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Etwas außerhalb von Washington
Zur selben Zeit


Die Sonne schien hell vom wolkenlosen Himmel und wärmte angenehm meine Haut. Ich hatte es mir auf der Terrasse in einem Liegestuhl bequem gemacht, ein Sandwich in der rechten Hand haltend und ein großes Glas Eistee auf dem kleinen, runden Tisch stehend, der sich neben mir befand. Vor mir erstreckte sich ein großer Garten, mit zahlreichen bunten Blumen und Bäumen, die jede Menge Schatten spendeten und deren Blätterwerk leise in dem sanften Wind rauschte. Vögel zwitscherten munter, was somit das einzige Geräusch war, die die sonstige Ruhe durchbrach. In dieser ländlichen Gegend war es herrlich friedlich. Es gab keine Abgase, keine Autos und vor allem keine Hektik, weshalb ich auch keine Probleme damit hatte, mich zu entspannen. Waren meine Nerven in den letzten beiden Tagen bis zum Zerreißen gespannt gewesen, so hatte sich dies nun geändert und ich saß relaxt in dem gemütlichen Liegestuhl, dessen Polsterung blau-weiß gestreift war und keinen einzigen Schmutzfleck aufwies, was mich überhaupt nicht wunderte. Das gesamte Haus, in dem Chris wohnte, war sauber und nicht einmal eine Staubschicht hatte sich auf den Möbeln abgelagert. Den gestrigen Abend hatte ich damit verbracht, mir die einzelnen Räume anzusehen und war öfters über den guten Geschmack, den mein Bruder hatte, überrascht. Die Zimmer waren allesamt mit einer teuren Einrichtung ausgestattet und er hatte an keinen Ecken und Enden gespart, weshalb ich mich mehr als einmal gefragt hatte, woher er das Geld hatte, um sich das alles leisten zu können. Zu gerne würde ich wissen, womit er sich seinen Lebensunterhalt verdient hatte, um sich hier in dieser Gegend ein kleines Paradies zu schaffen. Dagegen kam mir mein eigenes Haus wie eine Studentenbude vor.
Chris hatte in seinem Schlafzimmer mit dem großen Bett, dem hellen Parkettfußboden und den breiten Fenstern zusätzlich einen Flatscreen Fernseher, der mir das Wasser im Mund hatte zusammenlaufen lassen, als ich ihn entdeckt hatte. Das Bild war einfach der Wahnsinn und ich hatte sicher mehr als zwei Stunden auf der gemütlichen Matratze verbracht und mir die einzelnen Funktionen zu Gemüte geführt. Als dann auch noch Magnum über den Schirm geflimmert war, hatte ich nicht widerstehen können und ihn mir angesehen. Wäre ich nicht so versessen darauf, Chris zum Bleiben zu überreden, würde ich ihn glatt fragen, ob er mir den Fernseher schenken würde, aber vielleicht brauchte er ihn ja noch, wenn ich ihn so weit hatte, ich in Washington zu bleiben.
Gemeinsam mit einer Schüssel Popcorn, die ich in einem Vorratsschrank in der Küche gefunden und mit Hilfe der Mikrowelle gemacht hatte, hatte ich mir also meine Lieblingsserie reingezogen, ohne mir auch nur einmal einen Gedanken darüber zu machen, weshalb ich in diesem Haus war. Zu schön war das Gefühl gewesen, mich endlich wieder frei bewegen zu können.

Um kurz nach 23 Uhr hatte ich es mir nicht nehmen lassen, den Whirlpool im Bad auszuprobieren und dabei die vielen Sterne beobachtet, die man durch das Fenster hervorragend erkennen hatte können. Das weiche Licht der kleinen Lampen in der Decke, kombiniert mit den sandfarbenen Fliesen, mit denen der Raum ausgekleidet war, hatten eine beinahe romantische Atmosphäre verströmt – nur noch eine schöne Frau und eine Flasche Champagner hatten gefehlt, aber ich war schon damit zufrieden gewesen, nicht mehr in dem Keller eingesperrt zu sein.
Kurz bevor ich mich im Gästezimmer niedergelegt hatte, hatte ich noch einmal eine Runde durch das Haus gedreht und diesmal auch in die Garage gesehen, wo ich einen funkelnagelneuen schwarzen Chrysler gefunden hatte, dessen Schlüssel noch dazu auf einem kleinen Haken neben der Tür gehangen hatten. Erneut war die Versuchung, einfach abzuhauen, riesengroß geworden, aber ich hatte sie zurückgedrängt. Das Weite zu suchen war keine Option, zumal ich Chris geschworen hatte, brav an diesem Ort zu bleiben und ihm einen weiteren Tag zu gewähren. Das Gefühl, dass er plötzlich wieder Vertrauen in mich hatte, war einfach viel zu schön, um es zu missbrauchen, weshalb ich dem Wagen, bevor ich eine Dummheit begehen hatte können, den Rücken gekehrt hatte und war überraschend erschöpft ins Bett gefallen. Das Gästezimmer war genauso wie der Rest des Hauses freundlich eingerichtet und da es nicht Betonwände gewesen waren, die ich angestarrt hatte, sondern mit weißer Farbe verzierte Mauern – gepaart mit der herrlich kühlen Luft, die durch das offene Fenster geströmt war – hatten mich Morpheus Arme innerhalb von wenigen Minuten umschlungen und mich ins Reich der Träume gebracht, aus dem ich erst gegen neun Uhr morgens aufgewacht war, und dass, obwohl es Donnertag war. Um diese Zeit wäre ich normalerweise bereits im Büro gewesen und hätte Ziva geärgert, aber stattdessen hatte ich mir ein ausgiebiges Frühstück gegönnt – Chris hatte eine wirklich gut gefüllte Speisekammer – und hatte angefangen, mich nicht mehr länger als Gefangener zu fühlen, sondern wie jemand, der seinem Bruder einen Gefallen erwies. Die Umstände, die uns wieder zusammengeführt hatten, waren nicht gerade die Besten gewesen, aber mittlerweile war ich sogar ein wenig froh darüber. Wer wusste schon, ob ich ihn sonst jemals wiedergesehen hätte und hätte mich wohl mein Leben lang gefragt, ob er überhaupt noch lebte. Eigentlich hätte ich es ja wissen müssen, dass er wohlauf war, hatte er doch schon immer auf sich aufpassen können und dass würde auch in Zukunft der Fall sein, da war ich mir sicher. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, dass ich wieder ein Teil seines Lebens war und dass er mich nicht wieder zurückstoßen würde, so wie er es vor 15 Jahren gemacht hatte. Aber bis jetzt wusste ich nicht, wie ich ihn dazu bewegen konnte, hier zu bleiben, obwohl ich mir bereits seit etwa einer Stunde den Kopf darüber zerbrach.

Nachdenklich verschlang ich das Sandwich, welches ich mir vor kurzem zubereitet hatte und nahm mir schließlich ein paar Weintrauben, die Chris gestern mitgebracht hatte. Am Vormittag hatte ich mich überwinden können, erneut in den Keller hinunterzugehen, aber diesmal hatte ich den Raum mit anderen Augen gesehen, nicht mehr wie ein Gefängnis. Zwar waren die Betonmauern weiterhin bedrückend gewesen, aber sie hatten mich nicht mehr eingeengt. Nachdem ich die wichtigsten Sachen – die Nahrungsmittel, Kleidung und das Duschgel – nach oben gebracht hatte, hatte ich die Tür mit einem Fußtritt ins Schloss geworfen, in der Hoffnung, dieses Zimmer nie wieder betreten zu müssen, freiwillig oder unfreiwillig.
Zwei weitere Weintrauben wanderten in meinen Mund und während ich kaute, ließ ich meinen Blick über die Umgebung schweifen, über den großen Garten und die ausgedehnten Felder. Die Luft war warm und von den Düften des Frühlings erfüllt, genauso wie von Pollen, die wegen des Windes herumflogen, um sich später irgendwo niederzulassen. In Washington gab es nicht viele Plätze, an denen es so friedlich war, aber hier war es beinahe wie im Paradies. Vielleicht würde ich in Zukunft öfters hier herausfahren, um ein wenig Stress abzubauen. Faul herumliegen, sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen und nebenbei jede Menge Weintrauben zu futtern war ein guter Weg dafür, die Arbeit für ein paar Stunden zu vergessen. Morgen würde ich bereits wieder hinter meinem Schreibtisch sitzen, um mich wieder mit Ziva zu streiten, um McGee Bambino zu nennen und die teilweise schlechte Laune von Gibbs über mich ergehen zu lassen. Ich konnte mir bereits jetzt schon vorstellen, dass er nicht sehr erfreut sein würde, wenn er erfuhr, dass ich einen Zwillingsbruder hatte und der sich noch dazu in den letzten Tagen als ich ausgegeben hatte. Seit ich erfahren hatte, dass mich Chris heute gehen lassen würde, hatte ich beschlossen, meinen Kollegen von ihm zu erzählen und ihn nicht weiter zu verheimlichen. Weshalb ich das in den letzten Jahren gemacht hatte, konnte ich nicht sagen, aber mittlerweile bereute ich es, war er doch ein wichtiger Teil meines Lebens. Wie hatte ich jahrelang verschweigen können, dass es ihn gab? Aber diesen Fehler würde ich kein zweites Mal machen, zumal ich ein wenig auf Zivas Gesicht gespannt war, wenn sie erfuhr, dass nicht ich es gewesen war, der sie geküsst hatte. Weshalb Chris das getan hatte, hatte ich keine Ahnung, aber irgendwie fand ich es amüsant – noch dazu, weil er weiterhin am Leben war. Hatte es ihr vielleicht gefallen? Das würde sicher eine der ersten Fragen sein, die ich ihr stellen würde, wenn ich ihnen die Wahrheit anvertraut hatte. Und dann konnte ich nur hoffen, dass sie mir nicht den Hals umdrehte.
Weintraube für Weintraube verschwand in meinem Mund. Zufrieden seufzte ich und verfolgte die Flugbahn eines Vogels, bevor er aus meinem Blickfeld entflog, um sich irgendwo niederzulassen. Jetzt fehlte nur noch ein großer Pool mit erfrischendem Wasser und jemand, der mir einen Cocktail mixte, den ich durch einen bunten Strohhalm schlürfen konnte. Und zwei geschickte Frauenhände wären auch nicht schlecht, die mich massieren würden, so lange, bis ich wie Wachs wäre. Es wurde höchste Zeit, dass ich wieder einmal richtigen Urlaub machte, auf einer Insel mit türkisfarbenem Meer, weißem Strand, jede Menge Palmen und natürlich Bauchtänzerinnen, die einem den Abend versüßten.

Auf meinen Lippen breitete sich ein Grinsen aus und ich schloss die Augen, um das Bild festzuhalten. Gleich darauf schoss mir eine Idee durch den Kopf. Vielleicht würde Chris ja bleiben, wenn ich mit ihm einfach irgendwo hinfliegen würde, nur wir beide, um die vergangenen 15 Jahre aufzuholen. Dann hätten wir endlich Gelegenheit uns auszusprechen und die Vergangenheit zu bereinigen. Noch heute fragte ich mich hin und wieder, ob ich nicht anders hätte reagieren können, ob ich das Ganze nicht einfach hätte beenden können, obwohl ich doch die Anzeichen erkannt hatte. Irgendwie war ich an allem mit schuld, auch wenn sich Chris' Zorn gegen die falsche Person gerichtet hatte. Aber ich konnte ihn verstehen, dass er sich meinen Erklärungsversuch nicht anhören hatte wollen, nicht nachdem was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Wäre er nur zwei Sekunden später in mein Zimmer gestürmt, wäre alles anders gewesen, dann hätte er nie mitbekommen, wie…
„Denk nicht daran, denk nicht daran", murmelte ich vor mich hin, um zu verhindern, dass die Bilder von dem einen Maiabend in meinem Kopf aufstiegen, aber ich schaffte es nicht. Ich brachte es einfach nicht über mich, den unfassbaren Gesichtsausdruck meines Bruders – gepaart mit einer grenzenlosen Wut – zu verdrängen. „Du bist nicht besser als alle anderen! Wie konnte ich mich nur so in dir täuschen?!" Die Worte von damals hallten in meinen Ohren wider, genauso wenig hatte ich den Hass in seiner Stimme vergessen – einen Hass, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass er dazu fähig war. Ein großer Kloß bildete sich in meinem Hals, als alles wieder an die Oberfläche kam und ich erneut begann, alles noch einmal zu erleben. Die schwüle Luft, die Gerüche und das laute Zirpen der Grillen… alles hatte ich in Erinnerung und diese kam mit einer enormen Geschwindigkeit ans Tageslicht. Ich gab auf, dagegen anzukämpfen und überließ mich meiner Vergangenheit, tauchte in den Abend ein, der alles verändert und Chris und mich auseinandergerissen hatte, mit der Folge, dass ich ihn 15 Jahre lang nicht mehr gesehen hatte…

Die Luft in meinem Zimmer bewegte sich keinen Millimeter und schien mich förmlich zu erdrücken. Das große Fenster, welches auf den Garten hinausging, war weit geöffnet, in der Hoffnung, einen kleinen Luftzug einzufangen – aber das war ein Wunschdenken. Die Vorhänge hingen herunter und machten einen traurigen Eindruck, wo sie doch sonst immer im Wind flatterten, aber dieser hatte sich schon seit Tagen verabschiedet. Mittlerweile hatte ich das Gefühl, dass ich in den Tropen lebte und nicht in einem Vorort von Washington. Ich konnte mich nicht erinnern, dass es in einem Mai jemals so schwül gewesen war, würde das doch eher zum Juli oder August passen, aber nicht in den Frühling.
Der Duft von Moms Rosen hatte seinen Weg sogar in mein Zimmer gefunden und ich kam mir wie in einer Parfümerie vor. Mein Kopf brummte leicht und mir war ein wenig schwummrig zu Mute, aber ich schloss trotzdem nicht das Fenster, hatte ich doch die Befürchtung, so einen kleinen Windhauch zu verpassen, der mir ein wenig Linderung verschaffen konnte.
Es war kurz vor 21 Uhr, die Sonne war längst untergegangen und hatte zahlreiche Sterne und einen hellen Mond hinterlassen, dessen kühles Licht mich zu verhöhnen schien. Dort oben wäre es jetzt sicher um einiges kühler und angenehmer auszuhalten, sah man von der Tatsache ab, dass es keinen Sauerstoff im Weltall gab.

Gelangweilt saß ich an meinem Schreibtisch, der sich unter dem Fenster befand und der mit allen möglichen Sachen vollgekramt war, sodass ich aufpassen musste, um mit meinem Ellenbogen nicht irgendetwas zu Boden zu stoßen. Allerdings würde dies keinen Unterschied machen, da dieser ebenfalls mit diversen Gegenständen übersät war, weshalb man einen kleinen Hindernislauf hinter sich bringen musste, um bei dem Tisch anzugelangen. Zerknitterte Kleidung und Taschenbücher waren nur ein kleiner Teil davon, der wahllos herumlag und der sicher auch nicht in nächster Zeit weggeräumt werden würde. Das Bett war nicht gemacht, die Decke lag zerknüllt am Fußende und hing zur Hälfte auf den Boden hinunter, wo sie diese Nacht bestimmt komplett landen würde, da ich nicht vorhatte, sie zu benützen, nicht, wenn ich mir alleine schon beim Sitzen der Schweiß ausbrach.
Das einzige Licht kam von der Schreibtischlampe, tauchte mein Zimmer in eine dämmrige Atmosphäre, strahlte aber dafür das Buch vor meiner Nase hell an. Physik war eines der Fächer, das mich überhaupt nicht interessierte und würde ich nicht am Montag einen Test schreiben, hätte ich den dicken Wälzer bereits in einen Schrank verbannt, um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Eigentlich wollte ich heute Abend zu einer Party gehen, aber nach einem heftigen Streit mit meinem Vater hatte er mir wieder einmal Hausarrest aufgebrummt – wie sooft in letzter Zeit. Auch wenn es nur um eine harmlose Sache ging und die ihm nicht in den Kram passte, schickte er mich gleich auf mein Zimmer, mit dem Befehl, mich bis zum nächsten Tag nicht mehr blicken zu lassen und verhängte meistens eine einwöchige Ausgangssperre dazu – aber in die Schule musste ich trotzdem. Aber ich bekam keine Chance, mich mit meinen Freunden zu treffen, da mein Vater wusste, wann ich an welchem Tag aus hatte und somit erwartete er mich zu Hause, oder er ließ durch Lucille überprüfen, ob ich rechtzeitig erschienen war. Wenigstens tröstete sie mich immer mit einem Stück Kuchen und tätschelte mir liebevoll den Kopf, obwohl ich mittlerweile 17 Jahre alt war, aber sie war weiterhin die gute Seele des Hauses und kümmerte sich um alles. Dazu gehörten weiterhin Chris und ich, obwohl wir beide schon lange kein Kindermädchen mehr brauchten.

Diesmal war es bei dem Streit um die Collegeauswahl gegangen. Ich wollte unbedingt auf die Ohio State, mein Vater hingegen wollte mich nach Harvard schicken, wo ich ein langweiliges Wirtschaftsstudium beginnen sollte, um anschließend in seinem Unternehmen anfangen zu können. Ich wusste genau, dass ich irgendwann einmal die Leitung übernehmen sollte, aber mich interessierte das überhaupt nicht. Wirtschaft, langwierige Verhandlungen, Verträge und Zahlen gehörten nicht zu den Themen, die ich spannend fand. Viel lieber würde ich etwas mit Sport machen und es war gerade das, was meinem Dad gegen den Strich ging. Er meinte, ich sollte meinen Kopf einsetzen und nicht meine Muskeln. Aber ich hatte meinen Standpunkt vertreten und war von meinem Wunsch nicht abgewichen. Die Aussicht, dass ich nicht seine Firma übernehmen würde, hatte ihm die Zornesröte ins Gesicht getrieben und für einen kurzen Augenblick hatte ich die Befürchtung gehabt, er würde mich schlagen, aber stattdessen hatte er nur die Tür zu seinem Arbeitszimmer aufgerissen und mich buchstäblich hinausgeworfen, mit den Worten, dass ich zwei Wochen Hausarrest hatte, plus noch einmal zwei, wenn ich weiterhin so stur sei und mich seinem Wunsch, Wirtschaft zu studieren, nicht beugen würde. Von der Strafe war es der erste Tag, den ich zu Hause verbrachte und ich begann mich bereits zu langweilen. Die Aussicht, einen Monat die Villa nicht verlassen zu dürfen, war nicht gerade verlockend, aber ich war nicht bereit, nachzugeben. Was ich aus meiner Zukunft machte, war meine Entscheidung und nicht die meines Vaters, auch wenn es ihm gegen den Strich ging. Die Zeit, wo er mich herumscheuchen hatte können, war vorbei – ein weiterer Punkt, der ihm nicht gefiel und der ihn zornig machte. In seiner Nähe zu sein, war nicht gerade spaßig, vor allem, wenn er getrunken hatte, was in den letzten Wochen häufig vorgekommen war. Wenn er irgendwelche Probleme hatte, dann ertränkte er sie in Alkohol, anstatt sie mit jemandem zu bereden. Mich wunderte es nicht, dass meine Mutter die Zeit lieber auswärts verbrachte, als mit einem Ehemann, der zu tief ins Glas geschaut hatte.

Und heute würde er das sicher wieder getan haben, war doch ein Geschäftspartner zu Besuch und so weit ich es mitbekommen hatte, hatten sie sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen, um Glas um Glas Whiskey zu trinken. Es war also besser, ihm heute nicht mehr über den Weg zu laufen.
Gähnend blätterte ich eine weitere Seite um und kniff die Augen zusammen, als die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen und komisch herumtanzten. Aber dieses Kapitel musste ich noch unbedingt schaffen, auch wenn es mich überhaupt nicht interessierte. Wer hatte nur dieses langweilige Zeugs erfunden? Ich runzelte die Stirn und fuhr mir durch meine Haare, die von der Dusche, die ich mir vor einer viertel Stunde gegönnt hatte, noch immer feucht waren. In der Hoffnung, ein wenig Abkühlung zu finden, waren Boxershorts alles, was ich anhatte. Aber mein Körper war erneut von ein wenig Schweiß überzogen, weshalb ich mich ein wenig klebrig fühlte. Vielleicht sollte ich diese Nacht in der Dusche verbringen und jedes Mal, wenn mir danach war, das Wasser aufdrehen.

Erneut riss ich meinen Mund zu einem lauten Gähnen auf und ließ meinen Blick nach draußen schweifen. Das Zirpen der Grillen war das einzige Geräusch, das zu hören war und mir langsam aber sicher auf den Geist ging. Vielleicht sollte ich mich ein wenig mit Musik ablenken, schön laut, damit es die Geräusche der Insekten überdeckte. Zufrieden damit, dass ich für ein paar Sekunden dem Physikbuch entkommen würde, schlug ich es zu, markierte aber vorher die Seite damit, indem ich einfach ein Eck umbog. Ich wollte bereits aufstehen, um zur Anlage zu gehen, als die Klinke der Tür nach unten gedrückt wurde, diese langsam geöffnet wurde und Licht vom Flur hereinfiel, wodurch das Chaos, das in meinem Zimmer herrschte, noch weiter betont wurde. Als ich erkannte, wer der Besucher war, wünschte ich mir sofort, es gäbe eine Horde Heinzelmännchen, die alles blitzblank aufräumen würden. Aber auch nach ein paar Sekunden waren die Sachen weiterhin über den ganzen Raum verstreut und unwillkürlich schoss mir die Röte in meine Wangen, wobei ich aber der Hitze die Schuld gab und nicht der Tatsache, dass es mir ein wenig peinlich war, dass ich so ein Chaot war.
Amy schenkte mir ein breites Lächeln, als sie in mein Zimmer trat und betont leise die Tür wieder schloss. Passend zu dem Wetter war sie leicht bekleidet, was ich sofort registrierte. Der kurze schwarze Rock endete in der Mitte ihrer Oberschenkel und enthüllte mehr Haut als er verbarg. Das hellblaue, ärmellose Top lag eng an ihrem Körper und betonte vorteilhaft ihren Körper. Dazu passend hatte sie Sandalen mit hohen Absätzen an, weshalb sie gut 10 Zentimeter größer war. Ihre Lockenpracht hatte sie zu einem dicken Zopf gebunden, der ihr bis auf den Rücken reichte. Das dezente Make-up unterstrich ihre natürliche Schönheit noch mehr, anstatt sie zu verdecken. Mein Herz begann unwillkürlich schneller zu schlagen und ich konnte Chris mehr denn je verstehen, dass er diesem Mädchen verfallen war. Aber da sie mit ihm zusammen war, war sie für mich tabu und es würde auch weiter so bleiben, egal wie sehr sie mir gefiel.

Unwillkürlich fragte ich mich, was Amy hier wollte, war sie doch eigentlich mit meinem Bruder verabredet. Ich wusste, sie wollten zusammen in seinem Zimmer essen, um anschließend gemeinsam die Nacht zu verbringen – mit was auch immer. Was die beiden hinter der verschlossenen Tür machten, ging mich nichts an, außer Chris würde mir davon erzählen. Aber wo steckte er nur? Weshalb ließ er seine Freundin alleine? Und warum kam sie zu mir?
Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, schien jedes noch so kleine Detail aufzunehmen und nahm die Unordnung mit einer erhobenen Augenbraue zur Kenntnis. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was in ihr vorging, war doch Chris das genaue Gegenteil von mir, was die Ordnung betraf. Amy schürzte ihre Lippen, schüttelte leicht den Kopf und anschließend blieb ihr Blick auf mir hängen, um an meinem Körper entlangzufahren. Mit voller Wucht wurde mir deutlich, dass ich nur Boxershorts trug und das Lächeln, mit dem sie mich bedachte, ließ mich erschauern. Die Hitze schien weiter zuzunehmen, genauso wie die stickige Luft. Das Atmen fiel mir auf einmal unendlich schwer und ich fragte mich, ob ich wohl in nächster Zeit wegen Sauerstoffmangels in Ohnmacht fallen würde. Unfähig, mich zu rühren, beobachtete ich, wie sie auf mich zukam – mit einem aufreizenden Hüftschwung – und sich gegen die Kante meines Tisches lehnte. Der Duft ihres Parfüms stieg mir in die Nase und unwillkürlich sog ich ihn ein, bis er meine gesamten Sinne überflutete. Aber gleich darauf kam mir wieder in den Sinn, wer sie war und wessen Freundin sie war. Deshalb räusperte ich mich, um meinen Hals freizubekommen und sah von meiner sitzenden Position zu ihr auf.
„Was machst du hier?" wollte ich mit belegter Stimme wissen und schalt mich selbst einen Idioten, da die Frage ein wenig unfreundlich klang. Aber Amy schien das nicht zu stören, da sie mich weiterhin anlächelte, einen Bleistift in die Finger nahm und anfing, ihn hin und her zu drehen. „Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?" Ihre Stimme war wie das Plätschern eines Baches über Steine und ich wünschte mir, ich hätte einen Kübel eiskalten Wassers, den ich mir über den Kopf leeren konnte.
Auf ihre Frage wusste ich keine Antwort, weshalb ich einfach mit den Schultern zuckte und versuchte, nicht auf ihren Ausschnitt zu starren.

„Wo ist Chris?" waren die ersten Worte, die mir einfielen und die mir am Logischsten erschienen. „Unten. In der Küche. Er räumt das Geschirr weg", antwortete sie knapp und drehte den Bleistift schneller in ihren Fingern, sodass mir alleine beim Zusehen schwindelig wurde. Erneut musste ich mich räuspern. „Und da dachtest du dir, damit du nicht alleine bist, stattest du mir einen Besuch ab", stellte ich fest und widerstand dem Drang, nervös auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen. „Genau", erwiderte sie, legte den Stift endlich wieder auf den Tisch zurück, nur um gleich damit mit dem Zeigefinger über meinen Unterarm zu fahren. Es war eine federleichte Berührung, aber sie reichte aus, um mir erneut einen Schauer über den Rücken zu jagen. Amy schien genau zu wissen, was sie damit anrichtete, denn ihr Lächeln wurde breiter und enthüllte weiße Zähne.
„Weiß Chris, dass du hier bist?" fragte ich und zog meinen Arm zurück, da es nicht Recht war, was sie machte. Was sollte das überhaupt? Wollte sie mich etwa verführen oder was bezweckte sie sonst mit ihrer Aktion? „Nein", kam die simple Antwort und sie strich sich eine Strähne ihres Haares, die sich aus dem Zopf gelöst hatte, hinters Ohr und zuckte mit den Schultern, als ich meine Augen zusammenkniff. Verdammt, was ging hier vor sich? Wieso war sie wirklich hier? Langsam kam mir in den Sinn, dass Amy vielleicht doch nicht so harmlos war, wie sie einem Weis machte. Oder war das alles nur ein Spiel?

„Was machst du hier?" wiederholte ich die Frage von vorhin, da ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Sie verzog ihre Lippen und blickte mich beinahe tadelnd an, als sie den scharfen Tonfall in meiner Stimme mitbekam. „Ein wenig Spaß haben", erwiderte sie schließlich und streckte ihre Hand aus, um mich erneut zu berühren, diesmal am Oberarm. „Du bist so stark", fuhr sie leise fort und strich zart mit ihren Fingerspitzen über meine bloße Haut. „So viele Muskeln." In ihren Augen trat ein begehrliches Funkeln, aber dieses Mal schoss mir kein Schauer durch meinen Körper – genau das Gegenteil war der Fall, als mir klar wurde, was sie wirklich hier wollte. Ich fühlte mich, als hätte mich jemand in eine Badewanne voller Eiswasser getaucht und mir stellten sich sämtliche Härchen auf. Hatten sich Chris und ich so sehr von ihr täuschen lassen? Nach außen hin war sie das nette Mädchen von nebenan, der keiner Fliege etwas zu leide tun konnte, aber wenn man tiefer unter die Oberfläche sah, kam der wahre Charakter zum Vorschein und bei Amy schien dieser ziemlich verdorben zu sein. Auch wenn ich mir geschworen hatte, mich in diese Beziehung nicht einzumischen, so musste mein Bruder erfahren, wen er da an Land gezogen hatte, jemand, der nicht treu sein konnte.
Entschlossen packte ich ihr Handgelenk und stoppte sie somit in ihren Bewegungen, die bereits an meiner Brust angelangt waren. „Hör auf!" sagte ich ziemlich laut und nicht gerade nett, aber Nettigkeiten hatte ich auf einmal für sie nicht mehr übrig. Zu wissen, dass ich mich, und vor allem Chris, so von ihr in die Irre führen hatte lassen, ließ einen unglaublichen Zorn in mir aufsteigen. „Jetzt tu doch nicht so", meinte Amy keck und entriss mit einem Ruck ihr Gelenk aus meinem festen Griff. „Du willst es doch genauso wie ich." „Ich fasse es nicht", sagte ich, stand auf und brachte so viel Abstand zwischen uns beide, sodass sie mich nicht mehr berühren konnte. „Was für ein Spiel spielst du hier eigentlich?!" fuhr ich sie an, aber sie schien das nicht zu stören. „Glaubst du wirklich, ich werde da mitmachen und zusehen, wie du Chris das Herz brichst?! Verdammt, er liebt dich und du nutzt das anscheinend nur aus! Aber ich schwöre dir, er wird es erfahren!"
„Wieso bist du nur so wütend?" wollte sie wissen und war weiterhin die Ruhe in Person. „Chris wird es schon überleben. Jetzt zier dich doch nicht so. Du wirst sehen, wir werden jede Menge Spaß haben." „Den einzigen Spaß, den ich haben werde, ist das Vergnügen, dich aus meinem Zimmer zu werfen!" entgegnete ich mehr als ärgerlich, drehte mich um und ging zu meinem Schrank, um mir endlich etwas zum Anziehen herauszusuchen, auch wenn mir weiterhin ziemlich heiß war und das Wetter nicht kühler wurde. Aber ich würde sicher nicht weiterhin halbnackt vor Amy herumstehen, schien das doch ihre Fantasie nur noch mehr anzuregen.
„Du weißt, wo die Tür ist", sagte ich, als ich den Schrank aufmachte und mir das erst beste Hemd, das ich erreichen konnte, schnappte. Aber gleich darauf ließ ich es fallen, als ich warme Finger an meinem Rücken spürte. Amy bewegte sich trotz ihrer hohen Sandalen leise auf dem Teppichboden und ich war so damit beschäftigt gewesen, mir zu überlegen, wie ich Chris beibringen sollte, dass seine Freundin eine falsche Schlange war, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wie sie hinter mich getreten war. Mit einer ruckartigen Bewegung drehte ich mich um, um ihr endgültig die Meinung zu sagen, als sie mich mit überraschender Kraft gegen die Regalbretter des offenen Schranks drängte, die sich unangenehm in meine Wirbelsäule drückten. Ihr warmer Atem strich mir über mein Gesicht und die eine Sekunde, die ich brauchte, um zu realisieren, dass sie es geschafft hatte, mich praktisch zu überrumpeln, nutze sie aus, um sich auf die Zehenspitzen zu stellen, um ihren Mund auf meinen zu pressen. Bei der zarten Berührung erstarrte ich zur Salzsäule und für einen Moment konnte ich nur ihre weichen Lippen spüren, die fordernd auf meinen lagen. Ein wahrer Stromstoß schoss mir durch den Körper und meine Nackenhärchen stellten sich kerzengerade auf. Als ich jedoch ihre Zungenspitze fühlte, die sich einen Weg in meinen Mund suchte, kam ich abrupt wieder zur Besinnung und auf einmal wurde mir klar, was Amy da machte, was ich hier machte. Ohne weiter darüber nachzudenken, packte ich sie bei den Schultern und stieß sie von mir, sodass sie zwei Schritte zurücktaumelte.

Erleichtert darüber, die Situation wieder unter Kontrolle zu haben, atmete ich tief durch, nur um gleich darauf erkennen zu müssen, dass wir nicht alleine waren. Ein tiefer Kehllaut, den ich noch nie gehört hatte, richtete meine Aufmerksamkeit auf die Tür, die offenstand und in der Chris zu erkennen war, der mich mit geweiteten Augen ungläubig anblickte. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt und er hatte seine Hände zu Fäusten geballt, so hart, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Als ich realisierte, dass er mitbekommen hatte, wie Amy und ich uns geküsst hatten, hatte ich das Gefühl, der Boden wurde mir unter den Füßen weggezogen. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie es für ihn ausgesehen haben musste. Noch dazu war ich fast nackt und zu meinen Füßen lag das Hemd, welches ich fallen gelassen hatte.
„Chris", sagte ich, in dem Versuch, eine Erklärung abzugeben, aber dieses eine Wort schien ihn aus seiner Starre zu reißen und er schüttelte nur den Kopf. „Du Mistkerl!" schrie er mich an und ehe ich reagieren konnte, stürmte er auf mich zu und schlug mir seine rechte Faust so hart auf den Unterkiefer, dass ich für kurze Zeit bunte Sternchen vor meinen Augen aufblitzen sah. Der heftige Schmerz schien sich in meinem gesamten Körper auszubreiten und raubte mir für eine Sekunde den Atem. Dank der Regalbretter in meinem Rücken fiel ich nicht zu Boden und blieb somit aufrecht stehen. „Du bist nicht besser als alle anderen! Wie konnte ich mich nur so in dir täuschen?!" schrie er mich weiter an und ich konnte den Hass in seiner Stimme hören, der mir mehr wehtat als der Schlag, den er mir verpasst hatte.
Ich blinzelte ein paar Mal, bis ich wieder klar sehen konnte und widerstand dem Drang, mir über den Unterkiefer zu reiben. Stattdessen startete ich erneut einen Versuch, ihm alles zu erklären. „Hör mir zu. Es ist nicht so, wie…" „Spar dir deine fadenscheinigen Ausreden! Ich will nichts davon wissen! Es wäre doch nur eine weitere Lügen! Ihr seid doch alle gleich! Alle miteinander!" Tränen stiegen ihm in die Augen und ich wünschte beinahe, er würde mich erneut schlagen, würde seine Wut an mir auslassen, aber stattdessen drehte er sich einfach nur um und stürmte aus meinem Zimmer. Zurück blieben eine drückende Stille, Amy, die mich aus großen Augen anstarrte und die die Lawine ausgelöst hatte und meine Wenigkeit, dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, dass ich Chris an diesem Abend verloren hatte.
„Warte!" rief ich ihm hinterher, löste mich aus meiner Position, eilte ihm nach und ließ das Mädchen, das uns schließlich auseinandergetrieben hatte, alleine in meinem Zimmer zurück. „Lass es mich erklären!" Aber mein Bruder blieb nicht stehen, rannte den Gang entlang und reagierte nicht auf meine Versuche, ihm alles begreiflich zu machen. Bevor ich es verhindern konnte, erreichte er die Tür zu seinem Zimmer, riss sie auf und warf sie wieder ins Schloss, um sie kurz darauf zuzusperren. Ich hämmerte mit der Faust dagegen, wollte ihn dazu bringen, dass er mich einließ, aber vergebens. Es war das letzte Mal, dass ich Chris gesehen hatte, nicht wissend, dass es 15 Jahre dauern würde, bevor wir erneut aufeinandertreffen würden…


Mit einem Ruck riss ich meine Augen auf und musste ein paar Mal blinzeln, um mich an das helle Sonnenlicht zu gewöhnen. So als ob ich den harten Schlag noch immer spüren konnte, rieb ich mir über meinen Unterkiefer und versuchte die schmerzhaften Erinnerungen zurückzudrängen.
Damals hatte ich wirklich gedacht, es würde sich alles wieder einrenken und als mich Chris durch die Tür angeschrien hatte, ich solle ihn alleine lassen, hatte ich geglaubt, er bräuchte nur Zeit, um sich abzureagieren – und ich Narr hatte ihm diese geben wollen. Deshalb war ich nach ein paar Sekunden, die ich noch gezögert hatte, wieder in mein Zimmer gegangen, nur um festzustellen, dass Amy, die die Ursache für alles gewesen war, bereits verschwunden war. Vielleicht war es auch besser so gewesen, wer wusste schon, ob ich nicht zum ersten Mal gegenüber einem Mädchen handgreiflich geworden wäre. Obwohl mir klar gewesen war, dass sie den Stein ins Rollen gebracht hatte, hatte ich mir doch immer wieder die Schuld an der ganzen Misere gegeben. Ständig hatte ich mir die Frage gestellt, ob ich nicht anders reagieren hätte können, ob ich nicht die Zeichen vorher sehen hätte können. Wieso hatte ich ihr auch den Rücken zugekehrt? Wieso hatte ich zugelassen, dass sie mich küsste? Ein paar Sekunden nur, aber diese haben ausgereicht, um alles kaputt zu machen. Ich hätte nie gedacht, dass Chris und mich jemals ein Mädchen entzweien hätte können, aber es war schließlich eingetreten. Amy Parker hatte es geschafft und war schuld daran, dass ich 15 Jahre im Ungewissen verbracht hatte, was mit meinem Bruder war, wo er steckte und ob er überhaupt noch lebte.
Als ich am nächsten Morgen bemerkt hatte, dass er nicht mehr in seinem Zimmer war und ein paar seiner Sachen fehlten, wollte ich das Offensichtliche nicht akzeptieren. Ich hatte die gesamte Villa nach ihm abgesucht, hatte aber feststellen müssen, dass er verschwunden war. Erneut verspürte ich die Schuldgefühle von damals, als ich mich für alles verantwortlich gemacht hatte und die Hilflosigkeit, als ich erkannt hatte, dass er abgehauen war.
Und jetzt, 15 Jahre später, war er erneut aufgetaucht, noch immer von seinem Hass getrieben und unfähig, sich die Wahrheit anhören zu wollen. Aber irgendetwas hatte es dennoch geschafft, zu ihm durchzudringen und ihn so weit zu bringen, dass er eingesehen hatte, dass es nicht richtig war, dass er mich einfach einsperrte. Was es auch immer war, ich war dankbar dafür, war es doch ein Zeichen dafür, dass es den alten Chris noch immer gab und dass er langsam anfing, mir zu verzeihen. Der gestrige Abend hatte mehr als deutlich gezeigt, dass von dem Hass mir gegenüber nicht viel übrig geblieben war, aber dennoch war er nicht willens, sich alles erklären zu lassen. Ich wollte die Chance aber bekommen, war es doch dadurch möglich, dass er vielleicht in Washington blieb und wir wieder zueinander finden könnten. Ich würde nicht zulassen, dass er erneut abhauen würde, um ihn eventuell nie wieder zu sehen. So leicht würde ich ihn nicht gehen lassen. Ich würde den Fehler, ihn in Ruhe zu lassen, nicht erneut machen. Diesmal würde ich unerbittlich bleiben und so lange auf ihn einhämmern, bis er endlich dazu bereit war, sich die Wahrheit anzuhören, bis er endlich anfing, alles logisch zu durchdenken und sich nicht mehr von seinen Gefühlen leiten ließ.
„So einfach werde ich dich nicht gehen lassen", murmelte ich und beobachtete einen Vogel, der hoch am Himmel seine Kreise zog. „Ich werde nicht zulassen, dass du einfach wieder abhaust und dich nicht den Problemen stellst." Ein zweites Mal würde ich ihn nicht in Ruhe lassen, wollte ich doch meinen Bruder zurück haben, egal was ich dafür machen musste. Aber nur Gott alleine wusste, wie ich das anstellen sollte, denn ich hatte nach wie vor keine Ahnung.
Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass es in ein paar Stunden wirklich zu dem langersehnten Gespräch kommen würde, aber in einer Situation, mit der ich nie gerechnet hätte.

Fortsetzung folgt...
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