- Text Size +
Stille. Ich hätte niemals gedacht, dass Stille derart laut sein konnte. Obwohl ich das Gefühl hatte, taub zu sein, dröhnte diese unheimliche Ruhe in meinen Ohren und übertönte sogar meinen eigenen Herzschlag. Ich stand da, war unfähig auch nur einen Muskel zu rühren und starrte wie hypnotisiert auf die Waffe, die direkt auf meine Stirn zielte. Obwohl ich überzeugt war, dass sie nicht entsichert worden war, wirkte das schwarze Loch der Mündung mehr als bedrohlich und kam mir wie ein langer, schwarzer Tunnel vor, in dem der Tod lauerte. Ein lauter Knall, ein kurzes Feuerwerk aus hellem Licht und innerhalb des Bruchteils einer Sekunde würde ich mit einem hässlichen Loch in der Stirn auf dem Boden liegen und mein Leben aushauchen. Es war nicht diese Aussicht, die mich mehr als alles andere erschreckte, oder die Gegebenheit, dass ich mit einer Waffe bedroht wurde – das war für mich nichts Neues – sondern die Tatsache, dass es Chris war, der auf mich zielte und nicht irgendein gefährlicher Verbrecher. Nein, ausgerechnet mein eigener Bruder, von dem ich vor einer Minute noch geglaubt hatte, er wäre wieder der Mensch, der er gewesen war, bevor uns Amy auseinander gebracht hatte.
Ich konnte nicht verhindern, dass mich ein heftiger Schock durchfuhr – gepaart mit Unglauben. Ich vergaß in dieser Situation sogar, dass er mich einen Verräter genannt und mir andere, verletzende Worte an den Kopf geworfen hatte. Wieso mussten Gibbs, McGee und Ziva gerade jetzt auftauchen, kurz bevor ich als freier Mann dieses Haus verlassen hatte können, kurz bevor ich die Möglichkeit erhalten hatte, Chris dazu zu bringen, in Washington zu bleiben, um sein Leben wieder mit mir zu teilen? Und jetzt hatte sich alles ins Gegenteil gekehrt. Der Hass von vor 15 Jahren war wieder da, er glaubte, ich hätte ihn erneut reingelegt und meine Kollegen an diesen Ort gelotst und ich spürte genau, dass er sich mehr und mehr in die Enge getrieben fühlte.
Ich riss meinen Blick von der schwarzen Mündung los und sah meinem Bruder direkt in die Augen, in denen sich gleichzeitig Angst und Panik widerspiegelten. Zwar war die Hand, die die Waffe hielt, komplett ruhig, aber es war ihm anzumerken, dass in seinem Inneren ein wahrer Gefühlssturm tobte. Seine Kiefer waren hart zusammengepresst, die Lippen ein dünner Strich und seine Wangen waren weiterhin gerötet, so als ob er einen 10 Meilen Lauf hinter sich hätte. Kleine Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet und bahnten sich einen Weg seitlich über sein Gesicht, das weiterhin vor Wut verzerrt war und nichts mehr mit der traurigen Miene gemein hatte, mit der er mich noch vor kurzem bedacht hatte.
Es war diese Erkenntnis, die mich abrupt in die Realität zurückholte. Die Geräusche stürmten auf mich ein und mein gesamter Körper wurde von einer Ladung Adrenalin überschwemmt. Ich stieß keuchend den angehaltenen Atem aus, das Blut rauschte laut in meinen Ohren und mein Herz schlug beinahe schmerzhaft in meiner Brust. Die Umgebung nahm wieder scharfe Formen an, das Sonnenlicht war beinahe zu grell und die Zeit schien nicht länger still zu stehen. Das beständige Tick Tack der Uhr über der Küchentür schien mich zu verhöhnen und war mehr als unpassend. Es ging mir gewaltig auf die Nerven und am liebsten hätte ich den nächstbesten Gegenstand nach dem Störenfried geworfen, aber ich wagte es weiterhin nicht, mich zu rühren, obwohl meine Muskeln wieder voll funktionsfähig waren. Ich blickte Chris einfach in die Augen, während ich versuchte, meinen Atem ein wenig zu beruhigen und meinen Puls in geordnete Bahnen zurückzubeordern. Wir starrten uns gegenseitig an, keiner bereit, zuerst nachzugeben und es schien nur mehr uns beide zu geben. Seine Hand mit der Waffe war weiterhin ruhig, sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig – er hatte sich eindeutig besser in der Gewalt als ich, sah man von der Panik, die sich in seinen Augen spiegelte, ab.

Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, als ich neben mir eine Bewegung wahrnahm, die mich aus meiner Starre riss. Erst jetzt realisierte ich zum ersten Mal so richtig, dass wir nicht alleine waren, sondern sich Gibbs, McGee und Ziva ebenfalls in dem Raum befanden, der mir auf einmal viel zu klein vorkam. Nicht nur ich zuckte zusammen, auch Chris wurde aus seiner Betrachtung gerissen. Er schloss seine Finger unwillkürlich fester um den Griff der Waffe und spannte seine Schultern an, so als ob er mit einer Attacke rechnen würde.
Ich wagte es endlich, meinen Blick von ihm zu lösen, drehte meinen Kopf und sah zu meinen Kollegen, die einen Halbkreis um uns gebildet hatten und meinem Bruder damit mehr als deutlich machten, dass er keine Chance zur Flucht hatte. McGee sah zwischen mir und Chris hin und her, nicht sicher, wem er seine Aufmerksamkeit schenken sollte. Sein Mund stand leicht offen und auf sein Gesicht war leichtes Unglauben geschrieben, wobei er seine Augenbrauen ein wenig zusammengezogen hatte. Egal wie er es oder von wem er es erfahren hatte, ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass er ein paar Sekunden gebraucht hatte, um diese Information zu verdauen. Würde ich so unverhofft erfahren, dass Tim einen Zwillingsbruder und dieser seinen Platz eingenommen hatte, würde ich mich auch mit eigenen Augen davon überzeugen wollen, ob ich nicht träumte. Ich wusste nur zu genau, dass das alles kein Traum war und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, war ich froh darüber, dass es keiner war. Obwohl die Situation momentan ausweglos erschien, so bestand noch immer die Chance, dass sich alles zum Guten wendete, wenn ich Gibbs dazu brachte, seine Waffe wegzustecken und Chris endlich die Wahrheit erklären konnte, damit er einsah, dass ich sein Vertrauen nicht missbraucht hatte – nicht heute und schon gar nicht vor 15 Jahren.
Ziva hingegen war nicht einmal annähernd anzumerken, was sie dachte oder was in ihrem Inneren vorging. Ihre Miene war verschlossen, ihre Hände hielten ruhig die Waffe und ihr gesamter Körper war gespannt wie ein Flitzebogen. Ich wusste was zwischen ihr und meinem Bruder vorgefallen war, hatte er mir doch von ihrem Kuss erzählt. Zu erfahren, dass nicht ich es gewesen war, der sie geküsst hatte, musste sie heftig getroffen haben, das zeigte alleine schon die Emotionslosigkeit auf ihrem Gesicht. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass es nicht Gibbs war, von dem die meiste Gefahr für Chris ausging, sondern Ziva. Es wunderte mich, dass sie nicht einfach auf ihn zustürmte, um ihm den Hals umzudrehen, ungeachtet dessen, dass er mit einer Pistole auf meine Stirn zielte.
Mein Boss hingegen war professionell wie immer und nicht einmal die Tatsache, dass er auf einmal zwei Männer vor sich hatte, die sich bis ins kleinste Detail glichen und es mühelos schafften, ihn auf die Palme zu bringen, schien ihn zu stören. Seine Augen hatte er leicht zusammengekniffen und er fixierte meinen Bruder wie eine Zielscheibe auf dem Schießstand. Genauso wie Ziva konnte ich nicht erkennen, was er dachte, aber ich ahnte, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass sich die Situation so entwickeln würde. So wie ich ihn kannte, hatte er geglaubt, ein leichtes Spiel zu haben. Allerdings fragte ich mich, was er jetzt machen wollte, denn Chris machte auf mich den Eindruck, nicht freiwillig die Waffe sinken zu lassen. Seine Worte, dass er um keinen Preis ins Gefängnis wollte, kamen mir in den Sinn und auf einmal hatte ich Angst, dass er etwas Dummes anstellen würde. Was war, wenn er Gibbs herausforderte, auf ihn zu schießen? Mein Unglauben, dass er mich bedrohte, wurde durch die Furcht, dass er in diesem Raum den Tod finden könnte, ersetzt und ließ mich scharf einatmen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich fühlte mich schrecklich hilflos, wusste nicht, was ich machen sollte, um die Situation zu entschärfen.

„Alles in Ordnung, Tony?" Jethros Frage riss mich aus meinen nicht gerade rosigen Gedanken. Seine Stimme war ruhig, während seine blauen Augen gefährliche Funken sprühten. Chris zuckte ein wenig zusammen und für einen kurzen Moment presste er seine Lippen noch fester zusammen, bevor er seinen Mund ein wenig aufmachte und anfing, Luft in seine Lungen saugen, so als ob er minutenlang unter Wasser und kurz davor gewesen wäre, zu ersticken. Ich wusste genau, was in ihm vorging – verschwunden war Gibbs' Sorge um ihn, sie war für mich bestimmt und nicht länger für meinen Bruder und das machte diesem sichtlich zu schaffen. Er hatte das Gefühl kennen gelernt, wie es war, wenn man jemanden hatte, der einem helfen wollte und jetzt war erneut ich es, der ihm das wegnahm, genauso wie in unserer Kindheit. Da hatten sich unsere Eltern ständig um mich gekümmert und ihn links liegen gelassen und dasselbe passierte jetzt wieder. Mein Boss war wahrscheinlich nur daran interessiert, den Mann zu verhaften, der mich entführt und meinen Platz eingenommen hatte – aber so wahr ich Anthony DiNozzo hieß, ich würde nicht zulassen, dass er das machte. Ich wollte meinen Bruder zurückhaben und ich würde dafür kämpfen.
„Mir geht es bestens", antwortete ich schließlich, da ich wusste, dass es Gibbs überhaupt nicht gefiel, wenn ihn jemand ignorierte. Jedoch sah ich weiterhin Chris an und versuchte den Schmerz in meinem Inneren zu ignorieren, der in mir aufstieg, als ich erneut den Hass zu spüren bekam, den er gar nicht erst zu verstecken versuchte, weshalb ich den Spruch, der mir bereits auf der Zunge lag, hinunterschluckte. Auch wenn er vielleicht dazu beigetragen hätte, die Stimmung etwas zu lockern, war es nicht der richtige Augenblick dafür, außerdem wollte ich mir keine Kopfnuss einfangen – diese würde bald genug wieder kommen. Meine Worte führten jedoch nicht dazu, dass Jethro die Pistole sinken ließ – im Gegenteil. Er hob sie noch weiter an, weshalb ich ihm vorübergehend die Aufmerksamkeit schenkte.
„Es ist wirklich alles bestens", wiederholte ich, selbst erstaunt über meine ruhige Stimme. „Chris hat mir nichts getan und…" „Aber ICH werde IHM gleich etwas antun, wenn er nicht sofort die Waffe runternimmt", grollte Gibbs und spannte seine Muskeln an. Ich wusste, dass er seine Drohung wahr machen würde und erneut stieg Panik in mir auf. „Das Spiel ist aus, Christopher", sagte er kalt zu meinem Bruder, der immer schneller atmete und dessen Hand langsam zu zittern begann. „Nimm die Waffe runter oder diese Sache wird nicht ohne Blutvergießen enden." „Gibbs, bitte…" begann ich, wurde aber von Chris unterbrochen, der seine Sprache wiedergefunden hatte. „Nein!" schrie er und machte auf mich mehr denn je den Eindruck eines in die Enge getriebenen Tieres. „Das werde ich nicht tun! Ich weiß doch, dass ich anschließend im Gefängnis landen werde und dort werde ich nicht hingehen! Und wenn das alles nur mit Blutvergießen enden kann, dann soll es so sein! Schieß, wenn du unbedingt schießen musst!!!" Nicht nur ich war über diese Worte entsetzt. Ziva ließ ihre Waffe ein paar Zentimeter sinken und sah beinahe flehend zu Gibbs, der sie aber ignorierte – und in diesem Moment wurde mir klar, dass sie Gefühle für meinen Bruder hegte, auch wenn sie es wahrscheinlich selbst noch nicht wusste. Aber ich konnte das Band zwischen den beiden förmlich spüren.
„Niemand wird hier irgendwen erschießen!" schrie ich und hatte auf einmal die Aufmerksamkeit des Chefermittlers auf mich gezogen. „Tony…" „Nein! Verdammt, Gibbs, er ist mein Bruder und ich werde nicht zulassen, dass du den Abzug durchziehst! Bitte, nimm die Waffe runter, ich werde das regeln", fügte ich leiser hinzu und blickte ihn eindringlich an. „Was?" fragte er überrascht und ärgerlich, da ich es gewagt hatte, ihn derart anzubrüllen und ihm praktisch einen Befehl erteilt hatte. Aber ich ließ mich nicht irritieren und hielt seinem stechenden Blick stand. „Ich werde nicht…" „Bitte", unterbrach ich ihn, in dem Bewusstsein, dass er mir im Anschluss deswegen sicher ein gutes halbes Dutzend Kopfnüsse verpassen würde, aber die waren erträglicher als eine Kugel in Chris' Körper. „Von mir aus kannst du mir nachher sooft auf meinen Hinterkopf schlagen oder mich mit so viel Aktenarbeit bestrafen wie du willst, aber bitte, nimm die Waffe runter. Bitte, lass mich das regeln. Vertrau mir, Boss, vertrau mir einfach." Meine Stimme wurde flehentlich und wenn es sein musste, würde ich zusätzlich auf meine Knie sinken und ihn anbetteln. Sah er denn nicht, dass er mit seinem Verhalten nur alles schlimmer machte? Solange Chris sich weiterhin in die Enge getrieben fühlte, würden wir nicht weiterkommen. Außerdem glaubte ich nicht, dass er mir irgendetwas antun würde, sonst hätte er schon längst abgedrückt. Er war verzweifelt und ich wollte ihm zu einem Ausweg verhelfen – aber zu einem, der nicht im Gefängnis endete.
Für ein paar Sekunden – die mir jedoch wie eine Ewigkeit vorkamen – blickten Gibbs und ich uns an und ich konnte die Räder, die sich in seinem Kopf drehten, förmlich vor mir sehen. Er überlegte hin und her, durchdachte die gesamte Situation und als er endlich seine Entscheidung getroffen hatte, nickte er leicht – jedenfalls interpretierte ich das kurze Rucken seines Kopfes als solches. Seine Muskeln entspannten sich ein wenig und er ließ langsam seine Hände sinken, bis die Mündung auf den Boden gerichtet war. Erleichtert atmete ich tief durch und Stolz keimte in mir auf, als ich erkannte, dass er mir wirklich vertraute, dass er mir eine Chance ließ, die Situation auf meine Art zu regeln.
„Na los, nehmt die Waffen runter", sagte Gibbs zu Ziva und McGee, die einen verblüfften Blick austauschten und als der Chefermittler erneut kurz nickte, folgten sie seinem Befehl. Zögernd steckten sie die Pistolen in ihre Holster zurück, während Jethro seine weiterhin in der Hand hielt, sie aber weiterhin mit der Mündung nach unten gerichtet hatte – etwas, womit ich gut leben konnte. Ich wusste, er wollte so schnell wie möglich eingreifen können, wenn die Sache aus dem Ruder laufen würde – aber so weit würde ich es nicht kommen lassen.

Erleichterung durchströmte mich, als Gibbs einen Schritt zurücktrat und uns ein wenig Platz ließ, aber nichtsdestotrotz war mir bewusst, dass er uns weiter wie ein Jäger, der seine Beute verfolgte, beobachtete. Wenn alles gut ausging, würde ich ihm einen Jahresvorrat an Kaffee kaufen, auch wenn ich deswegen in Zukunft sparen musste, aber das war es mir wert.
Ich drehte mich zu Chris und konzentrierte mich nur mehr auf ihn, verdrängte die Tatsache, dass wir nicht alleine waren und die anderen die nicht gerade nette Familiengeschichte der DiNozzos mitbekommen würden. Mein Gegenüber entspannte sich ein wenig, als er erkannte, dass ihm von den Agenten momentan keine Gefahr mehr drohte und die Hand mit der Waffe hörte auf zu zittern. Er gewann wieder etwas an Boden und die Panik, die ihn erfasste hatte, ließ eine Spur nach. Vorsichtig trat ich einen Schritt auf ihn zu, stoppte aber, als er die Pistole ein wenig anhob und mich gefährlich anfunkelte. „Versuchst du mich etwa weichzuklopfen, Tony? Aber ich kann dir versichern, dass das nicht funktionieren wird", meinte er mit erstaunlich ruhiger Stimme – nichts deutete darauf hin, dass er noch vor kurzem herumgebrüllt hatte, dabei hätte ich gehofft, dass er weiterhin wütend war. Ich wollte an dem Plan, ihn aus der Reserve zu locken, festhalten und ihn dadurch dazu bringen, seine Schutzschilder einzureißen. Und plötzlich wusste ich es, wusste, wie ich ihn derart ärgern konnte, dass er alles rausließ, dass er all seinen Hass mir gegenüber ablegte und die Vergangenheit endlich ruhen ließ.

„Weißt du was dein Problem ist?" fragte ich und machte einen weiteren kleinen Schritt in seine Richtung. Mein Herz schlug viel zu schnell, ich hatte einen Überschuss Adrenalin in meinen Adern und meine Hände wurden feucht. In ein paar Minuten würde es sich entscheiden, ob ich Chris verlieren würde oder ob er endlich dazu bereit war, sein Leben mit mir zu teilen. „Dein Problem ist, dass du Angst hast", fuhr ich fort und beobachtete seine Reaktion genau. „Du hast nicht Angst, ins Gefängnis zu gehen, nein, du hast Angst davor, nicht wieder davonlaufen zu können, so wie du es vor 15 Jahren getan hast. Und weißt du warum? Weil du ein gottverdammter Feigling bist!" Die letzten Worte schleuderte ich ihm mitten ins Gesicht und sie trafen genau ihr Ziel, das merkte ich sofort. Chris zuckte wie unter einem heftigen Schlag zusammen, seine Miene verzerrte sich vor Wut und er krampfte unwillkürlich den Zeigefinger um den Abzug, aber da die Waffe noch immer gesichert war, machte ich mir keine Sorgen, dass sie versehentlich losgehen könnte. Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, wie sich meine Kollegen versteiften und Gibbs vortreten wollte, es sich aber zu meiner Erleichterung anders überlegte. Wenn er sich jetzt einmischte, war alles verloren, aber er hielt sich im Hintergrund.
„Du nennst mich einen Feigling?!" herrschte mich mein Bruder an und seine Augen sprühten regelrecht Funken. „Ja, ich nenne dich einen Feigling, weil du einer bist, weil du zu feig bist, dich den Konsequenzen zu stellen, dafür gerade zu stehen, was du getan hast! Und weil du zu verbohrt bist, um dir endlich die Wahrheit anzuhören!" Chris zuckte erneut zusammen und für einen kurzen Moment presste er seine Kiefer so fest aufeinander, dass seine Halsmuskeln wie dicke Stränge hervortraten. „Du nennst mich einen Feigling?!" wiederholte er seine Worte noch einmal. „Und was bist dann du?! Oh ja, jetzt fällt es mir wieder ein! Du bist ein gottverdammter Verräter! Hinterhältig und nur darauf bedacht, mein Vertrauen zu missbrauchen, so wie heute und vor 15 Jahren!" Er atmete heftig und seine Wangen röteten sich erneut. Ich erkannte, dass er davor stand, seine Beherrschung zu verlieren, aber ich ließ nicht locker, ließ die Worte über mich ergehen, die er mir an den Kopf schleuderte und die mir, obwohl ich sie erwartet hatte, einen schmerzhaften Stich versetzten.
„Wer hat sich denn hinterrücks an Amy herangemacht?! Wer hat denn mit meiner Freundin herumgemacht, während ich nicht in der Nähe war?! Du hast schamlos mein Vertrauen missbraucht und mir damit gezeigt, was ich dir wert bin! Und du wagst es, mich einen Feigling zu nennen?! Dann gebe ich dir den Rat: denk zuerst darüber nach, was du getan hast, bevor du hier irgendwen verurteilst!!!"
Drückende Stille breitete sich aus und sogar die Welt schien die Luft anzuhalten. Unser Streit nahm Dimensionen an, mit denen ich nicht gerechnet hatte und mittlerweile fragte ich mich, ob es so gut war, ihn aus der Reserve zu locken, aber jetzt gab es kein Zurück mehr, ich musste es durchziehen, denn wenn ich klein beigab, wäre alles verloren.
Ich schüttelte frustriert meinen Kopf und trat einen weiteren kleinen Schritt auf Chris zu, der aber sofort Distanz zwischen uns brachte. „Ich habe dein Vertrauen nicht missbraucht", sagte ich erstaunlich ruhig und wunderte mich selbst, wie ich das schaffte, hatte ich doch das dringende Bedürfnis, ihm endlich Vernunft einzubläuen. „Nicht heute und schon gar nicht vor 15 Jahren. Was mit Amy passiert war, war nicht meine Schuld. Es war ganz anders als es ausgesehen hat." „Oh bitte", erwiderte er höhnisch und voller Eiseskälte, die mehr schmerzte als ein harter Faustschlag. Gleich darauf verzerrte sich sein Gesicht erneut vor Wut und ich konnte erkennen, dass er den Abend, der uns auseinandergebracht hatte, vor Augen hatte, jede einzelne Szene.
„Es war nicht deine Schuld, ja?" fragte er mit gefährlich leiser Stimme, obwohl es offensichtlich war, dass er am liebsten erneut herumgebrüllt hätte. „Soll ich dir was verraten? Ich habe Augen im Kopf und die funktionieren wunderbar. Ich weiß was ich gesehen habe und für mich war das mehr als eindeutig." „Chris…" „Nein, jetzt hörst du mir einmal zu!" unterbrach er mich laut und verstärkte den Griff um die Waffe, weshalb Gibbs seine Hand hob und in mein Blickfeld trat. Erschrocken drehte ich mich um und bekam mit, wie die anderen ebenfalls zu ihren Pistolen griffen. „Wartet!" rief ich panisch und schüttelte heftig den Kopf. Sie durften nicht eingreifen, durften es nicht kaputt machen. Ich hatte meinen Bruder endlich so weit, dass er alles ausspuckte, was ihm auf dem Herzen lag und ich spürte, dass ich kurz davor stand, die Chance zu erhalten, ihm alles zu erklären, dass wir auf einen grünen Zweig kamen. „Gibbs, bitte." Ich sah ihn flehentlich an und in meinen Augen musste ein Ausdruck liegen, der ihn inne halten ließ. Er presste seine Kiefer aufeinander und signalisierte mir damit, dass er nicht damit einverstanden war, wie das hier ablief, machte aber keine Anstalten mehr einzugreifen. Allerdings blieb er auf dem Fleck stehen, ließ die Waffe aber wieder sinken.

„Chris, was vor 15 Jahren passiert ist, ist…" begann ich, als ich mich ihm erneut zuwandte, hatte aber keine Möglichkeit, den Satz zu vollenden. „Nicht, deine Schuld?! Das habe ich doch schon einmal gehört!" Er zuckte mit den Schultern und auf einmal überkam ihn eine Traurigkeit, die mir schier den Atem raubte. „Weißt du, weshalb ich an diesem Abend überhaupt zu dir ins Zimmer gekommen bin?" wollte er wissen und kniff seine Augen zusammen. „Ah ja, ich vergaß, du warst beschäftigt." Der Hass war wieder da, verdrängte die Traurigkeit aber nicht ganz. „Sag es mir", erwiderte ich leise, meine Wut, dass er mich einen Verräter genannt hatte, war verraucht.
„Hast du eine Ahnung, wie es ist, per Zufall zu erfahren, dass man für den eigenen Vater nur Ballast ist?!" schleuderte er mir entgegen und für einen kurzen Moment stand ich einfach nur da, während seine Worte in meinem Gehirn widerhallten. Erneut hatte ich das Gefühl, mich nicht mehr rühren zu können. „Was?" Fassungslos starrte ich ihn an und versuchte zu realisieren, was ich soeben gehört hatte. „Du hast mich schon richtig verstanden! An diesem Abend habe ich zufällig ein Gespräch von Dad und diesem Jamieson belauscht! Und er hat diesem Mann einfach erzählt, dass ich ihm nichts als Ärger mache! Oh und das Beste kommt noch: er wollte mich doch tatsächlich kurz nach meiner Geburt zur Adoption freigeben, weil ihm ein Kind reicht und dieses Kind warst DU! Alles hat sich nur um DICH gedreht, DU warst der behütete Schatz unserer ach so tollen Eltern! Aber soll ich dir was verraten?! Du warst für Dad auch nur ein Mittel zum Zweck! In dir hat er nur den Sohn gesehen, der einmal sein Unternehmen übernehmen wird, damit sein Vermögen weiterhin anwächst! Im Prinzip warst du für ihn genauso Ballast wie ich, aber da du der Erstgeborene warst, hast du das nicht so zu spüren bekommen! Deshalb bin ich an diesem Abend zu dir ins Zimmer gekommen, um dir zu sagen, welcher Drecksack unser Vater ist! Und dann musste ich erkennen, dass du nicht besser bist! Du hast mein Leben zerstört!"
Tränen traten Chris in die Augen und ließen das Grün seiner Iris verschwimmen, jedoch blinzelte er heftig, bis die verräterische Nässe wieder verschwand. Ich stand da und versuchte, den riesigen Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken – und in diesem Moment begriff ich alles, begriff, warum sich mein Bruder nicht meine Erklärung anhören hatte wollen, begriff, warum er ohne eine Nachricht zu hinterlassen einfach davon gelaufen war. Die Sache mit Amy war nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Er hatte an diesem Abend eine schreckliche Wahrheit erfahren müssen, die Wahrheit, dass er nur Ballast und ein lästiges Anhängsel für unseren Vater gewesen war. Ich hatte gewusst, dass unser Erzeuger kaltherzig war, aber dass er so über seinen eigenen Sohn dachte, damit hätte ich nie gerechnet. Die Tatsache, dass ich auch nur ein Mittel zum Zweck gewesen war, traf mich nicht annähernd so hart wie der Grund, warum Chris immer links liegen gelassen worden war. Hilflos ballte ich meine Hände zu Fäusten und am liebsten hätte ich ihn in die Arme genommen, hätte ihn getröstet, aber er hatte weiterhin die Waffe auf mich gerichtet, allerdings fing diese erneut leicht zu zittern an.
„Ich hatte ja keine Ahnung", erwiderte ich schließlich leise, wobei meine Stimme seltsam belegt klang. Meine Eingeweide waren ein einziger harter Knoten und ich hatte noch immer Mühe zu atmen. Aber ich würde jetzt nicht locker lassen. Ich wollte, da mein Bruder endlich ruhiger wurde und die Kraft ihn zu verlassen begann, endlich reinen Tisch machen, alle Missverständnisse zwischen uns ausräumen. Ich trat einen Schritt auf ihn zu, verringerte die Distanz zwischen uns und stellte erleichtert fest, dass er nicht vor mir zurückwich und nicht wieder anfing, herumzubrüllen. Die Waffe in seiner Hand zitterte stärker und ich konnte die Risse, die sein Schutzschild bekommen hatte, förmlich vor mir sehen. Ich vergaß vollkommen, dass wir nicht alleine waren, vergaß, dass er mich eingesperrt und meine Identität übernommen hatte, vergaß, dass Gibbs nur darauf wartete, ihn zu verhaften. Ich machte noch einen kleinen Schritt und er ließ die Pistole ein Stückchen sinken, sodass sie nun auf meine Brust zielte und nicht mehr auf meine Stirn.
„Aber soll ich dir etwas sagen?" fuhr ich fort und entspannte mich ein wenig, als ich erkannte, dass die Situation anfing, sich zum Guten zu wenden. „Auch wenn du für Dad Ballast warst, für mich warst du das keine einzige Sekunde lang. Und in einem Punkt hast du Unrecht. Ich habe dein Leben nicht zerstört, du hast es nur die ganze Zeit angenommen." Ich hielt inne, beobachtete Chris genau, wie sich sein Atem beschleunigte und sich die rote Gesichtsfarbe in ein helles Rosa verfärbte. „Benutz endlich dein Gehirn. Wo ist nur dein logisches Denken geblieben? Was hast du an diesem Abend wirklich gesehen?" Er starrte mich für ein paar Sekunden regungslos an, bevor er hart schluckte und antwortete: „Ich habe gesehen, wie du Amy von dir gestoßen hast, als ich ins Zimmer geplatzt bin." Hoffnung keimte in mir auf, als er nicht anfing zu schreien und sich langsam Verständnis in seinen Augen ausbreitete.

„Richtig, du hast gesehen, wie ich Amy von mir weggestoßen habe, aber das habe ich nicht getan, weil du ins Zimmer geplatzt bist und ich mich ertappt gefühlt habe, sondern weil sie es gewesen ist, die MICH geküsst hat und nicht umgekehrt, so wie du es die ganze Zeit angenommen hast. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich gegen den Schrank gedrängt dagestanden bin. Glaub mir, hätte ich Amy geküsst, wären die Positionen vertauscht gewesen." „Aber…" begann Chris, unterbrach sich aber, als seine Stimme versagte. Verwirrung spiegelte sich auf seinem Gesicht und er ließ die Waffe ein weiteres Stückchen sinken. Seine Brust hob und senkte sich rasend schnell und er wurde weiß im Gesicht, als es ihm dämmerte, was ich ihm mit meinen Worten sagen wollte.
„Es war Amy, die…? Aber… wie kann das sein? Sie hat ständig behauptet, sie würde mich lieben. Außerdem warst du fast nackt und zu deinen Füßen ist eines deiner Hemden gelegen." Es war ein letzter Versuch seinerseits sich gegen die Erkenntnis zu wehren, dass er all die 15 Jahre auf dem Holzweg gewesen war, dass er umsonst solchen Hass auf mich empfunden hatte.
„An diesem Abend war es heiß und schwül, erinnerst du dich? Deswegen hatte ich auch nichts weiter an als die Boxershorts. Aber ich wollte mir ein Hemd anziehen, als Amy zu mir gekommen ist. Sie hat mich jedoch mit dem Kuss so überrascht, dass ich es fallen gelassen habe. Glaub mir, Chris, ich hätte dir nie wehtun wollen. Ich war so glücklich, als ich gemerkt habe, dass du endlich aus deinem Schneckenhaus gekrochen bist, als du Amy kennengelernt hast und du wieder Freude am Leben hattest. Was zwischen uns passiert ist, war eine Verkettung unglücklicher Umstände und ich kann jetzt deine Reaktion von damals verstehen. Ich wollte nie, dass es zwischen uns so weit kommt. Als ich erkannt habe, dass du ohne eine Nachricht zu hinterlassen einfach abgehauen bist, habe ich mir deswegen die Schuld gegeben. Ja, ich habe mir die Schuld gegeben, weil ich dich an diesem Abend alleine gelassen und dich nicht dazu gedrängt habe, dir die Wahrheit anzuhören. Aber ich versichere dir, ich hätte niemals dein Vertrauen missbraucht, nicht vor 15 Jahre und schon gar nicht heute."
Erneut breitete sich Stille aus, aber sie war bei weitem nicht mehr so drückend. Der ganze Hass verschwand aus Chris' Augen und ließ nichts weiter als Verständnis und Reue zurück. Sein Körper durchlief ein sichtbares Zittern und er hatte Mühe, die Waffe zu halten, die allerdings keine Bedrohung mehr darstellte.

„Aber wieso sind sie dann hier?" wollte er verzweifelt wissen und deutete mit dem Kopf zu meinen Kollegen, die alles stumm verfolgt hatten und sich sichtlich fehl am Platz fühlten, sogar Gibbs. „Wie haben sie es herausgefunden, wenn nicht durch dich?" „Es war Abby", sagte McGee und seiner Stimme haftete eine Ernsthaftigkeit an, die ich noch nie bei ihm gehört hatte und die ihn gleich um einiges reifer erschienen ließ. „Abby hat alles herausgefunden. Tony hatte damit nichts zu tun."
So als ob diese Worte eine letzte Bestätigung dafür waren, dass sich Chris die ganze Zeit über geirrt hatte, verschwand von einer Sekunde auf die andere der Schutzschild, den er um sich aufgebaut hatte und alle Kraft schien aus seinem Körper zu weichen. In seine Augen traten Tränen, als er endlich realisierte, dass er sich in all den Jahren in mir getäuscht hatte, dass ich nicht einmal annährend so wie unsere Eltern war.
„Oh Gott", flüsterte er schwach, ein Schluchzer bildete sich in seiner Kehle und verhallte in dem Raum. Der Arm mit der Waffe fiel schlaff nach unten, die Finger lösten sich vom Griff und sie landete mit einem Poltern auf dem Boden. „Es tut mir so leid, oh Gott, es tut mir so leid." Die Tränen strömten ungehindert über seine Wangen, sein Körper wurde von unterdrückten Schluchzern geschüttelt und auf einmal spürte ich selbst ein verräterisches Brennen in meinen Augen.
Ohne lange darüber nachzudenken, überbrückte ich die letzte Distanz zwischen uns und umarmte Chris, presste ihn an mich. „Es tut mir so leid, was ich dir angetan habe. Verzeih mir, Tony. Bitte, verzeih mir", schluchzte er und schlang seine Arme um mich, krallte seine Finger in mein Hemd, so als ob es ein Rettungsanker wäre. Er begann haltlos zu weinen, ließ endlich all dem Kummer, der sich in ihm angestaut hatte, freien Lauf und ich hielt ihn einfach fest. „Es ist in Ordnung", flüsterte ich beruhigend und schämte mich nicht meiner schwachen Stimme. „Ich verzeihe dir, Chris. Es wird alles gut." Er klammerte sich weiterhin wie ein kleines Kind an mich und schien mich nie wieder loslassen zu wollen. Ich schloss meine Augen und ließ meinerseits den Tränen freien Lauf, als mir mit aller Deutlichkeit bewusst wurde, dass ich endlich meinen Bruder wieder zurückhatte, dass wir nach 15 langen Jahren wieder vereint waren.

Fortsetzung folgt...
You must login (register) to review.