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Die letzte halbe Stunde war an Chris vorbeigezogen, ohne dass er wirklich registriert hatte, dass die Zeit verging. Alles war so unwirklich, wie in einem alten Film mit katastrophaler Qualität – verschwommene und ausgeblichene Farben, unscharfe Gesichter, Stimmen, die zwar etwas sagten, die Wörter aber verzerrt und somit unverständlich, Geräusche, die zu einer anderen Welt zu gehören schienen. Selbst das Sonnenlicht war verblasst, ließ alles nur noch surrealer wirken. Die gesamte Autofahrt von seinem Haus zurück zum Hauptquartier hatte er nichts wahrgenommen, hatte die gesamte Umgebung ausgeschaltet und war in seinen Gedanken versunken. Die Stille im Wagen hatte er beinahe als angenehm empfunden, hatte ihn somit niemand davon ablenken können, alles noch einmal durchzugehen, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte.
Chris konnte noch immer nicht glauben, was er getan hatte. So knapp war er davorgestanden, Washington verlassen zu können und jetzt saß er in diesem Wagen, mit Handschellen gefesselt und wartete darauf, dass er abgeführt und in eine Gefängniszelle gesteckt wurde. Wenn sich Gibbs, McGee und Ziva ein wenig mehr Zeit gelassen hätten, wäre er bereits über alle Berge – jedoch ohne die Wahrheit über den Abend vor 15 Jahren erfahren zu haben und ohne dem Wissen, dass ihm Tony verziehen hatte, dass er ihm sein Leben geraubt hatte. Er hatte seinen Bruder überhaupt nicht mit der Waffe bedrohen wollen, es war eine Kurzschlussreaktion gewesen, zudem hatte er geglaubt, dass ihn dieser erneut verraten hatte, obwohl ihm eine innere Stimme zugeflüstert hatte, dass das nicht stimmte, dass es ein Fehler gewesen war, die Pistole gegen den Menschen zu richten, der ihm weiterhin mehr bedeutete, als alles andere auf dieser Welt und den er schrecklich vermisst hatte, trotz des Hasses, der ihn von innen heraus aufgefressen hatte.

Die Wut, die ihn bei ihrem Streit überkommen hatte, war überraschend reinigend gewesen und er hatte gespürt, dass mit jedem Wort sein Schutzschild dünner geworden war, bis er komplett in sich zusammengestürzt war, als ihm Tony die Wahrheit über Amy erzählt hatte – Amy, für die er alles getan hätte, Amy, für die er die Sterne vom Himmel geholt hatte, Amy, die ihm ständig versichert hatte, dass sie ihn liebte. Obwohl er es verrückt fand, dass sie es gewesen war, die sich an Anthony herangemacht hatte, so hatte er doch instinktiv gewusst, dass es stimmte und in diesem Augenblick hatte er erkannt, dass er all die Jahre die falsche Person gehasst hatte. Wie hatte Chris nur so blind sein können? Wie hatte er nicht registrieren können, dass ihm Tony nie wehtun wollte, war er doch derjenige gewesen, der immer für ihn dagewesen war, der ihn aufgebaut hatte, wenn er von seinen Eltern wieder einmal ausgeschimpft worden war, ungeachtet dessen, dass er absolut nichts angestellt hatte. Die letzten 15 Jahre war er ständig auf dem Holzweg gewesen, hatte seinen Bruder für etwas schuldig befunden, was er überhaupt nicht getan hatte und das wiederum hatte verhindert, dass er ein sorgenloses Leben führen hatte können. Niemandem hatte er mehr vertraut, hatte niemanden an sich herangelassen, aus Angst, er würde erneut enttäuscht werden.
An jenem Abend im Mai war einfach alles auf ihn eingestürzt und die einzige sinnvolle Lösung, die ihm eingefallen war, war wegzulaufen, seinem zu Hause den Rücken zuzukehren. Und jetzt hasste er sich dafür, dass er Tony nicht früher die Möglichkeit gegeben hatte, die ganze Sache zu klären. Hätte er nur für eine Minute zugehört, anstatt in seinem Selbstmitleid zu versinken, hätte Anthony viel früher wieder sehen können und erst ein simpler Streit hatte alles ans Tageslicht befördert. Der ganze Frust und angestauten Emotionen hatten sich schließlich entladen und als ihn sein Bruder umarmt hatte, hatte er die Tränen nicht mehr zurückhalten können. Seit langem war es das erste Mal gewesen, dass er Schwäche gezeigt hatte und ihm war es sogar egal gewesen, dass sie beobachtet worden waren. Für Chris war nur wichtig gewesen, endlich die gesamten Gefühle, die sein Herz richtiggehend verpestet hatten, rauszulassen und die Tatsache, dass ihm Tony nicht böse war, was er ihm angetan hatte, hatte ihn komplett aus der Versenkung herausgeholt.

Was danach geschehen war, konnte er sich noch weniger erklären. Er hatte keine Ahnung, warum er sich Gibbs so bereitwillig ausgeliefert hatte, hatte er sich doch geschworen, auf keinen Fall ins Gefängnis zu gehen. Andererseits hatte er nicht gewollt, dass sein Bruder seine Freundschaft mit seinem Boss aufs Spiel setzte, nur um ihn vor einer Bestrafung zu retten. Chris hatte erkannt, dass er für die Taten, die er begangen hatte, geradestehen musste, auch wenn er keinen Schimmer hatte, ob er es so lange hinter Gitter aushalten würde. Und jetzt saß er hier, in diesem Wagen und wartete darauf, dass Gibbs ihn nach oben bringen würde, um ihn wie einen Verbrecher den anderen Agenten vorzuführen. Er seufzte leise, hob seine Hände und fuhr sich etwas umständlich durch seine Haare, nur um gleich darauf aus dem Fenster zu sehen. Ziva hatte sich mit ihrer Hüfte gegen die Motorhaube gelehnt, während McGee auf und ab ging und dabei hektisch in sein Handy sprach. Chris hatte keine Ahnung, mit wem der junge Mann telefonierte und ihm war es auch egal, wichtig war nur die Israelin, die ihn kein einziges Mal angeblickt hatte, seit sie in sein Haus gekommen war. Er konnte es ihr nicht einmal verübeln, hatte er ihr doch vorgegaukelt, Tony zu sein und sie auch unter seiner Identität geküsst. Zu erfahren, dass es in Wirklichkeit sein Bruder gewesen war, musste für sie ein Schock gewesen sein und er wusste, dass er froh sein konnte, seinen Kopf noch zu haben.
Chris tat es leid, dass sie sich unter solchen Umständen kennengelernt hatten, hatte er doch deutlich das Band, das sich zwischen ihnen entwickelt hatte, gespürt, genauso wie das Knistern in der Luft, wenn sie sich in die Augen gesehen hatten. Ihm war bewusst, dass er Gefühle für Ziva entwickelte, die ihn nur in Schwierigkeiten bringen würden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie jetzt noch etwas mit ihm anfangen wollte, nachdem sie die Wahrheit erfahren hatte. Außerdem, wer sagte, dass sie für ihn etwas empfand und nicht für Tony? Vielleicht schlug ihr Herz für seinen Bruder – und wenn das der Fall sein sollte, musste er lernen, damit zu leben. Dass sie noch einmal eine Frau auseinanderbringen würde, dass würde er nicht zulassen.
So als ob Ziva gespürt hätte, dass er sie ansah, drehte sie ihren Kopf und er wandte ganz schnell seinen Blick ab, aber er wusste, dass sie mitbekommen hatte, wo er seine Augen die ganze Zeit gehabt hatte. Wenn es darum ging, dass sie jemand beobachtete, hatte sie ein untrügliches Gespür.
„Du hast es versaut", murmelte er leise und starrte wieder seine Hände an. „Du hast es echt versaut."

Ziva sah zu, wie Chris ganz schnell seinen Kopf senkte, als er bemerkte, dass sie mitbekommen hatte, dass er sie gemustert hatte. Jetzt waren seine Augen wieder auf seine Finger gerichtet, so wie er es in letzter Zeit ständig, seit Gibbs ihm die Handschellen angelegt hatte, getan hatte. Obwohl sie den Eindruck erweckt hatte, während der Fahrt nach vorne oder aus dem Seitenfenster zu blicken, hatte sie doch hin und wieder den Spiegel zu Rate gezogen und mitbekommen, dass der Mann hinter ihr ständig nach unten gesehen hatte, so als ob er dort etwas Interessantes entdeckt hätte. Niemand hatte auch nur ein Wort gesprochen und ihr war die Stille – obwohl sie normalerweise nichts dagegen einzuwenden hatte – auf den Geist gegangen. Sie hatte versucht, ihre Gedanken nicht zu Chris abschweifen zu lassen, aber seine Präsenz hatte sie nicht mehr losgelassen und ohne dass sie es gewollt hatte, hatte sie den gestrigen Abend mehr als einmal durchgespielt, genauso wie ihr Gespräch heute Morgen, als sie geglaubt hatte, alles wäre noch in Ordnung und sie würde mit Tony reden. Ziva hatte die ganze Zeit gespürt, dass etwas an ihm anders war, hatte es aber nicht mit Worten ausdrücken können. Auf die Idee, dass er einen Zwillingsbruder hatte, wäre sie nie im Leben gekommen und erst als sie die beiden gegenüberstehen gesehen hatte, war ihr die Tragweite der Situation bewusst geworden – vorher hatte sie sich noch an einen Strohhalm geklammert, hatte die Hoffnung gehabt, dass sich Abby geirrt hatte.

In einer Sache hatte Chris sie aber nicht belogen: Amy hatte ihm damals wirklich das Herz gebrochen, auch wenn es ihr wehtat, dass er sie anscheinend nur geküsst hatte, da sie ihn an das Mädchen erinnerte. Und dieser Schmerz in ihrem Inneren irritierte sie mehr als alles andere. Wieso ließ es sie nicht kalt, dass er sie geküsst hatte? Wieso ging ihr dieser Mann nicht mehr aus dem Kopf, obwohl er sie alle angelogen, ihnen etwas vorgespielt und Tony entführt hatte? Wieso konnte sie ihm nicht wirklich böse sein, obwohl sie es gerne wollte? Lag es vielleicht daran, dass er in seinem Leben bereits so viel mitmachen musste? Ziva konnte es nicht fassen, dass Eltern so grausam sein und ihre Kinder so behandeln konnten, wie es bei den DiNozzobrüdern der Fall gewesen war. Jetzt verstand sie auch, weshalb ihr Kollege nie etwas über seine Vergangenheit erzählt und dass er ihnen Chris verschwiegen hatte. Wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre, hätte sie ebenfalls versucht, alles zu verdrängen, um nicht daran denken zu müssen.
Wenn es sich vermeiden ließ, verbannte sie Ari ebenso aus ihrem Kopf, allerdings schlich er sich ab und zu noch in ihre Gedanken ein, um ihr damit eine schlaflose Nacht zu bescheren. Man konnte sich seine Verwandten nicht aussuchen, aber sie spürte deutlich, dass da ungeachtet all der langen Jahre zwischen Tony und Chris noch immer eine Vertrautheit war, die sie verblüffte. Trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, waren sie einander so nahe und sie konnte die Geschwisterliebe förmlich spüren. Deshalb hatte es Ziva nicht gewundert, dass sich Anthony vor seinen Bruder gestellt hatte, um zu verhindern, dass Gibbs diesen verhaftete – umsonst. Was Chris dazu veranlasst hatte, aufzugeben, konnte sie nicht sagen, aber sie hoffte, dass es ihr Kollege schaffen würde, den Chefermittler davon zu überzeugen, den jungen Mann gehen zu lassen. Denn dass sie darüber diskutierten, war mehr als offensichtlich, immerhin steckte der Lift seit einigen Minuten zwischen zwei Stockwerken fest. Der Gedanke, dass Chris ins Gefängnis gehen musste, gefiel ihr gar nicht, hegte sie doch innerlich den Wunsch, ihn ein wenig näher kennenzulernen – vor allem, um sich ihren Gefühlen klar zu werden.
Als Ziva vor fast einer Stunde Tony wiedergesehen hatte, war sie froh gewesen, dass es ihm gut ging, aber ihr Herz hatte nicht so einen Hüpfer gemacht, als sie seinen Bruder erblickt hatte, obwohl dieser eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Ihr Puls war in die Höhe geschossen, als sie ihn beobachtet hatte. Irgendetwas war an ihm, das sie faszinierte und nicht mehr losließ. Und wie er jetzt in dem Wagen saß, wirkte er verloren und einsam und sie wollte ihn einfach beschützen, wollte nicht zulassen, dass ihm noch einmal wehgetan wurde. Dabei hätte sie ihm eigentlich den Kopf abreißen müssen, anstatt sich Sorgen um ihn zu machen – immerhin hatte er sie geküsst und sie glauben lassen, es sei Tony gewesen.
Ziva seufzte und blickte zu McGee, der weiterhin telefonierte und so wie es sich anhörte, berichtete er gerade Abby, was alles vorgefallen war. Die Forensikerin hätte auch einfach in die Tiefgarage kommen können, anstatt sich per Handy Bericht erstatten zu lassen. Ihr Kollege war so in sein Gespräch vertieft, dass er sie gar nicht wahrzunehmen schien. Sie wandte sich wieder Chris zu, musterte ihn von oben bis unten, studierte sein Profil, sein Gesicht, das genauso wie Tonys war, aber dennoch anders – sie konnte nicht sagen, was, aber irgendetwas unterschied die beiden. Nach endlos langen Sekunden stieß sie sich von der Motorhaube ab und umrundete den Wagen – es war Zeit, ein klärendes Gespräch zu führen.

In einem Takt, der Chris verdächtig an ein Lied von Abby erinnerte, klopfte er rastlos mit seinen Finger gegeneinander, um sich somit ein wenig zu beschäftigen. Mittlerweile fragte er sich, wo Gibbs und Tony hinverschwunden waren und ob dieser noch lebte. Denn es war offensichtlich gewesen, dass sein Boss nicht damit einverstanden gewesen war, von seinem Agent angeschrien zu werden. Da kam sein Bruder nach drei Tagen wieder zurück in sein altes Leben und als erstes musste er eine Konfrontation mit seinem Vorgesetzten über sich ergehen lassen. Er konnte sich vorstellen, nach ein paar Sekunden des Überlegens, wo sich die beiden befanden, immerhin hatte er das persönliche Konferenzzimmer des Chefermittlers kennenlernen dürfen – der Fahrstuhl. Allerdings wagte er es nicht, seinen Kopf zu heben, um sich von seiner Theorie zu überzeugen, da er befürchtete, erneut Ziva anzusehen. Außerdem würde es ihn nur noch nervöser machen, wenn er die Aufzugstüren ständig in seinem Blickfeld hatte und darauf wartete, bis sie sich wieder öffneten. Wieso brauchten sie nur so lange? Worüber redeten sie denn die ganze Zeit? Lebte Anthony überhaupt noch? Wie viele Kopfnüsse hatte er wohl schon bekommen?
Fragen über Fragen wirbelten durch Chris' Gehirn und ihm wurde bereits ganz schwummrig, als ihn das Geräusch der sich öffnenden Wagentür aus seinen Überlegungen riss. Zu seiner größten Verblüffung nahm Ziva gleich darauf neben ihm Platz und warf sie wieder ins Schloss. Er starrte sie mit großen Augen an, hatte er mit jedem gerechnet, nur nicht mit der jungen Frau, die ein wenig herumrutschte, sich mit dem Rücken gegen die Tür lehnte und die Arme vor ihrer Brust verschränkte. Deutlich konnte er die Waffe und das Messer an ihrer Hüfte erkennen, was ihn unwillkürlich schlucken ließ. Er hoffte, dass sie nicht auf die Idee kam, sie einzusetzen, um ihm damit klar zu machen, was sie davon hielt, dass er allen weisgemacht hatte, er sei Tony.

Die Sekunden verstrichen, ohne dass jemand von beiden etwas sagte. Sie blickten sich einfach an, unfähig, wegzusehen und da war es wieder, dieses Knistern, das seit gestern Abend beständig zwischen ihnen herrschte. Chris kam der Innenraum des Autos auf einmal viel zu klein vor und die Luft wurde stickig. Er zwang sich regelrecht, mit dem Klopfen seiner Finger aufzuhören, das ihn jetzt noch nervöser machte. Hin und wieder drangen ein paar leise Worte von McGees Gespräch zu ihnen herein, aber sonst war es ruhig – ausgenommen seines Herzschlages, der in seinen Ohren dröhnte.
Da Chris nicht wusste, wohin das Ganze führen sollte und was Ziva mit ihrem Verhalten bezweckte, entschied er sich, den Anfang zu machen, räusperte sich leise und sagte die Worte, die er heute bereits mehrmals verwendet hatte und mit denen man meistens nichts falsch machen konnte. „Es tut mir leid." Seine Stimme war leiser als gewöhnlich und er wünschte sich, diese wunderschönen braunen Augen würden ihn nicht so intensiv mustern. Merkte sie denn nicht, dass sie ihn dadurch aus dem Konzept brachte und er nicht mehr zu denken fähig war?
Die Israelin schwieg weiterhin, kniff aber ihre Augen zusammen und wartete darauf, dass er weiterredete – jedenfalls nahm er das an. Erneut räusperte er sich und setzte ein kleines wenn auch leicht gezwungenes Lächeln auf, das die Situation ein wenig entspannen sollte. „Ich schätze, ich habe Mist gebaut", fuhr er fort und holte tief Luft. Seit langem war er nicht mehr so nervös in der Gegenwart einer Frau gewesen und er kam sich unwillkürlich wie ein unerfahrener Teenager vor. Noch dazu wollte er nicht, dass sie böse auf ihn war und er hoffte, dass sie ihm irgendwann einmal verzeihen würde.
„Du schätzt?" fragte Ziva und obwohl die zwei Wörter nicht gerade freundlich ausgesprochen worden waren, war ihre Stimme ruhig und im Gegensatz zu Chris schien sie keine Probleme damit zu haben, dass sie sich direkt ansahen. „Okay", erwiderte er zögernd, das kleine Lächeln verschwand von seinen Lippen und wurde durch Ernsthaftigkeit ersetzt. „Ich habe definitiv Mist gebaut und das in vielerlei Hinsicht. Vor allem, was zwischen uns beiden vorgefallen ist und…" „Tut dir das auch leid?" wollte sie wissen und legte ihren Kopf schief. „Was?" „Tut es dir auch leid, was zwischen uns vorgefallen ist? Und ich gebe dir den Rat, mir ja die Wahrheit zu sagen, sonst kann es ungemütlich werden. Christopher", fügte sie aus einem Impuls hinzu und als er wie unter einem harten Schlag zusammenzuckte, versetzte ihr das einen Stich – sie hatte seinen Namen nicht gerade nett betont. Aber ihm sollte klar sein, dass er kein leichtes Spiel mit ihr haben würde und dass sie sauer auf ihn war – vor allem sauer, weil er Gefühle in ihr wachrief, die sie ängstigten und von denen sie keine Ahnung hatte, wie sie damit umgehen sollte.

Chris riss seinen Blick von der jungen Frau los, als sie ihn mit seinem Vornamen angeredet hatte. Wie oft hatte er sich das vorgestellt, dass sie nicht Tony in ihm sah, aber da war dieser Ton in ihrer Stimme, der ihm nicht gefiel und der ihm verriet, dass sie anscheinend wütend auf ihn war – er konnte es ihr nicht einmal verübeln. Was sollte er jetzt machen? Ihr wirklich die Wahrheit anvertrauen, ihr sagen, dass es richtig gewesen war, was sie getan hatten? Das er nur an sie und nicht an Amy gedacht hatte? Er könnte lügen, aber er wusste, Ziva würde es sofort merken und dann hätte er seine Chance verspielt, wollte er sie doch weiterhin in seinem Leben haben.
Er straffte seine Schultern und zwang sich, die Israelin erneut anzublicken. „Nein", flüsterte er beinahe und verwünschte seine kratzige Stimme, die den Eindruck erweckte, als ob er heftige Halsschmerzen hätte. „Nein, es tut mir nicht leid, dass ich dich geküsst habe und ich bereue es keine Sekunde lang. Ich bereue lediglich, dass ich dir vorgemacht habe, Tony zu sein und nicht ich. Ich war so ein Idiot. Es wäre besser gewesen, dir gleich die Wahrheit zu sagen, anstatt weiter vorzugeben, wer anderes zu sein und ich weiß, dass ich dich damit verletzt habe. Ich kann verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst."
Chris zog es vor, erneut auf seine Hände zu starren, hatte er doch ein wenig Angst davor, wie Ziva auf seine Worte reagierte – er wusste nicht, ob er es ertragen würde können, in ihren Augen ihre Entscheidung zu sehen, es reichte bereits, dass er wahrscheinlich für ein paar Jahre ins Gefängnis musste, da wollte er die junge Frau im Gedächtnis behalten, so wie sie ihn angesehen hatte, kurz bevor er sie geküsst hatte und sich nicht an den Moment erinnern, in dem sie ihn in die Wüste schickte. Da traf er endlich einmal eine Frau, die ganz anders als alle anderen war, die er kennengelernt hatte – die ganz anders als Amy war – und dann vermasselte er es, dabei hätte es zwischen ihnen durchaus klappen können, das spürte er tief in seinem Inneren.

Ziva saß da, hatte noch immer die Arme vor ihrer Brust verschränkt und beobachtete, wie Chris erneut auf seine Hände starrte und dabei auf seinem Gesicht ein trauriger Ausdruck erschienen war. Sein Geständnis, das er es nicht bereute sie geküsst zu haben, hatte ihr Herz schneller schlagen lassen, waren es gerade die Worte gewesen, die sie hatte hören wollen, obwohl sie wusste, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn er den gestrigen Abend bereut hätte. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie reagiert hätte, wenn es wirklich so gewesen wäre, wenn es ihm leid getan hätte.
Es war ihm deutlich anzusehen, dass ihm bewusst war, dass er es versaut hatte, dass er massenhaft Fehler begangen hatte – gepaart mit der Tatsache, dass er in seinem Leben bereits so viel durchmachen hatte müssen, verhinderte, dass Ziva ihm wirklich böse sein konnte. Sie erkannte, dass er im Grunde ein anständiger Kerl war, der im Verlauf der letzten Jahre viel einstecken hatte müssen und der jetzt einmal damit fertig werden musste, dass er von Tony ein völlig falsches Bild gehabt hatte. Ein riesengroßes Missverständnis hatte die beiden auseinandergerissen und es musste vor allem für Anthony hart gewesen sein, mit diesem Wissen zu leben, noch dazu, wenn sein Bruder auf Tauchstation gegangen war und er keine Möglichkeit gehabt hatte, diesen zu finden.
Ziva ließ ihre Arme sinken und fuhr sich durch ihre Haare – es wurde Zeit, dass sie zu einer Entscheidung kam, die, egal wie sie ausfallen würde, ihre Zukunft beeinflussen würde. Was sollte sie bloß machen? Chris eine zweite Chance geben oder ihn einfach seinem Schicksal überlassen? Ihr Innerstes schrie förmlich, wenn sie auch nur daran dachte, ihn gehen zu lassen, bestand doch zwischen ihnen ein festes Band, das selbst, jetzt wo sie Wahrheit kannte, nicht zerrissen war und sie genoss weiterhin seine Nähe. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie eine Beziehung zu ihm aufbauen sollte, hatte doch ihr gemeinsamer Start auf Lügen basiert. War es ihr möglich, ihm irgendwann komplett zu vertrauen? Wieso mussten Gefühle immer nur so kompliziert sein? Wieso konnte nicht einmal etwas einfach sein? Wieso konnte ihr nicht jemand die richtige Entscheidung ins Ohr flüstern? Ziva saß da, sah den jungen Mann neben ihr an und auf einmal wusste sie, was zu tun war, aber vorher musste sie noch etwas herausfinden, was ihr seit heute Morgen nicht mehr aus dem Kopf ging.

„Als du mich gestern geküsst hast, hast du da wirklich an Amy gedacht?" Die Frage riss Chris aus seiner Starre und für einen kurzen Moment musste er sich erst einmal orientieren, bis ihm wieder einfiel, wo er war und was er hier machte. Er drehte seinen Kopf und blickte Ziva an, die ihre Arme sinken hatte lassen und eine Spur entspannter wirkte. Hatte er vorhin vielleicht doch das Richtige gesagt? Hatte sie genau das hören wollen, was über seine Lippen gekommen war? Gleich darauf fiel ihm wieder die Frage ein, die sie ihm gestellt hatte und er wusste, die Antwort darauf würde entscheidend sein. Auch auf die Gefahr hin, dass er sie wirklich vergraulen sollte, würde er ihr die Wahrheit sagen – es reichte bereits, dass er sie wegen Amy heute Morgen angelogen hatte. Diesmal würde er es nicht tun und wie Ziva auf sein Geständnis reagieren würde, würde sich herausstellen – aber egal, wie sie sich entscheiden sollte, er hatte wenigstens ein reines Gewissen.
„Nein, ich habe nicht an Amy gedacht", antwortete Chris schließlich und blickte die junge Frau direkt an, beobachtete ihre Reaktion und konnte Erleichterung erkennen, die sie bei seinen Worten durchflutete. Ihre Wangen röteten sich ein wenig und in ihre Augen trat ein freudiges Funkeln. Ziva wusste nicht, wie ihr geschah, schaffte sie es normalerweise, ihre Gefühle hinter einer steinernen Miene zu verbergen, aber etwas an Chris hinderte sie daran, sich zu verstecken – vielleicht die Hoffnung, das nicht alles verloren war.

„Ich habe keine Sekunde an Amy gedacht", wiederholte er und ein Lächeln bildete sich auf seinen Lippen – ein Lächeln, das nicht im entferntesten traurig wirkte, sondern das erfreulich war. „Als ich dir das heute Morgen gesagt habe, war das nur eine Ausrede gewesen, damit ich die Dinge wieder ins Lot rücken kann, bevor ich Tony seinen Platz zurückgeben wollte. Er sollte nicht etwas ausbaden müssen, was ich angestellt habe. Da du meine wahre Identität nicht gekannt hast, konnte ich dir die Wahrheit nicht sagen, aber bei Gott, ich wollte es. Die Wahrheit ist, dass du wirklich ein wenig wie Amy aussiehst, aber ich habe dich nicht deswegen geküsst, sondern deshalb, weil ich dich küssen wollte, Ziva, nur dich und nicht Amy. Nicht ehrlich zu dir zu sein, ist mir mehr als schwer gefallen, noch dazu, weil ich gespürt habe, dass da etwas zwischen uns ist und noch immer da ist", fügte er hinzu und rutschte ein wenig herum, unsicher, ob er die letzten Worte nicht besser verschweigen hätte sollen. Aber die braunhaarige Agentin rückte ein Stückchen an ihn heran, aus dem Bedürfnis heraus, seine körperliche Nähe intensiver wahrzunehmen. Grüne Augen blickten sie hoffnungsvoll, gleichzeitig aber auch schüchtern, an – grüne Augen, in denen sie versinken konnte.
„Du hast mein Leben ganz schön durcheinander gebracht, Chris", gestand Ziva und sein Name kam ihr diesmal überraschend leicht über ihre Lippen. „Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich so mir nichts, dir nichts erfahren habe, dass es nicht Tony war, der mich geküsst hat, sondern sein Zwillingsbruder? Anfangs habe ich das für einen schlechten Scherz gehalten, aber euch beide zu sehen, hat mir vor Augen geführt, dass es die Wirklichkeit ist und nicht etwa ein Traum. Ich weiß nicht, was ich von alldem halten soll, ich habe nicht einmal eine Ahnung, wie ich damit umgehen soll, wie ich die Gefühle in mir interpretieren soll. Ich weiß nur, dass da zwischen uns wirklich etwas ist, das weder du noch ich abstreiten kann. Aber was ist dieses etwas? Was ist…?"
„Lass es uns herausfinden", unterbrach Chris Ziva. Der Hoffnungsfunke in ihm war größer geworden und verdrängte die Erkenntnis, dass er weiterhin in Schwierigkeiten steckte. Was waren schon ein paar Jahre Gefängnis, wenn er das Wissen hatte, dass es jemanden gab, der auf ihn warten würde, wenn er wieder entlassen wurde?
„Was?" Verwirrt runzelte die junge Frau die Stirn, nicht sicher, ob sie seine Worte richtig verstanden hatte. „Lass uns einen Neuanfang machen", erklärte er und drehte sich nun vollends zu Ziva um, ungeachtet dessen, dass diese Position ein wenig unbequem war. „Ein kompletter Neustart wäre nicht verkehrt, oder? Ich meine, wir könnten uns somit näher kennenlernen, keine Lügen oder Geheimnisse und du würdest die Möglichkeit erhalten, in mir nicht mehr Tony zu sehen, sondern nur mich."

Zivas Herz schlug bei seinen Worten einen wahren Salto und sie konnte nur mit Mühe ein erfreutes Lächeln unterdrücken. Es war gar nicht so schwer gewesen, über ihre Gefühle zu reden, obwohl sie das immer angenommen hatte und sie war froh darüber, dass sie es getan hatte. Noch dazu hatte sie jetzt das Wissen, dass Chris Amy nicht hinterher trauerte und in der Agentin nicht seine verflossene Liebe sah – nein, sie war für ihn Ziva David und nicht irgendjemand anderes.
Sie beobachtete ihn, wie er nervös mit seinen Fingern an seiner Hose herumzupfte, seinen Blick aber nicht von ihr abwandte und sie erkannte, dass er Recht hatte: sie würde in ihm nicht länger Tony sehen, ungeachtet dessen, dass sie sich äußerlich vollkommen glichen. Chris jedoch war ganz anders als sein Bruder, hatte einen anderen Charakter und es war gerade das, was sie wie magisch anzog. Sie mochten zwar Zwillinge sein, aber innerlich konnten sie unterschiedlicher nicht sein und sie wusste, dass es das Richtige war, was sie gleich tun würde.
„Ein Neuanfang wäre toll", sagte sie und auf einmal war die Barriere zwischen den beiden verschwunden und der Stein, der Chris von seinem Herzen fiel, war größer als der Mount Everest. Auf seinen Lippen bildete sich das seit langem strahlendste Lächeln und unglaubliche Erleichterung durchströmte ihn.

„Nun denn", begann er, rückte näher an die junge Frau heran und reichte ihr seine noch immer gefesselten Hände. „Hi, ich bin Christopher DiNozzo, aber alle nennen mich einfach Chris. Ich stehe zwar kurz davor, von deinem Boss ins Gefängnis geworfen zu werden, aber es freut mich dennoch, dich kennenzulernen." Er konnte nicht leugnen, dass es sich herrlich anfühlte, sich mit seinem richtigen Namen vorzustellen, und nicht mehr so tun zu müssen, als sei er sein Bruder.
„Ziva David", erwiderte schließlich die junge Frau und nahm seine dargebotene rechte Hand in die ihre und obwohl es nur eine einfache Berührung war, durchfuhr beide ein Stromstoß. „Ich freue mich auch, dich kennenzulernen und ich kann dir versichern, mein Boss wird dich nicht ins Gefängnis werfen."
„Was?" fragte Chris überrascht, nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. „Warum glaubst du, sind Tony und Gibbs schon so lange weg und der Fahrstuhl rührt sich seitdem keinen Millimeter? Dein Bruder wird nicht zulassen, dass du hinter Gitter landest und je länger es dauert, bis sie wieder zurückkommen, desto besser stehen die Chancen." „Meinst du?" Erneute Hoffnung keimte in ihm auf. Die Möglichkeit, dass Anthony versuchte, ihn freizubekommen, hatte er nicht in Betracht gezogen und jetzt ergab es auch einen Sinn, warum der Aufzug nicht mehr funktionierte.
„Tony bekommt das schon hin", meinte Ziva und drückte aufmunternd seine Hand, bevor sie ihn losließ. „Gibbs mag zwar nach außen hin hart erscheinen, aber er ist nicht immer der Bastard, wie er es oft allen weismachen will. Außerdem habe ich so das Gefühl, dass er dich ein wenig mag." „Das ist doch Schwachsinn", erwiderte er prompt und wedelte mit seinen Händen vor ihrer Nase herum. „Sieht das für dich aus, als ob er mich mögen würde?" Ziva lachte leise und schüttelte ihren Kopf. „Wenn es nicht so wäre, hätte er dich längst in einen Verhörraum verladen und würde nicht mit Tony reden."
Chris konnte nicht anders als breit zu grinsen und ließ seine Hände sinken. Was die junge Frau gesagt hatte, ergab durchaus Sinn und hatte der Chefermittler nicht gezögert, als er ihm die Handschellen angelegt hatte?
„Es heißt übrigens verfrachten", sagte er nach ein paar Sekunden und sein Grinsen wurde um eine Spur breiter, als sich Zivas Gesicht verfinsterte. „Verladen passt eher zu…" „Schon gut, schon gut, ich habe es kapiert", erwiderte sie und hob abwehrend ihre Hände. „Wenn es darum geht, meine Fehler auszubessern, bist du wie Tony. Oh", fügte sie gleich darauf hinzu und richtete sich auf. Von ihrer plötzlich angespannten Körperhaltung aufgeschreckt, drehte sich Chris um und sah Gibbs, der aus dem Fahrstuhl trat, während Anthony weiterhin in der Kabine stand und ein wenig sprachlos zu sein schien. Die Miene des Chefermittlers war wie üblich undurchschaubar. „Ist das ein gutes Zeichen?" fragte er Ziva. „Lass es uns herausfinden", antwortete sie, öffnete die Tür und bedeutete ihm, es ihr gleich zu tun. ‚Jetzt wird es sich entscheiden', dachte Chris und stieg aus. In ein paar Sekunden würde sich herausstellen, ob er die nächsten Jahre im Gefängnis verbringen musste oder ob er eine zweite Chance erhielt. Aber egal wie die Zukunft aussehen mochte, er hatte immerhin Tony und Ziva auf seiner Seite, beide hatten ihm verziehen und dass war das Beste, was ihm überhaupt hatte passieren können.

Gibbs hatte den Wagen fast erreicht, als mir bewusst wurde, dass ich wie der reinste Vollidiot aussehen musste, wie ich so mitten im Fahrstuhl stand, mit leicht offenem Mund und einem verdatterten Gesichtsausdruck. Aus meiner Position erkannte ich McGee, der sein Handy zuklappte, wobei ich annahm, dass sein Gesprächspartner Abby gewesen war. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass sie auf dem Laufenden gehalten werden wollte, immerhin konnte sie ziemlich wütend werden, wenn man sie überging. Wie ich sie kannte, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie hier in der Tiefgarage auftauchte, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es mir gut ging.
Gleich darauf erhaschte ich einen Blick auf Ziva, die aus dem Auto ausstieg, gefolgt von Chris, der einen zufriedenen Gesichtsausdruck zur Schau stellte. Es war offensichtlich, dass die beiden miteinander geredet hatten, zumal meine Kollegin vorher auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte und nicht auf der Rückbank. Für mich war es nicht schwer zu erraten, worüber es bei ihrem Gespräch gegangen war, wusste ich doch von dem Kuss zwischen den beiden und da mein Bruder noch lebte, musste er es irgendwie geschafft haben, Ziva zu besänftigen. Hatte sie ihn in der letzten halben Stunde keines Blickes gewürdigt, so hatte sie ihre Augen momentan auffällig oft auf ihm ruhen und sie wirkte richtiggehend entspannt. Nachher, wenn ich mit Chris alleine war, würde ich ihn sofort ausfragen und wenn es nötig sein sollte, würde ich ihm jedes noch so kleine Detail aus der Nase ziehen. Zwischen den beiden bahnte sich irgendetwas an und falls es wirklich ernst werden sollte, wollte ich der Erste sein, der davon erfuhr. Ich gönnte es Chris, wenn er wieder Glück in der Liebe haben sollte und ich war mir sicher, die Israelin würde ihm nicht das Herz brechen, so wie es Amy getan hatte.
Ich löste mich endlich aus meiner Starre und lief Gibbs hinterher, der bereits vor meinem Bruder stehen geblieben war und erreichte sie zwei Sekunden später. Die beiden sahen sich für ein paar Sekunden stumm an und Unsicherheit machte sich auf Chris' Gesicht breit, wohingegen ich nicht anders konnte, als breit zu grinsen, wusste ich doch, was gleich geschehen würde.
Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, kramte Jethro in seiner Hosentasche, förderte einen kleinen Schlüssel zu Tage und begann schließlich die Handschellen aufzuschließen. Mein Bruder riss überrascht die Augen auf und sah mich komplett verwirrt an.
„Du bist ein freier Mann", sagte ich freudig und zwinkerte ihm zu. „Was? Aber…? Wie… wie hast du das hinbekommen?" wollte er wissen und war so damit beschäftigt zu realisieren, dass er nicht ins Gefängnis musste, dass er nicht einmal mitbekam, wie ihm Gibbs die Handschellen abnahm und in seiner Hosentasche verschwinden ließ.

Ich setzte bereits zu einer Antwort an, als mich eine Bewegung jedoch inne halten ließ – eine Sekunde später verpasste der Chefermittler Chris eine Kopfnuss, die ihm einen unwillkürlichen Schmerzensschrei entlockte. Ich konnte mir ein Grinsen beinahe nicht verkneifen, als ich seinen Gesichtsausdruck sah – aber gleich darauf wurde mir bewusst, dass ich wohl genauso dämlich aus der Wäsche schauen musste, wenn ich in den Genuss eines Schlages auf den Hinterkopf kam, weshalb meine Mundwinkel sofort zu zucken aufhörten.
„Ich denke, die habe ich verdient", sagte mein Bruder und rieb sich über die schmerzende Stelle. „Da denkst du richtig", erwiderte Gibbs und sah mit einem gefährlichen Funkeln in seinen Augen zwischen uns hin und her. „Damit das klar ist", fuhr er mit bedrohlicher Stimme fort und sah uns unverwandt an, „wenn ich herausfinden sollte, dass ihr irgendwann erneut die Rollen tauschen solltet, und mir ist egal, von wem diese Idee stammt, dann landest DU schneller im Gefängnis, als du Luft holen kannst und DU kannst dir einen neuen Job suchen." Dabei blickte er mich so eindringlich ein, dass ich unwillkürlich schluckte und ich wusste sofort, dass es keine leere Drohung war, mich zu feuern.
„Verstanden, Boss", erwiderten wir synchron, wobei sich Chris' Wangen eine Sekunde später mit einem Hauch Rot überzogen. „Ich meine, Gibbs", korrigierte er sich schnell und versuchte, nicht allzu verlegen auszusehen, wohingegen ich schon wieder am Grinsen war. „Gut", meinte der Chefermittler und nickte zufrieden. Seine Miene wurde eine Spur weicher und er entspannte sich sichtlich.
„Tony", wandte er sich mir zu und quittierte mein Grinsen mit einer erhobenen Augenbraue, weshalb ich meinen Mund ganz schnell in eine waagrechte Position brachte. „Ja?" „Ich will dich vor Montagmorgen hier nicht mehr sehen." „Wirklich?" wollte ich aufgeregt wissen und wäre beinahe wie Abby auf und ab gehüpft. Ich konnte es nicht fassen, ich hatte ein verlängertes Wochenende, drei volle Tage, die ich mit Chris verbringen konnte, denn dass dieser jetzt Washington verlassen würde, konnte ich mir nicht vorstellen.

„Sonst hätte ich es wohl kaum gesagt, oder?" meinte Gibbs gewohnt schroff und ich wusste, die Welt war wieder in Ordnung. Er wollte sich bereits umdrehen, überlegte es sich noch einmal anders und nahm meinen Bruder erneut ins Visier. „Falls du einmal Zeit hast, Chris", und bei der Erwähnung seines Namens, lächelte dieser glücklich, „dann zeige ich dir, wie man ein Boot in einem Keller bauen kann. Meine Tür steht immer offen." Mit diesen Worten drehte er sich vollends um und ging mit großen Schritten auf den Fahrstuhl zu.
„Wow", sagte ich ehrfurchtsvoll und wandte mich Chris zu, der eine verdatterte Miene aufgesetzt hatte, die mich stark an diejenige erinnerte, die ich vor nicht allzu langer Zeit selbst zur Schau getragen hatte. „Weißt du was das heißt?" fragte ich ihn und als er seinen Kopf schüttelte, fügte ich ganz schnell hinzu: „Gibbs mag dich. Sonst hätte er dich nie eingeladen, dir eine Lektion im Boote bauen zu geben. Mir hat er das noch nie angeboten." Unbewusst verzog ich meine Lippen zu einem Schmollmund, als mich die Erkenntnis überkam, dass mich mein Boss nie gefragt hat, ob ich einmal mit ihm an seinem Boot bauen wollte.
„Aber trotzdem mag er dich auch, Tony", sagte Ziva und grinste ein wenig hämisch. „Sonst wärst du nicht in seinem Team. Außerdem hast du ihn dazu gebracht, Chris freizulassen. Wie hast du das bloß angestellt? Nicht, das ich an dir gezweifelt hätte, oder so." „Berufsgeheimnis", erwiderte ich, wohl wissend, dass sie es nicht ausstehen konnte, wenn sie auf eine Frage keine Antwort bekam. Aber diesmal schien es sie nicht zu stören, sondern lächelte meinen Bruder glücklich an. „Siehst du? Ich habe dir ja gesagt, dass dich Gibbs mag und mir willst du nicht glauben." Chris machte bereits den Mund auf, wurde aber von einer lauten Stimme unterbrochen, die aus Richtung des Fahrstuhles kam. „Ziva, McGee! Braucht ihr eine Extraeinladung?! Soweit ich weiß, warten noch Berichte darauf, beendet zu werden. Ich will sie vor 20 Uhr auf meinem Schreibtisch haben!"
„Dann wollen wir euch nicht länger aufhalten", sagte ich grinsend – wie ich es genoss, einmal nicht derjenige zu sein, der herumgescheucht wurde. „Die Schlüssel, Bambino." Ich hielt ihm meine rechte Hand entgegen und wartete, bis er sie mir gab. „Und ich bete für dich, dass du keinen Kratzer in meinen Wagen gemacht hast." „Keine Sorge, Tony, ich bin nirgendwo angefahren." „Das will ich auch hoffen. Lass uns nach Hause fahren", fügte ich an meinen Bruder gewandt hinzu, der sofort nickte.
„Ich ruf dich an", sagte er zu Ziva und McGee reichte er die Hand. „Du bist echt in Ordnung, Tim. Vielleicht hast du ja Lust, einmal ein Bier mit mir zu trinken." „Klar", meinte dieser und erwiderte den Händedruck. „Und du bist auch schwer in Ordnung. Es würde mich freuen, wenn wir etwas zusammen unternehmen." Chris lächelte glücklich und ich konnte seine Freude nachempfinden – hatte er doch Angst gehabt, alle würden sich von ihm abwenden, wenn sie die Wahrheit erfuhren. Seit langem würde er wohl wieder richtige Freunde haben und McGee schien ihn wirklich zu mögen – noch ein Grund, warum ich annahm, dass er in Washington bleiben würde.

Tim und Ziva verabschiedeten sich von uns und eilten zu Gibbs, der nach wie vor beim Aufzug stand, dessen Türen sich öffneten – ein Schrei, der gleich darauf laut in der Tiefgarage widerhallte, ließ mich unwillkürlich zusammenzucken. „Tony!!!" Wie ein Wirbelwind auf Plateauschuhen kam Abby aus der Kabine auf mich zugesaust, wobei ihre Rattenschwänze wild hin und her schwangen. Bevor sie mich in eine knochenbrechenden Umarmung schloss, konnte ich noch Ducky erkennen, der kurz mit Gibbs sprach – anschließend sah ich nur mehr die schwarzen Haare der Forensikerin.
„Ich bin so froh, dass es dir gut geht", sprudelte es aus ihr heraus und sie redete so schnell, dass ich sie kaum verstand, zusätzlich schaffte sie es, mir die Luft aus den Lungen zu quetschen, was ihr aber nicht aufzufallen schien. „McGee hat mir schon alles per Telefon erzählt, aber ich musste mich selbst überzeugen, dass dir nichts passiert ist und du heil bist. Ich wusste, dass dich Gibbs zurückbringen würde und…" „Abbs", unterbrach ich sie keuchend, wodurch sie endlich zu bemerken schien, dass ich Schwierigkeiten hatte, zu atmen. „Oh, tut mir leid", entschuldigte sie sich schnell und ließ mich los. Sie schenkte mir ein breites Lächeln, bevor sie sich an Chris wandte, der neben mir stand und erneut ein wenig verlegen aussah. Abby trat auf ihn zu, legte ihren Kopf schief und musterte ihn von oben bis unten, ließ keinen Zentimeter aus.
„Gibbs hat dich nicht verhaftet?" fragte sie schließlich und klang dabei ein wenig vorwurfsvoll. „Nein", antwortete mein Bruder ein wenig kleinlaut, setzte aber ein entwaffnendes Lächeln auf. „Nicht, dass er es nicht versucht hätte, aber…" Der Rest des Satzes ging in einem überraschten Aufschrei unter, als ihn Abby ohne Vorwarnung fest in die Arme nahm. Ich war mehr als überrascht, hätte ich eher damit gerechnet, dass sie ihm die Leviten lesen würde, stattdessen knuddelte sie ihn wie Bert, ihr Stoffnilpferd – nur dass Chris nicht dazu neigte, Pupsgeräusche von sich zu geben.
„Das finde ich echt nett von meinem silberhaarigen Fuchs", sagte die Forensikerin an seinem Hals und ich konnte das Lächeln förmlich in ihrer Stimme hören. „Was nicht heißt, dass ich es nett finde, wie du dich hier bei uns eingeschlichen hast, aber ich finde es total abgefahren, dass du ein Zwilling von Tony bist. Jetzt gibt es gleich zwei DiNozzos, die man einfach gerne haben muss. Falls du aber Tony je wieder wehtun solltest, dann werde ich andere Seiten aufziehen. Ich kann auch böse werden." Von Chris kam ein Geräusch, das eine Mischung aus Keuchen und Quietschen war und das seine Zustimmung signalisieren sollte. „Gut", meinte Abby und ich konnte nicht anders, als breit zu grinsen. „Na dann, willkommen in der Familie, Christopher." Die Wangen meines Bruders nahmen eine rote Farbe an und ich wusste, dass das nicht nur vom Sauerstoffmangel herrührte, sondern von purer Freude. Er nahm seine Arme, die bis jetzt an seiner Seite herabgehangen hatten, nach oben und legte wie um den schlanken Körper der Forensikerin - erwiderte somit die Umarmung.

„Du meine Güte, Abigail, du zerquetscht den armen Christopher noch. Tony will ihn sicher in einem Stück nach Hause bringen", erklang Duckys Stimme neben uns – an ihn hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht, da ich viel zu sehr mit der Betrachtung von Abby beschäftigt gewesen war, und mit dem Vergnügen, nicht der Einzige zu sein, dem die Luft abgeschnürt worden war.
Die junge Goth ließ von meinem Bruder ab, der ziemlich kurzatmig war und dessen Wangen weiterhin rot leuchteten – genauso wie bei McGee, wenn er peinlich berührt war.
„Wirklich verblüffend", stellte Ducky gleich darauf fest, als er zwischen mir und Chris hin und her blickte. „Anthony, du hättest ruhig einmal etwas sagen können, dass du einen Zwilling hast. Wisst ihr, das erinnert mich eine Geschichte aus dem Jahre 1976. Damals hatte ich einen Freund, der wiederum einen Freund hatte, dessen Bruder auch ein Zwilling war und der…" „Ducky", unterbrach ich den Pathologen, der am Beginn einer neuerlichen, langen Geschichte stand. Obwohl ich ihn vermisst hatte, so wollte ich nicht den gesamten Abend und die darauffolgende Nacht in der Tiefgarage verbringen. Außerdem sehnte ich mich nach einer ausgiebigen Dusche und einem Gespräch mit Chris, um endlich zu erfahren, was er in den letzten 15 Jahren so alles gemacht hatte.
„Also, ich würde die Geschichte gerne hören", meinte mein Bruder und zuckte, als er Abbys und meine vorwurfsvollen Blicke bemerkte, mit den Schultern. „Endlich jemand, der bereit ist, mir zuzuhören", sagte der Ältere und lächelte gütig. „Nun, wenn du Lust hast, koche ich uns einmal einen Tee und dann werde ich dir die ganze Geschichte erzählen. Aber ich denke, du willst jetzt lieber ein wenig Zeit mit Tony verbringen und da würden wir nur stören, nicht wahr, Abby?"
Die Forensikerin drehte ihren Kopf und blickte zu ihm hinunter. „Du hast Recht, Duckman", stimmte sie zu und nickte. „Lassen wir die beiden alleine, aber stellt bloß keinen Blödsinn an." Wie eine strenge Lehrerin wedelte sie mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand vor unseren Nasen herum. „Bestimmt nicht", erwiderten wir synchron, was sie zum Grinsen brachte. „Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich das echt abgefahren finde?" „Hast du", meinten wir erneut synchron und Chris atmete gleich darauf erleichtert aus und erst jetzt schien die ganze Spannung von ihm abzufallen. Nur langsam realisierte er, dass er wirklich ein freier Mann war und nicht ins Gefängnis musste. So unerfreulich diese Woche auch angefangen hatte, umso erfreulicher würde sie enden. Noch am Montagmorgen hatte ich keine Ahnung gehabt, dass ich vier Tage später meinen Bruder wieder zurückbekommen würde – zwar auf einem etwas komplizierten Weg und mit einem großen Streit, aber wir hatten uns wieder zusammengerauft und dass ist das Einzige, was zählte. Noch dazu hatte Chris Freunde gefunden und ich wusste, dass ihn Gibbs hin und wieder unter seine Fittiche nehmen und aufpassen würde, dass er auf dem rechten Weg blieb. Aber dass mein Bruder irgendwann wieder etwas Dummes anstellen würde, konnte ich mir nicht vorstellen – zumal ich ihn für lange Zeit nicht mehr aus den Augen lassen würde.

Fortsetzung folgt...
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