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Washington D.C.
Dienstag, 12. Mai
06:45 Uhr


Mit einer guten Laune, die Chris seit langem nicht mehr verspürt hatte, und einem Kaffeebecher, den er sich unterwegs bei Starbucks besorgt hatte, ausgestattet, stand er im Fahrstuhl und wartete darauf, dass er die dritte Etage erreichte. Er war alleine in der kleinen Kabine, die sich langsam mit dem Duft der gemahlenen Bohnen füllte. Eigentlich brauchte er das braune Getränk nicht, um munter zu werden, denn er war seltsamerweise ausgeschlafen, obwohl er nicht viele Stunden in dem äußerst weichen Bett verbracht hatte – das Bett, welches vorher Tony gehört hatte und jetzt seines war, genauso wie das Haus und das Auto, mit dem er heute zum Hauptquartier gefahren war. Eines musste er seinem Bruder lassen: er hatte durchaus Geschmack. Die Einrichtung der Räume war geschmackvoll und nicht gerade billig. Er hatte eine außergewöhnlich große Sammlung DVDs und einen Flachbildfernseher, der ziemlich neu aussah. Und dann war da noch der Kleiderschrank, der bestens gefüllt war, mit den verschiedensten Klamotten - von teuren Anzügen bis hin zu einfachen T-Shirts. Jedes einzelne Stück hatte seinen Platz und Chris hatte gut eine Viertel Stunde gebraucht, um sich entscheiden zu können, was er heute anziehen sollte. Schlussendlich hatte er sich eine Jeans und ein dunkelblaues Hemd ausgesucht, denn er konnte sich nicht vorstellen, in einem Anzug einen Tatort zu untersuchen. Vielleicht hatte Tony ja so viele davon, weil er für jedes Date einen anderen anzog. Das war noch ein Punkt, den er seinen Bruder fragen musste, aber ob er eine Antwort erhalten würde, das war eine andere Sache.
Unwillkürlich breitete sich auf seinen Lippen ein Grinsen aus, als er an den Mann dachte, der in dem Keller eingesperrt war. Er hatte seine Schreie noch gut in Erinnerung, die ihm verraten hatte, dass er endgültig realisiert hatte, dass er nicht so bald aus dem Raum herauskommen würde – ein Raum, den er extra gemütlich eingerichtet hatte. Sicher, er hätte Anthony auch in ein kahles Zimmer stecken können, wo es nichts weiter als graue Betonwände gab, aber er hatte sich dann doch entschieden, es ihm ein wenig komfortabler zu machen. Immerhin war er ja kein Unmensch. Aber er hatte sorgfältig darauf geachtet, keine Gegenstände zu verwenden, mit dem er die Tür aufbringen oder sonst irgendeinen Unfug anstellen konnte. Denn dass Tony versuchen würde auszubrechen, davon war er überzeugt, aber er würde sicher bald einsehen, dass es sinnlos war.
Ein leises Pling riss Chris aus seinen Gedanken und kurz darauf öffneten sich die Fahrstuhltüren. Er rückte den Träger des Rucksackes zu Recht und murmelte: „Na, dann mal los." Drei Schritte später blieb er wieder stehen und ließ den Anblick, der sich ihm bot, auf sich wirken. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit dem, was er sah. Vor seinen Augen erstreckte sich ein geräumiges Großraumbüro mit zahlreichen Schreibtischen. Die einzelnen Teams waren durch brusthohe Wände voneinander getrennt, aber dennoch hatte jeder genug Platz und war nicht eingepfercht, so wie man es oft in Filmen sah. Durch die großen Fenster an der rechten Seite drangen die Strahlen der Morgensonne herein und tauchten den Raum in ein helles Licht. Obwohl es noch relativ früh war, herrschte bereits eine große Hektik. Agenten eilten zwischen den einzelnen Nischen hin und her, Telefone klingelten in Sekundenabständen und laute Stimmen hallten durch das Büro. Würde über dem Eingang des Gebäudes nicht Naval Criminal Investigative Service stehen, könnte man meinen, hier würde ein Unternehmen ihren Sitz haben. Chris kannte nur die Innenräume von Polizeistationen in Los Angeles und dort sah es ganz anders aus, viel trostloser und die Beamten hatten viel weniger Platz, konnten sich teilweise nicht einmal an ihren Schreibtischen frei bewegen.
Etwas unschlüssig machte er einen weiteren Schritt, da er nicht so recht wusste, wo er hin musste. Wieso hatte er Tony nicht gefragt, wo sein Platz war? Weshalb hatte er nicht daran gedacht, dass es für ihn das erste Mal war, das er in dieses Gebäude kam? Innerlich schimpfte er sich selbst einen Idioten und ging schließlich schneller, um den Eindruck zu erwecken, er würde sich hier wie zu Hause fühlen. Und dann sah er jemanden, den er von den Fotos kannte, die er heute Nacht seinem Bruder gezeigt hatte und die er selbst aufgenommen hatte. Erleichterung durchflutete ihn, er bog links ab und blieb gleich darauf vor einem Schreibtisch stehen, um auf den braunen Haarschopf Ziva Davids zu blicken. Sie las konzentriert in einer Akte, wobei sie ihre Stirn leicht runzelte und hin und wieder einen verächtlichen Laut von sich gab. Chris fand sie wunderschön, wie so dasaß und ihr die Haare wie ein langer Vorhang ins Gesicht fielen. Deshalb setzte er sein strahlendstes Lächeln auf und sagte fröhlich: „Morgen, Ziva." Diese hob abrupt den Kopf und sah ihn überrascht an, musterte ihn aus intensiven braunen Augen von oben bis unten. „Hat dich deine neue Freundin rausgeschmissen oder ist dein Haus abgebrannt?" wollte sie wissen und grinste breit. Irritiert fragte sich Chris, ob er gerade etwas Falsches gesagt hatte. Begrüßte Tony seine Kollegen denn nicht am Morgen? „Was?" brachte er schließlich hervor und versuchte seine Verwirrtheit aus seiner Stimme zu verbannen. „Nun ja, es ist 10 Minuten vor sieben und so weit ich mich erinnere, hast du es in den letzten zwei Wochen nie geschafft, um diese Uhrzeit hier zu sein. Also, was ist passiert, dass du plötzlich aufhörst, zu spät zu kommen? Vielleicht ein Wasserschaden?" Chris entspannte sich, als er ihren Worten lauschte. Anscheinend war Tony nicht gerade der Pünktlichste und dass sich seine neue Kollegin jetzt wunderte, weshalb er so bald hier war, überraschte ihn nicht, aber jetzt wusste er wieder ein Detail aus dem Leben seines Bruder, das ihm weiterhelfen würde.
„Nichts von alldem", erwiderte er und trank einen Schluck von seinem Kaffee, der sofort seine Nerven ein wenig beruhigte. Aber er hatte noch immer das Problem, dass er keinen Schimmer hatte, welcher Schreibtisch ihm gehörte. Vielleicht schaffte er es ja, dies irgendwie in Erfahrung zu bringen, ohne einen Verdacht zu erregen.
Ziva sah ihn weiterhin fragend an und sie musterte ihren Kollegen von oben bis unten. Äußerlich war Tony unverändert, aber weshalb sagte ihr eine innere Stimme, dass etwas nicht mit ihm stimmte? Seit wann stellte er seinen Rucksack nicht ab? Normalerweise entledigte er sich immer zuerst seiner Sachen, bevor es zu ihrer ersten Auseinandersetzung kam. Und seit wann trank er einen Kaffee, durch dessen Geruch sie ohne Mühe munter werden konnte? Vielleicht wurde es nun zur Realität, was ihr McGee einmal erzählt hatte: dass Tony langsam wirklich wie Gibbs wurde. Möglicherweise bildete sie sich das Ganze ja auch nur ein. Deswegen schüttelte sie leicht den Kopf und meinte: „Also, weshalb bist du schon so früh hier?"
Chris hob verwundert eine Augenbraue. Gab diese Frau denn nie auf? „Ich habe mir gedacht, es könnte nicht schaden, wenn ich wieder einmal pünktlich erscheine. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gibbs sonderlich begeistert davon ist, wenn ich immer zu spät komme." „Ausnahmsweise gebe ich dir Recht, DiNozzo", sagte eine Stimme hinter ihm und ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Ziva konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie hatte bereits seit Sekunden gewusst, dass der Chefermittler hinter Tony stand, aber es bewusst verschwiegen. Es gab doch nichts Schöneres als ein großes Fettnäpfchen, in das ihr Kollege so bald am Morgen trat.
Chris riskierte es und drehte sich langsam um, nur um festzustellen, dass zwei Schritte hinter ihm Gibbs stand, der ihn aus eisblauen Augen – in denen ein gefährliches Funkeln lag - musterte. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken und er versuchte nicht den Eindruck zu erwecken, dass er sich auf einmal mehr als unwohl fühlte. ‚Wie hat er es nur geschafft, sich so lautlos anzuschleichen?' fragte er sich selbst und setzte ein – wie er hoffte – entwaffnendes Lächeln auf. Er wusste nicht wieso, aber irgendwie schüchterte ihn der Mann vor ihm ein wenig ein, obwohl er ein paar Zentimeter kleiner war. Eine Aura der Autorität umgab ihn und ihm wurde sofort klar, dass man sich den Ermittler lieber nicht zum Feind machen sollte.
Gibbs trank einen großen Schluck aus dem Kaffeebecher, den er sich vor Minuten besorgt hatte und musterte seinen Agent von oben bis unten. Seine Haare waren mehr zerzaust als sonst und in seinen grünen Augen lag wie üblich ein wenig Humor, aber noch irgendetwas anderes, was er nicht definieren konnte. Außerdem wirkte Tony auf ihn, so als ob er nicht so recht wusste, wo er hin musste, als wäre er Fehl am Platze. Er trug noch immer seinen Rucksack auf dem Rücken und in seiner rechten Hand hielt er einen Kaffeebecher – ein ungewöhnlicher Anblick. Aber vielleicht bildete er sich diese Veränderungen auch nur ein. Immerhin hatte er die Nacht wieder einmal in seinem Keller verbracht. Irgendwann nach Mitternacht war er beim Bauen seines Bootes eingeschlafen und heute Morgen auf dem harten Boden aufgewacht. Außerdem rückte der Hochzeitstag mit Ex-Frau Nummer drei immer näher, weshalb sich seine Laune mit jedem Tag verschlechterte.
„Morgen, Boss", brachte Chris schließlich heraus und widerstand dem Drang, einen Schritt zurückzuweichen. Der Blick aus den blauen Augen machte ihn ungewöhnt nervös und er hatte das Gefühl, sie würden ihm bis auf die Seele blicken. Auf diesen Mann musste er besonders Acht geben. Wenn einer ihn durchschauen konnte, dann er, soviel war ihm in der letzten Minute klar geworden. „Willst du hier den ganzen Morgen stehen bleiben?" fragte Jethro mit schroffer Stimme. „Wenn du schon einmal so bald hier bist, kannst du dich gleich daran machen, deine unerledigten Akten zu bearbeiten." Mit einer vagen Handbewegung deutete er auf den Schreibtisch gegenüber den von Ziva. Auf der Platte lag ein hoher Stapel, der von einer Unordnung umgeben war, bei dem sich Chris die Haare aufstellten. Wie hatte er dies nur übersehen können? Das war eindeutig Tonys Platz, denn wie er kurz darauf feststellte, waren alle anderen Tische viel ordentlicher aufgeräumt. Und er wusste, wenn er keinen Verdacht erregen wollte, musste er wohl oder übel mit dem Saustall auskommen. Dennoch beschloss er, die zusammengeknüllten Papiere zu entsorgen, sonst würde er sicher noch vor Mittag durchdrehen.
„Akten bearbeiten?" rutschte es ihm unwillkürlich raus und gleich darauf wünschte er sich, er hätte seinen Mund gehalten. Gibbs kam noch näher auf ihn zu und fixierte ihn mit seinen funkelnden Augen. „Genau, Akten bearbeiten. Und falls du nicht sofort deinen Hintern auf deinen Stuhl verfrachtest, dann könnte es sein, dass du bald einen hübschen blauen Brief in deiner Post findest." ‚Wie hält es Tony nur mit ihm aus?' fragte er sich und da er sich nicht noch mehr Ärger – denn die Drohung, gefeuert zu werden, war seiner Meinung nach nicht nur so dahergesagt - einhandeln wollte, stellte er den Rucksack auf dem Boden neben dem Tisch ab, der jetzt seiner war und ließ sich auf den Stuhl nieder. Jethro warf ihm noch einen kurzen Blick zu und ging dann zu seinem eigenen Platz, wo er seinen Becher abstellte und seine Waffe in die oberste Schublade legte. Eine innere Stimme sagte Chris, dass er dies auch machen sollte, denn bei Ziva hatte er ebenfalls keine Pistole gesehen. Deshalb nahm er sein Halfter von seinem Gürtel und verstaute es in seinem Schreibtisch. Anschließend widmete er sich dem Chaos, das vor ihm herrschte. Ungläubig schüttelte er seinen Kopf. „Wie kann man nur so schlampig sein?" murmelte er, trank seinen Kaffee aus und warf den Becher in einen Mülleimer.
„Das müsstest du doch wissen, Tony. Immerhin ist es dein Schreibtisch", erwiderte Ziva leicht gehässig „Kann man hier nicht einmal Selbstgespräche führen?" fragte er bissig und schnappte sich die erste Akte und betrachtete sie leicht angewidert. Er hatte nicht damit gerechnet, gleich Schreibarbeit machen zu müssen, aber da musste er wohl oder übel durch. „Wenn du nicht willst, dass dir jemand zuhört, dann nicht." Chris warf ihr einen bösen Blick zu und wollte gerade etwas darauf sagen, als er McGee sah, der aus dem Fahrstuhl auf ihn zukam und ihn verwundert ansah. „Wow, Tony, du bist noch vor mir da? Das ich das noch erleben darf." „Was ist eigentlich los mit euch? Kann man nicht einmal pünktlich erscheinen, ohne gleich schief angesehen zu werden?" „Was ist denn dir für eine Maus über die Leber gelaufen?" fragte Ziva und hob eine Augenbraue. Er schien auf einmal richtig wütend zu sein, was ihr Unbehagen bereitete. Was war nur mit ihm los? Normalerweise fuhr er nicht gleich so aus der Haut.
„Maus?" Gegen seinen Willen verflog sein Ärger genauso schnell wieder wie er gekommen war und er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Es heißt Laus, Ziva", berichtigte sie McGee. „Wo ist da der Unterschied? Beide sind doch klein, oder?" „So weit ich mich erinnere, sind wir hier, um zu arbeiten! Oder sind wir jetzt plötzlich in einem Kaffeehaus?!" Gibbs' Stimme drang bis zu seinen Agenten hinüber.
Tim zog seinen Kopf ein und eilte zu seinem Platz. So bald am Morgen wollte er es lieber nicht riskieren, sich den Ärger seines Bosses auf sich zu ziehen. Seine schlechte Laune schien sich wieder einmal gefährlich nahe dem Minusbereich zu nähern, was ihm überhaupt nicht gefiel. Während er seinen PC hochfuhr, sah er zu Tony, der über einer Akte gebeugt dasaß und mit den Fingern der rechten Hand auf der Tischplatte herumtrommelte. Irgendetwas war anders an ihm. Täuschte er sich, oder waren seine Haare auf einmal etwas länger? Und was war das für ein Ausdruck in seinen Augen, mit dem er ihn vorher angeblickt hatte? So als ob etwas Böses in ihnen lauern würde. ‚Das ist doch lächerlich', dachte er und fing an, ein neues Programm zu installieren, das er gestern von Abby erhalten hatte. ‚Tony ist wie immer. Du bist nur überrascht, dass er heute so bald hier war.'
Chris las seit einer Minute immer wieder denselben Satz, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Der Start in sein neues Leben hätte schlimmer verlaufen können, aber dennoch war er nicht ganz zufrieden. Er musste es irgendwie schaffen, seinem Bruder die Details aus seinem Leben zu verraten, denn über kurz oder lang würden seine Arbeitskollegen dahinter kommen, dass etwas nicht stimmte. Sie schienen Anthony sehr gut zu kennen und jede Veränderung entging ihnen anscheinend nicht. Aber Chris war immer schon ein guter Schauspieler gewesen, sonst hätte er es nie geschafft, beim Pokern seine Gegner so abzuzocken. Deshalb war er auch zuversichtlich, dass er es schaffen würde, seine Mitmenschen zu täuschen. Ein zufriedenes Lächeln huschte ihm über die Lippen. Gleich darauf riss er sich jedoch am Riemen und konzentrierte sich auf die Akte, die vor ihm lag. Diese Schriftstücke waren eine gute Basis, um sich mit alten Fällen vertraut zu machen und diese Chance wollte er nutzen. Je mehr er über die Arbeit des Teams erfuhr, desto besser. Und alle anderen Informationen, die er sonst benötigte, würde er sich schon irgendwie beschaffen - und wenn es sein musste, mit Gewalt.

Die ersten zwei Stunden als NCIS Ermittler verbrachte Chris mit Aktenarbeit. Obwohl die Fälle durchaus interessant waren, hatte er das Gefühl, bereits nach dem ersten Schriftstück vor Langeweile zu sterben. Am Morgen war er noch munter gewesen, aber jetzt lümmelte er fast auf seinem Schreibtisch, den Kopf auf der linken Hand abgestützt und mit der Rechten versuchte er das Gähnen zu verdecken, was ihn in regelmäßigen Abständen überfiel. Dagegen halfen auch nicht die Schokoriegel, die er in der untersten Schublade des Schreibtisches gefunden und über die er sich hergemacht hatte. Vier solcher Süßigkeiten später hatte sein Körper zwar einen Zuckerschock, aber gegen die aufkeimende Müdigkeit hatten sie nicht geholfen – im Gegenteil. Er fühlte sich noch matter als zuvor.
Erneut riss er seinen Mund zu einem Gähnen auf, schlug die Akte zu und legte sie auf den nicht gerade großen Stoß mit den Erledigten. ‚Gott, ist das langweilig', dachte er und ließ seinen Blick durch das Großraumbüro schweifen. McGee saß an seinem Platz, arbeitete konzentriert an seinem Computer und schien seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Seine Finger huschten mit einer hohen Geschwindigkeit übe die Tastatur, sodass ihm schon beim Zusehen schwummrig wurde. Verwundert schüttelte Chris seinen Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit Ziva zu, die ihren Blick auf die Akte vor ihr gerichtet hatte. Ihre Augen huschten von links nach rechts und schienen die Zeilen zu verschlingen. Sie hatte ihre Stirn leicht gerunzelt – ein Geste, die er äußerst attraktiv fand.
„Hast du eine Frage, Tony? Oder wieso starrst du mich die ganze Zeit so an?" „Was?" fragte er irritiert und realisierte erst nach einer Sekunde, dass die junge Frau ihn direkt an sah, anstatt die Akte, die auf ihrem Tisch lag. Er hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass sie sich nicht mehr mit den Blättern beschäftigte, so sehr war er in ihre Betrachtung vertieft gewesen. Ihre Nase, die braunen Augen und vor allem die langen braunen Haare erinnerten ihn an Amy – seine damalige Freundin, die ihn betrogen hatte. Dabei hatte er gedacht, sie wäre eine treue Person und dann hatte er mit eigenen Augen mitverfolgt, wie sie mit einem anderen Jungen herumgemacht hatte. Der unbändige Zorn von damals drohte ihn zu überwältigen. Er ballte seine Hände zu Fäusten und widerstand dem Drang, sie auf den Tisch zu knallen.
„Erde an Tony." Erneut war es Ziva, die ihn aus seinen Gedanken riss. „Ich habe dich etwas gefragt." Chris setzte ein Lächeln auf, das ihm mehr als gezwungen vorkam und zuckte lässig mit seinen Schultern. „Ich habe nicht dich angesehen", erwiderte er schließlich und schaffte es mit Mühe, seinen Ärger nicht in der Stimme mitschwingen zu lassen. „Sondern ich habe in die Luft gestarrt." Die Lüge kam ihm glatt über die Lippen – darin war er Meister.
„Dann lass das mal nicht Gibbs mitbekommen", sagte sie und grinste hämisch. „Wenn er dich dabei erwischt, dass du nichts tust, wird er deinen Schreibtisch sicher mit Akten zupflastern." „Ach, der Boss ist doch nicht hier. Er wird es deswegen nicht erfahren." „Was werde ich nicht erfahren, DiNozzo?" erklang eine schroffe Stimme links neben ihm und ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Zivas Grinsen wurde noch breiter und sie schenke ihm einen Blick aus unschuldigen Augen, der ihn beinahe zur Weißglut trieb. Chris drehte sich um und bemerkte Gibbs, der vor seinem Platz stand, in der reichten Hand einen Becher Kaffee – den Dritten an diesem Morgen – hielt und ihn gefährlich anfunkelte. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, bildete sich ein Kloß in seinem Hals, den er mühsam hinunterschluckte. „Ich dachte, du wärst in einer Videokonferenz", brachte er schließlich hervor und versuchte ihn mit einem Dackelblick zu besänftigen – allerdings vergeblich. Und erneut fragte er sich, wie es dieser Mann schaffte, sich derart leise anzuschleichen – dabei hatte er ein super Gehör und bekam jedes kleine Geräusch mit, eine Gabe, die ihm öfters das Leben gerettet hatte, aber jetzt schien sie ihn verlassen zu haben.
„Wie du siehst, ist sie bereits vorbei", erwiderte Jethro und trank einen Schluck Kaffee. Er fand es immer wieder amüsant, wie die Menschen in seiner Umgebung zusammenzuckten, wenn sie merkten, dass er in ihrer Nähe war. So hatte er auch schon lange mitbekommen, dass Tony sich nicht sonderlich auf seine Arbeit konzentrierte. Anscheinend war es wieder einmal Zeit, ihm eine saftige Kopfnuss zu verpassen. Aber bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, klingelte sein Telefon. Er ließ die Hand, die er bereits erhoben hatte, sinken und ging zu seinem Schreibtisch. Sein Agent würde noch eine Minute Schonfrist haben. Mit einem schroffen „Gibbs" meldete er sich und hoffe, der Anrufer würde sofort wieder auflegen, aber dieser ließ sich nicht einschüchtern. Er hörte schweigend zu, was ihm sein Gesprächspartner mitteilte, nickte ab und zu in dem Bewusstsein, dass das dieser nicht sehen konnte, brummte etwas Unverständliches und legte nach ein paar Sekunden wieder auf. Anschließend trank er seinen Kaffee aus, entsorgte den leeren Becher und öffnete die oberste Schreibtischschublade, um seine Waffe und die Schlüssel hervorzuholen. „Wir haben einen neuen Fall", sagte er und prompt hoben seine drei Agents neugierig - und auch erleichtert - ihre Köpfe. „Ein toter Commander wurde in seinem Haus auf dem Navy Stützpunkt in Quantico gefunden. McGee, sag Ducky Bescheid. Tony, tank den Truck auf."
Reflexartig fing Chris den Schlüssel auf, um zu verhindern, dass er ihm mitten auf die Stirn knallte. Irritiert sah er sich um, in der Hoffnung, jemand könne ihm erklären, was Jethro eben damit gemeint hatte, er solle den Truck auftanken. Gehörte das vielleicht zu Tonys Aufgaben? Schon wieder ein Punkt, den er seinen Bruder fragen musste. „Wieso muss ich das erledigen?" wollte er deshalb wissen, stand auf und schnappte sich seine Waffe. Gibbs, der gerade an seinem Platz vorbei ging, blieb abrupt stehen und wandte sich ihm zu. „Gibt es dafür nicht andere, die das erledigen?" Als das letzte Wort seine Lippen nicht einmal komplett verlassen hatte, wusste er, dass er lieber nichts gesagt hätte. Obwohl der Schreibtisch zwischen ihnen war, schaffte es Jethro, sich so weit vorzubeugen, dass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter auseinander waren. Der Blick aus seinen blauen Augen nagelte ihn an Ort und Stelle fest, obwohl er liebend gerne zurückgewichen wäre.
„Hast du damit ein Problem, DiNozzo?" fragte er gefährlich ruhig und sein Atem streifte warm über seine Haut. Chris schluckte, bewegte sich aber keinen Zentimeter. „Ähm, nein, Boss", erwiderte er schließlich und versuchte das hämische Grinsen von Ziva zu ignorieren, deren Gesicht am Rande seines Blickfeldes auftauchte. „Habe ich auch nicht gedacht", meinte der Chefermittler und trat einen Schritt zurück. Erleichtert atmete Chris auf, umrundete den Schreibtisch und wollte sich gerade bücken, um den Rucksack vom Boden aufzuheben, als ihn ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf traf. Abrupt hielt er in der Bewegung inne und starrte Gibbs fassungslos an. Seine Augen weiteten sich geschockt und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keine einzige Silbe hervor. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sprachlos und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Ärger darüber, dass es jemand gewagt hatte, ihn zu schlagen, wallte in seinem Inneren auf und er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. „Verdammt, was soll das?" fragte erbost und rieb sich mit einer Hand über die schmerzende Stelle – glücklich darüber, kein Loch in seinem Schädel zu finden, oder eine Gehirnerschütterung davon getragen zu haben.
„Dafür, dass du in die Luft starrst, anstatt zu arbeiten und jetzt tank den Truck auf, oder das Einzige, was du in Zukunft tun wirst, ist Akten bearbeiten." Mit diesen Worten ließ er den noch immer sprachlosen Chris stehen und eilte zum Fahrstuhl. „Ich habe dir ja den Rat gegeben, dass du Gibbs nicht mitbekommen lassen sollst", meinte Ziva und schnappte sich ihren Rucksack. „Aber ihm kann man eben nichts verheimlichen." „Schlägt er gleich jeden, der etwas sagt, was ihm nicht passt?" wollte er wissen, nachdem er sich endlich aus seiner Starrte losgelöst hatte. Die junge Frau sah ihn gleichzeitig überrascht und verwirrt an. „Was ist nur mit dir los, Tony? Du tust ja so, als ob es das erste Mal wäre, dass du eine Kopfnuss erhalten hast. Dabei verpasst Gibbs dir mehr als McGee und mir zusammen. Hast du über Nacht etwa dein Gedächtnis verloren? Oder sonst eine Neuentwicklung durchgemacht?" „Das ist doch Quatsch", erwiderte Chris, setzte ein sorgloses Grinsen auf und nahm sich seinen Rucksack. „Meinem Gedächtnis geht es hervorragend und ich habe keine Neuentwicklung durchgemacht. Ich bin immer noch derselbe." Damit eilte er zum Fahrstuhl und ließ Tim und Ziva zurück, die ihm verwundert nachsahen. „Irgendetwas stimmt nicht mit Tony", sagte die junge Frau, als sich die Türen hinter ihm geschlossen hatten. „Was meinst du?" fragte McGee. „Ich weiß auch nicht, aber etwas ist anders. Hast du nicht den geschockten Blick gesehen, den er Gibbs zugeworfen hat, als er ihm eine Kopfnuss verpasst hat? So als ob es für ihn neu wäre." Ihr Kollege schüttelte seinen Kopf. „Das bildest du dir sicher nur ein", meinte er und ging ebenfalls zum Aufzug, um in die Garage hinunterzufahren – dicht gefolgt von Ziva.
„Wahrscheinlich hat seine neueste Freundin mit ihm Schluss gemacht und Tony ist deshalb so durch den Wind", schlug er vor und betrat die kleine Kabine. Obwohl er die ganze Sache herunterspielte, gab er ihr im Stillen Recht. DiNozzo benahm sich eigenartig, so als ob er nicht er selbst wäre. ‚Ach was, das ist sicher nur eine Phase', dachte McGee. ‚Morgen wird er wieder der Alte sein.' Aber dennoch blieb ein komisches Gefühl in ihm zurück.

Fortsetzung folgt...
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