeit mit packen verbringen zu müssen. Die Entscheidung, dass er Washington den Rücken zukehren würde, stand fest, obwohl ihm eine innere Stimme sagte, dass er hier bleiben sollte - dass er bei seinem Bruder bleiben sollte. Während der Zeit, die er in den letzten beiden Tagen mit Anthony verbracht hatte, hatte er sich wider Erwarten geborgen gefühlt und es war alles so vertraut gewesen. Tonys Präsenz, sein Gesicht, seine Stimme, seinen Humor und vor allem die Art, wie er Chris immer wieder zum Lachen brachte, hatte er schrecklich vermisst und es war gerade das, was ihn traurig stimmte und ihn an seiner Entscheidung, die Stadt zu verlassen, zweifeln ließ. Durch den Zwiespalt in seinem Inneren hatte er schließlich das Gefühl gehabt, die Decke würde ihm auf den Kopf fallen und er war nach draußen geflüchtet, war ziellos durch Washington gefahren und war schließlich im Anacostia Park gelandet.

Seine leisen, knirschenden Schritte auf dem Asphalt, die Vögel mit ihrem Gezwitscher und das regelmäßige Tap Tap der Schuhe eines Joggers, der ihm entgegenkam, durchbrachen die friedliche Idylle des Morgens. Der Läufer war groß wie eine Bohnenstange und sein grauer, ein wenig altmodisch wirkender Trainingsanzug, schlotterte an dem mageren Körper, der den Eindruck erweckte, gleich in der Mitte durchzubrechen. Die blonden Haare des Mannes waren schulterlang und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der im Takt seines Laufschrittes auf und ab wippte. Als sie auf gleicher Höhe waren, warf er Chris einen kurzen Blick zu, der diesem für eine Sekunde begegnete, seine Augen aber gleich darauf wieder starr nach vorne richtete. Gleich darauf verschwand der Jogger aus seinem Sichtfeld und somit aus seinem Gehirn. Er würde eine weitere anonyme Person bleiben, genauso wie er bald selbst in die Anonymität verschwinden würde, um für alle unaufspürbar zu sein.
Ein beinahe unhörbarer Seufzer kam über seine Lippen und verhallte in der kühlen Morgenluft, die sich nun doch ein wenig bemerkbar machte. Auf Chris' Armen bildete sich eine leichte Gänsehaut und ließ ihn ein wenig zittern. Aber dennoch machte er nicht kehrt oder erhöhte sein Tempo, um Wärme zu erzeugen. Die Kälte vertrieb die Müdigkeit aus seinem Körper und ließ seine Muskeln nicht mehr ganz so träge arbeiten. Obwohl er sich physisch jetzt besser fühlte, so war er psychisch noch weit davon entfernt. In seinem Inneren spürte er Wehmut, etwas, das nur selten der Fall gewesen war. Sein Instinkt sagte ihm, dass es nicht richtig war einfach zu verschwinden, sondern dass er sich den Konsequenzen stellen sollte, die unweigerlich auf ihn zukommen würden, wenn herauskam, dass er seinen eigenen Bruder entführt hatte. Andererseits war dieser mittlerweile kein Gefangener mehr und konnte sich in dem Haus frei bewegen.
Chris konnte es immer noch nicht glauben, dass er die Tür zu dem Kellerraum wirklich offen gelassen hatte. Als Tony geschrieen hatte, dass er durchdrehen würde, hatte er angenommen, es wäre nur eine Finte, um ihn reinzulegen. Aber dann hatte er den Ausdruck von Panik in seinen Augen gesehen, von dem er instinktiv gewusst hatte, dass dieser nicht gespielt gewesen war. Die ganze Körpersprache von seinem Bruder hatte seine Worte unterstrichen, aber dennoch hatte er gezögert. Irgendwie hatte er immer noch gedacht, es wäre nur ein Trick, damit der andere einfach abhauen konnte, deswegen hatte er sich einfach umgedreht und die Tür ins Schloss geworfen, mit so einem lauten Krachen, dass er es sogar jetzt noch hören konnte, wenn er sich an die Szene zurückerinnerte. Er hatte den Schlüssel bereits in der Hand gehabt, um zuzusperren, aber irgendetwas hatte ihn davon abgehalten. Sekundenlang war er am Fleck gestanden und hatte seinen Arm nicht rühren können, so als ob dieser verlernt hätte, wie er sich bewegen sollte. Dann hatte er Tonys Gesicht wieder vor sich gesehen, die Angst und Panik in seinen grünen Augen, die normalerweise voller Humor glitzerten. Selbst in seiner Stimme hatte man die beiden Gefühle heraushören können. Noch nie hatte er seinen Bruder so erlebt, kurz davor, den Verstand zu verlieren und es war diese Tatsache gewesen, weshalb sich sein Herz schmerzhaft zusammengezogen und ihm befohlen hatte, diese Tür offen zu lassen. Außerdem hatte Anthony geschworen nicht abzuhauen und bereits früher hatte man sich auf sein Wort verlassen können. Obwohl Chris gedacht hatte, Tony niemals wieder so viel Vertrauen entgegen zu bringen – nicht seit dem einen Abend vor 15 Jahren - hatte er es aus einem ihm unbekannten Grund dennoch getan. Eine innere Stimme hatte ihm gesagt, dass er ihm vertrauen konnte, dass er Wort halten und nicht flüchten würde. Er würde ihm den einen Tag geben und die Erkenntnis, dass ihm sein Bruder wirklich die Chance lassen würde, hatte ihn schließlich eine Entscheidung treffen lassen.
Ohne weiter zu zögern, hatte er der Tür den Rücken zugekehrt, war die Stufen hinaufgeeilt und aus dem Haus gestürmt, um nicht weiter in der Nähe der Person zu sein, die ihm nach all der Zeit noch immer sehr viel bedeutete. Chris war sich bewusst, wenn er noch länger mit Anthony zusammen sein würde, würde dieser ihn überreden können, in Washington zu bleiben. Als er diesen Vorschlag gehört hatte, hatte sein Herz bei der Aussicht, dass alles wie früher werden könnte, schneller angefangen zu schlagen. Aber dann war ihm wieder eingefallen, dass ihn die Wahrheit ins Gefängnis bringen würde und Ziva würde ihm sicher den Kopf abreißen, wenn sie erfahren sollte, dass nicht Tony sie geküsst hatte, sondern sein Zwillingsbruder, von dessen Existenz keiner der Agenten etwas wusste. Es war besser, einfach zu verschwinden und somit allen Komplikationen vorzubeugen.
Eine der Ursachen, weshalb Chris in der Nacht nicht hatte schlafen können, war der Zwiespalt in seinem Inneren gewesen, die andere die Befürchtung, dass jede Minute Gibbs vor seiner Tür stehen konnte, um ihn zu verhaften. So sehr er auch Anthony vertraute, hatte er doch nicht verhindern können, sich Gedanken darüber zu machen, was passieren würde, wenn er wirklich abhauen würde. Aber nichts dergleichen war geschehen, niemand war gekommen, um ihn ins Gefängnis zu stecken, weshalb er sich mittlerweile sicher war, dass Tony in dem Haus geblieben war, um ihm die Chance zu lassen, die er haben wollte.
Chris blinzelte und tauchte zum ersten Mal, seit er den Park betreten hatte, aus seinen Gedanken auf. Die Sonne hatte die Dämmerung so weit vertrieben, dass es nun ihr Licht war, die den Weg beleuchtete und nicht mehr die Laternen. Die Wiesen hatten die graue Farbe abgeworden und ein sattes Grün angenommen. Tausende kleine Tautropfen glitzerten vor sich hin, nur um bald zu verdunsten. Die Temperatur war gestiegen und hatte seine Gänsehaut vertrieben, um eine wohlige Wärme zu hinterlassen, was aber vielleicht auch damit zu tun hatte, dass es endlich wieder jemanden gab, dem er vertrauen konnte, ohne gleich Angst haben zu müssen, dass er hintergangen wurde. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass ihm Tony irgendwann verzeihen würde, dass er ihn in diesen Keller eingesperrt hatte.

Chris setzte auf eine der Bänke, die am Wegrand standen und ließ sich gegen die Lehne sinken. Das Holz war von der Nacht noch kühl und leicht feucht, aber ihn störte das nicht sonderlich. Ein wenig verträumt beobachtete der die Vögel, die auf der gegenüberliegenden Wiese mit ihren kurzen Beinchen herumhüpften und die Schnäbel in die Erde steckten, um nach Würmern zu suchen. Schon immer hatte es ihn beruhigt, diese Tiere zu beobachten, sowohl am Boden als auch in der Luft. Früher hatte er oft im Freien gesessen, die kräftigen Flügelschläge verfolgt und sich gewünscht, genauso frei zu sein wie die Vögel, um seinem Leben und Verpflichtungen zu entfliehen. Jedes Mal, wenn er so dagesessen war, hatte er sich gefragt, weshalb ihn seine Eltern nicht so liebten wie Tony. Was hatte er nur getan, dass er oft links liegen gelassen worden war, außer wenn es darum gegangen war, für einen Fehler bestraft zu werden. Als kleiner Junge hatte er oft darüber nachgedacht, aber sein kindliches, noch nicht komplett entwickeltes Gehirn hatte ihm keine Antwort liefern können. Je älter er geworden war, desto weniger hatte er sich darum gekümmert und als er Amy getroffen hatte, war es ihm immer mehr egal gewesen, dass ihn seine Eltern nicht so liebten wie sie eigentlich sollten. Er hatte eine Person gehabt, die ihm das geschenkt hatte, was ihm jahrelang vorbehalten worden war und zum ersten Mal war er wirklich glücklich gewesen. Sie hatte sein Leben ausgefüllt und nichts hatte seine gute Laune trüben können. Chris hatte damals gedacht, dass alles gut werden würde und als er im Mai vor 15 Jahren den Sieg im Football geholt hatte, war er plötzlich der Held der Schule gewesen und jeder hatte ihn respektiert. Alles war perfekt gewesen – bis eine Woche später das Schicksal unbarmherzig zugeschlagen und alles ins Gegenteil gekehrt hatte. An einem einzigen Abend hatte sich alles verändert, war alles auf ihn eingestürmt und hatte dazu geführt, dass er in alle Menschen das Vertrauen verloren hatte.
Chris legte seinen Kopf in den Nacken, blickte in den blauen Himmel, bevor er seine Augen schloss und die Erinnerungen zuließ, die er seit Jahren verdrängt hatte, die nun aber an die Oberfläche strömten. In seinem Gehirn entstand das Bild eines heißen und schwülen Maiabends, er erinnerte sich an die schweren Düfte der zahlreichen Blumen, die es überall im Garten des Anwesens gegeben hatte und wahrscheinlich noch heute gab, und er hörte erneut das Gespräch seines Vaters, der sich in seinem Arbeitszimmer mit einem jahrelangen Freund und Geschäftspartner unterhalten hatte – ein Gespräch, von dem er wünschte, er hätte es nie mitbekommen…

Obwohl es beinahe 21 Uhr war, betrug die Temperatur noch immer 25 Grad. Die Luft war unerträglich schwül und wenn man atmete, hatte man das Gefühl, dass es Sirup sei und nicht Sauerstoff. Es wehte nicht einmal eine kleine Brise, die vielleicht ein wenig Linderung hätte bringen können. Die Vorhänge vor den hellerleuchteten Fenstern der DiNozzovilla hingen schlaff herunter und bewegten sich keinen Millimeter. Die Zimmerpflanzen ließen ihre Blätter traurig nach unten hängen, obwohl sie regelmäßig gegossen wurden, was aber nicht viel zu helfen schien. Die Wurzeln sogen das Nass schnell auf und hinterließen nur trockene Erde. Selbst der sonst so saftige grüne Rasen des großen Gartens litt sichtlich unter dem Wetter und die Angestellten hatten Mühe, ihn genügend zu bewässern. Die Blumen, die es überall gab, ließen langsam aber sicher ihre Köpfe hängen und boten einen traurigen Anblick.
In der Villa gab es keinen Platz, an dem es erträglich kühl wäre, ausgenommen den Keller. Dieser hatte keine Fenster und war aus dicken Betonmauern aufgebaut worden, weshalb es dort nicht warm war. Aber dadurch, dass es kein Tageslicht gab, sondern nur von Glühbirnen erzeugte Helligkeit, war es kein angenehmer Platz, wo man Zeit verbringen wollte. Da ertrug man noch eher die Hitze, die sich überall ausbreitete und sich langsam auf die Gemüter niederschlug.
Die Kriminalitätsrate in Washington stieg immer mehr an, da viele Menschen ihre Aggressionen durch Morde, Überfälle und andere Straftaten abbauten. Gefängnisse waren genauso wie Krankenhäuser überbelegt, in denen es von Patienten wimmelte, die die hohe Luftfeuchtigkeit nicht vertrugen.
Es war der wärmste Mai an den man sich erinnern konnte und obwohl es schwül war, war kein Gewitter in Sicht, das Abkühlung gebracht hätte. Die Menschen sehnten sich nach niedrigeren Temperaturen und flohen in klimatisierte Gebäude oder in Freibäder, um so etwas Erleichterung zu finden. Geschäfte, die Ventilatoren verkauften, sackten fette Gewinne ein, genauso wie die Besitzer von Eissalons, deren Köstlichkeiten während des Tages bis auf den letzten Rest über die Ladentheke wanderten. Laut Wettervorhersage würde es bis Montag dauern, bis endlich ein wenig Regen in Sicht war, der jedoch nicht sehr viel Abkühlung bringen würde.

Fröhlich vor sich hinsummend verließ Chris die Küche, in die er gerade das Tablett abgestellt hatte, auf dem sich das Geschirr des Abendessens befand, das er soeben mit Amy auf seinem Zimmer genossen hatte. Den Temperaturen angepasst, hatte er dafür gesorgt, dass es nur leichte Kost gewesen war und vor allem nichts Heißes. Der Schweiß rann ihm auch so schon über den Rücken und ließ sein T-Shirt unangenehm auf seiner Haut kleben. Seine sonst immer gestylten Haare schienen plötzlich immun gegen jeden noch so kleinen Angriff der Bürste zu sein und standen folglich in alle Richtungen ab. Zwar hätte er Gel benützen können, so wie er es immer machte, wenn er ausging, aber eine klebrige Substanz in seinen Haaren war das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte.
Mit einer Hand wischte Chris sich über die Stirn und schüttelte sich leicht, als er den Schweiß auf seinen Fingern fühlte. Dabei hatte er erst vor kurzem geduscht, aber das hatte nicht viel geholfen. Obwohl er warmes Wetter durchaus mochte, machte ihm diese hohe Luftfeuchtigkeit dennoch zu schaffen. Es war eine Qual, etwas für die Schule zu lernen, da man bei dieser Hitze nicht wirklich denken konnte und jede noch so kleine Bewegung hatte einen Schweißausbruch zur Folge. Es wurde wirklich Zeit, dass endlich ein wenig Regen fiel. Seine Mutter klagte bereits, dass ihre Rosen noch eingehen würden, würde es nicht bald kühler werden.
Die Fenster in dem langen Flur, der von der Küche in die Vorhalle führte, waren allesamt geöffnet, aber kein Windhauch verdrängte die stickige Luft, die durch den schweren Duft der Blumen, der von draußen in das Innere strömte, noch verstärkt wurde. Für einen kurzen Augenblick blieb Chris an einem der Fenster stehen und sah nach draußen. Die Sonne war bereits vollkommen untergegangen und hatte einen schwarzen Himmel hinterlassen, an dem abertausende Sterne glitzerten. Der Mond schickte sein fahles Licht zur Erde und verlieh dem Rasen einen leicht silbrigen Schimmer. Eine romantische Stimmung überkam den 17-jährigen Jungen und er verspürte den plötzlichen Wunsch, mit Amy einen Spaziergang zu machen. Er sah sie beide Hand in Hand die Straße hinunterschlendern, sich verliebte Blicke zuwerfend und eine harmlose Unterhaltung führend. Sein Herz machte unverhofft einen Hüpfer und begeistert von der Idee, wie er diesen Abend verbringen würde, löste er sich von dem Fenster und wollte bereits weiter gehen, als ihn eine vertraute Stimme innehalten ließ. Sie kam deutlich aus einem Raum, der linkerhand lag und dessen Tür nur angelehnt war. Heller Lichtschein fiel in den Flur hinaus und beleuchtete einen kleinen Abschnitt des Teppichs, der ausgelegt worden war, um keinen Kratzer auf dem Parkettboden zu hinterlassen.

Der Stimme folgte ein leises Klirren, als zwei Gläser gegeneinandergestoßen wurden, begleitet von zufriedenen Seufzern. Chris wusste, wer sich in dem Raum befand, handelte es sich doch um das Arbeitszimmer seines Vaters. Dieser saß sicher auf der schwarzen Ledercouch, die unter einem teuren Gemälde stand, welches bereits seit Ewigkeiten an der Wand hing. Gegenüber in einem ebenfalls schwarzen Ledersessel hatte ohne Zweifel sein langjähriger Freund und Geschäftspartner Daniel Jamieson Platz genommen, der an diesem Abend zum Essen gekommen war, an dem nur die beiden teilgenommen hatten. Tony hatte sich wieder einmal Hausarrest eingefangen und war deshalb nicht gut auf seinen Vater zu sprechen, Chris hatte Besuch von Amy und ihre Mutter war mit einer Freundin unterwegs. Aber ihm sollte es nur Recht sein, wenn er bei diesem Essen nicht hatte dabei sein müssen. Er vermied die Nähe seines Erzeugers sooft es ging.
Deshalb schlich er jetzt auch auf Zehenspitzen an dem Raum vorbei, in dem Bemühen, kein Geräusch zu verursachen. Auf eine Zurechtweisung, dass er die Unterhaltung wegen zu lauten Gehens gestört hatte, konnte er gut und gerne verzichten. Außerdem war offensichtlich, dass das Familienoberhaupt getrunken hatte, weshalb er öfters dazu neigte, jemanden anzuschreien.
„Wie geht es deinen Söhnen?" fragte eine tiefe Stimme, die eindeutig Jamieson gehörte. Obwohl Chris' Instinkt sagte, dass er ganz schnell weitergehen sollte, hörten seine Beinmuskeln nicht auf den Befehl seines Gehirns. So als ob er von einer fremden Macht ferngesteuert wurde, bewegte er sich auf die Tür zu und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand daneben – vergessen war, dass oben das Mädchen wartete, das er über alles liebte. Dies war eine der Gelegenheiten, um herauszufinden, was sein Vater wirklich von seinem Nachwuchs hielt und da er dachte, dass niemand in der Nähe war, würde er auch die Wahrheit sagen und nicht lügen, so wie er es gerne tat, um die Familie in der Öffentlichkeit gut dastehen zu lassen.

Chris hielt seine Luft an und lugte durch den Spalt der angelehnten Tür in das Arbeitszimmer, das von einem wuchtigen Schreibtisch dominiert wurde, der ordentlich aufgeräumt und blank poliert war. Dahinter befand sich ein langes Regal, das mit Büchern gefüllt war, nach dem Alphabet geordnet. Das breite Fenster stand offen und ließ stickige Luft in den Raum. Wie erwartet, hatten es sich die beiden Männer auf der Sitzgruppe gemütlich gemacht. Zwischen ihnen befand sich ein runder, aus teurem Marmor bestehender Tisch, auf dem eine Karaffe Whiskey und zwei Gläser standen, die bis zur Hälfte gefüllt waren.
DiNozzo hatte sich seiner Anzugsjacke entledigt, die Krawatte gelockert und die Hemdsärmel aufgerollt. Unter seinen Achseln hatten sich leichte Schweißflecke gebildet – der einzige Hinweis, dass ihm heiß war. Jede einzelne Strähne seines braunen Haares lag an seinem Platz und schimmerte in dem Licht der Lampe, die genau in der Mitte der Zimmerdecke angebracht worden war. Er sah wie aus dem Ei gepellt aus, was man von seinem Gesprächspartner nicht sagen konnte. Daniel Jamieson war ein kleiner, dicker Mann, dessen Haut teigig glänzte. Seine Oberlippe zierte ein schmaler Schnurrbart, der jedoch lächerlich wirkte. Das Doppelkinn wabbelte ein wenig, wenn er schluckte und er ächzte leise, als er sich vorbeugte und seine kurzen Finger um das Whiskeyglas legte. Die Haare des Mannes waren schwarz, mit grauen Strähnen durchzogen und zeigten bereits lichte Stellen am Hinterkopf. Genauso wie DiNozzo hatte er seine Anzugsjacke ausgezogen und seine Krawatte gelockert, jedoch war sein Hemd nass vor Schweiß und zerknittert, so als ob er darin geschlafen hätte. Viele ließen sich von dem schlampigen Äußeren täuschen und übersahen die Tatsache, dass er überdurchschnittlich intelligent war. Seine grauen Augen waren hellwach und registrierten jedes noch so kleine Detail, weshalb er auch ein unglaublich guter Geschäftsmann war.
Daniel nahm einen großen Schluck des Alkohols und wartete gespannt auf eine Antwort, die er auch ein paar Sekunden später bekam. „Meinen Söhnen geht es gut", sagte der Italiener schließlich, wobei das Wort Meine gepresst über seine Lippen kam. „Anthony ist echt ein prima Junge, auch wenn er momentan aufsässig ist und ständig Ärger mit mir sucht. Keine Ahnung, weshalb er sich plötzlich so auflehnt." Jamieson kicherte leise und schlug seine kurzen Beine übereinander. „Er ist ein Teenager. Die Aufgabe von denen ist es doch, ihre Eltern in den Wahnsinn zu treiben. Das ist nur die Pubertät. Diese Phase wird auch wieder vorbeigehen." DiNozzo seufzte laut und griff nach seinem Glas. „Das hoffe ich. Aber er ist der Sohn, den ich mir gewünscht habe. Fleißig, gewissenhaft und gibt sich Mühe in der Schule. Wenn ich einmal in Rente gehe, kann ich ihm unbesorgt mein Unternehmen überschreiben. Anthony ist genau der Richtige dafür. Aus ihm wird sicher ein knallharter Geschäftsmann werden, genauso wie sein Vater." Mit einem breiten Lächeln, das weiße Zähne enthüllte, bedachte er seinen Freund und nahm schließlich einen Schluck des Whiskeys.
„Und was ist mit deinem anderen Jungen, Christopher? Ich hatte immer den Eindruck, dass er mehr Interesse an deinem Unternehmen gezeigt hat, als sein Bruder."
Chris lauschte angestrengt und versuchte seinen Herzschlag, der laut in seinen Ohren hallte, zu beruhigen. Für ihn war es nichts Neues, dass sein Vater Tony die Firma geben wollte, obwohl sich dieser mehr für Sport als für Zahlen interessierte. Es erfüllte ihn mit Wut, dass sein Erzeuger mehr auf seine Bedürfnisse schaute, als auf die seiner Kinder. Er wusste genau, dass Anthony nicht interessiert war, sein Unternehmen zu leiten, aber er ignorierte diese Tatsache einfach.

„Chris ist eine andere Sache", erwiderte DiNozzo schließlich und der ganze Stolz, den er vorher in seine Stimme gelegt hatte, verschwand wieder. Er setzte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf und drehte das Glas in seinen Händen. „Der Junge macht nur Probleme und glaubt, mit seiner aufsässigen Art erreicht er etwas bei mir. Er hört nicht darauf, was ich sage, sondern macht immer das Gegenteil und er bildet sich ein, in Football ein Ass zu sein. Dabei würde es ihm nicht schaden, seine Nase in Bücher zu stecken."
Chris ballte in hilflosem Zorn seine Hände zu Fäusten und widerstand nur knapp dem Drang, in das Zimmer zu stürmen und seinen Vater bei den Schultern zu packen und ihn anzuschreien. Seine Leistung im Football wurde von jedem anerkannt, nur nicht von seinem Erzeuger. Aber er wettete alles darauf, dass er stolz wäre, hätte Tony an dem Spiel teilgenommen und den Sieg geholt.
Obwohl er eigentlich genug gehört hatte, blieb er stehen, unfähig, seine Muskeln zu rühren. Er wusste, er sollte sich schnellstens aus dem Staub machen und zu Amy hinaufgehen, aber er konnte nicht – musste einfach hören, was sein Vater noch zu sagen hatte.
„Mein Dad hat mir immer eingebläut, dass ich mir ja nicht mehr als ein Kind zulegen soll", fuhr DiNozzo schließlich fort und leerte sein Glas in einem Zug, nur um es sich gleich darauf erneut zu füllen. Seine Wangen nahmen eine rote Farbe an und auf seiner Stirn bildete sich Schweiß. „Hat mir immer gesagt: ‚Sohn, ein Erbe reicht völlig. Zwei machen dir nur Schwierigkeiten und brauchen noch dazu doppelt so viel Geld. Also sieh zu, dass du dir eine Frau suchst, die willens ist, nur ein Kind auf die Welt zu bringen.' Das waren seine Worte." Er nahm einen weiteren Schluck und blickte zu Daniel, der ihn gespannt musterte.
„Seit Generationen gibt es in der DiNozzofamilie immer nur einen Erben. Ich war ein Einzelkind, mein Dad war eines, mein Großvater und dessen Vater. So weit ich weiß, geht es noch viel weiter zurück. Alle haben die These vertreten, dass ein Sohn vollkommen ausreicht und ein zweites Kind nur Ballast wäre." Der Alkohol lockerte die Zunge des Italieners und er schien sich endlich etwas von der Seele zu reden, was ihm wohl schon lange durch den Kopf ging.
„Schließlich lernte ich Claire kennen und hielt mein Glück für perfekt. Als sie schwanger wurde, war ich im siebten Himmel, da ich dachte, die Firma würde mich überleben. Ich hatte einen Erben, der dafür sorgen würde, dass weiterhin Geld auf das Bankkonto fließen würde. Und dann stellt sich bei einer Routineuntersuchung raus, dass Claire Zwillinge erwartet. Zwillinge!" Das letzte Wort schrie er frustriert heraus und ließ Chris zusammenzucken. Dieser hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Die Worte, die er soeben gehört hatte, ließen seinen Magen revoltieren und sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er konnte einfach nicht fassen, was er da hörte. Nur weil es scheinbar in allen Generationen nur Einzelkinder gegeben hat, musste er auf die Liebe verzichten, die ihm eigentlich zustand? Was war dass denn für eine verkehrte Welt? Er war nur 10 Minuten jünger als Tony und deswegen hatte er das bittere Los gezogen. Wieso konnte er nicht einfach der Ältere sein? Wieso war er dazu verdammt, der Sündenbock zu sein? Unglaubliche Wut stieg in ihm auf und er spürte, wie sein Gesicht vor Ärger zu brennen anfing. Aber noch immer war er unfähig, sich zu rühren.
DiNozzo trank das nächste Glas erneut in einem Zug aus und wischte sich den Mund ab. „Als ich das erfahren habe, war ich wieder am Boden der Tatsachen zurückgekehrt. Jetzt hatte ich das Problem, vor dem mich mein Vater immer gewarnt hat. Ich hatte zwei Kinder am Hals."
„Wenn du nur eines haben wolltest, wieso habt ihr den Jungen nicht einfach zur Adoption freigegeben?" fragte Jamieson und rülpste leise, nachdem er einen Schluck Whiskey getrunken hatte. „Das war auch mein erster Gedanke", antwortete DiNozzo und krallte seine Finger um das Glas. „Aber Claire wollte nicht und meinte, sie würde ihr eigenes Kind nicht zur Adoption freigeben, egal was mir immer eingetrichtert worden war und ich Narr habe nachgegeben. Tja, und deshalb habe ich jetzt einen Jungen am Hals, der mir nur Probleme beschert."
Schweigen breitete sich aus, als erneut Whiskey in die Gläser gefüllt wurde. Aber Chris achtete nicht darauf. Er lehnte sich gegen die Wand neben der Tür und hatte Mühe, nicht zu laut zu atmen, um damit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sein Körper zitterte, ihm war übel und er fühlte sich, als ob ihm jemand ein Messer ins Herz gestochen hätte. Seine Knie waren butterweich und seit Jahren war es das erste Mal, dass er sich am liebsten irgendwo verkrochen hätte.

Hier hatte er den Beweis, dass sein Vater nichts weiter als ein Geldgieriger, herzloser Bastard war, dem es nur um Profit und sein Unternehmen ging. Es wäre vielleicht das Beste gewesen, wenn sie ihn wirklich zur Adoption freigegeben hätten. Dann würde er zu einer anderen Familie gehören, die ihn so liebte wie er war und ihn nicht wie ein lästiges Anhängsel betrachtete. Aber wieso hatte sich seine Mutter gegen die Adoption gewehrt, wenn sie ihn doch jetzt auch links liegen ließ, anstatt sich um ihn zu kümmern? ‚Weil Dad zu viel Einfluss auf sie hat, deswegen', gab er sich gleich selbst die Antwort und blinzelte die Tränen weg, die ihm in die Augen gestiegen waren.
Chris fühlte sich wie erschlagen und am liebsten hätte er jetzt laut losgeschrieen, seinen ganzen Frust in die Welt hinausposaunt und verkündet, dass sein Vater ein Mistkerl war. Aber wer würde ihm schon glauben? Nach außen hin waren sie eine glückliche Familie und niemand hatte auch nur eine Ahnung, wie es hinter der Fassade aussah. Aber er musste mit jemandem reden, musste jemandem alles anvertrauen - jemand, der ihn verstehen würde. Plötzlich richtete er sich auf und Entschlossenheit breitete sich in seinem Inneren aus, als ihm eine Person einfiel, die ein Recht darauf hatte, zu erfahren, was er soeben gehört hatte. Tony würde es sicher interessieren, was er soeben mitbekommen hatte, auch wenn es nicht für seine Ohren bestimmt war. Sein Bruder hatte immer schon einen Rat für jegliches Problem parat gehabt und auch für diese Sache würde er eine Lösung haben, zumal er sich in letzter Zeit ebenfalls gegen ihren Vater auflehnte und sich auf Chris' Seite schlug.
Noch immer mit zittrigen Knien und darauf bedacht, keinen Laut zu machen, löste er sich von der Wand und schlich den Flur entlang. Das laute Lachen der beiden Männer aus dem Arbeitszimmer verfolgte ihn und als er die Treppe erreicht hatte, rannte er sie hinauf und den Gang entlang, an dessen Ende Anthonys Zimmer lag. Er musste unbedingt alles loswerden und Tony war der einzige Mensch, der ihn verstehen würde und dem er vorbehaltlos vertrauen konnte. Mit seiner Hilfe würde sicher alles gut werden und…
Als Chris die Zimmertür seines Bruders aufriss, blieb er wie angewurzelt stehen. Ungläubig weiteten sich seine Augen, als er die Szene in sich aufnahm, die sich ihm bot. Die Hoffnung, die er noch vor einer Sekunde gehegt hatte, wandelte sich in grenzenlose Wut um, als sein Gehirn realisierte, was er vor sich sah. Und zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Minuten wurde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen und er hatte das Gefühl, in einen bodenlosen, schwarzen Abgrund zu stürzen.


Fortsetzung folgt...
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