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NCIS Hauptquartier
06:45 Uhr


Mit laut klopfendem Herzen betrat Chris den Fahrstuhl, der ihn schnell von der Tiefgarage in die dritte Etage bringen würde. Mit für ihn ungewohnt leicht zitternden Händen drückte er den entsprechenden Knopf und atmete erleichtert aus, als sich die Türen schlossen und somit die Umwelt für ein paar Sekunden aussperrte. Die kurze Zeit würde er benötigen, um sich zu sammeln und seine Gedanken wieder in geordnete Bahnen zu bringen, immerhin hatte er vor, ein Gespräch mit Ziva zu führen, weshalb er auch so bald ins Hauptquartier gekommen war. Es war besser, mit ihr zu reden, bevor Gibbs im Büro auftauchen würde, zumal dieser Ohren wie ein Luchs hatte und alles mitzubekommen schien, selbst wenn er nicht in der Nähe war. Und Tony hatte ihn vorgewarnt, dass es für seine Gesundheit von Vorteil wäre, wenn der Chefermittler weiterhin nicht wusste, dass er die junge Frau geküsst hatte. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass es diese Regel 12 auch wirklich gab, hatte sein Bruder doch keinen Grund mehr in anzulügen. Und vielleicht war das auch der Grund, weshalb Ziva in dem Imbiss derart reagiert und ihm gedroht hatte, ihn umzubringen, sollte er sie noch einmal küssen – etwas, was er durchaus erneut machen wollte, aber er wusste, es wäre besser, wenn er es nicht tun würde. Es würde die Situation noch komplizierter machen. Außerdem müsste dann Tony die Sache zu Recht biegen, obwohl es nicht seine Schuld war. Bevor Chris Washington verließ, wollte er alles regeln, was er nicht richtig gemacht hatte, um am Abend so schnell wie möglich verschwinden zu können - und dann hieß es auf Nimmerwiedersehen.

Er seufzte leise und lehnte sich gegen die Wand des Fahrstuhles, wobei sich ihm der Rucksack unangenehm in den Rücken presste, aber er registrierte das nicht wirklich. Seine Gedanken machten sich wieder einmal selbstständig und wirbelten in rasender Geschwindigkeit durcheinander. In der einen Sekunde waren sie noch bei Ziva gewesen, so wanderten sie jetzt erneut in seine Vergangenheit ab, zu dem Abend im Mai, der alles verändert hatte. Das Gespräch, das er zwischen seinem Vater und seinem Geschäftspartner belauscht hatte, hatte ihn innerhalb eines Sekundenbruchteils auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. War er zu diesem Zeitpunkt noch glücklich gewesen, das er Amy hatte, so hatte sich das ziemlich schnell geändert. Zu erfahren, dass er in Wahrheit von seinem Vater als Ballast angesehen worden war, hatte Chris hart getroffen. Es war noch schlimmer, als wenn er unwissentlich etwas angestellt und damit seinen Ärger auf sich gezogen hätte, aber als lästiges Anhängsel betrachtet zu werden, war hundertmal schmerzhafter. Er war es gewohnt, von seinem Dad nicht geliebt zu werden, aber den Grund direkt aus seinem Mund zu hören, hatte sich angefühlt, als ob ihm jemand ein besonders scharfes Messer mitten ins Herz gerammt und es anschließend genüsslich herumgedreht hatte. Jeder noch so grausamer physischer Schmerz wäre besser gewesen, als der Psychische, der seinen gesamten Körper durchfahren hatte. In diesem Moment hatte er sich wirklich gewünscht, keine Eltern zu haben – alles wäre besser gewesen als das Wissen, das er seit diesem Abend mit sich herumtrug. Wahrscheinlich hätten ihn die Mitarbeiter von städtischen Waisenhäusern noch netter behandelt als sein Vater. Seine Vermutung, dass für ihn nur das Geld zählte und sonst nichts anderes, hatte sich bestätigt und ihn nur mehr darin bestärkt, sich so schnell wie möglich von seiner Familie loszusagen. Er wollte und konnte mit keinem Mann unter einem Dach leben, der ihn nur als lästige Pflicht ansah und nicht als Wesen aus Fleisch und Blut mit Gefühlen.

Und Tony war im Prinzip auch nur ein Mittel zum Zweck gewesen, nur damit das Überleben des DiNozzo Unternehmens gesichert war. Aber Chris hatte bereits damals gewusst, dass sich sein Bruder nicht im Geringsten für die Geschäfte seines Vaters interessiert hatte. Er hatte seine Zeit viel lieber im Freien verbracht, um Sport zu betreiben, anstatt sich mit Zahlen und Wirtschaft auseinanderzusetzen. Aber diese Tatsache war ihrem Erzeuger schlichtweg entgangen oder er hatte es einfach nicht wahrhaben wollen. Zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, seinen Goldjungen – wie er ihn in Gegenwart von Jamieson genannt hatte – dazu zu bewegen, seine eigenen Interessen hintan zu stellen, um zu machen, was ihr Vater wollte. Aber Tony hatte das Stadium, in dem er sich alles sagen hatte lassen, bereits verlassen und dementsprechend hatte es zwischen den beiden öfters gekracht. Und es waren diese Streits, die Chris jedes Mal mit einer gewissen Befriedigung erfüllt hatten. Zu sehen, dass sich keiner etwas von dem Älteren hatte sagen lassen, war einfach ein großartiges Gefühl gewesen – machte doch sonst jeder alles, was er befahl. Aber bei seinen Söhnen hatte er Pech gehabt, auch wenn er dies zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht wirklich registriert hatte, zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, Geld auf das Bankkonto zu bekommen.
Chris hatte sich in den letzten 15 Jahren ständig gefragt, was wohl passiert wäre, hätte er das Gespräch zwischen den beiden Männern nicht belauscht. Dann wäre er sicherlich in sein Zimmer gegangen und nicht in das von seinem Bruder. Er hätte vielleicht niemals erfahren, was dort vorgefallen war, wäre er nicht so versessen darauf gewesen, Tony zu erzählen, was sie in Wirklichkeit für ihren Vater waren. Das Wissen, dass er bei ihm einen Rat finden würde, hatte ihn in den Raum getrieben, nur um gleich darauf zu erkennen, dass er von der Person, der er am meisten vertraut hatte, schamlos hintergangen worden war. An diesem Abend hatte er alles verloren, seinen Vater, Anthony und seine Zukunftsperspektive. Sein gesamtes bisheriges Leben war über ihm zusammengestürzt und hatte ihn unter den Trümmern begraben. Er hatte das Gefühl gehabt, jemand hätte ihm sein Herz und seine Seele mit bloßen Händen herausgerissen, um danach genüsslich darauf herumzutrampeln. Wut und Hass waren in ihm aufgestiegen und hatten ihn dazu veranlasst, Tony zu schlagen, in dem Versuch, ihm genauso wehzutun, ihn spüren zu lassen, welcher Schmerz ihn ergriffen hatte. Dessen Erklärungsversuche hatte er gar nicht mehr hören wollen, hatte er doch sofort gewusst, dass es nur Lügen gewesen wären, die aus seinem Mund gekommen wären. Chris hatte sich nur mehr von seinen Gefühlen leiten lassen und nicht von seinem Verstand. Noch in derselben Nacht hatte er die wichtigsten Sachen eingepackt, Geld von seinem Vater gestohlen, in dem Bewusstsein, dass er ihn damit am Härtesten treffen würde, und hatte die Villa verlassen, mit dem Wissen, sie nie wieder zu betreten. Er hatte alles hinter sich gelassen, mit nichts weiter als dem Wunsch, sich von allen loszusagen, endlich unabhängig zu sein und so viel Raum zwischen ihm und Washington zu bringen wie nur möglich. Den ersten Zug, den er erwischt hatte, hatte ihn nach Los Angeles gebracht, der Stadt, wo er die letzten Jahre gelebt und sich unter falschem Namen eine neue Existenz aufgebaut hatte. Ihn hatte es nicht einmal interessiert, ob nach ihm gesucht worden war, hatte er doch gewusst, dass sie ihn niemals finden würden.

Damals hatte Chris Tony die ganze Schuld an seiner Misere gegeben, hatte ihm alles in die Schuhe geschoben und sich immer vorgestellt, wie es gewesen wäre, wenn dieser der Zweitgeborene gewesen wäre. Irgendwann war das so weit gegangen, dass er sich in der Rolle seines Bruders gesehen hatte und schließlich war der Plan, dessen Leben zu übernehmen, in ihm gereift. Es war nicht sonderlich schwer gewesen, ihn aufzuspüren, aber er war mehr als überrascht gewesen, als er herausgefunden hatte, dass er nicht das Familienunternehmen übernommen hatte, sondern Bundesagent geworden war. Für einen kurzen Moment hatte er sich richtig gefreut, dass ihr Vater nicht das erreicht hatte, was er haben wollte und sich selbst einen Nachfolger suchen musste, aber diese Freude war nur von kurzer Dauer gewesen, als er sich erneut ins Gedächtnis gerufen hatte, was ihm Tony angetan hatte. Chris war sich so sicher gewesen, dass er das Richtige machen würde und jetzt, am dritten Tag in der Rolle seines Bruders war er dabei, seine Zelte wieder abzubrechen. Der Hass, der ihn angetrieben hatte, war verschwunden und sein Verstand hatte die Oberhand zurückgewonnen. Anthony gehen zu lassen, würde seit langem das erste Mal sein, dass er etwas richtig machen würde, aber bevor es so weit war, musste noch ein Mörder seine gerechte Strafe erhalten und er musste die Sache wegen dem Kuss mit Ziva klären.
Chris wusste, dass sie sicher bereits im Büro war, war sie doch immer anwesend gewesen, wenn er erschienen war, was, zugegeben, heute erst das dritte Mal war. Aber sie hatte auf ihn nicht den Eindruck erweckt, zu spät zu kommen.
Während der schlaflosen Nacht hatte er sich zahlreiche Varianten überlegt, um ihr zu erklären, warum er so weit gegangen war und sie geküsst hatte - jede einzelne hatte fadenscheiniger geklungen als die vorherige. Aber die Wahrheit konnte er ihr nicht sagen, musste er doch in dieser Sache wie Tony denken und nicht wie er selbst. Wüsste Ziva, wer sie wirklich geküsst hätte, würde er ihr ohne zu zögern keine Lüge auftischen, aber er hatte sich nun einmal dafür entschieden, nicht länger in Washington zu bleiben und überließ es seinem Bruder, alle von seiner Existenz aufzuklären, wenn er dies überhaupt machen würde. Vielleicht wollte er ja selbst nur vergessen, was ihm in den letzten beiden Tagen widerfahren war und einfach weitermachen wie bisher. Der Gedanke versetzte Chris jedoch einen schmerzhaften Stich, weshalb er ihn ganz schnell wieder verdrängte. Was Anthony bald machen würde, ging ihn nichts mehr an – hatte es in den letzten 15 Jahren schon nicht mehr.

Das leise Pling des Fahrstuhls riss ihn aus seinen Gedanken und brachte ihn mit einem Schlag wieder in die Gegenwart zurück. Die ihm mittlerweile vertraute Hektik des Großraumbüros stürmte auf ihn ein, als er die kleine Kabine verließ und langsam zu seinem Platz ging. Sein Herz fing schneller zu schlagen an, als er die braunen Haare von Ziva erkannte. Mit jedem Schritt, den er machte, kam mehr von ihr in Sicht und er verwünschte den Kloß in seinem Hals, der sich bei ihrem Anblick unwillkürlich gebildet hatte. Selbst von hinten sah sie wunderschön aus und die beige Bluse, die sie heute gemeinsam mit einer dazupassenden braunen Hose trug, betonte ihre schlanke Figur. Sie hatte ihren Kopf über eine Akte gebeugt und schien nicht zu bemerken, dass sie nicht mehr alleine war. Wie er erwartet hatte, waren weder Gibbs noch McGee anwesend, weshalb es ihm leichter machen würde, mit Ziva zu reden – vorausgesetzt, er fand seine Sprache wieder. Irgendwie hatte er auf einmal das Gefühl, dass nur unverständliches Zeugs aus seinem Mund kommen würde, würde er diesen aufmachen.
Ungewohnt nervös setzte er mutig einen Fuß vor den anderen, bis er vor seinem Schreibtisch angelangt war und den Rucksack zu Boden fallen ließ, wo er mit einem plumpen Geräusch landete. Es war nicht sonderlich laut, aber es reichte, um die Agentin aufschrecken zu lassen. Gleich darauf begegnete sie einem Blick aus grünen Augen, der ihr einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. Sie war mehr als überrascht, dass Tony bereits so früh da war, war er doch bekannt dafür, zu spät zu kommen. Allerdings verhielt er sich in den letzten Tagen mehr als seltsam, da sollte es sie nicht wundern, dass er 13 Minuten vor Dienstbeginn hier war. Sie wünschte sich jedoch, er hätte erneut verschlafen, so hätte sie noch mehr Zeit gehabt, über gestern Abend nachzudenken, obwohl sie das in der Nacht und auch heute Morgen bereits gemacht hatte, aber zu keinem zufriedenen Ergebnis gelangt war. Es war mehr als verhext. Sie reagierte plötzlich auf ihren Kollegen, so wie sie es vorher noch nie getan hatte – nicht einmal bei ihrem Undercovereinsatz. Da hatte sie alles nur als Spiel betrachtet, die Liebkosungen und die Spitznamen, mit denen sie sich gegenseitig geneckt hatten, um alles noch glaubhafter zu machen, aber jetzt? Jetzt war alles auf einmal ganz anders. Der kurze Kuss gestern hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen und die Tatsache, dass sie ihn genossen und sich gewünscht hatte, dass er länger gedauert hätte, hatte sie derart wütend gemacht, dass sie Tony beim Kragen seines Hemdes gepackt und ihm gedroht hatte.

Zivas Verstand hatte ihr die ganze Zeit über zu geflüstert, dass es nicht Recht war, wenn sie sich auf mehr einließ, aber ihre Gefühle waren da anderer Ansicht. Bereits vor dem Kuss hatte sie die Nähe des jungen Mannes genossen und nachher waren hunderte von Schmetterlingen durch ihren Magen geströmt und hatten ihren Körper mit einem intensiven Kribbeln überzogen. Es war gerade das, was ihr Angst machte. Sie konnte mit solchen Empfindungen nicht umgehen, da verhörte sie lieber einen verrückten Mörder, als sich über romantische Gefühle den Kopf zu zerbrechen. Aber gestern hatte sie niemanden gehabt, den sie auseinander nehmen hatte können und so waren ihre Gedanken unweigerlich in regelmäßigen Abständen zu Tony gewandert, zu seinen grünen Augen, zu den verstrubbelten Haaren und zu seinem muskulösen Körper. Ziva hatte es mehr als erschreckt, als sie sich vorgestellt hatte, ihre Finger über diese Muskeln wandern zu lassen. Es war das erste Mal gewesen, dass sich solche Bilder in ihrem Gehirn gebildet hatten und sie einfach nicht mehr losließen. Sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, weshalb DiNozzo plötzlich so eine Anziehungskraft auf sie hatte. Am Montag war noch alles wie immer gewesen, sie hatten sich gegenseitig geärgert und nichts hatte darauf hingedeutet, dass da mehr zwischen ihnen sein könnte. Einen Tag später jedoch hatte sich dies geändert. Tony war irgendwie anders gewesen, total durch den Wind und die Tatsache, dass er sich so verhielt, als ob er nicht er selbst wäre, hatte in ihr irgendetwas ausgelöst, von dem sie nicht sagen konnte, was es war. Ziva hatte sich jedenfalls zu ihm hingezogen gefühlt und sie hatte keine Ahnung, weshalb.
Und als er sie gestern unverhofft geküsst hatte, hatte sie ein unglaublich warmes Gefühl durchströmt und sie hatte sich unwillkürlich mehr gewünscht, aber sie wusste, dass es nie so weit kommen durfte, nicht mit DiNozzo. Sie passten doch überhaupt nicht zusammen und außerdem war da noch Gibbs' Regel Nummer 12. Wenn er herausfinden würde, was gestern in dem Imbiss geschehen war, würde er ihnen beiden wahrscheinlich den Kopf abreißen. Es wäre am besten, sie würden so tun, als ob der Kuss nie passiert wäre.
Deshalb riss Ziva ihren Blick von Tony los und versuchte sich auf die Akte vor ihr zu konzentrieren. Allerdings funktionierte das nicht gut, da sie richtig spürte, wie sie die grünen Augen musterten und sie wünschte sich, sie würde nicht schon wieder diese Schmetterlinge in ihrem Bauch spüren. ‚Ruhig bleiben', machte sie sich selbst Mut und versuchte gleichmäßig zu atmen. Bevor sie sich jedoch annähernd beruhigen hatte können, fiel ein Schatten auf ihren Tisch und sie hörte die ihr vertraute Stimme, die ihren Puls prompt in die Höhe schießen ließ.

Chris hatte die junge Frau ein paar Sekunden beobachtet, nachdem sich ihre Blicke getroffen hatten. Den Ausdruck in ihren Augen hatte er nicht entziffern können und seit langem war es das erste Mal, dass er nicht wusste, woran jemand dachte. Er hatte erneut das starke Bedürfnis, sie zu küssen, so lange, bis sie beide außer Atem waren und nicht mehr wussten, wo oben und unten war. Seine Gefühle fuhren buchstäblich Karussell, etwas, was ihm seit Amy nicht mehr passiert war und was hatte es ihm damals eingebracht? Nichts außer grenzenlosem Schmerz. Und diesmal würde er es gar nicht so weit kommen lassen. Am Abend würde er bereits nach Los Angeles zurückkehren und somit würde auch Ziva aus seinem Kopf verschwinden – hoffte er jedenfalls.
Vorsichtig, so als ob er über ein Minenfeld laufen würde, näherte er sich ihrem Schreibtisch und schluckte ein paar Mal, bevor er es wagte, den Mund aufzumachen. „Wir müssen reden", sagte er schließlich und verwünschte seine leicht heisere Stimme. Für die Dauer eines Herzschlages rührte sich keiner der beiden und Chris fragte sich unwillkürlich, ob sie ihn überhaupt gehört hatte, aber dann hob sie ihren Kopf und erneut begegneten sich ihre Blicke. Die Spannung, die zwischen ihnen herrschte, war greifbar und es wunderte ihn, dass man nicht das Knistern hören konnte.
„Worüber?" fragte Ziva kurz angebunden, obwohl sie genau wusste, worum es ging. Ihre Miene war verschlossen, obwohl in ihrem Inneren ein wahrer Gefühlssturm herrschte. Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Musste er jetzt unbedingt von gestern anfangen?
Chris räusperte sich leise und steckte seine Hände in die Taschen seiner Jeans, da er nicht so recht wusste, was er mit ihnen anfangen sollte. Außerdem bewahrte es ihn davor, sie nervös zu kneten. Dass die Agentin so tat, als ob sie nicht wusste, worüber er mit ihr sprechen wollte, versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, aber er versteckte dies hinter einer Maske aus Freundlichkeit und Geduld. Es würde nichts bringen, irgendetwas zu überstürzen. Ein falsches Wort und er würde auf dem Boden liegen, mit einem Messer an seiner Kehle.

„Über gestern Abend", antwortete er schließlich und war erleichtert, dass sie ihm nicht Kopf abriss. Die einzige Reaktion, die sie zeigte, waren zusammengekniffene Augen. Erneut breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus und da sie nichts sagte, fuhr er ganz schnell fort, bevor ihn der Mut verlassen konnte. „Ich möchte dir gerne erklären, weshalb ich dich geküsst habe und…" „Meiner Meinung nach bedarf es keiner Erklärung, warum ein Mann eine Frau küsst. Ich kenne die Geschichte mit den Hummeln und Blumen." „Bienen." „Was?" „Es sind Bienen. Aber egal", fügte er hinzu, als ein ärgerliches Funkeln in ihre braunen Augen trat, in die er stundenlang blicken konnte. Mittlerweile mochte er Zivas Versprecher total gerne, vor allem ihren Gesichtsausdruck, wenn sie korrigiert wurde. Sie verzog dann jedes Mal ihre Lippen, so wie jetzt und erneut überkam ihn das Bedürfnis sie zu küssen, aber dadurch würde er nur mehr in Schwierigkeiten geraten, deshalb zwang er sich, nicht auf ihren Mund zu sehen, um damit seine Gedanken zu verraten. Es war wirklich an der Zeit, die Fronten zu klären, bevor er etwas Unüberlegtes machte.
„Hör zu, Ziva", sagte er leise und kniete sich vor ihren Schreibtisch, damit sie auf gleicher Augenhöhe waren, wodurch sie auf einer besseren Gesprächsebene waren – hoffte er zumindest. Chris war ihr jetzt so nahe, dass er ihr Parfüm riechen konnte, ein Duft, der ihn fast verrückt machte. Ob ihre Haut wohl auch danach schmeckte? Gleich darauf rief er sich innerlich zur Ordnung und setzte ein freundliches Lächeln auf, weshalb es der Agenten ganz heiß wurde. Sie widerstand dem Drang, mehr Raum zwischen ihnen zu schaffen, um nicht Gefahr zu laufen, dass der Mann vor ihr mitbekam, wie schnell ihr Herz schlug.
„Auch wenn du der Meinung bist, dass es keiner Erklärung bedarf, möchte ich es dennoch. Es wäre viel zu schade, wenn unsere Freundschaft jetzt den Bach hinuntergeht. Es gab einen Grund, weshalb ich dich gestern geküsst habe." ‚Der aber eine Lüge ist', fügte er in Gedanken hinzu und wartete auf ihre Antwort. Ziva überlegte ein paar Sekunden lang, bevor sie nickte. „In Ordnung. Dann lass mal hören." Erleichtert darüber, dass sie ihn nicht in die Wüste geschickt hatte, stieß er den Atem aus, legte seine Unterarme auf ihren Schreibtisch und senkte seine Stimme, damit die Agenten, die an ihnen vorüber gingen, nicht mitbekamen, worüber sie sprachen.
„Als ich 17 Jahre alt war, hatte ich eine Freundin. Sie hieß Amy und glaube mir, ich habe sie über alles geliebt. Wie sie mich angelächelt hat, ihre Stimme, ihre Haare, die sich leicht gelockt haben und ihre Lippen, die ich stundenlang anstarren hatte können. Ich habe mein Herz an dieses Mädchen verschenkt." Ziva lauschte gespannt den Worten, ungläubig über den plötzlichen Ernst in seiner Stimme. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass er jemals fähig war, eine Frau zu lieben, nicht mit den zahlreichen Affären, die er ständig hatte. Und dann sah sie den Schmerz in seinen grünen Augen – einen Schmerz, den sie bei ihm noch nie wahrgenommen hatte und der ihr selbst weh tat. Deshalb schluckte sie die gemeinen Worte, die ihr bereits auf der Zunge gelegen hatten hinunter, unfähig, ihn noch weiter zu verletzen.
„Und du hattest kein Glück mit Amy?" fragte Ziva stattdessen ungewöhnlich einfühlsam und verfolgte, wie ihr Gegenüber seinen Kopf schüttelte. Chris war froh, dass sie ihn anscheinend verstand und sie schien auch nicht mehr wütend auf ihn zu sein. „Nein, ich hatte kein Glück mit Amy. Ich war mit ihr fast vier Monate zusammen und dennoch habe ich gewusst, dass sie diejenige ist, mit der ich mein Leben verbringen wollte. Gott, war ich damals naiv." Er fuhr sich mit einer Hand über sein Gesicht und versuchte die Bilder zurückzudrängen, die sich dort seit Jahren festgesetzt hatten und ihn immer wieder heimsuchten.
„Was ist passiert?" wollte Ziva wissen, von sich selbst überrascht, dass sie unbedingt erfahren wollte, was damals passiert war.
„Sagen wir mal so, es ist etwas vorgefallen, worüber ich jetzt nicht sprechen und am besten nie wieder daran denken will. Jedenfalls hat es mir das Herz gebrochen. 15 Jahre sind seit dem vergangen und noch heute habe ich manchmal daran zu knabbern, aber ich kann mittlerweile besser damit umgehen." Die Agentin war ein wenig enttäuscht, da sie nicht die genaueren Umstände erfuhr, was damals geschehen war. Sie bemerkte ganz genau, dass er nicht bereit war, darüber zu reden, würden dadurch wahrscheinlich alte Wunden aufgerissen werden. Obwohl sie mehr als neugierig war, bohrte sie nicht nach, zumal es nichts bringen würde und ihre Foltermethoden, um alles aus ihm herauszubekommen, wollte sie nicht anwenden. Er sah ein wenig verloren aus, so wie er vor ihrem Tisch kniete und noch immer Schmerz in seinen Augen hatte.

„Was hat das alles mit dem gestrigen Kuss auf sich?" durchbrach Ziva schließlich das Schweigen und riss Chris damit aus seinen Gedanken über seine damalige Freundin. Er holte tief Luft und antwortete: „Du hast ihr gestern in dem Imbiss so verblüffend ähnlich gesehen. Die Farbe deiner Augen und die Strähne deines Haares, die dir auf die Wange gefallen war. Das hat mich alles urplötzlich an Amy erinnert und irgendwo in mir drinnen ist eine Sicherung durchgebrannt. Ich habe einfach nicht nachgedacht und habe dich schließlich geküsst." Die Wahrheit jedoch war, dass er gestern in diesem Augenblick gar nicht an Amy gedacht hatte. Chris hatte nur Ziva vor sich gesehen und er hatte sie küssen wollen und nicht Amy. Ihm war vollauf bewusst gewesen, wer da vor ihm saß und wer die Schmetterlinge in seinem Bauch ausgelöst hatte. Nicht das Mädchen vor 15 Jahren, sondern die junge Israelin, die er nur zwei Tage lang kannte, die sich aber bereits einen Weg in sein Herz erschlichen hatte. Sie hatte zwar eine kleine Ähnlichkeit mit Amy, aber das war der nicht Grund, weshalb er gerne in ihrer Nähe war und weshalb er sie geküsst hatte. Der Grund war, dass sie ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf ging und gerade dass war das Problem. Ziva wusste ja nicht, dass sie nicht mit Tony sprach, sondern dachte, dass dieser vor ihrem Schreibtisch kniete. Aber er brachte es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Er wusste, er würde sie damit verletzen, wenn sie herausfand wer er war und wenn sie erkannte, dass es nicht Anthony gewesen war, der sie geküsst hatte.

Ziva saß da und versuchte den Schmerz in ihrem Inneren zu ignorieren. Sie fühlte sich richtig mies und wünschte sich, sie hätte nicht wissen wollen, warum es gestern zwischen ihnen beiden so weit gekommen war. Ein Mädchen aus Tonys Teenagerzeit und ihre Ähnlichkeit mir ihr war also der Grund, weshalb er sie geküsst hatte und nicht etwa, weil er von der Israelin angetan gewesen war. Eigentlich hätte sie jetzt erleichtert sein müssen, aber genau das Gegenteil war der Fall. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich Hoffnungen gemacht hatte, dass zwischen ihnen mehr sein könnte als nur Freundschaft. Sie hatte doch die Spannung gefühlt, das Knistern, das gestern in dem Imbiss geherrscht hatte. Wie hatte sie sich nur so täuschen können?
Zivas Instinkt sagte ihr jedoch, dass noch mehr dahinter steckte. Wenn sie Tony so sehr an seine frühere Freundin erinnerte, weshalb reagierte er erst jetzt darauf? Sie arbeiteten immerhin seit fast einem Jahr zusammen und kein einziges Mal hatte er Andeutungen gemacht, dass er mehr wollte als Freundschaft. Wieso gestern? Hatte es vielleicht damit zu tun, dass er sich in den letzten beiden Tagen so anders benommen hatte? Was war nur los mit ihm? Aber damit würde sie sich später beschäftigen und das Großraumbüro war nicht der richtige Ort, um sich darüber Gedanken zu machen, schon gar nicht, wenn es kurz vor sieben war und es immer lauter zuging.

Chris' Knie schmerzten schon langsam, aber dennoch rührte er sich nicht vom Fleck. Ziva hatte seit seiner Erklärung kein Wort mehr gesagt und er wünschte sich, sie würde irgendeine Reaktion zeigen. Sogar eine saftige Ohrfeige wäre jetzt besser als dieses Schweigen. Weitere Sekunden verstrichen und schließlich legte sie unerwartet eine Hand auf seine, wodurch beide leicht zusammenzuckten. „Ich verstehe, Tony", sagte sie und ihre Stimme ließ nicht darauf schließen, dass sie es überhaupt nicht tat. „Am besten vergessen wir die ganze Sache."
Am liebsten hätte Chris geschrien, dass er das auf gar keinen Fall wollte, aber er hatte keine andere Wahl. Er wünschte sich, dass sie eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft hatten, aber alles was er ihr bis jetzt geboten hatte, waren Lügen und das war keine gute Ausgangsbasis für eine Beziehung.
„Danke, Ziva", erwiderte er schließlich und setzte wieder sein freundliches Lächeln auf, obwohl ihm gar nicht danach zu Mute war. Sie nickte, zog ihre Hand zurück und wünschte sich, er würde endlich aufstehen und mehr Platz zwischen ihnen schaffen, damit sie sich wieder ungestört auf ihre Arbeit konzentrieren konnte und nicht auf den jungen Italiener, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.
„Hast du etwas verloren, DiNozzo?" Gibbs' Stimme ließ beide herumfahren. Dieser stand vor der brusthohen Wand, die Zivas Tisch umgab, einen Becher Kaffee in der Hand und beide aus funkelnden Augen musterte. „Oder bist du neuerdings unter die Putzkolonne gegangen?" Chris stand so schnell auf, dass ihm für zwei Sekunden schwindelig wurde und er den Kopf leicht schütteln musste, bevor er wieder klar sehen konnte. „Ähm… Meine Kontaktlinse ist mir rausgefallen und…" „Du trägst doch gar keine Kontaktlinsen", erwiderte der Chefermittler ungerührt und trank einen großen Schluck des koffeinhaltigen Getränkes, das sein Lebenselixier war. Der Jüngere wand sich unter dem Blick, der ihm zu Teil wurde und verpasste sich innerlich selbst eine Kopfnuss, da ihm nichts Besseres als Kontaktlinsen eingefallen waren. Wo war nur seine Kreativität, was Ausreden betraf, geblieben?
„Mir ist die Akte runtergefallen. Tony war so nett, mir mit dem Zettelchaos zu helfen, das dadurch entstanden ist", meldete sich auf einmal Ziva. Obwohl sie gerne zusah, wie Gibbs ihren Kollegen zu Recht stutzte, so war es doch diesmal eine etwas heiklere Situation, weshalb sie sich entschieden hatte, in die Bresche zu springen und ihm zu helfen.
Chris nickte heftig, so als ob es für ihn nichts Neues war, was er da gehört hatte und als der Chefermittler nichts anderes machte, als erneut einen Schluck Kaffee zu trinken und dann wortlos zu seinem Schreibtisch zu gehen, atmete er erleichtert aus. Zufrieden mit sich, dass er die Situation mit Ziva geklärt hatte und Tony keine Probleme am Montag haben würde, ging er zu seinem Schreibtisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Eine Sekunde später formte er ein lautloses „Danke" in ihre Richtung, was sie mit einem kleinen Nicken zur Kenntnis nahm, um sich anschließend wieder ihrer Akte zu widmen.

Gibbs saß an seinem Schreibtisch und beobachtete seine beiden Kollegen ganz genau, so wie er es vor ein paar Minuten schon einmal getan hatte. Von wegen, Ziva war eine Akte hinunter gefallen, wobei diese Ausrede viel besser als die mit der Kontaktlinse gewesen war. So etwas konnte auch nur DiNozzo einfallen. Bei dieser Aussage hatte er jedoch ein Grinsen unterdrücken müssen, das sich einen Weg an die Oberfläche gebahnt hatte. Der Gesichtsausdruck, als der Jüngere realisiert hatte, was er da gerade von sich gegeben hatte, war einfach zu köstlich gewesen.
Als Jethro das Großraumbüro betreten hatte, hatte Tony bereits vor Zivas Schreibtisch gekniet und sich angeregt mit ihr unterhalten. Die beiden waren so vertieft gewesen, dass sie ihn nicht bemerkt hatten und als die junge Frau Tony ihre Hand auf seine gelegt hatte, hatte er sich gefragt, ob die beiden etwa seine Regel 12 gebrochen hatten. In der Berührung hatte eine Intimität gelegen, die unübersehbar gewesen war und er hatte die Spannung zwischen ihnen förmlich spüren können, obwohl er ein paar Meter abseits gestanden war. Irgendetwas ging da vor sich und während Gibbs seinen Kaffee langsam austrank, beschloss er, die beiden im Auge zu behalten. Und wenn sich wirklich herausstellen sollte, dass zwischen den beiden Agenten mehr war als Freundschaft, musste er sich etwas einfallen lassen. ‚Oder es einfach akzeptieren', fügte er in Gedanken hinzu und entsorgte den Becher mit einem gezielten Wurf im Mülleimer. Vielleicht war es an der Zeit, Regel Nummer 12 ein wenig zu lockern, auch wenn er aus Erfahrung wusste, dass eine Beziehung zwischen Kollegen nicht funktionieren konnte – man brauchte sich nur ihn und Jen ansehen. Aber wenn Liebe im Spiel war, würde seine Regel Tony und Ziva garantiert nicht aufhalten, zumal beide gerne die Vorschriften ignorierten. Am besten war, die ganze Situation einfach zu beobachten und vielleicht würde sich alles von selbst regeln – hoffte er zumindest.

Fortsetzung folgt...
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