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Washington D.C.
Zur selben Zeit


Der Weg vom Labor in die dritte Etage war Gibbs noch nie so lange vorgekommen wie in diesem Moment. Er hatte das Gefühl, der Fahrstuhl würde sich nicht nach oben bewegen, sondern weiterhin im Keller stehen. Hätte die übliche Beleuchtung die kleine Kabine nicht erhellt, hätte er glatt geglaubt, den Stopphebel umgelegt zu haben. Normalerweise war der Aufzug sein Lieblingsplatz im ganzen Hauptquartier, konnte er hier ungestört Gespräche unter vier Augen führen, ohne Angst zu haben, belauscht zu werden. Aber diesmal konnte er es nicht erwarten, rauszukommen, um den Mann in einen Verhörraum zu schleppen, der ihn in den letzten drei Tagen hintergangen hatte. Jethro konnte es immer noch nicht so Recht glauben, was ihm Abby vor kurzem erzählt hatte – hätte sie nicht als Beweis die Geburtsurkunden gehabt, hätte er sofort angenommen, dass ihr Gehirn wieder einmal wie ein Flipperautomat funktionierte und sie sich die ganze Geschichte zum Zeitvertreib ausgedacht hatte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, würde er diese Variante sogar bevorzugen. Dann wäre er seit langem nicht sprachlos gewesen, sein verdienter ruhiger Nachmittag wäre nicht beim Teufel und er hätte pünktlich Feierabend machen können. Stattdessen würde er die nächsten Stunden in einem Verhörraum verbringen und versuchen herauszufinden, wo Tony war und warum sein Bruder auf einmal seinen Platz eingenommen hatte.

Gibbs wusste nicht, was ihn wütender machte: die Tatsache, dass es jemand geschafft hatte, ihn hinters Licht zu führen oder dass Anthony verschwiegen hatte, dass er einen Zwillingsbruder hatte. All die Jahre, seit sie zusammengearbeitet hatten, hatte er es nicht für wichtig erachtet, ihm zu sagen, dass er Geschwister hatte und kein Einzelkind war, so wie er es ständig behauptet hatte. Auch wenn Christopher vor Jahren von zu Hause ausgerissen und ein Jahr später für tot erklärt worden war, hieß das noch lange nicht, dass das ein Grund war, zu verschweigen, dass man einen Bruder hatte. Wieso hatte Tony das nie erwähnt? Was hatte ihn dazu veranlasst, zu behaupten, seine Kindheit wäre toll gewesen, wenn das offensichtlich nicht der Fall gewesen war? Was war damals vorgefallen, dass sich Chris entschlossen hatte, seinem Elternhaus den Rücken zuzukehren? Und die beiden wichtigsten Fragen waren vor allem, wo sein Agent steckte und warum dessen Zwilling seinen Platz eingenommen hatte. Denn wie Abby vor wenigen Minuten gesagt hatte, glaubte er genauso wenig, dass Anthony freiwillig getauscht hatte, außer er hatte das dringende Bedürfnis, vom Chefermittler höchstpersönlich gefeuert zu werden – nachdem er ihm die saftigste Kopfnuss, die er je erhalten hatte, verpasst hatte.
Auf die letzten beiden Fragen würde er hoffentlich bald eine Antwort bekommen, wenn er Christopher in einen Verhörraum verfrachtet hatte und ihn spüren ließ, was es bedeutete, Gibbs etwas vorzuspielen. Allerdings irritierte es ihn noch immer ein wenig, dass es einen Mann gab, der wie Tony aussah und sich genauso verhielt. Nicht nur äußerlich waren sie sich ähnlich, sondern genauso innerlich, vor allem, was ihr Talent anging, ihn auf die Palme zu bringen. Ebenso wie bei seinem Agent hatte er oft das Bedürfnis, dessen Bruder einen Klaps zu verpassen, damit er aufhörte, Unsinn von sich zu geben. Allerdings musste Jethro zugeben, dass Chris durchaus das Zeug zu einem Ermittler hatte, hatte er doch seine Aufgaben hervorragend erledigt. Er hatte professionell Spuren gesichert und Verhöre geführt und dabei den Eindruck erweckt, das nicht zum ersten Mal zu machen. Dabei hatte er jetzt das Gefühl, dass er dies vorher noch nie getan hatte und sich einfach nur von seinem Instinkt hatte leiten lassen. Und sie hatten auch Christopher zu verdanken, dass sie heute einen Mörder entlarvt hatten. Ohne seine Hilfe würden sie wahrscheinlich jetzt noch im Dunkeln tappen aber Gibbs wusste, dass viel schief gehen hätte können.

Eigentlich müsste er zu Direktor Sheppard gehen und ihr berichten, dass in den letzten Tagen jemand anderes Tonys Platz eingenommen hatte und bei der Aufklärung eines Falles behilflich gewesen war. Aber würde dadurch der Täter nicht wieder freikommen? Würden dann die Beweise vor Gericht standhalten, obwohl sie eine Aussage hatten? Und vor allem würden sofort andere Agenten die Ermittlungen in Bezug auf Chris übernehmen und Jethro somit die Gelegenheit nehmen, ihn selbst zu verhören. Außerdem sagte ihm eine innere Stimme, dass so wenig Menschen wie möglich von dieser Sache erfahren sollten – was bedeutete, außerhalb seines Teams würde niemand eingeweiht werden, jedenfalls so lange, bis er die ganze Wahrheit erfahren hatte. Zusätzlich würden sie vielleicht nie erfahren, wo Tony steckte, wenn jemand anders mit dessen Bruder redete. Gibbs spürte förmlich, dass dieser mauern würde. Auch so würde es schwer werden, aus ihm herauszubringen, wo sich Anthony aufhielt.
Tief in Gibbs' Innerem mochte er Chris ein wenig, ungeachtet dessen, was er ihm vorgemacht hatte. Irgendwie wusste er, dass es dieser nicht immer leicht gehabt hatte und die Tatsache, dass ihn seine Eltern anscheinend nicht geliebt hatten, ließ seine Eingeweide zusammenkrampfen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie man sein eigenes Kind links liegen lassen konnte und sich stattdessen nur auf seinen älteren Bruder konzentrierte. Die Traurigkeit in seinen Augen, als er ihm das gestern in diesem Fahrstuhl erzählt hatte, ließ ihn seltsamerweise nicht mehr los und dämpfte seine Wut ein wenig. Aber dennoch würde er sich das nicht anmerken lassen und hart bleiben. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass er sich nicht von Christophers Aussehen irritieren lassen würde. Es würde schwer sein, in ihm nicht Tony zu sehen, vor allem, da er das gleiche Gesicht besaß. Irgendwie musste er es schaffen, unnachgiebig zu bleiben und sich immer wieder einreden, wer vor ihm saß.

„Zwei DiNozzos", murmelte er und legte seinen Kopf in den Nacken. „Gibt es etwas Schlimmeres?" Eine Sekunde später bildete sich tief in seiner Kehle ein gefährliches Knurren, als ihm jemand einfiel, der tatsächlich schlimmer war: seine drei Exfrauen. Vor allen an den Hochzeitstagen, wo sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, ihn mit Telefonanrufen zu terrorisieren und er nicht selten sein Handy in einem Farbeimer in seinem Keller versenkte. Das waren die Tage, wo er am Unausstehlichsten war und sich jeder in Sicherheit brachte, um ihm nicht in die Quere zu kommen. Er selbst würde eher die Konfrontation mit einem verrückten Serienkiller bevorzugen, als sich mit einer seiner Exfrauen befassen zu müssen. Im Vergleich dazu würde die Auseinandersetzung mit Christopher ein Kinderspiel werden – sah man von der Tatsache ab, dass er Tony bis ins letzte Detail glich und er hoffte noch immer, dass er sich deswegen nicht aus dem Konzept bringen lassen würde.
Der Blick von vorhin kam Gibbs wieder in den Sinn. In den grünen Augen war etwas Endgültiges gelegen, so als ob er gespürt hätte, dass sein Spiel bald auffliegen würde. Allerdings könnte man es auch als Abschied auffassen. Was war, wenn Chris sich entschieden hatte, wieder zu verschwinden, so wie er es vor 15 Jahren getan hatte und nach dem traurigen Ausdruck nach zu urteilen, war er nicht wirklich glücklich darüber. Jethros Eingeweide krampften sich erneut zusammen, als er daran dachte, wie er erfahren hatte, dass der Jüngere in seiner Kindheit nicht geliebt worden war. Die letzten Tage hatten bewiesen, dass er sich hier mehr als wohl fühlte und den Job als Ermittler gerne machte, sah man von den gelegentlichen Abschweifungen seiner Gedanken ab. Gibbs hatte den Eindruck, dass Christopher seine Vergangenheit irgendwie eingeholt und er sich an diesem Ort seit langem wieder einmal geborgen gefühlt hatte. Aber wieso wollte er unbedingt sein Bruder sein? Warum war er nicht unter seiner richtigen Identität in Washington aufgetaucht? Hatte er etwa Angst gehabt, erneut links liegen gelassen anstatt respektiert zu werden? Wenn dem so war, rechtfertigte es aber noch lange nicht, dass er Tony einfach so entführte und seinen Platz einnahm. Im Kopf des Chefermittlers wirbelten die Fragen durcheinander, von denen er hoffte, bald eine Antwort zu erhalten. Er wollte alles wissen, jedes noch so kleine Detail, selbst den Grund, warum Chris vor so vielen Jahren von zu Hause weggelaufen war. Und wenn er alles erfahren hatte – und natürlich wenn Anthony wieder zurück war – würde er dessen Bruder eigenhändig ins Gefängnis bringen. Egal was dieser durchgemacht hatte, es rechtfertigte keine Entführung und schon gar nicht kam jemand ungestraft davon, wenn er Gibbs etwas vorspielte. Ungeachtet dessen, dass er den jungen Mann ein wenig mochte – sogar jetzt, wo er wusste, wer er war und was er getan hatte – musste er für seine Tat einstehen und die Konsequenzen tragen.

Seine Wut, die ihn in Abbys Labor überfallen hatte, ließ ein wenig nach und ließ ihn wieder logischer denken. Sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen, war nicht richtig, auch wenn es um Tony und seine Familie ging. Er würde nicht feinfühlig sein, wie es die Forensikerin vorgeschlagen hatte. Christopher sollte spüren, dass es nicht richtig war, was er gemacht hatte und von nun an würde Jethro versuchen, ihn wie jeden anderen Verdächtigen zu behandeln.
Das leise Pling des Fahrstuhls riss ihn aus seinen Gedanken. Adrenalin strömte durch seine Adern, als ihm bewusst wurde, dass er bald Antworten erhalten würde. Eilig stürmte er aus dem Aufzug, stieß dabei beinahe mit ein paar Agenten zusammen, die darauf warteten, diesen zu benützen, nur um gleich darauf wie angewurzelt zwischen Tonys und Zivas Schreibtisch stehen zu bleiben. Die junge Frau saß an ihrem Platz und schrieb noch immer an ihrem Abschlussbericht, während Christopher nirgendwo zu sehen war. Der Stuhl, auf dem er vor etwa einer viertel Stunde gesessen hatte, war leer, und der Tisch säuberlich aufgeräumt worden – etwas, das seit Wochen nicht mehr vorgekommen war. Wüsste er nicht, dass Anthonys Bruder dies bewerkstelligt hatte, würde er sich spätestens jetzt fragen, ob sein bester Agent nicht durch einen Klon ersetzt worden war.
Sofort ließ er seinen Blick über das Großraumbüro schweifen, auf der Suche nach dem großgewachsenen, braunhaarigen Mann, den er in einem Verhörraum und von dem er jede Menge Antworten haben wollte. Aber er war nicht zu sehen, nicht einmal ein Hemdszipfel von ihm. Die Wut, die ein wenig nachgelassen hatte, kam doppelt so heftig zurück und Gibbs ballte seine Hände zu Fäusten, als er erkannte, dass er wahrscheinlich zu spät dran war. Die Endgültigkeit in den grünen Augen war anscheinend doch ein Abschied gewesen und er verfluchte sich selbst, dass er die Anzeichen nicht vorher richtig gedeutet hatte.

„Wo zum Teufel noch mal steckt DiNozzo?!" brüllte er und bekam nicht einmal richtig mit, wie Ziva und McGee durch die unerwartete Lautstärke zusammenzuckten und beinahe synchron ihre Köpfe hoben, um einen wütenden Chefermittler zu entdecken, dessen Laune gerade den Gefrierpunkt erreicht hatte. Die beiden tauschten verwirrte Blicke aus und fragten sich gleichzeitig im Stillen, welche Laus ihrem Vorgesetzten über die Leber gelaufen war. Bevor er zu Abby hinuntergefahren war, war er für seine Verhältnisse gut gelaunt gewesen und jetzt schien sich das in Luft aufgelöst zu haben. ‚Vielleicht hätte Tony doch nicht einfach so gehen sollen und sich besser Gibbs' Erlaubnis geholt, um sich etwas zu Essen besorgen', dachte McGee und runzelte die Stirn. Andererseits hatte sein Kollege seinen Bericht bereits fertig getippt und ihn auf Jethros Platz gelegt – keine fünf Minuten später, als dieser in die Forensik hinuntergefahren war. Alleine das war mehr als seltsam, brauchte doch DiNozzo meistens länger als Ziva und Tim zusammen, da er sich mit nur zwei Fingern beim Schreiben begnügte, aber diesmal hatte er in einem Rekordtempo getippt, das verdächtig gewesen war. Und jetzt Gibbs' schlechte Laune, die die Atmosphäre in dem Großraumbüro um einige Grad abkühlen ließ. Was ging hier nur vor sich?

„Tony wollte sich etwas zu Essen kaufen", übernahm Ziva die Erklärung, da McGee keine Anstalten machte, den Mund aufzumachen, aus Angst, ihr Boss würde ihm eventuell den Kopf abreißen – und seine zusammengepressten Kiefer ließen darauf schließen, dass er das gerne tun würde. Allerdings konnte sie sich vorstellen, dass es nicht Tims Kopf war, der rollen würde, sondern Anthonys. Aber vielleicht würde Jethro etwas ruhiger werden, wenn er erfuhr, dass sein Agent den Bericht bereits abgeschlossen hatte. Seit wann war dieser überhaupt so schnell? Immerhin ließ er sich öfters damit Zeit und Schreibarbeit war nicht gerade seine größte Stärke. Und wenn sie es sich Recht überlegte, dann war das Lächeln, dass er Ziva und McGee geschenkt hatte, kurz bevor er zum Fahrstuhl gegangen war, ein wenig traurig gewesen und hatte seine Augen nicht erreicht, so als ob er vorhatte, nicht wieder zu kommen und sich still von allen verabschiedet hatte. ‚Quatsch', schalt sie sich gleich darauf. ‚Wieso sollte sich Tony von uns verabschieden? Er holt sich nur etwas zu Essen und hat nicht vor, eine Weltreise zu machen.' Bei dem Gedanken jedoch, dass er irgendwann von hier fortgehen würde, krampften sich ihre Eingeweide schmerzhaft zusammen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, vermisste sie ihn sogar jetzt, obwohl er erst seit ein paar Minuten weg war und gerade das machte ihr Angst. In den letzten Tagen hatte sie Gefühle für ihn entwickelt, die sie erschreckten und sie war gerne in seiner Nähe, um in den Genuss seines strahlenden Lächelns, das ihr Herz schneller schlagen ließ, zu kommen. Und dabei hatte sie gedacht, gegen seinen Charme immun zu sein. Was war nur mit ihr geschehen? Seit wann verhielt sie sich wie ein pubertierender Teenager, der sich zum ersten Mal verliebt hatte? Liebe… ein Wort, das sie seit langem nicht mehr in ihren Gedanken verwendet hatte – jedenfalls nicht in Bezug mit sich selbst. Aber seit gestern ließ es Ziva nicht mehr los, nicht seit sie Tony geküsst hatte. Die Schmetterlinge, die dadurch in ihrem Bauch geflattert waren, hatte sie seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gespürt. Als er ihr heute Morgen erklärt hatte, warum er sie geküsst hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, jemand hätte ihr ein Messer ins Herz gerammt und es genüsslich herumgedreht. Aber seit diesem Moment fragte sie sich ständig, ob sie Anthony liebte, aber bis jetzt war sie auf keine brauchbare Antwort gekommen. Sie wusste jedoch mit Sicherheit, dass sie Empfindungen für ihn hegte, die weder für sie selbst noch für ihn gut waren. Schon alleine die Vorstellung, dass er eine feste Beziehung einging – noch dazu mit ihr – war lächerlich. DiNozzo hatte doch jede Woche eine neue Freundin und dass er richtig sesshaft werden würde, war genauso unwahrscheinlich wie die Tatsache, dass sie sich an alle Verkehrsregeln hielt. Aber dennoch… der Gedanke, dass Tony und sie einmal ein Paar werden würden, ließ sie nicht mehr los, genauso wie der Wunsch, ihn erneut zu küssen, seinen Geschmack erneut kosten zu dürfen.
Und was konnte Gibbs schon machen, wenn er herausfand, dass sie romantische Gefühle für Tony hegte? Er konnte sie schlecht feuern – da würde Jen einiges dagegen haben und diese war immerhin seine direkte Vorgesetzte. Wahrscheinlicher war, dass er sie mit so vielen Akten überhäufen würde, dass sie mit ihnen Jahre beschäftigt wäre. Das wäre sicher die geeignete Strafe, um ihr zu zeigen, dass er es nicht guthieß, wenn sie Regel Nummer 12 gebrochen hatte – vorausgesetzt, dass das jemals eintreffen würde.

„Was soll das heißen, er wollte sich etwas zu Essen kaufen?!" polterte Gibbs los, der genau spürte, dass sich Christopher aus dem Staub gemacht hatte und nicht dabei war, seinen Magen gnädig zu stimmen. Wieder etwas, das die beiden Brüder gemeinsam hatten: ihren unersättlichen Appetit. Seine Frage war rhetorischer Natur gewesen, aber er vergaß für einen kurzen Moment, dass seine Agents die Wahrheit nicht wussten. Deshalb zog er ärgerlich seine Augenbrauen empor, als McGee zu einer stotternden Antwort ansetzte, um seinen Kollegen offensichtlich in Schutz zu nehmen.
„Ähm… also, es ist so, dass Tony gemeint hat, vor Hunger zu sterben und er bräuchte etwas Richtiges zu essen und keine Schokoriegel." Tim schluckte und versuchte dem stechenden Blick aus den eisblauen Augen zu entkommen, indem er überhall hinsah, nur nicht in Gibbs' Gesicht. Ein Schmutzfleck auf dem Boden kam ihm auf einmal ziemlich interessant vor.
„Habe ich nicht deutlich gesagt, dass ihr eure Berichte fertig schreiben sollt?! Ich habe euch nicht erlaubt, vorher etwas zu essen! Wieso habt ihr ihn nicht aufgehalten?!" Die betretenen Mienen, die Ziva und McGee plötzlich zeigten, ließen ihn tief durchatmen. Er war zwar stinkwütend, aber er durfte diese nicht an den beiden auslassen, wussten sie ja nichts von Christopher und seinem falschen Spiel. Dennoch… die Tatsache, dass dieser einem Verhör entkommen war – vorerst – ließ seinen Ärger ein Ventil suchen und das waren seine zwei Agents.
„Tony hat seinen Bericht, gleich nachdem du zu Abby hinuntergefahren bist, beendet", sagte Ziva, die nicht verstand, warum Gibbs derart aus der Haut fuhr und er den Eindruck erweckte, jemanden den Hals umdrehen zu wollen. „Was ist los? Du regst dich doch sonst nicht so auf, wenn Tony sich etwas zu essen kauft." Der Chefermittler schüttelte seinen Kopf und fuhr sich mit einer schnellen Bewegung durch seine Haare. „Was los ist?" wiederholte er Zivas Worte, eine Spur ruhiger und nicht mehr ganz so laut, wie noch vor ein paar Sekunden, weshalb die junge Frau und McGee hofften, dass das schlimmste Donnerwetter vorbei war.

„Wir wurden in den letzten Tagen hinters Licht geführt, das ist los", fügte er eine Sekunde später hinzu und entschied sich endlich, sich vom Fleck zu rühren und seinen Schreibtisch anzusteuern. Den leeren Platz seines Agents anzustarren, würde Christopher auch nicht zurückbringen. „Und… und was hat das mit Tony zu tun?" wollte McGee mutig wissen, der erleichtert war, dass die Wut seines Bosses ein wenig verraucht war und er nicht Gefahr lief, seinen Kopf zu verlieren, wenn er den Mund aufmachte. Gibbs blieb vor dessen Schreibtisch stehen und blickte Tim direkt in die Augen, was den anderen dazu veranlasste, heftig zu schlucken und er widerstand nur knapp dem Drang, an seinem Hemdkragen zu zerren, der ihm auf einmal die Luft abzuschnüren schien.
„Es hat jede Menge mit Tony zu tun", erwiderte der Chefermittler und versuchte seine Wut ein wenig zu zügeln. Sie brodelte gefährlich nahe an der Oberfläche und suchte sich immer wieder einen Weg ins Freie. „Und vor allem mit Christopher, seinem Zwillingsbruder."
Der Jüngere konnte nichts gegen seinen Unterkiefer machen, der der Schwerkraft folgte und nach unten klappte, wodurch man eine herrliche Sicht auf die Mandeln in seinem Rachen erhielt. Er starrte Gibbs an, unfähig, den Blick von den blauen Augen abwenden zu können und suchte in ihnen ein Zeichen dafür, dass man soeben einen Scherz mit ihm trieb. Aber McGee fand nichts weiter als das übliche, gefährliche Funkeln, das jeden Verdächtigen sofort zu einem Geständnis brachte und das ihm verriet, dass es um die Geduld des Älteren nicht gut bestellt war. Und dann realisierte er so richtig, was sein Boss gerade gesagt hatte. Zwar hatten die Worte bereits vorher sein Gehör erreicht, aber sein Gehirn war erst in diesem Moment fähig, diese zu verarbeiten. Er konnte nichts weiter machen, als ungläubig seinen Boss anzustarren.

„Zwillingsbruder?" Ziva war die Erste, die den Versuch wagte, etwas zu sagen. Im Gegensatz zu ihrem Kollegen hatte sie sofort verstanden, was Jethro meinte und sie hatte das Gefühl, jemand hatte über ihrem Kopf einen Eimer eiskalten Wassers ausgeleert. Obwohl es in dem Großraumbüro angenehm warm war, fing sie zu zittern an und ihr Herzschlag erhöhte sich rapide. Waren noch vor ein paar Sekunden Schmetterlinge in ihrem Bauch herumgeflattert, verwandelten sich diese in einen harten Klumpen, der mit gemeinen, spitzen Dornen besetzt war – jedenfalls kam es ihr so vor. Ihre Eingeweide schienen in Flammen zu stehen und ein übler Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus.
Zwar hatte sie die Frage an Gibbs gerichtet, aber sie starrte die ganze Zeit auf den Schreibtisch ihr gegenüber, der verlassen und aufgeräumt war. Gleich darauf sah sie DiNozzo vor sich, wie er auf dem Stuhl saß und mit großer Geschwindigkeit den Abschlussbericht tippte. Und es war dieses Bild in ihrem Kopf, die ihr die ganze Tragweite der Situation nahe brachte. Ziva zuckte wie unter einem Hieb zusammen und Luft entwich unwillkürlich ihren Lungen, so als ob sie ein harter Schlag in den Magen getroffen hätte. Ungläubig riss sie ihre Augen auf und ihre Gedanken rasten mit unglaublicher Geschwindigkeit durch ihr Gehirn. ‚Das kann nicht sein, das darf nicht sein', sagte sie sich innerlich, während sich ihr Herz schmerzhaft zusammenballte und beinahe in Stücke zersprang, als sie realisierte, dass es nicht Tony gewesen war, der sie geküsst hatte. Es war auch nicht Tony gewesen, der in den letzten Tagen hier gewesen war, um sie zu ärgern, es war auch nicht Tony gewesen, der mit ihnen den Fall des Commanders gelöst hatte und es war auch nicht Tony gewesen, der sich so seltsam benommen und den Eindruck erweckt hatte, nicht mehr er selbst zu sein. Und jetzt kannte sie den Grund, warum sie ständig das Gefühl gehabt hatte, einen anderen Menschen vor sich gehabt zu haben. Er hatte einen Zwillingsbruder, jemanden, der genauso aussah wie er – einen Bruder mit dem Namen Christopher.
Ihre Gefühle spielten verrückt und sie wusste nicht, was sie mit ihnen anfangen sollte. Sie hatte gedacht, sich zu Anthony hingezogen zu fühlen, dessen leichte Veränderung sie seit Dienstag mehr als anziehend gefunden hatte und jetzt musste sie erfahren, dass nicht er es gewesen war, für den sie plötzlich Empfindungen, die ihr fremd waren, hatte. Wie sollte sie jetzt mit dem Ganzen umgehen? Wie konnte sie jemals wieder in ihrem Kollegen nur einen Kollegen sehen und nicht den Mann, der ihre Welt auf den Kopf gestellt hatte? Und vor allem wollte sie wissen, nach wem sie sich so verzerrte: nach Tony oder nach Christopher? Von all den Fragen schwirrte Ziva der Kopf und sie schüttelte ihn, noch immer ungläubig, was sie soeben erfahren hatte.
In all dem Chaos in ihrem Inneren vergaß sie beinahe, sich wie eine Bundesagentin zu verhalten. Erst langsam wurde ihr bewusst, wie absurd Gibbs' Aussage in Wirklichkeit klang und es war diese Tatsache, an die sie sich wie an einen Strohhalm klammerte. Hätte Tony nicht seinen Bruder erwähnt, wenn er einen hatte? Er hatte doch ständig behauptet, ein Einzelkind zu sein, von daher fand sie es ein wenig seltsam, dass er auf einmal einen Zwilling haben sollte, von dem niemand etwas wusste. Vielleicht irrte sich ihr Boss einfach - er musste sich einfach irren.

„Wie ist das nur möglich?" fragte McGee, noch immer perplex. Er konnte Zivas schockierte Miene überdeutlich sehen und er wusste, seine eigene war nicht anders. „Tony hat nie… ich meine, er hat nie erwähnt, dass er… ich dachte, er wäre ein Einzelkind", brachte er schließlich einen Satz zustande.
„Das haben wir alle gedacht", erwiderte Gibbs und schaffte es, seine Stimme normal klingen zu lassen. Das Unglauben seiner Kollegen konnte er deutlich spüren, war es ihm vorher, als ihm Abby alles erzählt hatte, doch nicht anders ergangen. Diese ganze Angelegenheit war mehr als verrückt.
„Und… und dieser Christopher war in den letzten Tagen bei uns?" wollte Tim wissen und als sein Boss mit dem Kopf nickte, seufzte er leise. Jetzt konnte er sich auf alles einen Reim machen, jetzt wusste er auch, weshalb ihn der andere am Dienstag beim Vornamen angeredet und auf einmal angefangen hatte, so ordentlich zu sein. Er hätte schon misstrauisch werden müssen, als DiNozzo vor sieben Uhr im Büro erschienen war und ein wenig fehl am Platz gewirkt hatte. Aber wie hätte er auch nur erahnen können, dass es nicht Tony gewesen ist, der sie mit seiner Anwesenheit beehrt hatte, hatte doch sein Bruder hervorragende Arbeit geleistet und mitgeholfen, einen Mörder zu überführen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er das zum ersten Mal machte. ‚Zwillingsbruder', dachte er und schüttelte ungläubig den Kopf. Jetzt gab es auf einmal zwei Anthonys, die ihn ärgern konnten. Das war ja wie in einem schlechten Spielfilm.

„Aber wo steckt Tony?" fragte McGee schließlich, als er den ersten Schock überwunden hatte. „Ich habe keine Ahnung", antwortete Gibbs und ballte seine Hände zu Fäusten. Er konnte es überhaupt nicht ausstehen, nicht zu wissen, was vor sich ging. „Aber wo auch immer er ist, Christopher ist auf dem Weg zu ihm und nicht etwa, um sich mit Essen einzudecken. Nein, mein Instinkt sagt mir, dass er zu seinem Bruder fährt. McGee, Abby hat dir alles, was sie über ihn herausgefunden hat, geschickt. Vielleicht ist irgendwo ein Hinweis enthalten, ob er sich kürzlich eine Wohnung oder etwas anderes gemietet hat, vor allem auf seinen falschen Namen, den er seit Jahren benutzt." „Geht klar, Boss", entgegnete der Jüngere sofort und begann wie wild zu tippen.
Ein paar Sekunden später erschienen das Bild von Chris in dem orangenen Gefängnisoverall auf dem Plasmabildschirm und daneben das Foto von Tony, weshalb Ziva sofort die Hoffnung aufgab, dass sich Gibbs vielleicht geirrt hatte. Wie in Trance stand sie auf und ging auf ihre beiden Kollegen zu, ohne jedoch den Blick von den beiden Gesichtern abzuwenden, die vollkommen gleich waren, selbst das Grün in ihren Augen wies keinen Unterschied auf. „Das ist mehr als unglaublich", sagte sie schließlich, als sie sicher war, dass ihre Stimme nicht allzu von den Gefühlen beherrscht wurde, die weiterhin in ihrem Inneren tobten. Sie dachte ständig an den gestrigen Moment, als sie geküsst worden war, von Chris, den sie für Tony gehalten hatte. Aber wem galten nun ihre Gefühle? Nicht einmal durch die erschreckende Wahrheit waren sie weniger geworden, sondern nur komplizierter. Sie wusste genau, dass es einige Zeit brauchen würde, bis das Chaos in ihrem Inneren entwirrt war und sie wieder logischer über diese Sache denken konnte. Da war sie einmal auf dem besten Wege, sich ernsthaft zu verlieben und dann passierte so etwas. Sie wusste nicht einmal, auf wen sie wütend sein sollte: auf Tony, der verschwiegen hatte, dass er einen Bruder hatte, auf Chris, der sich als Tony ausgegeben hatte oder auf sich selbst, da sie zugelassen hatte, dass ihr Herz anfing, verrückt zu spielen.
„Unglaublich ist nicht einmal der richtige Ausdruck dafür", sagte Gibbs und riss sie aus ihren Gedanken. „Und Christopher wird sich noch wünschen, dass er niemals hier aufgetaucht wäre", fügte er hinzu und ließ Ziva mit seinen Worten innerlich zusammenzucken. Die Wut, die sich in sein Inneres zurückgezogen hatte, konnte man deutlich in seiner Stimme hören und auf einmal hatte sie Angst, Angst darüber, was mit Tonys Bruder geschehen würde. Ihr Boss machte nicht den Eindruck, allzu feinfühlig mit ihm umgehen zu wollen, wenn sie ihn gefunden hatten. Was würde nur mit dem Mann passieren, der ihre Welt derart durcheinander gebracht hatte? Würde er es schaffen, rechtzeitig zu verschwinden oder würde ihn Gibbs einfach ins Gefängnis stecken? Aber irgendwie wollte sie das gar nicht.
„Du kannst ihn doch nicht einfach so verhaften", meinte sie schließlich und blickte Gibbs mutig in seine blauen Augen. „Und wieso nicht?!" herrschte er sie an. „Nur weil er Tonys Zwillingsbruder ist? Falls du es noch nicht mitbekommen hast, aber Christopher hat ihn entführt, seinen Platz eingenommen und uns vorgemacht, der richtige DiNozzo würde bei uns sein. Und du meinst, ich kann ihn nicht einfach so verhaften? Er ist ein Verbrecher, egal wessen Bruder er ist." Die beiden blickten sich sekundenlang an, ohne dass der andere nachgeben wollte, während McGee dabei war, die Informationen, die er von Abby erhalten hatte, in Rekordzeit zu überfliegen.
Dass Chris vor Jahren für tot erklärt worden war, erschreckte ihn beinahe mehr als die Tatsache, dass Tony auf einmal einen Zwilling hatte. Am meisten interessierte es ihn jedoch, weshalb er vor 17 Jahren von zu Hause weggelaufen war. Irgendetwas musste passiert sein, nicht umsonst hätte Anthony verschwiegen, dass er Geschwister hatte. Obwohl es sich für Tim immer so angehört hatte, so hatte sein Freund wohl doch nicht so eine glückliche Kindheit gehabt und sie musste teilweise schmerzhaft gewesen sein, wenn der eigene Bruder für tot erklärt worden war, obwohl er quicklebendig war. Vielleicht hatte DiNozzo alles verdrängen wollen, was McGee verstehen konnte. In seinem eigenen Leben gab es Erinnerungen, an die er nicht gerne dachte.
Genauso wie Ziva fand er, dass Gibbs Christopher nicht verhaften sollte, ungeachtet dessen, was er getan hatte. Entführung war zwar ein Verbrechen aber tief in seinem Inneren hatte er das Gefühl, dass der Italiener hinter Gitter nicht lange überleben würde. Und wer wusste schon, ob Tony überhaupt Anzeige erstatten wollte, wenn sie ihn gefunden hatten. Vielleicht würden sie Chris auch nicht mehr erwischen, da er sich aus dem Staub gemacht hatte. Hatte er gespürt, dass Gibbs seinem Geheimnis auf die Spur gekommen war und hatte deswegen das Weite gesucht? Oder war es purer Zufall gewesen, dass Abby hinter die Wahrheit gekommen war?
„Ich habe etwas entdeckt!" rief McGee ein paar Sekunden später, nicht wissend, ob er sich darüber freuen sollte, weshalb er prompt vergaß zu erzählen, was er herausgefunden hatte.
„Muss ich etwa bis morgen warten, bis du uns aufklärst oder sagst du es uns auch so?" wollte Gibbs, der Ziva weiterhin aus den Augenwinkeln beobachtete, ärgerlich wissen. Sie hatte sich wieder den beiden Bildern zugewandt und war entgegen ihrer Angewohnheit ziemlich durch den Wind.
„Ähm… nein", antwortete Tim, tippte etwas in seine Tastatur, wodurch die zwei Fotos vom Plasmabildschirm verschwanden und einem Kaufvertrag Platz machten. Ziva blinzelte ein paar Mal, als die beiden DiNozzos ohne Vorwarnung ersetzt wurden. Damit die anderen das jedoch nicht mitbekamen, gab sie vor, das Dokument zu lesen.
„Das ist der Kaufvertrag für ein Haus etwas außerhalb von Washington", erklärte McGee aufgeregt und stand auf, da er nicht mehr ruhig sitzen konnte. „Christopher hat es sich unter seinem Decknamen vor etwa sechs Monaten gekauft und es auf einmal bezahlt. Geldprobleme scheint er nicht gerade zu haben." „Und wahrscheinlich hat er es sich nicht legal beschafft", murmelte Gibbs beinahe tonlos und prägte sich die Adresse ein. Er spürte, dass sie einen wichtigen Schritt weitergekommen waren und dass sie dort des Rätsels Lösung erwarten würde. „Los, schnappt euch eure Sachen. Es wird Zeit, dass wir uns den richtigen DiNozzo wieder zurückholen." Während Jethro sein Holster mit der Waffe an seiner Hüfte befestigte, überkam ihn jedoch das Gefühl, dass es nicht ganz so einfach werden würde, wie er sich das vorstellte – und er sollte Recht behalten.

Fortsetzung folgt...
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