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Etwas außerhalb von Washington
Zur selben Zeit


Die Sonne war für den Monat Mai bereits ziemlich warm und als meine Wangen verdächtig heiß geworden waren, hatte ich es vorgezogen, ins Innere des Hauses zurückzukehren, bevor ich in den nächsten Tagen rot wie ein Krebs herumlaufen musste – Ziva würde sich garantiert darüber lustig machen, wenn sie mich so sehen würde.
Ein Sandwich hatte nicht ausgereicht, um meinen Hunger zu stillen und so hatte ich erneut Chris' Kühlschrank geplündert, um anschließend ein kleines Chaos in seiner Küche anzurichten. Die Spaghetti, die ich nach einem Rezept von Lucille zubereitet hatte, waren mehr als lecker gewesen, genauso wie ich sie am liebsten mochte. Die Nudeln waren al dente und die dazugehörige Sauce würzig-scharf, aber nicht so scharf, dass ich mir meinen Mund verbrannt hätte. Der köstliche Geruch hatte sich im ganzen Raum ausgebreitet und meinen Magen zu Höchstleistungen animiert. Eine Stunde später waren Töpfe und Teller, die ich benötigt hatte, herumgestanden und da ich wusste, dass mein Bruder auf Ordnung achtete, hatte ich die gesamten Utensilien in die Spülmaschine verbannt – wäre ich bei mir zu Hause gewesen, hätte ich sie einfach stehen lassen, in der Hoffnung, sie würden sich von selbst reinigen.

Anschließend hatte ich mich faul auf die Couch, die äußerst bequem war, gelegt und den Fernseher eingeschaltet, der zwar nicht so groß wie der im Schlafzimmer war, aber nichtsdestotrotz war die Bildqualität hervorragend, was man von der Qualität der Sendungen, die um diese Uhrzeit ausgestrahlt wurden, nicht behaupten konnte. Eine langweilige Talkshow nach der anderen flimmerte über den Schirm, egal welchen Sender ich mir aussuchte. Irgendwann hatte ich schließlich einen etwas älteren Spielfilm gefunden, dessen Titel ich noch nie zuvor gehört hatte, was mich ein wenig wunderte, war ich doch ein Filmfreak schlechthin - aber so konnte ich mein Kontingent aufstocken. Mittlerweile waren meine Augen jedoch nur noch halboffen und ich gähnte in regelmäßigen Abständen. Die riesengroße Portion Spaghetti, die ich mir gegönnt hatte, forderte langsam ihren Tribut und ich döste ein, nur um gleich darauf wieder hochzuschrecken. Ich wollte nicht einschlafen, wollte ich doch munter sein, wenn Chris zurück kam. Mir war klar, dass er gesagt hatte, er würde mich erst am Abend gehen lassen, aber dennoch hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass er mir viel früher einen Besuch abstatten würde. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich so schnell wie möglich aus dem Hauptquartier verschwinden, um das Risiko, aufzufliegen, zu vermeiden. Und wie ich ihn kannte, würde er dies auch tun, was wiederum bedeutete, dass ich nicht mehr lange Zeit hatte, um mir zu überlegen, wie ich ihn dazu bringen konnte, in Washington zu bleiben. Mein Gehirn jedoch schien auf Urlaub zu sein, jedenfalls fiel mir nichts Sinnvolles ein. Aber vielleicht wäre es besser, einfach alles auf mich zukommen zu lassen, sodass ich spontan entscheiden musste, was ich zu Chris sagen könnte. Auf alle Fälle würde ich ihn nicht kampflos ziehen lassen – nicht wie letztes Mal. Da hatte ich gedacht, er würde nur ein wenig brauchen, um seine Wut unter Kontrolle zu bringen, um sich anschließend meine Erklärung anzuhören – dass er abhauen würde, damit hätte ich nie gerechnet. Ich hatte ihn für stark eingeschätzt, aber dass er davongelaufen war, hatte mich hart getroffen, war ich mir doch bewusst gewesen, dass es meine Schuld gewesen war. Hätte ich Amy frühzeitig gestoppt, wäre es nie so weit gekommen und Chris' und mein Leben wären vielleicht anders verlaufen, wir hätten uns wahrscheinlich nie aus den Augen verloren, aber das Schicksal hatte nun einmal andere Pläne für uns parat gehabt.

Jetzt, wo wir wieder zusammengefunden hatten, würde ich nicht zulassen, dass wir erneut getrennte Wege gingen, nicht, wo sich sein Hass auf mich in Luft aufgelöst hatte. Ich wusste genau, dass er Angst vor den Konsequenzen hatte, wenn Gibbs erfuhr, dass ich einen Zwillingsbruder hatte und dass dieser mich entführt hatte, wobei ich mich nicht länger als Opfer fühlte. Chris hatte zwar alles falsch angepackt, aber ich konnte ihm nicht böse sein – jedenfalls nicht mehr, dafür war ich viel zu glücklich, dass es ihm gut ging und er nicht tot war, so wie es mein Vater angenommen hatte. Ich hatte ihm nie verziehen, dass er seinen eigenen Sohn für tot erklären hatte lassen. Diese Tatsache hatte uns auseinandergebracht und mich noch mehr in meiner Entscheidung bestärkt, auf die Ohio State zu gehen – etwas, was meinem Dad gewaltig gegen den Strich gegangen war, aber mich hatte es mit Befriedigung erfüllt. Zu wissen, dass nichts nach seinen Plänen lief, war ein herrliches Gefühl gewesen und als er erfahren hatte, dass ich der Polizei beitreten wollte, war er buchstäblich an die Decke gegangen und hatte mich einfach hinausgeworfen, in der Hoffung, ich würde mich deswegen anders besinnen und wieder zurückkommen, aber ich hatte mich alleine durchgekämpft. Seit diesem Tag hatte ich ihn nicht mehr gesehen, außer auf der Beerdigung meiner Mutter und da hatten wir kein einziges Wort miteinander gewechselt.
Den ersten richtigen Streit hatten wir gehabt, als ich ihm erzählt hatte, dass Chris abgehauen war und er auf diese Nachricht mit Gleichgültigkeit reagiert hatte. Das war der Zeitpunkt gewesen, wo zwischen uns eine große Kluft entstanden war, die wir bis heute nicht überbrückt hatten…

Die Sonne ging gerade über dem Horizont auf und tauchte die Baumwipfel des großen Gartens, der hinter der Villa angelegt worden war, in ein schimmerndes Licht. Das Wasser des Pools glitzerte und leichte Wellen schwappten gegen den Rand des Beckens. Über Nacht war ein wenig Wind aufgekommen und hatte den Leuten, die wegen des schwülen Wetters litten, etwas Linderung verschafft. Allerdings war die Brise dabei, bereits abzuflauen, um einen weiteren heißen Maitag zu hinterlassen, dessen Luftfeuchtigkeit in ungeahnte Höhen klettern und Schweißausbrüche zur Folge haben würde. Selbst die Vögel, die ihr übliches Morgenkonzert anstimmten, klangen leiser als sonst und schienen wegen der Hitze genauso zu leiden wie die Einwohner Washingtons.
Von Minute zu Minute gewann die Sonne an Kraft und färbte den Himmel langsam von blutrot zu blau. Obwohl es erst kurz nach sechs Uhr war, betrug die Temperatur bereits 21 Grad, fühlte sich aber wie 28 Grad an. Die verschiedensten Tiere kamen aus ihren Unterschlüpfen, nur um sich gleich darauf wieder in den Schatten zu verziehen, um so der Hitze etwas zu entgehen.
Der Wind flaute komplett ab und hinterließ nichts weiter als unheimliche Stille. Das schwüle Wetter, die Ruhe, die mir ständig aufs Gemüt drückte, der schwere Duft der Rosen und das träge Zwitschern der Vögel interessierte mich nicht die Bohne. Es war Samstag und um diese Uhrzeit lag ich normalerweise noch im Bett und schlief tief – nicht einmal eine Bombenexplosion hätte mich aus diesem Stadium reißen können - aber letzte Nacht hatte ich kein Auge zugemacht. Mein Körper hatte zwar nach Schlaf verlangt, aber mein Gehirn war unfähig gewesen, eine Pause zu machen. Ständig hatte ich die Szene vom Vorabend durchgespielt, war sie immer wieder durchgegangen, unfähig, die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen. Ich hatte mich unruhig herumgewälzt, jede Position war unbequemer als die vorherige gewesen und ich hatte die Laken nass geschwitzt. Die Luft war in der Nacht nicht kühler geworden und hatte mein Elend noch mehr verstärkt. Zusätzlich hatte mein Unterkiefer geschmerzt und mich Sekunde um Sekunde an Chris' Wut erinnert, als er in mein Zimmer geplatzt war, nur um mitzubekommen, wie Amy mich geküsst hatte.

Ich konnte weiterhin nicht fassen, dass sich hinter der lieblichen Fassade, die sie in den letzten Monaten an den Tag gelegt hatte, so ein Biest versteckte. Wir hatten uns blenden lassen und sogar ich war von ihrem Charme eingenommen gewesen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, weshalb sie sich derart an mich herangeschmissen hatte. War sie auf ein Abenteuer aus gewesen? Hatte sie testen wollen, wie weit ich gehen und ob ich das Vertrauen meines Bruder missbrauchen würde? Oder war ihr Chris zu langweilig geworden? Egal was der Grund, der sie in mein Zimmer geführt hatte, gewesen war, ich wollte ihn nicht wissen. Es interessierte mich nicht, was sie dazu veranlasst hatte, derart die Grenze zu überschreiten, es zählte nur, dass mich mein Bruder mit einem Hass angeblickt hatte, der mich mehr schmerzte als der harte Schlag in mein Gesicht. Dieser hatte einen dunklen, blauen Bluterguss auf meinem Unterkiefer hinterlassen, der sich deutlich von meiner Haut abhob. Aber dieser würde bald verschwinden, die Schuldgefühle in meinem Inneren würden jedoch bleiben. Das Wissen, dass Chris unglaublich wütend auf mich war, hatte meine Eingeweide zu einem harten Knoten werden lassen und war teilweise der Grund gewesen, dass ich letzte Nacht den Sternenhimmel angestarrt hatte, anstatt zu schlafen, kurz bevor ich mich wieder herumgewälzt hatte, da ich es nicht geschafft hatte, länger als fünf Minuten ruhig liegen zu bleiben. Ich war mehr als einmal kurz davor gewesen, aufzustehen und zu Chris zu gehen, um ihm alles zu erklären, aber ich hatte das unbestimmte Gefühl gehabt, dass er mich wegschicken würde. So hatte ich beschlossen – auch wenn es mir mehr als schwer gefallen war – ihm Zeit zu lassen, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen.
Jetzt, um kurz nach sechs Uhr, stand ich vor seinem Zimmer und bereitete mich innerlich auf die Konfrontation vor, die unweigerlich kommen würde. Aber ich war nicht bereit, erneut wegzugehen, sollte er dies von mir verlangen. Ich hatte ihm genug Zeit gelassen und nun war es an mir, hartnäckig zu sein. Das Gespräch, das ich mit ihm führen wollte, würde ich nicht länger aufschieben und musste ich ihn auf einen Stuhl festbinden, damit er mir zuhörte, dann würde ich es auch machen. Ein letztes Mal blickte ich den Gang hinauf und hinunter, nur um festzustellen, dass ich weiterhin alleine war. Es war ruhig in der Villa, obwohl ich wusste, dass bereits alle auf den Beinen waren. Meine Eltern waren von jeher Frühaufsteher und Lucille war jeden Tag vor sechs Uhr wach, ungeachtet dessen, das es Samstag war.

Ich holte tief Luft, bevor ich meinen Arm hob und laut gegen die Tür klopfte, sodass das Geräusch in dem stillen Flur widerhallte. Im Inneren des Zimmers rührte sich hingegen nichts, nicht einmal der leiseste Laut war zu hören, egal wie angestrengt ich lauschte. „Chris!" rief ich und schlug mit der Faust gegen das stabile Holz. „Mach die Tür auf! Wir müssen reden!" Ein paar Sekunden ließ ich verstreichen, in denen ich nur meinen Herzschlag wahrnahm, der sich unwillkürlich erhöht hatte. „Komm schon, Kleiner!" probierte ich es weiter, wobei ich ihn absichtlich so nannte, da ich wusste, dass er das auf den Tod nicht ausstehen konnte. „Schwing deinen Hintern aus dem Bett und mach endlich die Tür auf!" Ich wurde lauter und wütender, als er noch immer nicht reagierte. Nichts rührte sich, nicht einmal Schritte waren zu hören. Ich konnte verstehen, dass er mich nicht sehen wollte, nicht nachdem was gestern geschehen war, aber meine Geduld war am Ende. Ich würde nicht zulassen, dass ein Mädchen einen Keil zwischen uns trieb und ich wollte die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich klären. Und wenn ich ihn deshalb eigenhändig aus dem Bett zerren musste, dann würde ich das ohne zu zögern auch tun.
Ein letztes Mal hieb ich meine Faust gegen die Tür, bevor ich sie sinken ließ und meine Hand auf die Klinke legte, die ich gleich darauf nach unten drückte. Ich rechnete damit, dass die Tür abgeschlossen war, aber zu meiner größten Überraschung schwang sie ohne Probleme nach innen auf. Der Anblick, der sich mir bot, ließ mich erstarren und ein kalter Schauer jagte mir über meinen Rücken. Die Sonne enthüllte ein Chaos, das ich in Chris' Zimmer, in dem normalerweise alles seinen Platz hatte, noch nie gesehen hatte. Das Bett war nicht gemacht, die Decke lag halb auf dem Boden, halb auf der Matratze und war zerknittert. Auf dem Boden waren Bücher und Kleidungsstücke unwillkürlich verstreut worden, so als ob ein Wirbelsturm durch den Raum gefegt wäre. Die Schranktüren waren geöffnet, genauso wie die Schubladen der Kommoden und ich konnte deutlich erkennen, dass ein paar der Klamotten fehlten. Der Rucksack, der sonst immer neben dem Schreibtisch stand, war ebenfalls verschwunden und in meinem Kopf schrillten deswegen alle Alarmglocken. Ich starrte ungläubig auf die Unordnung, mein Herz schlug wie wild in meiner Brust und ich versuchte zu verarbeiten, was so offensichtlich war. Chaos, fehlende Kleidung, fehlender Rucksack und vor allem ein nicht anwesender Chris. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich hatte das Gefühl, in eine Wanne voll Eiswasser getaucht zu werden, so kalt wurde mir, trotz der Hitze, die momentan herrschte. Mein T-Shirt klebte klamm an meinem Körper, genauso wie meine Jeans, deren Stoff sich unangenehm auf meine Haut legte.

Endlose Sekunden verstrichen und ich blinzelte ein paar Mal, aber das Bild vor meinen Augen änderte sich nicht. Alles blieb so wie es war – unordentlich und verlassen. Mit keuchendem Atem betrat ich wie in Trance das Zimmer, nicht so recht wissend, was ich jetzt machen sollte. „Chris!" rief ich erneut und mit heiserer Stimme, aber ich wusste, dass keine Antwort kommen würde. Meine Schritte wurden größer, ebenso die Angst, die von mir Besitz ergriff, als ich realisierte, was der verlassene Raum bedeutete. „Bitte, bitte nicht", flüsterte ich mit einem dicken Kloß im Hals und auf einmal fiel die Trägheit von mir ab und ich begann, jeden Winkel zu durchsuchen, blickte in den Schrank, in jede Ecke und in meiner Panik sogar unter das Bett, in der Hoffnung, er würde sich darunter verstecken und mir nur einen Streich spielen, aber er blieb verschwunden, war fort. In meinem Bestreben, Chris zu finden, brachte ich noch mehr Unordnung in das Chaos, was mir aber vollkommen egal war. Ich durchsuchte seine gesamten Sachen, um einen Hinweis zu entdecken, der mir eventuell verriet, wo er sich aufhielt. Aber innerlich wusste ich genau, wonach ich stöberte: nach einem Abschiedsbrief. Es war unübersehbar, dass er abgehauen war, sonst wäre sein Rucksack noch da, genauso wie die Kleidung, die er am liebsten trug. Seine Sparkasse, die die Form eines Footballs hatte, lag zertrümmert auf dem Boden und kein einziger Cent war mehr darin enthalten. Neben den Scherben fand ich etwas, das mein Herz dazu veranlasste, noch schneller zu schlagen als es ohnehin schon tat. Ich bückte mich und hob einen zerbrochenen Bilderrahmen auf, dessen Glas kaputt war und ich mich daran beinahe geschnitten hätte. Darunter kam ein Foto, das in der Mitte auseinandergerissen worden war, zum Vorschein. Es zeigte Chris, der einen Arm um Amys Schulter gelegt hatte und beide lächelten glücklich in die Kamera. Hinter ihnen konnte man einen wolkenlosen, blauen Himmel und Bäume, die gerade anfingen zu blühen, sehen. Es war unübersehbar, wie verliebt Chris war und seine Freundin machte den Eindruck, dasselbe für ihn zu empfinden.

Schuldgefühle überkamen mich mit so einer Wucht, dass ich die beiden Teile des Bildes fallen ließ, so als ob ich mich daran verbrannt hätte. Sie segelten lautlos zu Boden, wo sie mit der glänzenden Oberfläche nach oben zu liegen kamen. In meinen Augen brannte es verräterisch und der Kloß in meinem Hals wurde dicker. Die Umgebung wurde verschwommen und ich blinzelte ganz schnell die Tränen weg, bevor sie mir über die Wangen rinnen konnten. Meine Eingeweide verkrampften sich schmerzhaft und bildeten einen harten Knoten in meinem Bauch. Ich spürte nur noch den Schmerz und die Schuldgefühle, als ich endgültig begriff, das Chris verschwunden war, was aber nicht bedeutete, dass ich es akzeptieren wollte. Ich klammerte mich an den kleinsten Strohhalm und deshalb drehte ich mich um und durchsuchte jedes Zimmer der Villa. Etage für Etage durchkämmte ich das Anwesen, nicht einmal der Keller blieb verschont. Ich ignorierte Lucilles verwirrte Blicke, als ich die Küche erreichte, in der sie gerade Frühstück machte, wonach ich momentan überhaupt keine Lust hatte. Sie rief mir etwas nach, als ich den Raum wieder verließ, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sich mein Bruder nicht darin aufhielt und setzte meine Suche fort. Nicht einmal in der Bibliothek fand ich ihn, wo er sich gerne verkroch, um alleine zu sein. Aber ich wusste genau, dass er nicht in dem Haus war, nicht nachdem ich entdeckt hatte, das ein Teil seiner Kleidung, sein Rucksack und Geld fehlte.

Meiner Mutter begegnete ich nicht, weshalb ich annahm, dass sie bei ihrer Freundin übernachtet hatte, wohingegen ich meinen Vater laut fluchen hörte, als ich die Tür zu seinem Arbeitszimmer erreichte – den einzigen Raum, den ich noch nicht durchsucht hatte. Aber die Chance, dass sich Chris dort drinnen aufhielt, war gleich null. Aber dennoch würde ich hineingehen, musste Dad sagen, dass sein Sohn abgehauen war. Er hatte sicher Mittel und Wege, um ihn zu finden, immerhin war er ein einflussreicher Mann und hatte viele gute, hochrangige Bekannte. Zwar hatte er meinen Bruder nie so wie mich behandelt, aber dieser war immerhin sein Kind und da würde er garantiert alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn zu aufzuspüren.
Mit etwas mehr Zuversicht, die die Panik in meinem Inneren ein wenig dämpfte, klopfte ich an die Tür und öffnete sie, ohne auf eine Antwort zu warten und wünschte gleich darauf, dass ich es getan hätte. Mein Vater saß in seinem übergroßen, schwarzen Ledersessel und war dabei, sämtliche Schubladen seines Schreibtisches zu durchsuchen. Sein Kopf, der bei meinem Eintreten in meine Richtung gedreht worden war, war hochrot und seine Augen waren blutunterlaufen. Seine Haare waren zerzaust, die Hose und das weiße Hemd zerknittert und es schien so, als ob er in den Sachen geschlafen hätte. Auf dem runden Tisch, der sich bei der Sitzecke befand, standen Gläser und die halbleere Whiskeyflasche, worauf ich schloss, dass er wieder einmal ziemlich viel getrunken hatte. Im gesamten Raum roch es durchdringend nach Alkohol und alleine das genügte, um mich leicht schwindelig zu machen.

In Dads Augen lag eine Wut, die mich beinahe zurückstolpern ließ und das Krachen, mit dem er einen Stoß Papiere auf den Schreibtisch, auf dem zahlreiche Zetteln herumlagen, knallte, ließ mich zusammenzucken. Die schlechte Laune, die er hatte, konnte ich förmlich spüren und ich hatte mir den schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht, um ihm zu sagen, dass Chris verschwunden war – aber einen Rückzieher würde ich nicht machen, immerhin zählte jede Sekunde. Deshalb betrat ich den Raum und schluckte, als er mich anfuhr: „Habe ich dir etwa erlaubt, hier einfach so hereinzuplatzen?!" Die Worten kamen ein wenig undeutlich über seine Lippen und eine Wolke Alkohol schwebte mir entgegen, als er seinen Atem in meine Richtung ausstieß. Ich rümpfte die Nase, war aber klug genug, mir einen Kommentar zu verkneifen. Er war meistens unausstehlich, wenn er getrunken hatte und da es nicht einmal sieben Uhr war, war es mehr als offensichtlich, dass er noch nicht nüchtern war.
Dennoch stellte ich mich mutig vor den Schreibtisch und ließ mich von dem Blick aus den blutunterlaufenen Augen nicht aus dem Konzept bringen. „Wonach suchst du denn?" stellte ich eine Gegenfrage, in der Hoffnung, ihn ein wenig von seinem Ärger abzulenken – dass aber genau das Gesuchte seine Wut verursacht hatte, konnte ich nicht ahnen. Eine Sekunde später bereute ich es, danach gefragt zu haben. „Meine Geldbörse!" brüllte er los und mich wunderte es, dass die Fensterscheiben nicht zersprangen. „Ich habe sie gestern Abend in die oberste Schublade verstaut und jetzt ist sie weg, verschwunden! Und dabei habe ich diesen Raum nicht verlassen, nicht einmal als Daniel gegangen ist! Wo ist sie also hin?! Da waren um die 4 000 Dollar und meine gesamten Kreditkarten drin!" Die Lautstärke war angewachsen und die Tatsache, dass es wieder einmal um sein geliebtes Geld ging, verhinderte nicht, dass ich mir kaum ein Grinsen verkneifen konnte. Ich konnte mir denken, wo seine Brieftasche hingekommen war – Chris hatte sie sicher eingesteckt, kurz bevor er die Villa verlassen hatte. Noch dazu hatte er es geschafft, sie zu stehlen, während Dad auf der Couch geschlafen hatte. Von jeher hatten wir gewusst, dass er sein Geld im Schreibtisch aufbewahrte und letzte Nacht war keine Ausnahme gewesen. Das Wissen, dass mein Bruder nicht ganz mittellos war, beruhigte mich ein wenig, aber trotzdem blieb der Schmerz in meinem Inneren, genauso wie die Schuldgefühle. Vor ein paar Minuten hatte ich noch die Hoffnung gehegt, dass er vielleicht bei einem seiner Freunde war, aber jetzt, wo das viele Geld fehlte, war ich mir sicher, dass er nicht irgendwo anders übernachtet hatte, nicht mit 4 000 Dollar und jeder Menge Kreditkarten in der Tasche.
„Dad, ich muss mit dir reden", sagte ich schließlich so gefasst wie möglich, als er sich ein wenig beruhigt hatte und seine Gesichtsfarbe nicht mehr ganz so rot war. Erst jetzt schien er mich, da er seine Wut über das fehlende Geld herausgelassen hatte, richtig wahrzunehmen. Er musterte mich von oben bis unten, während er ein wenig steif in dem Sessel saß und kniff seine Augen zusammen, als sein Blick an meinem Unterkiefer hängen blieb, der wunderschön blau verfärbt war.

„Was ist denn mit dir passiert?" wollte er wissen und ich konnte erkennen, dass es ihm Mühe bereitete, seine Zunge zu bewegen. Die ersten Vorboten des Katers machten sich anscheinend bemerkbar. „Und sag jetzt nicht, du hattest einen Zusammenstoß mit einer Tür." „Nein, ich hatte einen Zusammenstoß mit einer Faust", erwiderte ich, da es sinnlos war, ihn anzulügen – das würde er gleich riechen und in seinem aktuellen Zustand wäre es für meine Gesundheit nicht gerade förderlich, ihm nicht die Wahrheit zu berichten.
„Mit einer Faust?!" polterte er los und beugte sich nach vorne, wobei er ein paar Zetteln vom Tisch stieß, die lautlos zu Boden fielen. „Hast du dich etwa geprügelt?! So weit ich mich erinnere, habe ich dir verboten, außer Haus zu gehen! Und du weißt genau, was passiert, wenn man einen Befehl von mir missachtet!" Ja, das wusste ich nur zu genau – noch mehr Hausarrest, gepaart mit der Tatsache, dass er jeden einzelnen Schritt, den ich machte, für mindestens zwei Wochen kontrollieren würde und dafür sorgte, dass ich einen ganzen Monat lang nicht fernsehen konnte. Aber diesmal war die Situation anders, diesmal hatte ich keinen Befehl missachtet.

„Ich war nicht außer Haus", erwiderte ich weiterhin ruhig, obwohl mir nach schreien zu Mute war. Ich hielt inne, da ich ein wenig Angst davor hatte, ihm zu sagen, woher ich die Prellung hatte, aber ich hatte keine andere Wahl. Er kannte Mittel und Wege, alles aus meiner Nase zu ziehen, auch wenn ich es nicht wollte. „Chris hat mich geschlagen", gestand ich schließlich leise, aber dennoch hatte er es wunderbar verstanden. Mein Vater riss seine Augen auf und eine Ader begann gefährlich an seiner Schläfe zu pochen. „Er hat was?!" Diese drei Worte waren das Einzige, was er herausbrachte, da er auf einmal seine Kiefer fest zusammenpresste und ich wusste, dass er mehr als wütend war. Ich war direkt froh, dass mein Bruder nicht hier war, der diesen Ärger sicher zu spüren hätte bekommen. Aber dennoch musste ich ihm sagen, dass dieser verschwunden war, immerhin war ich schuld daran. Und der Teufel sollte mich holen, wenn ich nicht alles versuchen würde, um ihn zu finden.
„Ja, Chris hat mich geschlagen, aber deswegen bin ich nicht hier", sagte ich und beobachtete, wie mein Gegenüber seinen Kopf schief legte, nur um ihn gleich darauf zu schütteln. Sein Gesicht war weiterhin rot und sein Blick glitt zu der Whiskeyflasche auf dem runden Tisch. Es war offensichtlich, dass er einen Drink benötigte, und das um halb sieben Uhr morgens. Die Zeit, die er brauchte, um zu realisieren, dass es mir nichts ausmachte, von meinem eigenen Bruder geschlagen worden zu sein – er hatte ja einen guten Grund gehabt, dies zu machen – nutzte ich aus und fuhr ganz schnell fort: „Chris ist verschwunden, Dad. Ich bin vorher in sein Zimmer gegangen und da war er nicht. Außerdem fehlt sein Rucksack, Kleidung und das Geld, das er gespart hat." Gleich darauf hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Mein Vater zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen und noch mehr Zettel flatterten zu Boden. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er ließ sie krachend auf den Tisch knallen. „Ich fasse es nicht!" brüllte er los und spießte mich mit seinen Blicken an. „Wie kann er es wagen?! ER hat meine Brieftasche, richtig?! ER hat sie gestohlen!"

Das Einzige, wozu ich fähig war, war ihn entgeistert anzustarren. Ich konnte es nicht glauben: da erzählte ich ihm, dass Chris verschwunden war und alles, was er im Sinne hatte, war sein Geld? Mich traf die Tatsache, dass ihm Dollars wichtiger waren als sein Sohn, mit unglaublicher Wucht und ließ mich einen Schritt zurücktaumeln. Meine Wangen fingen zu brennen an und mich erfasste eine Wut, die ich vorher noch nie gespürt hatte. Meine Muskeln waren angespannt und für einen Moment vergaß ich meine Schuldgefühle, die durch den Ärger in meinem Inneren ersetzt wurden. Ich blickte Dad an, der noch immer auf dem Stuhl saß und zur Sicherheit die Schubladen des Tisches noch einmal durchsuchte – und auf einmal konnte ich mich nicht mehr zurückhalten.
„Hast du mir überhaupt zugehört?!" schrie ich ihn an, unfähig, meine Wut länger zurückzuhalten. Von der plötzlichen Lautstärke meiner Stimme aufgeschreckt, zuckte er zusammen. „Ich habe dir soeben erzählt, dass Chris abgehauen ist und alles, was du im Sinn hast, ist dein verdammtes Geld! Anstatt ihn zu suchen, suchst du deine Brieftasche! Wie kaltherzig bist du eigentlich?!" In meine Augen traten Tränen, aber ich machte nicht einmal den Versuch, sie wegzublinzeln. Die Erkenntnis, dass ich mich in ihm derart getäuscht hatte, machte es mir unmöglich, klar zu denken und jetzt war es an mir, meine Hände zu Fäusten zu ballen.
„So redest du nicht mit mir, Anthony!" polterte er und ehe ich mich versah, sprang er auf, sein Gesicht noch röter als zuvor. Er stützte sich mit seinen Händen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich weit nach vorne, sodass ich seinen nach Alkohol stinkenden Atem riechen konnte. Dass er meinen vollen Namen verwendete, ließ meine Alarmglocken schrillen, aber ich ignorierte sie, war nur noch dazu fähig, mich von meinen Gefühlen leiten zu lassen. Ich wusste, es wäre besser, wenn ich einfach den Mund halten würde, aber ich konnte nicht. Obwohl uns nur etwa 20 Zentimeter voneinander trennten, war die Kluft, die plötzlich zwischen uns entstand, einige Meter breit, aber zu diesem Zeitpunkt war mir das egal.
„Ich rede mit dir, so wie ich will und wie es mir angemessen erscheint! Verdammt, was hat dir Chris getan, dass er dir derart egal ist?! Er hat ständig versucht, deine Aufmerksamkeit zu bekommen und jetzt kümmert es dich nicht einmal, dass er abgehauen ist! Ich kann nicht glauben, dass ich mich all die Jahre so in dir getäuscht habe! Für dich zählt doch nur Geld, Geld und noch einmal Geld, damit du nach außen hin super dastehst! Aber wie es deiner Familie geht, dass interessiert dich nicht! Mich wundert es, dass in deinen Adern Blut fließt und nicht Eis!"
Mittlerweile strömten mir die Tränen über die Wangen, aber meine Stimme war weiterhin laut und fest. Mein Atem ging in keuchenden Stößen und ich wusste, dass mein Vater kurz davor stand, mich zu ohrfeigen, mich dafür zu bestrafen, dass ich ihn so anbrüllte. Bis heute war er nie handgreiflich geworden, aber ich konnte ihm ansehen, dass er es am liebsten wollte. Aber ich wich trotzdem keinen Schritt zurück, sondern starrte ihm weiterhin ins Gesicht, ein Gesicht, das ich in diesem Moment nicht mehr liebte, sondern verabscheute. Wie konnte ein Mensch nur so herzlos sein? Wieso war ihm Chris egal, während ich von ihm wie ein rohes Ei behandelt wurde? Ich wettete um alles, dass er sofort alle Hebel in Bewegung setzen würde, wäre ich verschwunden.
„Das reicht!" schrie er, Speichel sprühte von seinen Lippen und landete teilweise auf meiner Haut, aber dennoch machte ich keine Anstalten, ihn wegzuwischen, obwohl es mich ekelte. Ich fand es bereits schlimm genug, dass ich die Tränen nicht zurückhalten konnte. „Das lasse ich mir nicht bieten und schon gar nicht von dir! Es ist Chris' Entscheidung, wenn er abgehauen ist und ich bin mir sicher, er wird in ein paar Tagen wieder vor der Tür stehen, da ihm das Geld ausgegangen ist! Und das wird er mir mit Zinsen zurückzahlen, dafür werde ich sorgen! Und wenn du es noch einmal wagen solltest, derart mit mir zu reden, dann werde ich dir zeigen, wie kaltherzig ich bin und jetzt geh mir aus den Augen, bevor ich andere Seiten aufziehe!" Er löste eine Hand vom Tisch und zeigte auf die offen stehende Tür. „Raus!" brüllte er und da sein Gesicht wutverzerrt war und ich ihn noch nie so gesehen hatte, hielt ich es für besser, den Rückzug anzutreten. Mir war klar, dass er nicht nach Chris suchen würde und in seiner Rage war er unfähig, klar zu denken.
Ich drehte mich um, eilte aus dem Arbeitszimmer und hätte beinahe Lucille über den Haufen gerannt, der unser Geschrei nicht entgangen war. Ihre Rufe ignorierend, lief ich weiter den Flur hinunter, öffnete die Haustür und verließ die Villa. Nicht eine Sekunde würde ich es länger darin aushalten, auch wenn ich mir bewusst war, dass ich weiterhin Hausarrest hatte. Sollte mich mein Vater doch nachher bestrafen, mir war es egal. Ich rannte einfach weiter, um den Schmerz und die Wut, die in meinem Inneren tobten, zu betäuben. Den Schweiß, der mir nach kürzester Zeit ausbrach, bemerkte ich genauso wenig wie die Tatsache, dass ich immer wieder Chris' Namen rief, in der Hoffnung, er würde irgendwo auftauchen – aber er ließ sich nicht blicken, ließ sich für die nächsten 15 Jahre nicht mehr blicken. 15 Jahre, in denen ich ihn schrecklich vermissen und in denen ich mich immer wieder fragen würde, ob er überhaupt noch lebte. 15 lange Jahre sollte es dauern, bis wir uns wiedersehen würden...


Mit einem Ruck setzte ich mich auf und die Fernbedienung, die auf meinem Bauch gelegen hatte, fiel mit einem scheppernden Geräusch zu Boden. Mein Atem raste, mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren und ich spürte, dass meine Wangen feucht waren und für einen kurzen Augenblick wusste ich nicht, wo ich mich befand. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich realisierte, dass ich mich nicht in der Villa, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, befand, sondern in Chris' Haus.
Ohne dass ich es bemerkt hatte, war ich doch eingeschlafen und mein Unterbewusstsein hatte mich zu jenem Morgen gebracht, an dem ich entdeckt hatte, dass mein Bruder abgehauen war und somit für lange Zeit aus meinem Leben verschwunden war. Seit diesem Tag war nichts mehr wie es vorher gewesen war. Der Streit, den ich mit meinem Vater gehabt hatte, war er Erste in einer ganzen Reihe von lautstarken Auseinandersetzungen gewesen. Wir stritten uns wegen jeder Kleinigkeit und bald war die Atmosphäre zwischen uns mehr als frostig gewesen.
Ich konnte mich noch hervorragend daran erinnern, dass er am selben Tag sämtliche Kreditkarten sperren hatte lassen – und zusätzlich Chris' Konto. Von dieser Aktion hatte er sich erhofft, dass sein Sohn wieder zurückkommen würde, der aber nicht einmal das kleinste Lebenszeichen von sich gegeben hatte.
Als meine Mutter erfahren hatte, dass er verschwunden war, war sie in Tränen ausgebrochen und da war mir klar geworden, dass sie anscheinend mehr an ihm gehangen hatte, als sie gezeigt hatte. Lucille war ebenfalls untröstlich gewesen und ich hatte sie noch nie so niedergeschlagen erlebt. Mum hatte schließlich ihren Ehemann dazu gebracht, nach zwei Tagen eine Vermisstenanzeige in der Zeitung zu schalten, wodurch es öffentlich geworden war, dass mein Bruder von zu Hause ausgerissen war, aber selbst das brachte keinen Erfolg. Nicht einmal die Polizei fand ihn, es schien, als ob er wie vom Erdboden verschluckt war. Selbst seine Freunde hatten keine Ahnung gehabt, wo er steckte und so musste ich langsam einsehen, dass es ein Mädchen zu Stande gebracht hatte, uns beide auseinander zu bringen.
Amy war kurz nachdem die Vermisstenanzeige in der Zeitung erschienen war, vor unserer Haustür aufgetaucht und hatte sich nach Chris erkundigt. Sie war wieder der unscheinbare Engel gewesen und hatte mich flehend mit ihren Rehaugen angeblickt. Aber diesmal war ich nicht auf ihre Masche hereingefallen und ich hatte ihr beinhart die kalte Schulter gezeigt. Sie war schuld daran, dass sich mein Leben auf einmal komplett geändert und dass ich meinen Bruder verloren hatte. Ich hätte sie natürlich fragen können, was sie dazu veranlasst hatte, sich an mich heranzumachen, aber ich wollte es nicht wissen, deshalb hatte ich ihr einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen. Seit jenem Tag hatte ich sie nicht mehr gesehen und ich hatte keine Ahnung, was aus ihr geworden war – und es kümmerte mich nicht einmal heute.
Irgendwann hatte ich schließlich akzeptiert, dass Chris wohl nicht mehr wiederkommen würde und ich hatte angefangen, mein Leben weiterzuleben, auch wenn es mir anfangs schwer gefallen war. Fast ein Jahr später hatte Dad ihn ohne ersichtlichen Grund für tot erklären lassen und seitdem hatte er seinen Namen nie wieder in den Mund genommen und wahrscheinlich nie wieder an ihn gedacht. Den Streit, den er wir deswegen gehabt hatten, war noch heftiger gewesen als der Erste und die Kluft zwischen uns war so weit geworden, dass sie noch heute unüberbrückbar war.
Lucille war bald darauf von meinem Vater gekündigt worden und somit war auch noch der letzte Mensch, der der Villa Wärme verliehen hatte, mir genommen worden. Als ich auf dem College war, hatte sie sich eine schwere Lungenentzündung eingefangen, von der sie sich nie wieder erholt hatte. Von meiner Familie war ich der Einzige gewesen, der auf ihrer Beerdigung gewesen war.
Ich seufzte leise und wischte mir die Tränen, die sich gebildet hatten, als ich geträumt hatte, von den Wangen. Noch heute spürte ich die Schuldgefühle und den Schmerz, als ich erkannt hatte, dass Chris für immer weg war und mich nicht wissen ließ, ob es ihm gut ging. Je mehr Zeit vergangen war, desto weniger hatte ich schließlich an die Ereignisse in jenem Mai gedacht, aber er hatte ständig einen Platz in meinem Herzen behalten, egal, was zwischen uns vorgefallen war. Die Hoffnung, dass wir uns wiedersehen würden, war immer kleiner geworden, bis er vor drei Tagen auf einmal wieder in mein Leben geplatzt war, um es mir zu rauben. Chris hatte viel falsch gemacht, aber ich war nicht unschuldig an der ganzen Geschichte – immerhin hätte ich Amy aufhalten können, hatte ich doch gespürt, dass sie etwas im Schilde führte.
Aber diesmal war etwas anders. Mein Bruder war nicht mehr wütend, hegte mir gegenüber keinen Hass mehr und das würde ich ausnutzen. Einmal hatte ich ihn verloren und ich würde nicht zulassen, dass dies ein zweites Mal passierte, dazu liebte ich ihn viel zu sehr.
Und als ich so auf der Couch saß, meine Hände betrachtete und mit halbem Ohr auf die Stimmen im Fernseher lauschte, kam mir endlich eine Idee, wie ich ihn dazu bringen könnte, in Washington zu bleiben, um wieder ein Teil meines Lebens zu werden.

Fortsetzung folgt...
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