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Etwas außerhalb von Washington
Kurz nach 15:30 Uhr


Zeit war plötzlich relativer Begriff. Es gab Minuten, die vergingen so schnell, dass ich es nicht einmal mitbekam und dann schien die Uhr stillzustehen, um mich zu verhöhnen. In diesem Augenblick hatte sich der Sekundenzeiger wieder einmal dazu entschlossen, sich gegen mich zu verschwören und tickte langsam vor sich hin, dass ich alleine vom Zusehen müde wurde und das beständige Tick Tack hatte eine leichte, hypnotisierende Wirkung auf mich.
Ich saß weiterhin im Wohnzimmer auf dem gemütlichen Sofa und starrte Löcher in die Luft. Den Fernseher hatte ich vor gut einer Stunde ausgeschalten, da die nachmittäglichen Sendungen nicht gerade dazu beitrugen, mich aufzuheitern oder abzulenken. Stattdessen beobachtete ich die Uhr, die über der Tür hing, die in die Küche führte und zählte Sekunde für Sekunde, die verstrichen und die mir weismachten, dass sich der Tag immer näher dem Ende zuneigte und ich mein Leben bald wieder zurückbekommen würde. Mittlerweile war es kurz nach halb vier am Nachmittag, aber ich hatte das Gefühl, ich würde mich bereits eine Ewigkeit hier aufhalten. Zwar konnte ich mich frei bewegen, konnte überall hingehen wo ich wollte, war nicht mehr länger von Betonmauern umgeben, aber dennoch kam ich mir wie in einem großen Käfig vor. Ich war öfters durch die Räume gewandert, obwohl ich inzwischen jede Ecke des Hauses kannte, nur um mich anschließend wieder auf die Couch fallen zu lassen, unfähig etwas anderes zu machen, als einfach nur die Staubflocken zu zählen, die im Licht der Sonne tanzten.
Nicht einmal die Spiele, die Chris auf seinem Computer hatte, hatten mich sonderlich interessiert und so hatte ich mich für ein paar Minuten damit beschäftigt, ein wenig im Internet herumzusurfen, ohne jedoch meinen Kollegen eine Mail zu schreiben, wo ich war und was ich an dem Ort machte. Ich wusste, Gibbs würde sofort hierher kommen und wer weiß was mit meinem Bruder machen, wenn er die Wahrheit erfuhr, womit mir die Möglichkeit, ihn zurückzubekommen, genommen werden würde. So beschränkte ich mich damit, meine Lieblingshomepages zu besuchen – darunter die von FHM. Der Anblick der leicht bekleideten Frauen hatte mich für kurze Zeit ein wenig abgelenkt, aber sie hatten schlussendlich nicht geholfen, mich von der Nervosität zu befreien, die mich ergriffen hatte und mich auch jetzt noch nicht losgelassen hatte. Je näher der Abend kam, desto größer war meine Ruhelosigkeit geworden und so hatte ich den Computer wieder abgeschaltet. Um mich weiterhin zu beschäftigen, hatte ich das Geschirr, das ich für die Spaghetti benötigt hatte, wieder aus dem Geschirrspüler geräumt und es händisch abgewaschen. Ich hatte sogar die Arbeitsflächen in der Küche sauber gewischt, obwohl sie nicht schmutzig gewesen waren, aber selbst meine Putzaktion hatte nur 30 Minuten in Anspruch genommen. Im Prinzip hatte ich nichts dagegen, dass Chris derart ordentlich war, aber ich hatte mir am heutigen Tag wirklich gewünscht, es würde irgendetwas herumliegen, das ich wegräumen hätte können. Wer hätte sich jemals gedacht, dass ich aus reiner Langeweile einmal putzen bevorzugen würde, anstatt mich faul vor den Fernseher zu lümmeln.

Und jetzt saß ich hier, auf der bequemen Couch, starrte geistesabwesend die Uhr an und wartete darauf, dass mein Bruder zurückkam, um mich endgültig freizulassen. Nicht dass ich mich beschweren würde, bald wieder offiziell Anthony DiNozzo sein zu dürfen, aber ich würde erst dann gehen, wenn ich Chris dazu gebracht hatte, in Washington zu bleiben. Er würde sich noch wundern. Wenn er gedacht hatte, dass er einfach wieder so davonlaufen konnte, hatte er sich geschnitten. Die Idee, wie ich ihn dazu bewegen konnte, nicht das Weite zu suchen, war beständig in meinem Kopf und ich wusste, sie war ein wenig risikoreich, hatte ich doch vor, ihn aus der Reserve zu locken und ihn somit dazu zu bringen, endlich mit mir über den Abend vor 15 Jahren zu reden. Ich hatte in den letzten beiden Tagen gemerkt, dass er sich verschloss, wenn er die Ruhe in Person war und deshalb hatte ich mich spontan entschlossen, ihn wütend zu machen, ihn dazu zu bringen, dass er all seine Schutzschilder einriss und alles herausließ. Allerdings stellte ich mir die Frage, womit ich ihn konfrontieren konnte, damit er seine Beherrschung verlor, aber ich wusste, wenn es so weit war, würde mir etwas einfallen. Ihm die Wahrheit zu sagen, war der einzige Weg, damit er nicht einfach davonlief. Ich würde ihm vor Augen führen, dass er all die Jahre auf dem Holzweg gewesen war und wenn das nur durch einen handfesten Streit geschehen konnte, dann würde ich auch einen heraufbeschwören, in der Hoffnung, ihm würde nicht wieder die Hand ausrutschen, wie vor so langer Zeit, wusste ich doch, das er unberechenbar werden konnte, wenn er wütend war.
Obwohl Chris mir gegenüber freundlicher wie noch am Montagabend und am Dienstag gesonnen war, so stand die Geschichte mit Amy weiterhin zwischen uns. Wenn wir diese Sache nicht bereinigten, würde er nie in Washington bleiben, da war ich mir ganz sicher und ich wollte nicht, dass er auch in Zukunft glaubte, ich hätte ihm seine Freundin ausgespannt. Und wenn er sich vor den Konsequenzen fürchtete, was er mir angetan hatte, so würde ich dafür sorgen, dass Gibbs ihn nicht ins Gefängnis steckte, wenn er die Wahrheit erfuhr. Egal wie es laufen würde, ich würde nicht länger verschweigen, dass ich einen Bruder hatte und dass dieser in den letzten Tagen meinen Platz eingenommen hatte. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass mein Boss nicht gerade begeistert darüber sein würde, wenn ich ihm von Chris erzählen würde, aber schweigen würde ich definitiv nicht mehr. Die Zeit, wo ich verdrängt hatte, dass ich kein Einzelkind war, war endgültig vorbei.

Ich seufzte leise und fuhr mir mit einer Hand durch meine Haare. Der Sekundenzeiger der Uhr schien sich nicht vom Fleck zu rühren und die Minuten verstrichen quälend langsam. Ich hatte schwören können, dass bereits wieder eine halbe Stunde vergangen war, aber in Wahrheit waren es nicht einmal fünf Minuten. Wo blieb Chris nur so lange? Hatte ich mich in dem Gefühl, dass er vor Sonnenuntergang hier auftauchen würde, getäuscht? Oder hatten sich irgendwelche Komplikationen in dem Fall ergeben, wo er doch behauptet hatte, dieser wäre heute schnell gelöst? Oder hatte Gibbs mittlerweile herausgefunden, dass ich einen Bruder hatte und ihn verhaftet? Gleich darauf schüttelte ich jedoch den Kopf. Irgendwie spürte ich, dass er nicht in einem Verhörraum saß und regelrecht ausgequetscht wurde. Außerdem, wie konnte mein Boss schon herausfinden, was sich in den letzten Tagen vor seiner Nase abgespielt hatte? Chris würde nie einen Fehler machen oder sich versprechen. Aber wieso sagte mir mein Instinkt plötzlich, dass bald etwas geschehen würde?
Ich begann, auf der Couch unruhig herumzurutschen und meine Nervosität verstärkte sich um ein Vielfaches. Mit den Fingern meiner rechten Hand trommelte ich auf meinem Oberschenkel herum, während ich versuchte, meinen Puls wieder in geordnete Bahnen zu befördern. Nicht einmal vor dem ersten Date mit einem Mädchen war ich derart aufgeregt gewesen, andererseits war ich damals nicht davor gestanden, meinen Bruder ein zweites Mal zu verlieren. Wie ich es hasste, hier sitzen und abwarten zu müssen.

Die Minuten verstrichen, die Uhr tickte leise vor sich hin und ich begnügte mich damit, auf den Boden zu starren und ab und zu mit meinen Fingern in einem Takt herumzuklopfen, der keinem bestimmten Rhythmus entsprach. Als ich bereits nach der Fernbedienung greifen wollte, um erneut den Fernseher einzuschalten, in der Hoffnung, es wurde endlich etwas Vernünftiges ausgestrahlt, zog das Brummen eines Motors meine Aufmerksamkeit auf sich. Abrupt hob ich meinen Kopf, sodass ich mir beinahe meine Halswirbel verrenkt hätte. Mein Atem wurde unwillkürlich schneller und ich drehte mich so, dass ich aus dem Fenster sehen konnte, durch das man einen wunderbaren Blick auf die Zufahrt hatte. Mein Mustang kam in Sicht und zum ersten Mal wurde mir so richtig bewusst, dass Chris in den letzten Tagen mit meinem geliebten Wagen unterwegs gewesen war. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, nicht vor Langeweile zu sterben, dass mir das vorher gar nicht aufgefallen war. Unwillkürlich ballte ich meine Hände zu Fäusten, da ich es nicht ausstehen konnte, wenn jemand anderes als ich selbst mit meinem Auto fuhr, egal um wen es sich handelte.
Seit vor nicht ganz einem Jahr meine Corvette gestohlen und für ein Verbrechen verwendet worden war, hütete ich mein derzeitiges Fahrzeug wie ein Baby, da ich nicht wollte, dass ich noch einmal im Fernsehen mitverfolgen musste, wie es zu Schrott verarbeitet wurde. Damals war ich wirklich kurz davor gewesen, vor allen anderen im Großraumbüro anzufangen, wie ein Kleinkind zu jammern. Meine Unterlippe hatte gezittert und das unterdrückte Lachen von Kate hatte auch nicht gerade dazu beigetragen, mich zu beruhigen – im Gegenteil. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich dringend eine feste Umarmung gebraucht und jemanden, mit dem ich über mein geliebtes Auto hätte trauern können. Aber alle waren viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, alles im Fernsehen mitzuverfolgen, anstatt mich zu trösten. Von Gibbs hatte ich keine netten Worte erwartet, jedoch von Kate oder McGee schon, aber beide hatten den Mund nicht aufbekommen, außer sie hatten bei dem Anblick des kaputten Wagens gegrinst und dabei Ohs und Ahs von sich gegeben.

Seit jenem Tag ließ ich niemanden außer mir selbst hinters Steuer und ich würde mich sicher bald überzeugen, ob Chris ja keinen Kratzer in den Lack gebracht hatte. Sonst würde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn aufzuspüren, sollte es ihm doch gelingen, von hier zu verschwinden.
Mit Argusaugen verfolgte ich, wie er den Mustang ausrollen ließ und ein paar Sekunden später das Brummen des Motors verstummte. Durch die Erkenntnis, dass es jemand gewagt hatte, meinen Wagen zu fahren, hatte ich für einen Moment meine Nervosität vergessen, die jetzt mit Wucht wieder zurückkam. Nicht mehr lange und es würde sich zeigen, ob ich es schaffte, Chris aus der Reserve zu locken und ihn dazu zu bringen, mir endlich zuzuhören.
Ich beobachtete, wie er die Tür des Autos aufmachte, sich den Rucksack, der mir gehörte, vom Beifahrersitz schnappte und schließlich sorgfältig absperrte, obwohl sich niemand in unmittelbarer Umgebung befand. Für einen kurzen Augenblick blieb er noch stehen und betrachtete versonnen den Mustang, strich sachte über den glänzenden Lack und drehte dann seinen Kopf, um meinem Blick zu begegnen. Auf seinen Lippen breitete sich ein kleines Lächeln aus, das auf die Entfernung ein wenig traurig wirkte und unwillkürlich zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Hatte er es vielleicht doch nicht geschafft, den Fall zu lösen, wie er es gerne gewollt hatte? Oder war etwas anderes geschehen?
Ein paar Sekunden sahen wir uns durch das Fenster an, bevor sich Chris schließlich vom Fleck löste, sich den Rucksack umhängte und aus meinem Blickfeld verschwand, als er zur Haustür ging. Obwohl ich das Bedürfnis verspürte, aufzustehen, blieb ich sitzen, aber anstatt den blauen Himmel draußen anzustarren, beugte ich mich ein wenig nach links, um in den Vorraum hinaussehen zu können. Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufging und mein Bruder erneut in Sicht kam. Mit Schwung trat er ein, warf mit dem Fuß die Tür wieder ins Schloss und der traurige Ausdruck von vorhin war verschwunden. Stattdessen war sein Lächeln breiter geworden und er machte auf mich den Eindruck eines unbeschwerten Menschens. Hatte ich mir die Traurigkeit von vorhin nur eingebildet? Aber ich dachte nicht länger darüber nach, da mir auf einmal bewusst wurde, dass ich mir ganz schnell etwas einfallen lassen musste, um ihn aus der Reserve zu locken. Hatte ich vor Minuten gewünscht, er würde bald hier auftauchen, wollte ich jetzt, dass er mir noch etwas Zeit ließ. Andererseits brachte es nichts, es noch weiter hinauszuzögern.

Chris kam zu mir ins Wohnzimmer und ließ den Rucksack neben dem Tisch auf den Boden fallen. „Hey", begrüßte er mich freundlich und setzte sich neben mich auf die Couch, wobei er sich sorgfältig in dem Raum umsah und eine Bestandsaufnahme machte, ob ich etwas kaputt gemacht oder ein Chaos angerichtet hatte. „Selber hey", erwiderte ich und ließ mich zurücksinken. „Und keine Bange, ich habe alles an Ort und Stelle gelassen und nichts versteckt." Ich zwinkerte ihm zu und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich noch immer ein wenig nervös war. Wie sollte ich es nur schaffen, ihn wütend zu machen, wenn er anscheinend gut gelaunt war? „Ich wollte nur sicher gehen. Immerhin bist du der Chaot von uns beiden", sagte er mit einem Grinsen und entspannte sich sichtlich. Seine Augen fixierten mich und der Blick war so intensiv, dass ich Mühe hatte, mich nicht hin und her zu winden. In diesem Moment erinnerte er mich ein wenig an Gibbs, der mich immer dann so ansah, wenn ich etwas angestellt oder Unpassendes gesagt hatte. Chris hatte das Niederstarren von ihm bereits hervorragend übernommen – jedoch ohne dem gefährlichen Funkeln, das einen in eine Eisstatue verwandeln konnte.
„Ich habe dir sogar den Gefallen getan und deinen Saustall von Schreibtisch aufgeräumt, bevor ich gefahren bin", fuhr er fort und grinste bei meinem leicht beschämten Gesichtsausdruck noch breiter. „Keine Ahnung, wie du es geschafft hast zu arbeiten, während du von Papierbällen und Schokoriegelverpackungen umgeben warst." Ich zuckte die Schultern, musste ihm allerdings Recht geben. Meinen Schreibtisch hatte ich in letzter Zeit wirklich mit allerlei Sachen vollgekramt, ohne sie wieder wegzuräumen oder den Mist in den Mülleimer zu entsorgen. Und ich wusste, spätestens in zwei Wochen würde es wieder so aussehen, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte.
„Aber ich habe immer alles gefunden, wenn ich es gebraucht habe. Ich hoffe, du hast nicht allzu viel verräumt." „Das wirst du morgen schon sehen, oder vielleicht heute noch. Das liegt bei dir, wie du den Abend verbringen willst." Zwischen uns entstand eine gespannte Stille und ich versuchte, nicht daran zu denken, dass es womöglich das letzte Mal sein konnte, dass wir beisammen saßen. Aber noch war ich nicht bereit, aufzugeben. Irgendwie würde ich es schaffen, dass er mir zuhörte, sich die Wahrheit anhörte und das Missverständnis zwischen uns endlich ausgeräumt wurde.
„Wie lief es heute?" durchbrach ich schließlich unser Schweigen, das für mich, je länger es andauerte, immer unangenehmer wurde. Außerdem wollte ich noch ein wenig Konversation betreiben und ihn so dazu zwingen, länger zu bleiben. Und vielleicht würde ich etwas sagen, das ihn wütend machte und wenn es so weit war, wollte ich diese Chance auch nützen.

Chris legte seinen Kopf ein wenig schief und schien zu überlegen, wie er auf meine Frage antworten sollte. Abwesend zupfte er an seiner Jeans herum und ich spürte, dass ihn etwas bedrückte. Aber es war offensichtlich, dass er nicht darüber reden wollte – jedenfalls noch nicht. „Es lief hervorragend", sagte er schließlich, seine Miene hellte sich auf und er wirkte nicht mehr ganz so betrübt. „Wie sich herausgestellt hat, hatte ich Recht, was meine Vermutung wegen des Mörders betraf. Gibbs hat ihn innerhalb von ein paar Minuten weich geklopft und ihm ein volles Geständnis abgerungen. Wie er Verhöre führt, ist einfach unglaublich. Alleine ein Blick von ihm würde genügen und ich würde ihm alles verraten was ich weiß. Ich hoffe, dass ich nie von ihm derart auseinandergenommen werde", fügte er eine Sekunde später hinzu und zupfte schneller an der Jeans herum. Er sah auf seine unruhigen Finger und ich spürte genau, dass er Angst hatte, was passierte, wenn Gibbs die Wahrheit erfuhr. Ich wusste, mein Boss würde meinen Bruder nicht nachsichtig behandeln, nur weil er mit mir verwandt war, immerhin hatte er mich entführt. Obwohl ich seit gestern wieder ein freier Mensch war, konnte ich mir vorstellen, dass das für den Chefermittler nicht wirklich zählte. Aber auch wenn Chris sich vor den Konsequenzen seiner Tat fürchtete, ich würde ihn trotzdem nicht ziehen lassen und Gibbs würde ich schon irgendwie überreden, ihn nicht ins Gefängnis zu stecken.
„Ich wusste doch, dass du das Zeug zu einem guten Ermittler hast. Das liegt dir im Blut", sagte ich und mein Bruder hob abrupt seinen Kopf. In seine Augen trat ein freudiges Funkeln und er hörte endlich auf, an seiner Hose herumzuzupfen. Meine Worte bauten ihn auf und die Niedergeschlagenheit verflog. „Ich meine, wenn du deine Arbeit nicht gut erledigt hättest, hätte Gibbs längst etwas gemerkt, aber nachdem du jetzt hier bei mir bist, hat er das nicht." „Ich schätze, du hast Recht." „Ich habe immer Recht." Chris hob eine Augenbraue und sah mich skeptisch an. „Aber nur in deinen Träumen", meinte er grinsend und versetzte mir einen freundschaftlichen Boxhieb auf meinen rechten Oberarm. Ich konnte nicht anders, als mich über diese Geste zu freuen. Da war er wieder, mein Bruder wie ich ihn kannte und nicht der von Hass getriebener Mann, als der er am Montagabend so unverhofft in mein Leben geplatzt war. Nur knapp widerstand ich dem Drang, ihn einfach zu umarmen und ihn fest an mich zu drücken.

„Auch wenn ich das Zeug zu einem guten Ermittler habe", sagte er und sah mich plötzlich ernst an, „dieser Beruf ist nicht wirklich etwas für mich, führt er einen doch in die Abgründe der menschlichen Psyche und ich habe nach einem einzigen Fall bereits Probleme, die blutüberströmte Leiche des Commanders aus meinem Kopf zu bringen. Außerdem ist es nicht gerade einfach, Bundesagent zu sein, auch wenn deine Kollegen unglaublich nett sind. Sogar Gibbs", fügte er hinzu und grinste schief, als ich meine Stirn runzelte. „Hinter seiner grummeligen Fassade steckt ein Mann mit einem weichen Kern, auch wenn er diese Seite nicht oft zeigt, aber ich habe sie in den letzten Tagen kennengelernt. Er macht sich wirklich über jeden seiner Agenten Sorgen, vor allem, wenn diesen etwas bedrückt und besonders dich mag er. Das ist einer der Gründe, warum ich dir dein Leben wieder zurückgebe. Ich kann nicht weiterhin so tun, als ob ich du wäre und alle denken, Tony DiNozzo wäre bei ihnen. Weißt du, irgendwie wünsche ich mir, dass sich Gibbs auch einmal um mich solche Sorgen macht, in dem Bewusstsein, dass nicht du es bist." In seine Augen trat ein trauriger Ausdruck, der noch intensiver war als der von vorhin, als er mich durch das Fenster angesehen hat. Ich rückte näher an ihn heran und legte meine Hand auf seine Rechte. „Das können wir ändern", sagte ich leise und drückte aufmunternd seine Finger. „Nein, können wir nicht", erwiderte er eine Spur wütend und entzog sich meinem Griff. „Gibbs würde mich sofort ins Gefängnis stecken und ich werde ganz sicher nicht hinter Gitter gehen, das habe ich mir geschworen. Ich würde dort drinnen nicht überleben." Seine Stimme wurde wieder leiser und ich wusste, dass es brenzlig wurde, dass ich dabei war, ihn zu verlieren.
„Red nicht so einen Mist, Chris", fuhr ich ihn an und rückte ein wenig von ihm weg, da ich merkte, dass ich ihn einengte „Gibbs wird dich nicht…" „Sicher wird er das. Ich habe dich immerhin entführt und tagelang eingesperrt. Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders, Tony. Meine Entscheidung steht fest. Ich werde von hier weggehen. Glaub mir, mir fällt es nicht leicht, einfach so einen Schlussstrich zu ziehen. Seit langem habe ich wieder das Gefühl gehabt, richtige Freunde zu haben und einen Bruder, dem ich vertrauen kann, was nicht gerade einfach ist. Wenn ich ehrlich bin, habe ich die ganze letzte Nacht darauf gewartet, dass man mich verhaftet, weil du nicht hier geblieben bist." Seine Worte rührten mich und ich musste hart schlucken, um den Kloß, der unwillkürlich in meinem Hals entstanden war, loszuwerden. „Ich habe dir geschworen, dass ich nicht abhauen werde", erwiderte ich und bemerkte, dass sich Chris wieder etwas entspannte. „Und ich habe Wort gehalten, ich habe dir die Chance gelassen, die du haben wolltest." „Dafür bin ich dir wirklich dankbar, aber dennoch kann ich nicht bleiben." Er wurde ruhiger und begnügte sich damit, seine Hände anzustarren, die schon wieder an seiner Hose herumzupften. Auf einmal sah er wie ein kleines, verlorenes Kind aus, wie er so vor mir saß und ich erkannte genau, dass er lieber hier bleiben wollte, sich aber einfach vor den Konsequenzen fürchtete und so lange er diese Angst nicht ablegte, würde es für mich schwierig werden, ihn zu überreden, nicht wieder zu verschwinden.

Erneut breitete sich Schweigen aus und ich ließ ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Es war offensichtlich, dass er noch irgendetwas sagen wollte. In den letzten Tagen hatte ich gelernt, dass es nicht gut war, ihn zu drängen sich mir anzuvertrauen, würde er sich dadurch nur in sich zurückziehen. Das Ticken der Uhr über der Küchentür war für etwa eine Minute das einzige Geräusch, bis Chris seinen Kopf hob und die Traurigkeit, die ihn ergriffen hatte, raubte mir beinahe den Atem. Seine grünen Augen hatten das Funkeln verloren und ich konnte die Mauer, die er erneut um sich herum aufgebaut hatte, förmlich vor mir sehen.
„Stimmt es, dass du die Lungenpest hattest?" fragte er schließlich und der plötzliche Themenwechsel überraschte mich. „Stimmt es, dass du beinahe gestorben wärst, ohne dass ich davon eine Ahnung gehabt habe?" Ich schloss meine Augen, atmete tief durch und für ein paar Sekunden hatte ich wieder die Isolierstation des Bethesda vor mir, das blaue Licht, das mich noch manchmal in meinen Träumen verfolgte, spürte die Schmerzen und den heftigen Husten, der mich von innen heraus beinahe zerrissen hätte. Und dann sah ich Kate vor mir, wie sie bei mir geblieben war, um mir beizustehen, obwohl sie sich anstecken hätte können – nur um ein paar Wochen später von einer Kugel getötet zu werden.
Ich schüttelte den Kopf, drängte die Erinnerungen in einen hinteren Winkel meines Gehirns zurück und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. „Ja, ich hatte die Lungenpest", antwortete ich und Chris zuckte bei meinen Worten leicht zusammen. „Und ja, ich wäre beinahe gestorben. Aber ich bin es nicht, sonst hätte mich Gibbs bis ins Jenseits verfolgt und mir eine Kopfnuss verpasst, da ich den direkten Befehl, nicht zu sterben, missachtet habe." Mein Bruder verzog seine Lippen zu einem leichten Grinsen und die Traurigkeit nahm ein wenig ab. „Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir gewesen bin", flüsterte er und stand auf. „Dir braucht nichts leid zu tun", erwiderte ich und beobachtete, wie er anfing, in seiner Hosentasche zu kramen, den Autoschlüssel herausholte und ihn auf den Tisch legte. Panik machte sich in mir breit, als ich erkannte, was er vor hatte.
„Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen", fuhr Chris fort und blickte mich erneut traurig an. „Aber das ist ja nicht möglich." Er seufzte und holte meinen Dienstausweis aus der anderen Hosentasche, betrachtete ihn für ein paar Sekunden, bevor er leise und mit ungewohnt schwacher Stimme sagte: „Ich muss gehen." „Nein, musst du nicht!" schrie ich und sprang auf. „Bleib hier! Es wird alles gut werden, das spüre ich! Lauf nicht wieder weg, so wie du es vor 15 Jahren getan hast!" Meine Worte ignorierend, trat er vor mich hin, nahm meine rechte Hand, drückte mir den Dienstausweis in meine Finger und schloss sie mit sanfter Gewalt darum. „Meine Entscheidung steht fest und diese werde ich nicht mehr rückgängig machen. Dein Leben gehört wieder dir, Tony und ich werde mein Eigenes leben, aber woanders." „Warum? Washington ist doch eine schöne Stadt und…" Als er seinen Kopf schüttelte, warf ich wütend den Ausweis auf den Tisch, wo er neben dem Schlüssel landete. „Du bist so was von stur!" schrie ich ihn an und wollte nicht einsehen, dass ich verloren hatte.
„Ich bin immerhin ein DiNozzo. Das liegt mir im Blut", erwiderte er ruhig und schien sich nicht daran zu stören, dass ich ihn gerade angebrüllt hatte. Anstatt ihn aus dem Konzept zu bringen, war ich es, der nun von Ärger überrollt wurde. Chris trat ein paar Schritte zurück und nahm die Marke, die er sich an seiner Hose befestigt hatte, herunter und legte sie neben den anderen Sachen auf den Tisch. Anschließend löste er das Holster mit meiner Waffe von seiner Hüfte und betrachtete sie ein wenig versonnen. „Ich muss zugeben, es hat Spaß gemacht, für drei Tage Bundesagent zu sein, auch wenn es nicht immer leicht gewesen ist", sagte er mehr zu sich selbst, als zu mir. „Aber die Erfahrung möchte ich auf gar keinen Fall missen. Wer weiß, vielleicht wird sie mir irgendwann einmal nützen." Er hob wieder seinen Kopf, schenkte mir ein kleines Lächeln und wollte mir die Waffe entgegenstrecken, als ein Geräusch die Stille der ländlichen Gegend unterbrach. Chris erstarrte mitten in der Bewegung, während ich unwillkürlich die Luft anhielt. Ich kannte den Klang nur zu gut – es war das unverkennbare Brummen eines Motors. Mein Herz fing an, schneller zu schlagen und ich spürte instinktiv, wessen Wagen es war, der sich näherte. Konnte es wirklich möglich sein? Oder war es nur ein Zufall?

Wie in Trance drehte ich mich zu dem Fenster, sah nach draußen und irgendwie hoffte ich, dass ich mich irrte, aber mein Instinkt behielt Recht. Ein dunkelblaues Auto, das ich nur zu gut kannte, kam in Sicht und blieb mit quietschenden Reifen hinter meinem Mustang stehen, wobei ich froh sein konnte, dass er nicht auf die Stoßstange auffuhr. Türen wurden geöffnet und als erstes erkannte ich die grauen Haare meines Bosses, der für zwei Sekunden seinen Blick über die Umgebung schweifen ließ und schließlich direkt durch das Fenster und in meine Augen sah. ‚Nein, nein, nein', schoss es mir immer wieder durch den Kopf, als mir klar wurde, was es zu bedeuten hatte, dass er auf einmal vor dem Haus stand. Er wusste es, wusste von Chris.
Neben Gibbs tauchten Ziva und McGee auf, aber mir bleib keine Zeit, ihre Reaktionen zu beobachten, da ich hinter mir ein Knurren hörte. „Mistkerl!" Ich zuckte bei dem eiskalten Ton in der Stimme meines Bruders heftig zusammen, riss meinen Blick von meinen Kollegen los und drehte mich um. Chris stand vor mir, seine Augen vor Panik und Wut geweitet und seine freie Hand hatte sich zur Faust geballt. „Ich fasse es nicht! Wie konntest du das nur tun?! Verdammt, ich habe dir vertraut!" Sein Gesicht rötete sich und der Hass, den ich vor 15 Jahren und selbst am Dienstag noch an ihm wahrgenommen hatte, kam zurück und traf mich mitten in mein Herz. „Ich habe geahnt, dass du sie einweihen würdest! Hast du das Telefon benutzt oder eine Mail geschrieben?! Oder hast du vielleicht gleich eine nette Spritztour mit meinem Wagen unternommen?!"
Meine Eingeweide krampften sich schmerzhaft zusammen und ich konnte einfach nur dastehen und versuchen zu realisieren, dass sich die Situation innerhalb von wenigen Sekunden komplett verändert hatte. „Ich habe gar nichts getan", entgegnete ich und spürte, wie in mir ebenfalls Panik aufstieg. „Lügner! Du lügst! Wie konnte ich nur so blind sein?! Und ich habe gedacht, du hättest dich verändert, und dass ich dir vertrauen kann! Wie konnte ich mich in dir nur so täuschen?! Verräter!!!" Das letzte Wort saß. Unglaubliche Wut überrollte mich und ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. „Wage es nicht, mich einen Verräter zu nennen!!!" brüllte ich ihn an und meine Lautstärke stand der seinen in nichts nach. „Ich habe nichts getan und sie schon gar nicht hierher gelotst! Keine Ahnung, wie sie es herausgefunden haben, aber es war nicht durch mich! Ich habe dir mein Wort gegeben und…!" Aber ich kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Die Haustür wurde voller Wucht aufgetreten und krachte gegen die Wand. Abrupt drehte ich in dem Augenblick meinen Kopf, indem Gibbs, Ziva und McGee in den Vorraum stürmten, alle drei hielten ihre Waffen in den Händen. Innerhalb einer Sekunde hatten sie Chris und mich entdeckt und ehe ich auch nur reagieren konnte, waren sie im Wohnzimmer, blieben aber schlagartig stehen, so als ob sie gegen eine unsichtbare Mauer geprallt wären. Ohne zu zögern hoben meine Kollegen ihre Pistolen und zielten an mir vorbei, konzentrierten sich auf einen Punkt neben mir. Meine Nackenhärchen stellten sich unwillkürlich auf und einer inneren Stimme folgend, drehte ich mich langsam um – und blickte in die Mündung meiner eigenen Dienstwaffe.

Fortsetzung folgt...
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