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Knapp eine Stunde nach dem Geständnis von Petty Officer Theodore Diggs saß Chris im Großraumbüro an seinem Schreibtisch und war dabei, den Abschlussbericht zu schreiben. Er war stolz auf sich, da es im Prinzip sein Verdienst war, dass der Mörder von Commander Emmerson hinter Gittern saß, hatte er doch einfach auf seinen Instinkt gehört. Endlich, nach so langer Zeit, hatte er das Gefühl, wieder einmal etwas richtig gemacht und für ein Stückchen Gerechtigkeit in der Welt gesorgt zu haben. Diesmal war er auf der anderen Seite des Gesetzes gestanden und nicht auf der der Kriminellen – und dorthin würde er auch nie mehr zurückkehren, das hatte er sich fest geschworen. Vorbei war es mit seinen kleinen illegalen Geschäften, die ihm so einiges an Geld eingebracht hatten und durch die er sich das schöne Apartment in L.A. hatte leisten können. Es war an der Zeit, sich ein legales Leben aufzubauen und eine ehrliche Arbeit zu finden, die ihm Spaß machte und mit der er anderen helfen konnte.

Noch vor Wochen hätte sich Chris nie vorstellen können, sich für andere Menschen einzusetzen, aber seit er die ersten Erfahrungen als Bundesagent gemacht hatte, hatte sich das schlagartig geändert. Die Wandlung, die er durchgemacht hatte, konnte er selbst kaum glauben. Der Hass, den ihn zu seinem Plan geführt hatte, war verschwunden, er vertraute Tony plötzlich wieder, ohne lange darüber nachzudenken, er war einer jungen Frau verfallen, die er nicht einmal wirklich kannte und die von ihm glaubte, dass er jemand anderes war und er hatte seit langem Freunde gefunden, die ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelten – aber alles unter einer falschen Identität und das war nicht richtig. Nicht Chris sollte an diesem Platz in dem Großraumbüro sitzen, sondern Anthony. Dessen Leben war bei weitem nicht so einfach, wie er sich das vorgestellt hatte. Es war kein Zuckerschlecken, ein Bundesagent zu sein, zudem riskierte man damit tagtäglich sein Leben, verbrachte aber mindestens genauso viel Zeit damit, Berichte zu schreiben wie Verbrecher zu jagen. Obwohl er diesen Job durchaus mochte, so konnte er sich nicht vorstellen, dass er das für immer machen wollte. Es war zwar ein herrliches Gefühl, Gesetzesbrecher zu jagen und sie hinter Gitter zu bringen, aber für diese Arbeit musste man berufen sein, vor allem, wenn man mit den grausigen Abgründen der menschlichen Seele konfrontiert wurde. Chris hatte bereits nach einem einzigen Fall Probleme, die Bilder des eingeschlagenen Schädels des Commanders aus seinem Kopf zu bringen und er wusste genau, dass es ein wenig dauern würde, bis er nicht mehr davon träumen würde.
Brandon Emmerson hatte etwas gemacht, was einer Strafe bedurft hätte, aber den Tod hatte er auf gar keinen Fall verdient – niemand hatte das, egal was er gemacht hatte. Die Tat wurde dadurch nicht ungeschehen und Karen Paulsen wurde auch nicht wieder lebendig. Es war tragisch, was ihr zugestoßen und dass sie mit allem nicht fertig geworden war. Dass sie Angst gehabt hatte, war verständlich, aber sie hätte das Risiko auf sich nehmen und Anzeige erstatten sollen. Vielleicht wäre es dann nie so weit gekommen, dass sie sich das Leben genommen und damit zwei junge Männer Jahre später zu Mördern gemacht hätte. Zwar hatte nur einer diesen ausgeführt, aber der andere war nicht unschuldig an dem Ganzen. Sie hatten sich ihre Zukunft verbaut, hatten sich nur von ihrem Hass leiten lassen und damit alles verbockt. Manchmal war es wirklich besser, seinen Verstand einzuschalten und alles zu durchdenken, ehe man handelte – und genau das hatte Chris getan.
Er hatte seine Gefühle gegenüber Tony unter Kontrolle gebracht und hatte noch einmal alles von einem anderen Standpunkt aus betrachtet. 15 Jahre waren vergangen, als er ihn und Amy erwischt hatte, wie sie sich geküsst hatten und dabei sein Leben wie ein Kartenhaus eingestürzt war. Er hatte es einfach nicht glauben können, dass er sich so sehr in seinem Bruder hatte täuschen können, dass er sein Vertrauen so schamlos ausgenutzt und sich an Amy rangemacht hatte, während er unten mitbekommen hatte, was sein Vater wirklich von seinen Söhnen gedacht hatte. In seinem Inneren hatten sich so viele Emotionen angestaut, dass Anthonys Verrat der kleine Tropfen gewesen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Damals hatte er einfach nicht mehr nachgedacht und sich von dem Schmerz und dem Hass leiten lassen, der in ihm getobt und schließlich dazu geführt hatte, dass er seine Sachen gepackt hatte und abgehauen war. Für ihn war das die beste Lösung gewesen, einfach allem zu entfliehen, um einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zu ziehen. Jetzt, 15 Jahre später, wünschte er sich, er hätte sich Tonys Erklärungsversuche angehört und vielleicht wäre es dann nie so weit gekommen, dass er die Flucht ergriffen hätte. Hass konnte einen wirklich zerstören und Dinge tun lassen, die man eigentlich nicht wollte. Mittlerweile hatte Chris' Verstand wieder die Oberhand gewonnen und hatte ihn einsehen lassen, dass es ein riesengroßer Fehler gewesen war, seinen Bruder einzusperren. Aber eine gute Sache hatte es doch gehabt: er begann ihm zu verzeihen und den Zwischenfall mit Amy abzuhaken. Früher hatte er sich oft gefragt, was aus ihr geworden war, aber inzwischen war das nicht mehr der Fall. Sie war Vergangenheit, genauso wie der eine Maiabend, der ihn und Anthony auseinandergerissen hatte. Jetzt betrachtete er alles aus einem anderen Blickwinkel und man könnte meinen, dass er vernünftiger geworden war. Er konnte endlich mit allem abschließen und in die Zukunft blicken.

Chris seufzte leise und konzentrierte sich auf den Bericht, den er unbedingt so schnell wie möglich fertig bekommen wollte. Es war an der Zeit, aus dem Büro zu verschwinden. Obwohl er sich gedacht hatte, bis zum Abend zu bleiben, so würde er die erstbeste Gelegenheit nutzen, um abzuhauen. Je länger er hier war, desto schwerer fiel es ihm, an seinem Plan, Washington den Rücken zuzukehren, festzuhalten. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte er die Menschen, bei denen er sich wohl fühlte, nicht verlassen – genauso wenig, wie er Tony verlassen wollte, nicht, nachdem sie endlich wieder halbwegs normal miteinander umgehen konnten, ohne dass die Sache mit Amy ihr Beisammensein überschattete. Aber Chris hatte Angst vor den Konsequenzen, die ihn erwarten würden, wenn herauskam, was er mit seinem Bruder gemacht und allen vorgemacht hatte, dieser zu sein. Vor allem Gibbs würde keine Gnade walten lassen, da war er sich sicher und Ziva würde ihm den Kopf abreißen, wenn sie erfuhr, wer er wirklich war. Es war besser, nicht in der Nähe zu sein, wenn alle die Wahrheit erfuhren und das würden sie, das hatte er in Tonys Augen erkannt, als er ihm gesagt hatte, dass er ihn freilassen würde. Dieser würde nicht schweigen und allen erzählen, dass er einen Zwillingsbruder hatte. Und wenn es so weit war, wollte er Washington bereits lange verlassen haben, um sicher zu gehen, dass er nicht im Knast landen würde. Aber vorher würde er noch den Bericht fertig schreiben, um den Fall endgültig abzuschließen – genauso wie er mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hatte.

Gibbs saß an seinem Platz und trank den zweiten Becher Kaffee innerhalb von 45 Minuten. Diesen hatte er sich auch verdient, fand jedenfalls er. Die beiden Marines waren bereits abtransportiert worden, um im Gefängnis auf ihre gerechte Strafe zu warten, sein Team war damit beschäftigt, die letzten Berichte zu schreiben und er selbst konnte sich ein wenig zurücklehnen und sein geliebtes Koffein genießen. So wie er sich vorgestellt hatte, war der Nachmittag ruhig, kein neuer Fall flatterte ins Haus und es sprach nichts dagegen, heute pünktlich Feierabend zu machen. Diesmal konnte er an seinem Boot arbeiten, ohne dass er über einen Mord oder sonst etwas in diese Richtung nachdenken musste und so konnte er sich vollends auf das Glattschleifen des Holzes konzentrieren, während im Hintergrund der Farm Report lief.
Sein Team hatte wieder einmal hervorragende Arbeit geleistet und selbst Tony schien erneut ganz der Alte zu sein – sah man von der Tatsache ab, dass er auf einmal schnell tippen konnte und sich ausnahmsweise nur mit dem Bericht beschäftigte, ohne dabei Ziva und McGee zu ärgern. Aber vielleicht wollte auch er nur möglichst rasch mit dem Fall abschließen, hatte dieser doch gezeigt, dass Menschen im Inneren ganz anders sein können, als sie nach außen hin wirkten. Das sah man vor allem bei Commander Emmerson, der auf jedem Bild wie ein netter Mann aussah, aber ein Vergewaltiger war. Nicht einmal seine Frau oder sein Sohn hatten davon etwas gewusst und für die beiden würde es hart werden, diese Tatsache zu verarbeiten. Es gab so viele Familien, hinter deren Türen sich Unvorstellbares abspielte, ohne dass jemand auch nur ansatzweise etwas ahnte und man würde diese Taten wohl nie alle ans Tageslicht bringen.
Gibbs schüttelte leicht seinen Kopf, trank den Kaffee aus und warf den Becher gezielt in den Mülleimer neben seinem Tisch. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über kaputte Familien Gedanken zu machen, immerhin hatte er sich vorgenommen, einen ruhigen Nachmittag zu verbringen und da gehörte dieses Thema nicht dazu. Aber vorher musste er Direktor Sheppard noch Bericht erstatten, was sich alles in dem Fall Emmerson getan hatte und nachher würde er sich eine weitere Dosis Koffein gönnen, auch wenn er heute bereits vier Becher gehabt hatte. Zusätzlich wollte er zu seinem eigenen Vergnügen seinen Agents ein wenig Feuer unter dem Hintern machen und ihnen befehlen, sich gefälligst mit den Berichten zu beeilen. Die Reaktion, wenn sie ganz schnell ihre Köpfe einzogen, um nicht seinen Zorn auf sich zu ziehen, amüsierte ihn jedes Mal und in solchen Momenten fiel es ihm mehr als schwer, sich ein Grinsen zu verkneifen. Er wollte bereits aufstehen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen, als sein Telefon klingelte. Für eine Sekunde schloss er seine Augen und hoffte, dass es nicht ein neuer Fall wer, der vor der Tür stand. Deshalb griff er auch etwas widerwillig nach dem Hörer. „Gibbs", meldete er sich knapp und mit einem drohenden Ton in der Stimme, von dem er hoffte, dass er den Anrufer verschrecken würde, egal worum es ging.
„Hey, Bossman", tönte ihm Abbys Stimme entgegen und Erleichterung durchströmte ihn. Also doch kein neuer Fall und sein ruhiger Nachmittag war nicht gefährdet.
„Was gibt es, Abbs?" fragte er und ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. Seine drei Agents, die neugierig zu ihm geblickt hatten, als das Telefon geklingelt hatte, konzentrierten sich wieder auf ihre Arbeit, als klar war, dass es sich nur um die junge Goth und nicht um einen Mord oder sonst eine blutrünstige Tat handelte. „Du wirst es nicht glauben, aber ich habe soeben etwas wirklich Abgefahrenes herausgefunden", antwortete sie ziemlich aufgeregt und Jethro konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie in ihrem Labor schnell auf und ab ging und dabei während dem Telefonieren wild mit ihrer freien Hand herumgestikulierte. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er lehnte sich etwas vor.

„Abgefahren?" bohrte er nach, nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. Abbys hatte das Talent, Wörter zu verwenden, die er sonst nie in den Mund nehmen würde. „Ja! Ich würde es selbst nicht glauben, hätte ich den Beweis nicht direkt vor meinen Augen! Das musst du dir ansehen, Gibbs! Komm runter!" Und bevor er auch nur fragen konnte, worum es ging, hatte sie schon wieder aufgelegt. Kopfschüttelnd tat er es ihr nach. Er wusste, sie würde ihn nicht ohne Grund anrufen und nach der Aufregung in ihrer Stimme, musste es wirklich wichtig sein – nicht, dass Abby sonst nie aufgeregt wäre, aber diesmal hatte sie sich beinahe überschlagen. Oder sie hatte wieder einmal zu viel CafPow intus, was ebenfalls eine Erklärung wäre.
Der Chefermittler stand auf und als ihn drei neugierige Augenpaare anblickten, sagte er: „Ich bin bei Abby. Und wenn ich wieder zurück bin, will ich eure Berichte haben, sonst werde ich irgendwo alte Akten auftreiben, die euch bis morgen beschäftigen werden." McGee wandte sich sofort wieder seinem Bildschirm zu und tippte eifrig auf seiner Tastatur herum, Ziva schien die Drohung nicht zu stören und Tony sah ihm ruhig entgegen, anstatt seinem Befehl nachzukommen, war er doch meistens der Erste, um zu verhindern, dass er sich eine Kopfnuss einfing. Etwas in seinen Augen irritierte Gibbs. Es lag irgendwie etwas Endgültiges darin – gepaart mit leichter Traurigkeit – und es schien ihm, als ob er etwas sagen wollte, aber nicht wusste, wie er anfangen sollte. Schließlich drehte er sich wieder um und konzentrierte sich auf den Text, den er gerade schrieb. Stirnrunzelnd ging Gibbs zum Aufzug, nicht wissend, was er von alldem halten sollte. Hatte er sich etwa getäuscht und DiNozzo war doch nicht der Alte? Beschäftigte ihn noch immer etwas aus seiner Vergangenheit? Vielleicht sollte er ein weiteres Gespräch mit ihm führen, wenn er von Abby zurück war, nachdem er sich angehört hatte, was sie so Abgefahrenes herausgefunden hatte.

Abby lief in ihrem Labor auf und ab, die Musik entgegen ihrer Gewohnheit leise gedreht, sodass sie sofort hören konnte, wann Gibbs zu ihr kam. Sie konnte immer noch nicht fassen, was sie vor fünf Minuten herausgefunden hatte, hatte sie doch zwischenzeitlich gehofft, sie würde sich irren, hatte gehofft, dass ihre Theorie nicht stimmte. Sie hatte sich ein wenig an die Lücken geklammert, die in ihren Überlegungen geklafft hatten, die sich aber mittlerweile komplett geschlossen hatten. Wenn sie es sich Recht überlegte, war abgefahren nicht einmal das richtige Wort, aber ihr fiel einfach keine bessere Beschreibung ein. Zuerst hatte sie sich gedacht, dass alles nur ein Irrtum war, aber die Fingerabdrücke hatten nicht gelogen und ans Tageslicht gebracht, dass sie in letzter Zeit gewaltig an der Nase herumgeführt worden waren. Wie hatten sie übersehen können, dass jemand anderes auf Tonys Platz gesessen hatte und nicht er? Wie hatten sie übersehen können, dass er einen Zwillingsbruder hatte, der anscheinend Spaß daran fand, plötzlich Bundesagent zu spielen? Und wieso hatte sie so lange gebraucht, um das herauszufinden? Wieso hatte sie nicht bereits am Dienstag angefangen, zu recherchieren, dann wäre sie garantiert viel früher darauf gekommen.
Aber die wichtigste Frage war: wo steckte Tony? Und weshalb hatte er all die Jahre verschwiegen, dass er einen Bruder hatte und kein Einzelkind war? Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie bereits eher darauf kommen können, was mit DiNozzo nicht stimmte. Jetzt war es auch kein Wunder mehr, dass er etwas längere Haare hatte und viel brauner war als noch am Montag. Und mittlerweile verstand sie auch, warum er nicht gewusst hatte, dass Kate tot war oder dass er die Lungenpest gehabt hatte. Und es war auch kein Scherz gewesen, dass er auf einmal McGee mit seinem Vornamen angeredet hatte oder dass er keine Ahnung gehabt hatte, dass Gibbs ein Boot in seinem Keller baute. Alles passte perfekt zusammen, jedes Puzzleteilchen war an seinem Platz.
Abby konnte jedoch nicht verhindern, dass sie sich Sorgen um Tony machte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er nicht freiwillig mit seinem Bruder getauscht hatte, zumal er ihm sicher sonst die wichtigsten Details verraten hätte. Nein, da steckte mehr dahinter und so wie es aussah, war Anthonys Kindheit doch nicht so einfach gewesen, nicht wenn er kein einziges Mal erwähnt hatte, dass er Geschwister hatte. Außerdem gab es da noch eine andere Sache, die sie verwirrte und von der sie hoffte, dass sie bald die Wahrheit erfahren würde. Nach außen hin schien es, als ob in der DiNozzofamilie alles super gewesen war, aber sie wusste nur zu gut, dass man leicht jemandem etwas vorgaukeln konnte. Selbst Gibbs hatte nicht gemerkt, dass jemand mit ihm ein falsches Spiel getrieben hatte, obwohl er bereits Lunte gerochen hatte, dass mit seinem Agent etwas nicht stimmte, hatte es aber auf irgendetwas in seiner Vergangenheit geschoben. Und so wie es aussah, hatte Tonys Bruder keine leichte Kindheit gehabt, nicht wenn er sich wünschte, Vollwaise zu sein. Und das sagte man nicht so leichthin. Abby konnte sich jetzt schon vorstellen, dass der Chefermittler nicht gerade erfreut sein würde, wenn er die Wahrheit erfuhr. Und ausgerechnet sie hatte das große Los gezogen, es ihm zu sagen. Vielleicht hätte sie vorher einen großen Becher Kaffee besorgen sollen, um ihn ein wenig zu besänftigen, damit er nicht anschließend gleich wieder hinauffahren würde, um einem gewissen Christopher DiNozzo den Hals umzudrehen.

Die Goth hätte es natürlich auch so einrichten können, dass sie einfach in die dritte Etage hätte kommen und alles vor allen aufklären hätte können. Aber sie wollte nicht, dass Gibbs gleich auf Tonys Bruder losging und sonst was mit ihm anstellte. Immerhin hatten sie keine Ahnung, wo Anthony steckte und es bestand die Möglichkeit, dass sie es so nie erfahren würden, würde ihr silberhaariger Fuchs etwas überstürzen. Eventuell konnte sie ihn überreden, es langsam angehen zu lassen, obwohl sie am liebsten selbst Christopher beim Kragen packen wollte, um ihn heftig zu schütteln und ihn dabei immer wieder zu fragen, was er sich nur dabei gedacht hatte, einfach so zu tun, als sei er Tony. Immerhin war dieser ihr bester Freund und wenn ihm irgendetwas passieren sollte, würde sie sicher nicht mehr die nette Abby sein, sondern ihre Krallen ausfahren. Und dann würde sich sein Bruder sicher wünschen, dass es Jethro wäre, der ihn auseinandernahm.
Aber sie musste zugeben, dass es auch faszinierend war, dass es einen Menschen auf dem Planeten gab, der genauso wie Anthony aussah, der denselben Humor hatte und genauso einen blöden Spruch nach dem anderen zum Besten gab. So grundverschieden waren die beiden also gar nicht, zumal sie beide tolle Ermittlerarbeit leisteten, auch wenn sie sich sicher war, dass Chris das noch nie zuvor gemacht hatte. Er war anscheinend ein Naturtalent, wenn es darum ging, Verbrecher zu entlarven. Immerhin war es sein Verdienst, dass heute ein Mörder überführt worden war und das bewies, dass er so schlecht nicht sein konnte. Aber andererseits spielte er ihnen seit Tagen nur etwas vor und es gehörte zu seiner Rolle, Bundesagent zu sein. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er im Grunde ein netter Mensch war und bis jetzt hatte ihr Instinkt sie noch nie im Stich gelassen.
Abby hielt in ihrer Wanderung inne und griff nach ihrem CafPow Becher, um gierig an dem Strohhalm zu saugen. Herrliches Koffein strömte in ihren Körper und sie spürte, wie sie entspannter wurde. Immer ruhig Blut bewahren und nur nichts überstürzen, hieß jetzt die Devise.

Mit einem leisen Zischen öffneten sich die Glastüren und ließen Gibbs in die Forensik ein. Bereits als er aus dem Fahrstuhl getreten war, hatte er erkannt, dass Abby wirklich durch den Wind sein musste, da keine laute Musik zu hören war, was mehr als untypisch war. Normalerweise hörte man diese bereits auf dem Gang, aber diesmal war sie auf ein für ihn erträgliches Maß heruntergedreht und rieselte leise aus den Lautsprechern. Es hätte ihn auch gewundert, wenn sie komplett auf den Krach verzichtet hätte, denn dann hätte er sich wirklich Sorgen machen müssen. Aber so bestand die Hoffnung, dass es die Nachricht, die sie für ihn hatte und die sie ihm nicht über das Telefon hatte mitteilen können, nur halb so schlimm war. Solange sein ruhiger Nachmittag nicht gefährdet war, konnte er mit allem leben.
Abby lief in dem großen Raum auf und ab, wobei ihr Laborkittel sich aufbauschte und sie in regelmäßigen Abständen von ihrem CafPow trank. Sie wirkte mehr als hibbelig und schien ganz in ihre Gedanken versunken zu sein. Ihre Stirn war gerunzelt und ihre Lippen formten lautlos Worte. Kaum hatte Gibbs jedoch einen Fuß in die Forensik gesetzt, hob sie ihren Kopf und blieb abrupt stehen. „Da bist du ja endlich", sagte sie und ihre Stimme klang leicht vorwurfsvoll, so als ob er sich viel zu viel Zeit gelassen hätte, um von der dritten Etage hier herunter zu kommen. „Ich dachte schon, ich müsste noch eine Ewigkeit warten." Mit einem überraschend lauten Geräusch stellte sie den großen Becher auf ihren Schreibtisch neben ihrer Tastatur, drehte sich zu ihm um und sah ihn mit geschürzten Lippen an. „Also, was gibt es so Dringendes, Abbs?" fragte Jethro und kam auf sie zu, nicht sicher, ob er bei dem Anblick, den sie bot, lachen sollte. Nirgendwo konnte er ein Anzeichen von dem erkennen, was sie ihm sagen wollte und somit hatte er auch keine Ahnung, was es so Abgefahrenes gab. Aber ihre gesamte Reaktion ließ ihn nichts Gutes ahnen und sein Gefühl hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Irgendetwas war im Busch und er war sich sicher, dass es ihm nicht gefallen würde.

Abby holte tief Luft – eine für sie mehr als untypische Reaktion – und überlegte einen Moment wie sie anfangen sollte. Immerhin konnte sie schlecht mit der Tür ins Haus fallen und sagen: ‚Hast du gewusst, dass Tony einen Zwillingsbruder hat und dieser in den letzten Tagen bei uns gewesen ist, um uns an der Nase herumzuführen?' Nein, sie musste am Anfang beginnen, sonst könnte Jethro sie glatt für verrückt halten und war schneller wieder aus dem Labor verschwunden, als sie ihm die Beweise hätte zeigen können.
Um irgendetwas zu tun, nahm sie ihre Wanderung wieder auf, aber diesmal nicht so schnell wie vorher. „Vorher war ja Tony hier unten und…" Prompt hielt sie inne, als ihr bewusst wurde, dass sie den falschen Namen verwendet hatte. Aber für sie gab es noch immer nur einen DiNozzo, auch wenn es nicht Anthony war, der in der dritten Etage am Schreibtisch saß. Gott, war das kompliziert…
Gibbs war ihr Zögern keinesfalls entgangen, hielt es aber für besser, nichts zu sagen. Er hätte wissen müssen, dass es etwas mit seinem Agent zu tun hatte, zumal es vor allem Abby aufgefallen war, dass er anders war als sonst. Hatte sie vielleicht etwas Neues herausgefunden?
„Jedenfalls hat er sich vorher die Ergebnisse der DNA Analyse geholt", fuhr die Forensikerin fort und redete mehr mit ihren Händen, die sie in der Luft herumfuchteln ließ, als mit ihrem Boss. „Und wir beide wissen ja, dass er sich in den letzten Tagen mehr als komisch benommen hat. Deshalb habe ich mir gedacht, ich stelle ihn ein wenig auf die Probe. Und weißt du was?" Sie blieb direkt vor Jethro stehen und fixierte ihn mit ihren großen, grünen Augen. Ihre Frage war rein rhetorisch, weshalb er nichts antwortete, aber nichtsdestotrotz wartete er ungeduldig darauf, dass sie den Faden wieder aufnahm. „Er hat nicht einmal gewusst, dass er die Lungepest hatte, das habe ich an seinem überraschten Blick bemerkt. Zwar hat er versucht, alles zu überspielen, aber ich schwöre dir, er hat sich nicht daran erinnert, dass er fast gestorben ist. Aber das ist noch nicht alles." Abby nahm ihre Wanderung wieder auf und sie war sichtlich angespannt.

Gibbs' ungutes Gefühl steigerte sich immer mehr, vor allem, als er realisierte, dass die junge Goth Tony nicht beim Namen nannte. Kein einziges Mal – ausgenommen kurz vorher - in ihrem Vortrag war er vorgekommen, nicht einmal sein Nachname. Es war so, als ob sie von einer fremden Person sprechen würde. Und was sollte das heißen, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass er die Lungenpest gehabt hatte? Wenn man dem Tod von der Schippe gesprungen war, vergaß man so etwas nicht. Jethros Eingeweide verkrampften sich schmerzhaft, als ihm klar wurde, dass Abby drauf und dran war, ihm zu sagen, was mit seinem Agent nicht stimmte. Was hatte sie nur herausgefunden?
„Abbs!" sagte er schroffer als er vorgehabt hatte, aber er wollte endlich eine Erklärung haben, weshalb sie sich so seltsam verhielt – und weshalb Tony vergessen hatte, dass er die Lungenpest gehabt hatte. Sie blieb erneut vor ihm stehen und stemmte ihre Hände in die Hüften. „Weißt du, was das Schlimmste ist? Er kann sich nicht einmal daran erinnern, dass Kate tot ist. Ich habe vorgeschlagen, dass wir sie besuchen und aus einem Impuls heraus gemeint, er solle für sie Pralinen kaufen. Und er hat einfach genickt, anstatt zu sagen, dass Kate mit Pralinen nichts anfangen kann, immerhin ist ja nicht mehr am Leben. Nicht einmal er könnte so durch den Wind sein, dass er das vergessen würde. Und das hat mir zu denken gegeben."

Mit einem Ruck drehte sie sich um, eilte mit zwei großen Schritten zu ihrem Computer und tippte etwas in ihre Tastatur. Gibbs löste sich von dem Tisch und stellte sich neben sie, noch immer überrascht davon, was ihm Abby soeben erzählt hatte. Seine Eingeweide waren mittlerweile ein Knoten, zumal er plötzlich das Gefühl hatte, dass ihm die Wahrheit, weshalb sich Tony so anders benahm, nicht gefiel. Wie konnte er sich nur nicht an Kates Tod erinnern? Immerhin war er dabei gewesen, als sie erschossen worden war, hatte ihr Blut ins Gesicht bekommen. Und dann erklärte er sich einverstanden, Pralinen für jemanden zu besorgen, der damit nichts anfangen konnte? Wie war das nur möglich?
„Komm endlich zum Punkt, Abbs", entgegnete Jethro und schenkte ihr einen gefährlich funkelnden Blick. Aber sie ließ sich davon nicht beeinflussen, sondern tippte weiterhin auf der Tastatur herum, bis jenes Bild von Tony erschien, das sich ebenfalls auf seinem Dienstausweis befand. Eine Sekunde später erschien ein zweites Foto von ihm, das sichtlich älter war. Seine Haare waren länger, seine Gesichtszüge noch nicht gänzlich ausgereift und er war erst dabei, sich komplett zu einem Mann zu wandeln. Aber es war nicht die Tatsache, dass er auf dem Bild etwa 20 Jahre alt war, sondern der orangene Gefängnisoverall und das Schild mit einer Nummer, das er in Händen hielt, die seine Aufmerksamkeit erregte. Ungläubig starrte Gibbs auf den Bildschirm und versuchte zu realisieren, dass Tony irgendwann einmal verhaftet worden und das nirgendwo erwähnt worden war, geschweige denn, dass er es selbst einmal erzählt hätte. Was ging hier nur vor sich?

„Wir haben Tonys Fingerabdrücke ja in der Datenbank gespeichert", sagte Abby schließlich und riss Jethro damit aus der Betrachtung des Fotos. „Und vorher ist mir eine Idee gekommen, die selbst mir mehr als verrückt vorgekommen ist, aber nichtsdestotrotz habe ich sie überprüft, da sie mir keine Ruhe mehr gelassen hat. Deshalb habe ich Fingerabdrücke genommen, die er heute Mittag auf einem Tisch hinterlassen hat und habe sie mit denen aus der Datenbank verglichen." Sie machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen, aber als Gibbs unheilverkündend mit seinem Unterkiefer mahlte, hielt sie es für besser, fortzufahren. „Sie stimmen nicht überein, Bossman", sagte sie schließlich leise und beobachtete genau seine Reaktion. Seine Augenbrauen hoben sich verblüfft. „Was soll das heißen, die Fingerabdrücke stimmen nicht überein?" Seine Stimme war lauter geworden, was Abby als kein gutes Zeichen wertete. „Abbs! Wie kommt es, dass die Fingerabdrücke von Tony nicht mit denen aus der Datenbank übereinstimmen?!" Ungeduldig wiederholte er sich, obwohl er ihr nicht einmal zwei Sekunden zum Antworten gegeben hatte.
Sie holte tief Luft und setzte zu einer Erklärung an, wobei sie erneut etwas in ihre Tastatur tippte. „Ich habe die Fingerabdrücke schließlich durch weitere Datenbanken laufen lassen", sagte sie, darauf bedacht, alles nach der Reihe zu erzählen und ging deshalb nicht auf Gibbs' Frage ein, aber er bekam keine Gelegenheit, sich deswegen aufzuregen. „Und ich habe einen Treffer gelandet. Sie stimmen mit denen eines gewissen Christopher Cooper überein. Dieser wurde vor etwa 13 Jahren wegen Einbruchs in Los Angeles verhaftet, hat sechs Monate im Gefängnis gesessen und wurde anschließend wieder entlassen. Seitdem hat er sich nie wieder etwas zu Schulden kommen lassen."
Gibbs sah zu dem Bild von Tony in dem orangenen Overall und versuchte seine wirren Gedanken zu ordnen. Irgendwie verstand er gar nichts mehr. „Vor 13 Jahren? DiNozzo war damals auf der Ohio State. Du musst dich irren, Abbs. Wie kann er in Los Angeles verhaftet worden sein, während er gleichzeitig hinter jedem Mädchen auf dem Campus her war?" wollte er wissen und versuchte alles logisch zu betrachten. Aber er kam einfach auf keinen grünen Zweig.
„So Leid es mir auch tut, mein silberhaariger Fuchs, aber es ist kein Irrtum", antwortete Abby und tippte etwas in ihrer Tastatur herum. „Die Fingerabdrücke passen nicht zu Tony, aber zu diesem Christopher und da er ja, wie wir hier auf dem Foto wunderbar sehen können, genauso aussieht wie unser Sunnyboy, habe ich ein wenig meine Beziehungen spielen lassen, ein paar Telefonate geführt und einen Gefallen eingefordert und voilà…" Sie drückte die Entertaste, drehte sich zu Gibbs und grinste ihn breit an, während auf dem großen Plasmabildschirm ein Dokument auftauchte, „…darf ich vorstellen? Christopher DiNozzo, Tonys Zwillingsbruder."

Auf ihre Worte folgte eine unheimliche Stille, die nur durch die leise Musik unterbrochen wurde. Jethro stand für ein paar Sekunden einfach nur da, starrte die Geburtsurkunde an, die Abby auf dem Bildschirm projiziert hatte und versuchte zu realisieren, was er da gerade erfahren hatte. Sein Blick glitt zwischen dem Dokument und dem Bild von Christopher hin und her, nicht sicher, was er von alldem halten sollte. Er hatte das dringende Bedürfnis, etwas zu sagen, aber ihm fehlten zum ersten Mal seit langer Zeit die richtigen Worte und so beschränkte er sich darauf, Zeile für Zeile durchzulesen. Abby tippte erneut etwas in ihre Tastatur und eine zweite Geburtsurkunde erschien: die von Tony. Und mit einem Schlag erfasste Gibbs die gesamte Tragweite der Situation. Es gab einen Mann, der genauso aussah wie sein bester Agent, der am selben Tag Geburtstag hatte und lediglich 10 Minuten jünger war. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Nicht Anthony war in den letzten Tagen bei ihnen gewesen, sondern sein Bruder, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatten, nicht Anthony hatte ihn in den letzten Tagen mit blöden Sprüchen auf die Palme gebracht und seine beiden Kollegen geärgert. Und jetzt wurde ihm auch bewusst, weshalb er auf einmal nicht mehr wusste, warum er ein Boot in seinem Keller baute, warum er so schockiert reagiert hatte, als er ihm am Dienstagmorgen eine Kopfnuss verpasst hatte und vor allem, warum er nicht mehr wusste, dass Kate tot war.
Jemand hatte es doch tatsächlich geschafft, ihn hinters Licht zu führen und ein Spiel mit ihm zu spielen und sein Lügendetektor hatte einfach versagt. Wo war nur sein Spürsinn geblieben, der ihm sonst immer sagte, dass etwas nicht stimmte? Das hatte er zwar gefühlt, es aber auf ein Ereignis in der Vergangenheit geschoben; nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, dass es einen zweiten DiNozzo gab, der genauso wie Tony aussah und sich auch meistens so verhielt.
„Hast du eine Ahnung, wie es ist, von seinen eigenen Eltern nicht geliebt zu werden? Hast du eine Ahnung, wie es ist, einfach links liegen gelassen zu werden, egal wie oft man versucht, Aufmerksamkeit zu erregen? Nichts konnte ich ihnen Recht machen, war für sie teilweise nur Luft, außer wenn es darum ging, mich anzubrüllen. Dabei war ich derjenige, der die besseren Noten nach Hause brachte. Ich war immer der brave Sohn gewesen, habe immer alles gemacht, um sie zufrieden zu stellen. Aber hat es gereicht? Nein. Egal was ich auch gemacht habe, es war nie gut genug. Ihre gesamte Aufmerksamkeit und Liebe schenkten sie…
Die Unterhaltung von gestern im Fahrstuhl kam Gibbs wieder in den Sinn, an jedes einzelne Wort konnte er sich erinnern, die Traurigkeit, gepaart mit Bitterkeit, in den grünen Augen. Nicht Tony war von seinen Eltern nicht geliebt worden, sondern sein Bruder. Dieser war es gewesen, der die schwere Kindheit gehabt hatte, dieser war es gewesen, der versucht hatte, Aufmerksamkeit zu erregen.
Egal was ich auch gemacht habe, es war nie gut genug. Ihre gesamte Aufmerksamkeit und Liebe schenkten sie…

Vor allem dieser eine Satz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Was war nur vorgefallen, dass jemand sein Kind nicht liebte? Warum spielte Christopher ihnen vor, sein Bruder zu sein und wieso hatte Tony nie erwähnt, dass er Geschwister hatte? Wieso hatte er das bloß verschwiegen? Wenn sie das gewusst hätten, hätte er gleich darauf kommen können, was mit ihm nicht stimmte und dann hätte er sich auch die ganzen Sorgen sparen können, die er sich gemacht hatte. Da wollte er einmal herausfinden, was einen seiner Agents bedrückte und dann stellte sich heraus, dass eine ganz andere Person in den letzten Tagen hier gewesen war.
Die anfängliche Sprachlosigkeit wandelte sich rasend schnell in Wut um und Gibbs hatte Mühe, seine Faust nicht auf den Tisch krachen zu lassen. Er konnte nicht fassen, dass jemand so ein falsches Spiel mit ihm getrieben hatte – mit ihnen allen. Die Überraschung, dass Tony auf einmal einen Zwillingsbruder hatte, verflüchtigte sich so schnell wie sie gekommen war und hinterließ nichts als Ärger. Dieser Christopher würde noch lernen, dass es für seine Gesundheit nicht besonders förderlich war, den Chefermittler derart hinters Licht zu führen.

„Das ist abgefahren, oder?" riss ihn Abby aus seinen Gedanken und erst jetzt registrierte er wieder, dass er sich in dem Labor befand. „Abgefahren?!" schrie er, unfähig, seine Wut länger zurückzuhalten. „Du nennst es abgefahren, dass sich jemand als Tony ausgibt und uns vormacht, der richtige DiNozzo sei bei uns?! Ich finde das nicht abgefahren, sondern hinterhältig! Und wo zum Teufel noch mal steckt dieser überhaupt, wenn auf einmal sein Bruder an seinem Schreibtisch sitzt?!"
Abby ließ sich von seinem Wutausbruch nicht aus dem Konzept bringen, allerdings erlosch ihr anfängliches Grinsen aus ihrem Gesicht. Sie konnte sich gut vorstellen, dass es ihrem Boss nicht gefiel, die Wahrheit zu hören und er reagierte genauso wie sie es sich vorgestellt hatte.
„Ich habe keine Ahnung, wo Tony steckt", sagte sie ruhig und atmete erleichtert auf, als sich Gibbs ein wenig entspannte, aber in seine Augen trat ein unheilverkündendes Funkeln, von dem sie annahm, dass es in der dritten Etage wohl bald ein riesengroßes Donnerwetter gab und Christopher konnte sich bereits warm anziehen. Niemand führte ihren silberhaarigen Fuchs an der Nase herum und kam ungestraft davon, ungeachtet dessen, wessen Bruder er war.

„Aber ich habe noch etwas herausgefunden, was mich ziemlich irritiert. Christopher wurde, als er 17 Jahre alt war, als vermisst gemeldet und ein Jahr später von seinem Vater für tot erklärt." „Für tot erklärt?" fragte Gibbs nach, nicht sicher, ob er Abby richtig verstanden hatte. „Für mich sieht er aber mehr als lebendig aus, vor allem, wenn er etwa zwei Jahre später verhaftet worden ist und jetzt oben sitzt und allen weis macht, er sei Tony." „Nun, ich schätze, dass er von zu Hause abgehauen ist", erwiderte die junge Frau und legte ihren Kopf leicht schief. „Darauf deutet alleine die Vermisstenanzeige hin. Aber ich kann mir keinen Reim darauf machen, weshalb sein Vater ihn für tot erklären hat lassen. Viel mehr würde mich jedoch interessieren, warum Tony verschwiegen hat, dass er einen Zwillingsbruder hat und vor allem, warum dieser plötzlich wieder auftaucht und seine Identität übernommen hat." „Das würde ich auch gerne wissen", meinte Gibbs und versuchte seinen Ärger zu zügeln. Es war nicht Recht, diesen an der jungen Frau auszulassen, war sie doch nur diejenige, die die Wahrheit herausgefunden hatte. Nein, seine Wut würde jemand anders zu spüren bekommen.
„Und ich werde das auch herausfinden. Er wird sich noch wünschen, nie hier aufgetaucht zu sein." „Aber wenn du ihn auf deine nette Art auseinandernimmst, kann es sein, dass er mauert und wir nicht erfahren, wo Tony ist. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass er freiwillig den Platz mit seinem Bruder getauscht hat. So etwas würde er nie tun. Ich meine, Tony hat zwar jede Menge Blödsinn im Kopf, aber so etwas würde nicht einmal er machen."

Jethro seufzte leise und nickte. Abby hatte Recht. So wie es aussah, war sein Agent von seinem eigenen Bruder entführt worden, was alleine schon mehr als krass war. Gleich darauf drängte sich ihm die Frage auf, was Anthony gemacht hatte, um Christopher zu dieser Tat zu verleiten? Was war damals passiert, dass dieser einfach abgehauen war? Und warum tauchte er gerade jetzt wieder auf?
„Schick alles was du gefunden hast an McGees Computer. Und ich werde jetzt ein ernstes Wort mit einem gewissen DiNozzo reden." „Aber feinfühlig und reiß ihm nicht gleich den Kopf ab", meinte Abby und blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. Er sollte feinfühlig zu einem Mann sein, der ihn hinters Licht geführt hatte? Von wegen… Jetzt war Schluss mit lustig. Christopher hatte lange genug Spaß gehabt und er würde die nächsten Stunden in einem Verhörraum verbringen, so lange, bis er ausgespukt hatte, wo Tony steckte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, eilte er aus dem Labor, wütend darüber, dass sein ruhiger Nachmittag beim Teufel war. Und das würde in ein paar Minuten jemand ganz deutlich zu spüren bekommen.

Fortsetzung folgt...
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