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Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als sich aus Chris' Kehle nur noch trockene Schluchzer lösten und er sich langsam beruhigte. Seine Finger waren weiterhin in mein Hemd gekrallt und sein Kinn ruhte auf meiner linken Schulter. Das letzte Mal, als er derart geweint hatte, war, als Großvater gestorben und er voller Trauer gewesen war. Damals hatte er ebenfalls Trost in meinen Armen gesucht, wobei wir anschließend einfach nur stumm auf meinem Bett gesessen waren und dem Atem des anderen gelauscht hatten.
Zudem war es lange her, seit wir uns das letzte Mal so umarmt und uns gegenseitig Halt gegeben hatten. Mein Bruder hatte deutlich an Muskelmasse zugelegt und war um einiges kräftiger geworden und ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass er mir diesmal ohne weiteres den Unterkiefer hätte brechen können, hätte er sich dazu entschieden, mich noch einmal zu schlagen. Sein Körper fühlte sich so wunderbar vertraut an und die Wärme, die er ausstrahlte, war Balsam für meine Seele. Meine eigenen Tränen waren bereits versiegt und waren nur mehr eine unangenehme, feuchte Spur auf meinen Wangen, aber dennoch wischte ich sie nicht weg, da ich Chris nicht loslassen wollte. Viel zu sehr genoss ich es, ihn so nahe bei mir zu haben, in dem Bewusstsein, dass er endlich zur Besinnung gekommen und sein Hass mir gegenüber komplett verschwunden war.
Ich hatte meine Augen weiterhin geschlossen und konzentrierte mich nur auf meinen Bruder, der immer ruhiger wurde und sich nicht daran zu stören schien, dass seine Tränen auf mein Hemd tropften und es durchnässten. Es war weiterhin ruhig in dem Raum, abgesehen von den gelegentlichen Schluchzern, aber ich hatte nicht vergessen, dass wir nicht alleine waren, aber mir war es egal, dass ich zum ersten Mal meine Maske vor meinen Kollegen fallen gelassen hatte. Ständig spielte ich ihnen den starken und gutgelaunten Tony vor, aber diesmal hatte ich mich einfach gehen lassen und ich schämte mich deswegen nicht einmal. Vielleicht war es ganz gut, ab und zu Schwäche, anstatt immer nur den starken Macho, zu zeigen.

Ich spürte, wie sich Chris ein wenig entspannte und leise seufzte, was mir ein kleines Lächeln auf meine Lippen zauberte. Gott, wie hatte ich ihn vermisst – ich hatte einfach alles an ihm vermisst, sein Lachen, seine Stimme, seinen Geruch und seinen Sinn für Humor. Ich wusste nicht, ob er jetzt, da wir endlich wieder zueinandergefunden hatten, weiterhin vorhatte, Washington zu verlassen, aber wenn er es tat, dann würde ich dafür sorgen, dass wir in Kontakt blieben und uns nicht wieder aus den Augen verloren. Momentan wollte ich gar nicht darüber nachdenken, was die Zukunft für uns bereithielt, da ich mir im Klaren war, dass Chris noch nicht aus dem Schneider war. Ungeachtet dessen, was Gibbs durch unseren Streit erfahren hatte, hatte ich nicht vergessen, dass er nicht zimperlich mit meinem Bruder umgehen würde. Jeher hatte es niemand ungestraft überstanden, wenn jemand einen von Jethros Agents entführt hatte und diesmal würde es genauso sein. Aber er würde sicherlich nicht mit dem Widerstand rechnen, dem ich ihn entgegenbringen würde. So leicht würde er Chris nicht verhaften können und wenn ich mich dafür mit meinem Boss anlegen musste, dann würde ich das auch machen, egal welche Konsequenzen es für mich bedeutete.
Chris' Atem wurde wieder regelmäßiger, sein Körper nicht länger von Schluchzern geschüttelt und der Griff um mein Hemd wurde etwas lockerer. „Du hast mir so gefehlt", murmelte ich und drückte ihn eine Spur fester an mich, achtete aber darauf, ihn nicht zu zerquetschen. Die ganze Anspannung der letzten Tage war auf einmal verschwunden und zurückgeblieben war eine Blase des Glückes, die mich einhüllte, aber dennoch wusste ich, dass sie nicht stabil war, dass sie ohne weiteres zerplatzen konnte. „Du hast mir auch gefehlt", nuschelte er an meinem Hals, wobei seine Stimme ein wenig kratzig war. Er räusperte sich vernehmlich und gab ein zittriges Lachen von sich. „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals so gestritten haben - wie ein altes Ehepaar." Seine Worte brachten mich ebenfalls leise zum Lachen. „Aber es hat geholfen, dass du endlich deinen Sturschädel loswirst. Kleiner", fügte ich neckend hinzu und grinste breiter, als er sich versteifte und mir in den Rücken boxte – nicht fest, aber dennoch so, dass ich leicht zusammenzuckte. „Hör auf, mich so zu nennen. Du weißt genau, dass ich das nicht ausstehen kann." „Ich weiß, aber ich habe es vermisst, dich damit zu ärgern." „Du bist unverbesserlich, Tony." „Tja, was soll ich dazu sagen? So bin ich nun einmal." Ich drückte ihn ein letztes Mal, bevor ich mich sanft aus seiner Umarmung löste und mir endlich meine Wangen mit einem Hemdsärmel trocken wischte.
Chris hingegen nahm seinen Handrücken und schniefte noch einmal laut, bevor er sich ein wenig drehte und einen beschämten Gesichtsausdruck aufsetzte. Er schluckte hart und scharrte verlegen mit seinen Füßen, trotzdem konnte ich die Angst spüren, die ihn ergriffen hatte. Die erste Konfrontation war vorbei, aber es würde bald die nächste folgen und Gibbs war nicht so pflegeleicht wie mein Bruder. Es würde sich demnächst herausstellen, ob das zweite b in seinem Namen wirklich für Bastard stand oder ob er bereit war, ein einziges Mal seine harte Schale einzureißen, um den weichen Kern, der irgendwo in seinem Inneren lauern musste, hervorzuholen.
Ich gab mir einen Ruck und drehte mich zu meinen Kollegen um, die weiterhin stumm am selben Fleck stand und uns beobachteten. Mittlerweile hatte Jethro seine Waffe weggesteckt und seine Miene war so undurchschaubar wie eh und je. Sein Blick war auf Chris gerichtet, der überall nur nicht den Chefermittler ansah und sich sichtlich unwohl in seiner Haut fühlte.

„Es tut mir leid", sagte mein Bruder leise zu seinen Füßen und er wirkte wie ein kleiner Junge, der darauf wartete, ausgeschimpft zu werden. „Dafür ist es ein wenig zu spät", erwiderte Gibbs prompt, weshalb ich mich sofort anspannte und Chris abrupt seinen Kopf hob – die Angst in ihm wurde sichtlich stärker. „Boss…" begann ich, wurde aber unterbrochen. „Nein, Tony. Er hat dich entführt und uns allen vorgemacht, du zu sein. Und wenn ich etwas nicht ausstehen kann, ist es, wenn man mich an der Nase herumführt und belügt." Seine Stimme war gefährlich ruhig und ich wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Mein Herz krampfte sich zusammen und Panik stieg in mir auf, als mein Boss in seine Hosentasche griff und seine Handschellen herausholte. „Christopher DiNozzo, ich verhafte dich…" „Nein!" schrie ich und stellte mich zwischen ihm und meinem Bruder. „Du wirst ihn nicht verhaften! Das werde ich nicht zulassen!" Ich wusste nicht, wer erschrockener war, als ich meine Stimme gegen Gibbs derart erhob: ich selbst, er oder meine beiden Kollegen. Seine blauen Augen bohrten sich regelrecht in meine, aber diesmal hielt ich seinem Blick stand und gab nicht nach. Er presste seine Kiefer fest zusammen und ich konnte förmlich die Wut spüren, die ihn ergriffen hatte. McGee und Ziva sahen stumm dem Schauspiel zu, nicht sicher, was sie von der ganzen Situation halten sollten.
Die Luft knisterte voller Spannung und wartete nur darauf, dass sie sich in einem gewaltigen Donnerwetter entlud. Die Sekunden verstrichen, als ich hinter mir eine Bewegung wahrnahm und Chris auf einmal neben mich trat. „Es ist in Ordnung", sagte er ruhig und fixierte Jethro, der sich weiterhin auf mich konzentrierte. „Was?" fragte ich ungläubig und mein Herz krampfte sich noch fester zusammen. Ich drehte mich alarmiert um und stellte mich erneut zwischen ihm und meinen Boss, aber diesmal, um ihn direkt ansehen zu können. „Was redest du da für einen Mist?" „Ich rede keinen Mist, Tony. Ich muss dafür gerade stehen, was ich dir angetan habe, das hast du selbst gesagt. Die Aussicht, ins Gefängnis zu müssen, ist beängstigend und ich weiß nicht, wie und ob ich das überstehe, aber irgendwie werde ich es schaffen, da ich mir sicher bin, dass du mich besuchen wirst." Sein Blick wurde erneut traurig, aber dennoch lächelte er mich an. „Chris, das kannst du nicht machen." „Ich bin erwachsen und kann meine Entscheidungen selbst treffen. Es tut mir leid, wie es zwischen uns gelaufen ist und ich hasse mich selbst dafür, dass ich all die Jahre so schlecht über dich gedacht habe. Glaub mir, wenn ich eine Wahl hätte, würde ich nicht hinter Gitter gehen, aber sieh den Tatsachen ins Auge. Gibbs wird mich nicht gehen lassen und ich werde nicht zulassen, dass du eure Freundschaft aufs Spiel setzt, nur um mich davor zu bewahren, als freier Mann dieses Haus zu verlassen." Er schenkte mir ein letztes Mal ein trauriges Lächeln, bevor er einen Schritt zurücktrat, mich umrundete und auf den Chefermittler zustrebte. Ich drehte mich um und sah ungläubig zu, wie Chris seine Hände ausstreckte und Gibbs auffordernd anblickte. Dieser zögerte aus einem mir unerfindlichen Grund, aber es gab mir Hoffnung – Hoffnung, dass noch nicht alles verloren war. Das Geräusch, mit dem sich die Handschellen um die Gelenke meines Bruders schlossen, riss mich aus meiner Starre und verriet mir, dass mir die Zeit davonlief.

„Gibbs, bitte", sagte ich flehentlich und zog somit seine Aufmerksamkeit auf mich. „Lass uns darüber reden und eine Lösung suchen, die uns auf einen grünen Zweig bringt. Bitte", fügte ich ein letztes Mal leise hinzu. Für die Dauer von drei Herzschlägen – die mir unendlich lange vorkamen – sahen wir uns an, bis er seine Augen zusammenkniff und leicht seinen Kopf schüttelte. Die Glückblase um mich herum zerplatzte mit einem lauten Knall und ich ließ meine Schultern hängen, als die gesamte Kraft aus meinem Körper strömte. Wie hatte ich mich in ihm nur so täuschen können? Wie konnte er mir das nur antun? Wieso musste er sich ausgerechnet diesmal an die dämlichen Vorschriften halten, wo er doch sonst immer jede nur erdenkliche Regel zu Recht bog, so wie er es brauchte? Oder lag es einfach nur daran, dass er es nicht zuließ, dass jemand ungestraft einen seiner Agents entführte, egal wer der Kidnapper war?
Nur am Rande bekam ich mit, wie Gibbs Chris am linken Oberarm nahm und sich dieser widerstandslos hinausführen ließ, ohne noch einmal einen Blick zurückzuwerfen. Ziva, die eine versteinerte Miene zur Schau trug, folgte ihnen sofort, bis nur noch ich und McGee zurückblieben. Ich ließ meinen Kopf nach unten sinken und schluckte den Verzweiflungsschrei, der sich in meiner Kehle bildete, hinunter. Wieso wehrte sich Chris nicht dagegen, ins Gefängnis zu gehen, wo er doch vorher immer wieder betont hatte, dass er keinen Fuß dorthinein setzen würde? Wieso ließ er sich von meinem Boss wie einen Verbrecher abführen? Ich wusste, es war nicht richtig, wie er die ganze Sache angepackt hatte, trotzdem wollte ich nicht einsehen, dass ich erneut dabei war, ihn zu verlieren. Wenn er einmal hinter Gitter war, dann würde er sicher erneut die Mauer um sich herum aufbauen, um dort drinnen überleben zu können. Das Gefängnis konnte Menschen verändern, egal wie stark sie vorher gewesen waren.

„Tony?" McGee berührte mich leicht an der Schulter, dennoch sah ich nicht hoch. „Mir geht es gut, Bambino", erwiderte ich, nicht einmal registrierend, dass ich ihn mit seinen Spitznamen, den ich ihm verpasst hatte, anredete. „Nein, dir geht es nicht gut", meinte er ruhig, trat vor mich hin, sodass sein Schatten auf mich fiel. „Ich kann nicht einmal erraten, wie du dich jetzt fühlst, aber versuche Gibbs' Standpunkt zu verstehen. Er hat vor nicht einmal zwei Stunden erfahren, dass du einen Zwillingsbruder hast, der dich entführt und deinen Platz eingenommen hat. Für uns alle war das ein großer Schock." „Aber er kann Chris doch nicht einfach verhaften, egal was er getan hat", meinte ich und hob schließlich meinen Kopf, um mich einem Tim gegenüberzusehen, der noch nie so ernst gewesen war und der auf mich noch nie so erwachsen gewirkt hatte. „Dann sag Gibbs das, zwing ihn, dir zuzuhören. Seit wann lässt du dich von einer Niederlage unterkriegen? Wo ist der Tony DiNozzo geblieben, der nie aufgibt?" Ich starrte ihn ungläubig an, konnte es nicht fassen, dass aus dem kleinen Bambino auf einmal ein Mann geworden war, der nicht mehr herumstotterte oder rot anlief. „Außerdem würde ich deinen Bruder gerne näher kennenlernen", fügte er nach ein paar Sekunden hinzu und verzog seine Lippen zu einem Lächeln. „Bis auf die Tatsache, dass er dich entführt hat, scheint er richtig nett zu sein. Und er hat mich Tim genannt, das alleine ist schon ein Grund, ihn zu mögen." Ich konnte nicht anders, als ein kleines Lachen von mir zu geben und nickte. „Du hast Recht, McGee", meinte ich und straffte meine Schultern. „Das Schlimmste, was Gibbs mit mir machen kann, ist, mich zu feuern, aber ich werde nicht aufgeben. Chris wird nicht im Gefängnis landen." „So kenne ich dich. Und jetzt lass uns von hier verschwinden." Ich nickte erneut, hob meine Waffe, Marke und Dienstausweis auf und stopfte alles in meinen Rucksack. Gleich darauf folgte ich meinem Kollegen nach draußen, ließ das Haus, das für ein paar Tage mein Gefängnis gewesen war, zurück und begann, mich innerlich auf die Konfrontation mit Gibbs vorzubereiten.

Die Fahrt zum Hauptquartier war rasant wie eh und je. So als ob es keine Geschwindigkeitsbegrenzungen geben würde, raste Gibbs über die Landstraßen und anschließend den Highway Richtung Washington entlang, wobei er mehr als einmal langsamere Autos überholte, die uns hin und wieder ein lautes Hupen nachschickten. Im Inneren des Wagens hatte sich eine angespannte Stille ausgebreitet, die stark auf mein Gemüt drückte. Ziva saß neben dem Chefermittler auf dem Beifahrersitz, während Chris und ich uns im Font befanden.
Mein Bruder starrte die ganze Zeit auf seine Hände, die weiterhin von den Handschellen umschlossen wurden, seine Schultern hingen nach unten und er schien sich in sein Schicksal ergeben zu haben. Er war mit seinen Gedanken ganz weit weg und sein gesamter Körper strahlte eine Traurigkeit aus, die mir beinahe den Atem raubte. Nicht einmal den schrecklichen Fahrstil meines Bosses bekam er mit und es machte ihm auch nichts aus, dass er durchgerüttelt wurde, wenn wir an einer Kreuzung ohne abzubremsen abbogen. Ich wusste nicht, wie ich ihn trösten und klar machen konnte, dass alles gut werden würde. Normalerweise war ich nicht um Worte verlegen, aber mir fielen einfach keine passenden ein. Es war zum Verzweifeln, zusehen zu müssen, wie mein Bruder neben mir saß und praktisch schon Gitterstäbe vor Augen hatte. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass er einfach aufgab und nicht weiterkämpfte. Von wegen, ich sollte meine Freundschaft mit Gibbs nicht aufs Spiel setzen. Ich respektierte und vertraute meinem Boss, aber wenn ich mich mit ihm anlegen musste, um Chris freizubekommen, dann würde ich das ohne zu zögern machen - dieser war mir wichtiger als mein Job.

Obwohl es mir schwer fiel, überließ ich meinem Sitznachbarn seinen Gedanken, drehte mich um und blickte aus dem Rückfenster. Etwa 100 Meter hinter uns fuhr McGee mit meinem Mustang und folgte uns beständig, ungeachtet dessen, dass Gibbs wieder einmal einen Betonklotz als Fuß hatte. Der Chefermittler hatte Tim richtiggehend befohlen, meinen Wagen nach Washington zurückzubringen und wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte ich sofort angefangen zu protestieren. Mein Baby war mir heilig und ich hatte mir geschworen, sollte der Lack nur einen einzigen Kratzer aufweisen, würde McGee die gesamten Werkstattkosten übernehmen. Mein Blick aus zusammengekniffenen Augen hatte ihm das ohne Umschweife klar gemacht und er war prompt wieder in sein früheres Verhalten zurückgefallen, weshalb er sich sofort abgewendet und wie mit Samthandschuhen die Tür meines Wagens aufgesperrt hatte. Zufrieden mit seiner Reaktion hatte ich mich hinter den Fahrersitz fallen lassen, was Gibbs ganz und gar nicht gefallen hatte, da Chris ebenfalls auf der Rückbank saß. Aber anstatt mir zu befehlen, meinen Hintern nach vorne zu bewegen, hatte er geschwiegen und war aufs Gaspedal getreten, kaum dass Ziva vorne eingestiegen war.

Ein paar Sekunden beobachtete ich noch, wie McGee erstaunlich sicher den Mustang durch den dichten Nachtmittagsverkehr lenkte, bevor ich mich wieder umdrehte und aus dem Seitenfenster starrte. Es dauerte nicht lange, bis das Hauptquartier in Sicht kam, dessen Fenster die Sonne widerspiegelten. Noch vor Tagen hätte ich mich gefreut, dieses Gebäude wieder zu sehen, aber jetzt wirkte es auf mich beinahe bedrohlich. Ich spannte mich unwillkürlich an und mir wurde bewusst, dass mir die Zeit davonlief. Noch immer war mir keine Idee gekommen, wie ich Gibbs dazu bringen konnte, mit mir über Chris' Verhaftung zu sprechen, geschweige denn, wie ich ihn überreden konnte, ihn wieder freizulassen.
Die Stille im Inneren des Autos wurde um eine Spur drückender und ich riss meinen Blick vom Seitenfenster los, als der Chefermittler in die Tiefgarage hinunterfuhr und mit quietschenden Reifen in der Nähe des Fahrstuhles hielt. Durch das plötzliche Fehlen der Sonne hob mein Bruder das erste Mal seit 30 Minuten seinen Kopf und sah sich blinzelnd um. Seine Muskeln spannten sich an und er ballte seine Hände zu Fäusten. Die Gleichgültigkeit, die ihn während der Fahrt ergriffen hatte, fiel von ihm ab und machte erneut der Angst Platz. Ich konnte mir regelrecht vorstellen, dass er bereits einen Verhörraum vor Augen hatte, in dem er gnadenlos von Gibbs auseinandergenommen werden würde. Auf mich machte er den Eindruck eines kleinen, hilflosen Kindes und ich wünschte, ich könnte ihm ein wenig Last von seinen Schultern nehmen.

Neben uns brachte McGee den Mustang zu stehen, aber ich drehte mich nicht um, um mich zu vergewissern, ob alles noch heil war, sondern blieb ruhig sitzen, unfähig, meinen Blick von Chris zu wenden, der unbewegt nach vorne starrte, während seine Finger lautlos gegeneinander klopften.
Ziva löste ihren Sicherheitsgurt und wollte bereits die Tür aufmachen, als sie Gibbs' Stimme innehalten ließ. „Wo willst du hin, Officer David?" fragte er ein wenig schroff und sah sie durchdringend an. „Ich dachte, wir fahren ins Büro hinauf", antwortete sie prompt und runzelte verwirrt die Stirn. „Da hast du falsch gedacht. Du und McGee, ihr bleibt hier und passt auf Chris auf."
Ich wollte ebenfalls meinen Gurt lösen, als mich seine Worte mitten in der Bewegung stoppen ließen. Überrascht sah ich nach vorne und dann zu meinem Bruder, der sich auch nicht erklären konnte, was da gerade vor sich ging. Wieso sollten Ziva und Tim hier in der Tiefgarage bleiben und auf Chris acht geben, damit er nicht einen Fluchtversuch wagte? Wollte er ihn denn nicht in einen Verhörraum stecken, um ihn Stück für Stück auseinanderzunehmen? Wo wollte Gibbs überhaupt hin? Sich einen Kaffee holen?
Unzählige Fragen wirbelten durch meinen Kopf, sodass ich nicht einmal mitbekam, wie er die Tür öffnete und ausstieg. Erst ein ziemlich lautes „DiNozzo!" ließ mich zusammenzucken und ich realisierte, dass meine Hand noch immer in der Luft verharrte – auf halbem Weg zur Schnalle des Gurtes. „Worauf wartest du?! Auf eine Extraeinladung?!" „Ähm…" brachte ich hervor, nicht sicher, was das Ganze werden sollte. Ich blickte zu Chris, der mir aufmunternd zunickte. „Geh", sagte er leise und deutete mit seinem Kopf auf Gibbs, der ungeduldig neben dem Auto stand. „Ich komme hier schon zu Recht." Der Gedanke, ihn alleine zu lassen, gefiel mir gar nicht, andererseits würde es meiner Gesundheit nicht gerade förderlich sein, wenn ich den Chefermittler warten ließ, immerhin war er für seine Ungeduld bekannt.

Ich drückte Chris' Oberschenkel und signalisierte ihm damit, dass er auf mich zählen konnte, löste mit einem mulmigen Gefühl schließlich den Sicherheitsgurt, öffnete die Tür und stieg aus. Mein Boss wartete allerdings nicht auf mich, sondern eilte bereits auf den Aufzug zu, weshalb ich schnell die Tür wieder schloss und ihm, ohne einen Blick zurückzuwerfen, hinterher lief.
Ich hatte weiterhin keine Ahnung, was er von mir wollte – außer mich zu feuern, da ich ihn vorhin angebrüllt hatte. Aber wieso erledigte er das nicht hier und jetzt vor den anderen? Oder wollte er mir ein wenig Privatsphäre geben, wenn er mich hinauswarf? Würde er mir gestatten, mich noch von allen zu verabschieden, bevor ich das Gebäude verlassen musste? Würde er mir erlauben, bei Chris' Verhör dabei zu sein? Würde er mir zum Abschied noch eine Kopfnuss verpassen? Wer übernahm dann die Aufgabe, McGee zu ärgern? Wer sollte sich mit Ziva streiten? Wer sollte seinen Boss auf die Palme bringen?
Die Fragen wirbelten nur so in meinem Kopf herum und in meinem Hals bildete sich ein großer Kloß. Auf einmal wurde mir mit aller Deutlichkeit bewusst, dass ich an meinem Job hing und ich keine Lust hatte, mir eine neue Arbeit zu suchen. Aber wenn es wirklich dazu kommen sollte, dann blieb mir nichts anderes übrig. Nur, seit wann war ich so pessimistisch? Seit wann malte ich den Teufel frühzeitig an die Wand? Vielleicht wollte mich Gibbs gar nicht feuern und einfach über etwas anderes mit mir reden? Aber worüber? Ich konnte mir nicht vorstellen, was… Gleich darauf kam mir ein Gedanke, der mich sofort um einiges schneller gehen ließ. Konnte es wirklich möglich sein? War er bereit, mich anzuhören? Überlegte er ernsthaft, Chris freizulassen oder wollte er mir nur die Möglichkeit geben, diesen zu verteidigen?
Mein Herz begann vor Aufregung schneller zu klopfen und ich war froh, dass sich die Türen des Fahrstuhles öffneten, als ich ihn erreichte. Jethro betrat ohne Umschweife die kleine Kabine und ich stellte mich neben ihn. Gleich darauf drückte er den Knopf für die 3. Etage, aber ich wusste, wir würden sie nicht erreichen. Mit einem leisen Geräusch schlossen sich die Türen und der Lift setzte sich sanft in Bewegung – allerdings nur für zwei Sekunden. Gibbs streckte seinen Arm aus und legte den Stopphebel um, wodurch der Aufzug rumpelnd zu stehen kam und das normale Licht durch die Notbeleuchtung ersetzt wurde, wodurch es ein wenig dämmrig wurde – die perfekte Stimmung für ein Gespräch, bei dem ich fast nur als Verlierer hervorgehen konnte.

Als sich mein Boss zu mir umdrehte und ganz nahe an mich herantrat, schluckte ich hart, bewegte mich aber nicht vom Fleck. Blaue Augen bohrten sich in meine und ehe ich reagieren konnte, hob er seine rechte Hand und verpasste mir eine saftige Kopfnuss. Obwohl ich das erwartet hatte, zuckte ich zusammen und ein leises Geräusch, das einem Schmerzenslaut glich, kam über meine Lippen. Ich würde nicht behaupten, dass ich die Klapser vermisst hatte, aber irgendwie deutete ich es als gutes Zeichen, dass er mich geschlagen hatte, anstatt mir einen Tritt in meinen Allerwertesten zu verpassen und mich zu feuern.
„Ich kann verstehen, dass du sauer bist, Boss, aber…" begann ich, hielt aber sofort inne, als er einen weiteren Schritt auf mich zutrat, sodass uns nur noch ein paar Zentimeter Luft trennten. An seiner linken Schläfe pochte gefährlich eine Ader und seine Augen sprühten regelrecht Funken. Erneut schluckte ich hart und widerstand dem Drang, vor ihm zu flüchten und mich in einer Ecke zusammenzukauern. „Sauer?" wiederholte er voller Sarkasmus. „Ich bin nicht sauer auf dich, DiNozzo. Ich bin stinkwütend." Obwohl seine Stimme weiterhin ruhig war, zuckte ich wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Ich wünschte mir, er würde mich anbrüllen, mir die Leviten lesen, seinem Ärger freien Lauf lassen, anstatt ihn zu unterdrücken. Sein Atem strich warm über mein Gesicht und ich wünschte mir unwillkürlich, wir hätten unterwegs angehalten, damit er sich einen Kaffee besorgen hätte können. Für meinen Geschmack waren seine Nerven viel zu strapaziert und ich war der Einzige in der Nähe, an dem er das auslassen konnte.
Ich konnte seinem stechenden Blick nicht länger standhalten, weshalb ich es bevorzugte, meine und seine Füße zu betrachten, die viel interessanter waren als seine blauen Augen. „Es tut mir leid", nuschelte ich, wobei ich mir nicht sicher war, wofür ich mich entschuldigte – dass er wütend auf mich war, dass ich ihn vor einer halben Stunde angeschrien hatte oder dass ich mich zwischen ihm und Chris gestellt hatte. Ich konnte es beim besten Willen nicht sagen.
„Was tut dir leid?" fragte er sofort, wobei seine Stimme lauter wurde, er aber nicht wirklich herumbrüllte, trotzdem dröhnten seine Worte in meinen Ohren und hinterließen einen faden Nachgeschmack in meinem Mund. „Tut es dir leid, dass du mir vorher praktisch Befehle erteilt und mich angeschrien hast? Tut es dir leid, dass du es all die Jahre versäumt hast, mir zu sagen, dass du einen Zwillingsbruder hast? Oder tut es dir leid, dass du mir nicht anvertraut hast, dass dein Vater ein derartiger herzloser Bastard ist, dem Geld wichtiger als seine Kinder sind?!" Gibbs wurde tatsächlich immer lauter und ich ließ seine Tirade einfach über mich ergehen, unfähig, mich zu rühren oder ihm etwas entgegenzubringen. Ich starrte weiter auf meine Füße und wünschte mir, ich hätte irgendwann einmal den Mut aufgebracht, ihm alles über meine Familie zu sagen.

Für ein paar Sekunden herrschte Schweigen, Jethros Atem wurde ein wenig ruhiger und als er erneut das Wort ergriff, war seine Stimme leiser und tat nicht mehr so in meinen Ohren weh. „Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich ohne Vorwarnung erfahren habe, dass du einen Zwillingsbruder hast, der Spaß daran findet, sich deiner Identität zu bemächtigen und mit uns allen ein falsches Spiel zu treiben? Hättest du nur einmal erwähnt, dass du einen Bruder hast, dann hätte ich sofort gemerkt, was nicht stimmt, anstatt mir Sorgen um einen Menschen zu machen, den ich für dich gehalten habe. Also, erklär mir, warum ich Chris nicht ins Gefängnis stecken soll und du ihn verteidigst. Immerhin hat er dich entführt, Tony. Entführt!" Er betonte das letzte Wort extra, damit er sich sicher sein konnte, damit ich es und die Bedeutung dahinter verstand.
Ich hob endlich meinen Kopf und begegnete seinem Blick der nicht mehr so wütend wie noch vor einer Minute gewesen war, aber dennoch schaffte ich es nicht, mich zurückzuhalten. „Falls du es vergessen hast, ich weiß genau, was Chris getan hat! Schon vergessen?! Ich war dabei!" Jetzt waren es meine Worte, die von den Fahrstuhlwänden widerhallten und mir wurde mit schrecklicher Klarheit bewusst, dass ich Gibbs erneut anschrie. Da wollte er von mir eine Erklärung, um mich besser zu verstehen und dann machte ich alles wieder kaputt. Ich zwang mich ruhiger zu werden, holte ein paar Mal tief Luft und mein Puls kehrte in einen halbwegs normalen Bereich zurück.
Ich fuhr mir frustriert durch meine Haare, trat zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die hintere Wand stieß und lehnte mich dagegen, suchte ein wenig Halt an der glatten Oberfläche. Mein Boss ließ mich gewähren, so als ob er spüren würde, dass ich ein wenig Platz brauchte, um einen vernünftigen Gedanken fassen zu können. Wenigstens schien er nicht allzu ärgerlich darüber zu sein, dass ich erneut meine Stimme gegen ihn erhoben hatte – jedenfalls zeigte er es nicht.
„Du willst wissen, warum ich Chris verteidige, obwohl er mich entführt und meine Identität übernommen hat?" „Deswegen sind wir schließlich hier", erwiderte Gibbs und hob eine Augenbraue, ein Zeichen, dass er ungeduldig darauf wartete, dass ich endlich mit meiner Erklärung begann.
„Okay", sagte ich, holte ein letztes Mal tief Luft und entschloss mich, ihm zum ersten Mal einen Einblick in mein Inneres zu gewähren, ihm von meiner Vergangenheit zu erzählen, die ich so lange verschlossen gehalten hatte.

„Weil er das Gefängnis nicht überleben würde, deshalb. Damit meine ich jetzt nicht, dass er sterben würde, aber seine gesamte Art würde sich verändern. Er würde den Schutzschild, den er in den letzten 15 Jahren um sich herum aufgebaut hat, erneut hochziehen und diesmal für immer. Auch wenn er vorher behauptet hat, es irgendwie zu überstehen, glaube ich ihm das nicht. Chris hat nach außen hin noch nie Schwäche gezeigt, ausgenommen in der letzten halben Stunde. Es ist einfach seine Art zu verhindern, dass er verletzt wird und das wurde er in der Vergangenheit viel zu oft. In unserer Kindheit war es für mich schrecklich mit ansehen zu müssen, dass er von unseren Eltern links liegen gelassen wurde, während ich der wohlbehütete Schatz war und alles bekommen habe, was ich mir gewünscht habe. Es hat mir weh getan, nichts dagegen unternehmen zu können, dass ich in ihren Augen immer alles richtig gemacht habe, auch wenn ich etwas versaut habe und Chris nie Anerkennung bekam, egal ob er eine Eins auf einen Test geschrieben oder sonst bei einem Wettbewerb gewonnen hat. Er hat immer versucht, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, es allen Recht zu machen, aber gelobt wurde er nie, abgesehen von mir und Lucille, unserem Kindermädchen. Aber das ist nicht dasselbe, als wenn man Lob von seinen Eltern bekommt. Ich habe mich immer gefragt, was er getan hat, da er anscheinend nicht geliebt wurde und was ich getan habe, dass mir dieses Privileg zu Gute gekommen ist. Bis heute habe ich den Grund nicht gewusst, erst als ich von Chris erfahren habe, dass er für Dad nur ein lästiges Anhängsel gewesen war. Und ich im Prinzip auch", fügte ich hinzu und räusperte mich, da meine Stimme kratzig wurde und ich Gibbs nicht zeigen wollte, dass ich erneut kurz davor stand, meine Tränen nicht unter Kontrolle zu bringen.

„Es wundert mich nicht wirklich, dass ich für meinen Vater nur ein Mittel zum Zweck war und wahrscheinlich hofft er noch immer, dass ich zur Besinnung komme und irgendwann sein Unternehmen leite." Ich seufzte laut und schaffte ein Lächeln, das sich nicht einmal falsch anfühlte. „Weißt du, was das Komische an der ganzen Sache ist? Noch am Dienstag habe ich mir gewünscht, du würdest Chris' falsches Spiel durchschauen und ihn dafür bestrafen, dass er mich in dem Keller eingesperrt hat. Ich war so wütend auf ihn, dass er nach 15 Jahren einfach bei mir auftaucht, mich betäubt und nachher voller Häme erklärt, dass er mein Leben übernehmen wird. Aber je länger ich alleine war und je mehr Zeit vergangen ist, desto mehr habe ich angefangen nachzudenken. Nach und nach habe ich ihn verstanden. Ich habe verstanden, warum er mich entführt hat, ich habe verstanden, dass er einmal eine Chance bekommen möchte, anerkannt zu werden." „Aber deswegen hätte Chris dich nicht entführen müssen. Er hätte doch einfach nach Washington kommen können, ohne gleich ein Verbrechen zu begehen", sagte Gibbs und lehnte sich an die linke Wand, ließ mich dabei aber nicht aus den Augen.
„Das weiß ich und das weiß mein Bruder", erwiderte ich und zuckte die Schultern. „Aber man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Chris war so voller Hass auf mich, wegen eines Zwischenfalls, den er missverstanden hat und er wollte sich wohl auch deswegen an mir rächen. Von daher wäre sein Besuch so oder so zu einer Katastrophe geworden." „Frauen", gab Jethro von sich und schüttelte seinen Kopf. „Bringen einem nichts als Ärger. Und diese Amy hat es wirklich geschafft, euch auseinanderzubringen?" „Amy war eher der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. In Chris hat sich in all den Jahren so viel Frust aufgestaut und der hat sich an diesem Abend entladen. Und er hat mir die Schuld an allem gegeben. Aber er ist zur Besinnung gekommen - noch bevor ihr heute die Wahrheit erfahren habt."
Gibbs kniff seine Augen zusammen und verschränkte seine Arme vor seiner Brust. „Was soll das heißen?" wollte er wissen und sein Blick wurde wieder stechender. Ich schluckte und nahm meinen ganzen Mut zusammen. Ich wusste, es würde ihm nicht gefallen, was ich ihm gleich sagen würde. „Das soll heißen, dass ich seit Mittwochabend ein freier Mann bin. Chris hat mich aus dem Keller hinausgelassen, zugegeben, nachdem ich ihm weis gemacht habe, dass ich dort unten langsam verrückt werde. Ich hätte jeder Zeit das Haus verlassen können, ich habe mich frei bewegen können und…" „Willst du damit andeuten, dass du seit gestern das ganze Spiel beenden hättest können?!" Die Wut kehrte zurück und ließ den Chefermittler erneut laut werden. „Wenn du die Möglichkeit hattest, wieso hast du dich nicht gemeldet?! Nein, du lässt Chris weiterhin auf deinen Platz sitzen, während du dir einen schönen Tag gemacht hast!" „So ist es nicht gewesen!" schrie ich und spannte meine Muskeln an. „Er hat mich um die Chance gebeten, einen Mörder zu fangen, endlich etwas in seinem Leben richtig machen zu dürfen und ich habe ihm diese Chance gegeben! Zudem wollte ich sein Vertrauen nicht missbrauchen, das er in mich gesetzt hat, als er die Kellertür offen gelassen hat! Als ihr heute so unvermittelt aufgetaucht seid, war er dabei, mir mein Leben wieder zurückzugeben. Und er hat gedacht, ich hätte ihn erneut verraten, deshalb hat er mich auch mit der Waffe bedroht, da er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat. Es war falsch von ihm und das weiß er. Bitte, Gibbs, lass Chris gehen. Er ist ausreichend mit dem Wissen bestraft, dass er die letzten 15 Jahre ein völlig falsches Bild von mir gehabt hat und sein Hass mir gegenüber nicht gerechtfertigt war. Lass ihn frei, Boss, er hat bereits genug gelitten." Je mehr ich redete, desto leiser wurde ich, bis ich beinahe nur mehr flüsterte.

Ich blickte Jethro an, der sich weiterhin nicht rührte, seine Arme vor der Brust verschränkt und seine unbewegte Miene aufgesetzt hatte. Ich konnte nicht einmal ansatzweise erraten, was hinter seiner Stirn vorging, woran er dachte und welche Entscheidung er fällte. Die Sekunden zogen sich in die Länge, mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren, die Stille wurde drückend und die Fahrstuhlwände begannen mich einzuengen. Nach unendlich langer Zeit – jedenfalls kam es mir so vor – richtete sich Gibbs auf, schüttelte leicht seinen Kopf und öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, aber ich ließ ihn nicht dazu kommen. Seine Reaktion sprach Bände und ich konnte nicht glauben, dass er derart stur war, dass er unbedingt jemanden bestrafen musste.
„Das kannst du mir nicht antun!" schrie ich ihn an und löste mich von der Fahrstuhlwand. Ohne dass ich es wirklich registrierte, war ich es diesmal, der die Distanz zwischen uns überbrückte. „15 lange Jahre hat es gedauert, bis ich Chris wieder zurückbekommen habe! Verdammte 15 Jahre hat es gedauert, bis ich endlich das Missverständnis zwischen uns ausräumen konnte und du willst ihn mir einfach wieder wegnehmen!" Gibbs ließ seine Arme sinken und ich wusste, es war ein Fehler, ihn anzubrüllen, aber ich konnte nicht anders. Ich war dabei, meinen Bruder erneut zu verlieren und der Ermittler sollte spüren, was er mir damit antat. „Tony…" begann er überraschend ruhig, aber ich schnitt ihm das Wort ab. „Du willst Chris also ins Gefängnis stecken?! Aber soll ich dir was sagen?! Das wird nicht funktionieren! Ich werde keine Anzeige erstatten!" „Tony, jetzt hör…" versuchte er es erneut, aber ich war so in Rage, dass ich ihn ignorierte. „Ich werde sicher nicht vor Gericht gegen meinen eigenen Bruder aussagen, was bedeutet, du hast keinen Hauptbelastungszeugen! Kein Hauptbelastungszeuge, kein Prozess! Ich werde nicht zulassen, dass du…" Der Schlag auf meinen Hinterkopf traf mich vollkommen unvorbereitet und ich verstummte augenblicklich. Mein Atem ging in keuchenden Stößen, ich war so wütend wie noch nie zuvor in meinem Leben, brachte aber kein Wort mehr über meine Lippen, so als ob der Klapser mein Sprachzentrum zerstört hätte.
„Hättest du mich ausreden lassen, hättest du dir die letzten Worte sparen können", sagte Gibbs weiterhin erstaunlich ruhig und wenn mich nicht alles täuschte, war in seine Augen ein amüsiertes Funkeln getreten. Fand er diese ganze Situation etwa witzig? Ich öffnete erneut meinen Mund, aber diesmal kam ich nicht dazu, etwas zu sagen.

„Ich werde Chris nicht verhaften." „Was?" entfuhr es mir und ich starrte meinen Boss gleichzeitig fassungslos und verwirrt an. Beinahe glaubte ich, ihn missverstanden zu haben, dass ich einfach nur das gehört hatte, was ich hören wollte.
„Ich werde Chris nicht verhaften", wiederholte er und um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch, als ich eine ungläubige Miene aufsetzte. „Du wirst…" „Ja, ich werde ihn laufen lassen und frag mich bloß nicht, wie ich zu dieser Entscheidung gekommen bin, ich weiß es nicht einmal selbst." Auf meinen Lippen bildete sich das breiteste Grinsen, das ich jemals zu Stande gebracht hatte und unglaubliches Glück durchströmte mich. Es würde alles gut werden, ich würde meinen Bruder nicht verlieren, er würde nicht im Gefängnis landen.
„Du bist der Beste, Boss", brach es aus mir heraus und am liebsten hätte ich ihn umarmt. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll." „Danke es mir, indem du dafür sorgst, dass Chris nie wieder irgendeinen Blödsinn anstellt, und sei es nur, dass er die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreitet." „Alles klar. Du kannst dich auf mich verlassen." „Das will ich auch hoffen." „Ich habe schon immer gewusst, dass du tief in deinem Inneren einen weichen Kern hast und du im Grunde…" „Treib es nicht zu weit, Tony." „Tschuldige, Boss", murmelte ich, konnte mir aber nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. Ich konnte es nicht glauben, die Sache hatte sich wirklich zum Guten gewendet.
Gibbs schüttelte seinen Kopf und erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich vorhin diese Geste falsch interpretiert hatte – er hatte nicht den Kopf geschüttelt, weil er meinen Bruder nicht gehen lassen wollte, sondern wegen meiner Hartnäckigkeit. Ich hätte es mir sparen können, ihn so anzubrüllen. Es wunderte mich, dass er mir nicht mehr Kopfnüsse verpasst oder mich gefeuert hat.
Jethro drehte sich um, legte den Stopphebel um und setzte damit den Fahrstuhl wieder in Gang. „Boss, ich hätte da noch eine Frage", sagte ich, da mir etwas eingefallen war. Er wandte sich mir noch einmal zu. „Und die wäre?" „Wie hat sich Chris denn so als Bundesagent angestellt?" Eine Sekunde ließ er verstreichen, bevor er antwortete: „Gar nicht mal so schlecht, sonst hätte ich schon viel früher Verdacht geschöpft, dass du nicht du selbst bist. Er hat einen wirklich guten Instinkt. Ohne seine Hilfe würden wir jetzt noch nach dem Mörder von Commander Emmerson suchen." Ich grinste und schwellte stolz die Brust. „Ich hatte auch nichts anderes erwartet. Immerhin ist er ein DiNozzo." „Was kaum zu glauben ist, da Chris in den letzten Tagen mehr Akten bearbeitet hat als du in einem Monat schaffst. Die gesamten Gene für herumsitzen und nichts Tun wurden anscheinend nur an dich vererbt."
Ich öffnete meinen Mund, brachte aber keinen Ton hervor und Gibbs konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Gleich darauf ertönte ein Pling und noch bevor sich die Türen des Fahrstuhls öffneten, setzte er wieder seine undurchschaubare Ermittlermiene auf, verließ schließlich die Kabine und ließ mich, einen verdatterten und sprachlosen Anthony DiNozzo, zurück.

Fortsetzung folgt...
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