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Washington D.C.
Sonntag, 17. Mai
10:19 Uhr


Die letzten zweieinhalb Tage waren wie im Flug vergangen und ehe ich mich versah, war es bereits Sonntag und das Ende des Wochenendes stand vor der Tür. Obwohl mich das meistens in eine etwas weniger gute Laune versetzte, freute ich mich diesmal, endlich wieder hinter meinem Schreibtisch sitzen zu können – vorausgesetzt, wir bekamen einen Fall zugewiesen und ich musste nicht die ganze Zeit mit langweiligen Akten verbringen. Wenn das jedoch eintreffen sollte, hatte ich wenigstens Ziva und McGee, die ich ärgern und mit Papierbällen traktieren konnte, jedenfalls so lange, bis mir Gibbs eine Kopfnuss verpassen und mir damit signalisieren würde, ich solle mich wieder auf die Arbeit konzentrieren. Wenn ich ehrlich war, hatte ich das in den letzten Tagen wirklich vermisst – und ich wusste, dass ich in einer Woche wieder anders darüber denken und mir wünschen würde, noch ein wenig Freizeit zu haben, um einfach faul herumzuliegen.
Obwohl ich seit Donnerstagnachmittag keinen Fuß mehr in das Hauptquartier gesetzt und ich ein verlängertes Wochenende gehabt hatte – das noch ein paar Stunden andauern würde – hatte ich seit langem so wenig wie noch nie geschlafen, stattdessen hatte ich mir die Nächte mit Chris um die Ohren geschlagen. Es war unglaublich gewesen und es hatte sich angefühlt, als ob wir nie getrennt gewesen wären. Wir hatten Stunden um Stunden geredet, nebenbei jede Menge Pizza gefuttert und Bier getrunken.

Nachdem wir die Tiefgarage verlassen hatten, hatte ich meinen Bruder ohne ihn zu fragen einfach zu mir mit nach Hause mitgenommen und er hatte auch nicht dagegen protestiert – im Gegenteil. Die Tasche mit seinen Sachen, die er vorher gepackt hatte, war weiterhin in meinem Mustang gewesen und diese hatte er sich geschnappt und sofort das Gästezimmer in Beschlag genommen und sich häuslich eingerichtet. Im Bad hatte er meine Sachen im Schrank auf die linke Seite verbannt, während er seine Utensilien anschließend rechts verstaut hatte und ich hatte ihn dabei einfach kopfschüttelnd beobachtet. Natürlich hätte dich dagegen protestieren können, dass ich auf einmal nur die Hälfte des Platzes zur Verfügung hatte, aber für meinen Geschmack hatten wir uns bereits viel zu oft gestritten, sodass ich einfach meinen Mund gehalten hatte, obwohl es Chris deutlich anzusehen gewesen war, dass er auf einen Kommentar von mir gewartet hatte.
Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt nichts gegen ein paar Stunden Schlaf einzuwenden gehabt hätte, war ich munter geblieben und das war der Anfang eines langen Gesprächs gewesen, bei dem meistens nur mein Bruder geredet und mir alles über sein Leben in L.A. erzählt hatte – angefangen von seinen Problemen, eine Unterkunft zu finden, bis hin zu seiner Verhaftung wegen Einbruchs und als er auf seine nicht immer legalen Aktivitäten zu reden gekommen war, hatte ich das seltene Vergnügen gehabt, mitzuerleben, wie sich seine Wangen voller Scham mit einem leuchtenden Rot überzogen und er wie eine Tomate mit einem Sonnenbrand ausgesehen hatte. Aber mir war es egal gewesen – und war es immer noch – was er getan hatte, um zu überleben und das hatte ich ihm auch direkt gesagt. Ich würde sicher niemanden verraten, was Chris während der letzten 15 Jahre angestellt hatte und ich wusste, es war ein Punkt in seinem Leben, auf den er nicht stolz war.
Im Morgengrauen am Freitag hatte er mir noch erzählt, dass er das Geld für das Haus, das er sich gekauft hatte, mit Hilfe eines glücklichen Händchens in den verschiedensten Casinos in L.A. zusammengebracht und auch weiterhin genug auf seinem Konto hatte, um sich für lange Zeit keine Sorgen machen zu müssen. Zu wissen, dass er es ohne Hilfe geschafft hatte, sich ein selbstständiges Leben aufzubauen, erfüllte mich mit Stolz. Ich hatte schon immer gewusst, dass er auf eigenen Füßen stehen konnte, ungeachtet dessen, dass er erst 17 Jahre alt gewesen war, als er davongelaufen war.
Samstagvormittag waren wir schließlich zu Chris' Haus gefahren und ich hatte überraschenderweise kein Problem damit gehabt, den Keller ein weiteres Mal zu betreten. Diesmal war er mir nicht mehr so düster und drückend vorgekommen, sondern viel freundlicher und ich hatte nur zu gerne dabei mitgeholfen, mein ehemaliges Gefängnis auszuräumen, um damit alle schlechten Erinnerungen der beiden Tage, die ich in diesem Raum eingesperrt gewesen war, hinter mir zu lassen. Mit jedem Stück, das wir nach oben gebracht hatten, war die Zeit, die ich hier gezwungenermaßen verbringen hatte müssen, immer surrealer geworden und mittlerweile fühlte es sich wie ein böser Traum an.
In der Nacht auf Sonntag war ich es diesmal gewesen, der geredet hatte und Chris hatte mir zugehört. Ihn hatte es vor allem interessiert, warum ich mich entschieden hatte, Bundesagent zu werden und nicht Dads Unternehmen übernommen hatte. Dass ich zur Polizei gegangen war, hatte größtenteils daran gelegen, dass ich etwas hatte machen wollen, was mein Vater überhaupt nicht tolerieren würde und außerdem hatte mich Wirtschaft nicht interessiert – eine Tatsache, die ich Dad einmal direkt auf die Nase gebunden hatte, kurz bevor er mich hinausgeschmissen hatte, in der Hoffnung, ich würde es mir anders überlegen.

Heute Morgen beim Frühstück hatte mir Chris schließlich gesagt, dass er vorhatte, das Haus zu verkaufen und sich von dem Geld eine Wohnung in Washington zu suchen. In den letzten Tagen hatten wir dieses Thema nicht angeschnitten, vor allem, weil ich ihn nicht hatte drängen wollen und als er mir das ohne Vorwarnung mitgeteilt hatte, war mir der Toast aus meinen schlaffen Fingern gefallen und prompt mit der Marmelade voran auf dem Teller gelandet – nicht zu vergessen der Stuhl, der auf den Boden gekracht war, als ich in meiner grenzenlosen Freude aufgesprungen war und meinen Bruder in eine Umarmung geschlossen hatte, die derjenigen von Abby ganz schön Konkurrenz gemacht hatte.
Zwar hatte Chris einen Teil meines Bades und das Gästezimmer in Beschlag genommen, aber ich war mir nicht sicher gewesen, ob er wirklich in Washington bleiben würde, ungeachtet dessen, dass er keine Konsequenzen mehr zu befürchten hatte.
Somit brauchte ich mir auch nicht zahlreiche Gründe einfallen lassen, warum er die Stadt nicht verlassen sollte. Noch dazu wäre er ganz schön dämlich, wenn er es wirklich getan hätte, hatte er immerhin endlich Freunde gefunden, die er, laut seinen Erzählungen, in L.A. nicht hatte - dort gab es niemanden, der auf ihn wartete.
Natürlich hatte ich Chris gefragt, was er in Zukunft in Washington machen wollte, aber das wusste er selbst noch nicht so genau. Er hatte mir gestanden, dass er gerne seinen Highschoolabschluss nachholen wollte, aber was danach kam, das würde er einfach auf sich zukommen lassen. Ich fand es einfach klasse, dass er sein Leben wieder auf die Reihe bekommen wollte und ich war mir sicher, dass er es auch schaffen würde.
Ich hatte meinem Bruder sofort, nachdem er mir seine Pläne mitgeteilt hatte, angeboten, einfach bei mir einzuziehen, was er aber abgelehnt hatte. Er wollte nicht immer in meinem Gästezimmer wohnen, sondern einen Ort haben, wo er sich eine kleine Insel der Ruhe schaffen konnte. Ich hatte ihn nicht bedrängt, in meinem Haus zu bleiben, da ich verstand, dass er ein gewisses Maß an Privatsphäre brauchte, noch dazu, wenn sich zwischen ihm und Ziva wirklich etwas Ernsthaftes entwickeln sollte.
Bis er jedoch ein passendes Apartment gefunden hatte, würde sicher noch eine Weile vergehen und so lange würde ich ihn um mich herum haben. So wie die Dinge jetzt standen, war ich mehr als zufrieden, sah man von einer Sache ab, die wir noch gemeinsam erledigen würden und die für uns beide nicht einfach werden würde.

„Ich kann nicht fassen, dass du mich dazu überredet hast", sagte Chris mit leicht vorwurfsvoller Stimme und warf mir von der Seite her einen stechenden Blick zu, dessen Intensität ich nicht voll zu spüren bekam, da ich mich auf die Straße konzentrieren musste, aber dennoch bemerkte ich ihn aus den Augenwinkeln. Ich wusste, dass es für ihn schwer gewesen war, überhaupt in den Wagen zu steigen und ich hatte davor geschlagene 45 Minuten gebraucht, um ihn so weit zu bekommen. Wie hatte ich nur vergessen können, dass er so unglaublich stur sein konnte? Für mich war es ebenfalls nicht einfach gewesen, mich hinter das Steuer zu setzen und auf den Highway zu fahren, der uns in einen von Washingtons Vororten bringen würde. Aber es war die richtige Entscheidung, egal wie schmerzhaft sie werden würde.
„Im Prinzip war es dein Vorschlag", erwiderte ich schließlich, betätigte den Blinker und überholte in bester Gibbsmanier einen langsamen Wagen, der im Schneckentempo dahinzukriechen schien. Obwohl es Sonntag war, war der Verkehr ungewöhnlich dicht, jeder schien aus der Stadt hinauszuwollen, um im Grünen das herrliche Frühlingswetter zu genießen. Am blauen Himmel war weit und breit keine einzige Wolke zu sehen und die Sonne spiegelte sich im Großteil der zahlreichen Fahrzeuge. Das Thermometer war bereits auf über 20 Grad geklettert und ungeachtet dessen, dass es erst Mai war, sollte es heute noch so warm wie im Sommer werden. Allerdings waren für den Abend Gewitter angekündigt worden, die Abkühlung bringen sollten.
„Du hast mir gestern gesagt, dass du mit der Vergangenheit abschließen willst und genau das werden wir jetzt machen", fuhr ich fort, bewusst das Wort wir verwendend, da ich genauso die letzten Jahre und vor allem den einen verhängnisvollen Abend hinter mir lassen wollte. „Und du weißt genauso gut wie ich, dass das der einzige und vor allem beste Weg ist, das zu tun. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm werden", fügte ich hinzu, obwohl ich nicht wirklich daran glaubte, riskierte es für ein paar Sekunden den Blick von der Straße zu wenden und Chris anzusehen. Dieser starrte stur gerade aus, aber ich wusste, dass er genau spürte, dass ich meine Augen nicht mehr auf den Verkehr gerichtet hatte.
„Nicht so schlimm? Ich bitte dich, Tony. Er wird mich nicht einmal erkennen, dass ist so sicher wie das Amen im Gebet. Ich gehe jede Wette ein, dass er mich für dich halten wird." Seine Stimme klang verbittert und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Ich wusste tief in mir drinnen, dass er recht hatte und dass es schlimm werden würde, aber dennoch blieb mein Fuß auf dem Gaspedal, um uns immer näher der Ausfahrt zu bringen. Da ich momentan nicht wusste, was ich entgegnen sollte, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße und überließ meinem Bruder seinen Gedanken. Wenn es nach ihm ginge, würde er jetzt in einem Liegestuhl in meinem Garten sitzen und einen selbstgemixten Cocktail schlürfen, während er darauf wartete, dass ich endlich den Grill anheizte. Die Pläne hatten sich jedoch kurzfristig geändert und ich hoffte für uns beide, dass der Besuch, den wir gleich machen würden, keine alten Wunden aufreißen würde, aber da mussten wir durch, mussten den Dämonen der Vergangenheit die Stirn bieten.
Ich seufzte leise und erhöhte die Geschwindigkeit, in dem Bestreben, so schnell wie möglich unser Ziel zu erreichen, um danach so schnell wie möglich wieder verschwinden zu können. Für ein paar Minuten war das einzige Geräusch das gleichmäßige Brummen des Motors und das leise Summen der Reifen. Mein Baby funktionierte einwandfrei und ich hatte noch am Donnerstag einen Rundumgang gemacht und jeden Zentimeter Lackes nach einem Kratzer abgesucht. Aber weder Chris noch McGee hatten den Mustang beschädigt und er glänzte wie eh und je.

Je näher wir der Ausfahrt kamen, desto unruhiger wurde Chris. Er rutschte auf seinem Sitz hin und her und zupfte mehr als einmal an seiner Hose oder an seinem Hemd. Seine Finger fuhren rastlos durch seine Haare oder klopften auf seinem Oberschenkel herum. Obwohl er mich damit genauso nervös machte, regte ich mich nicht auf und schwieg weiterhin. Ich wusste, was ich von Chris verlangte, als ich ihm gesagt hatte, wo wir hinfahren würden und ihn so lange bedrängt hatte, bis er nachgegeben hatte. Zwar hatte er eine undurchschaubare Miene aufgesetzt, aber ich spürte genau, dass er Angst hatte, Angst davor, erneut alles zu durchleben, die Worte immer wieder in seinem Kopf zu hören, erneut das Gefühl zu haben, ein lästiges Anhängsel zu sein. Dennoch war ich mir sicher, dass er dem Mann die Stirn bieten würde, der im Prinzip dafür verantwortlich war, dass mein Bruder die letzten 15 Jahre in L.A. verbracht hatte, um sich vor allem anfangs mit Gaunereien über Wasser zu halten.
Meinerseits hoffte ich, dass in mir nicht die altbekannte Wut auf meinen Vater an die Oberfläche kommen würde, vor allem jetzt, wo ich wusste, wie er wirklich über seine Söhne dachte. Dass er in all der Zeit seine Meinung geändert hatte, glaubte ich keine Sekunde lang und ich konnte nicht voraussagen, wie er auf unseren Besuch reagieren würde, vor allem, da er dachte, dass Chris tot sei. Aber er sollte erfahren, dass er auf dem Holzweg war und es seinem jüngsten Sprössling hervorragend ging. Ob er anschließend versuchte, die Kluft zu überbrücken oder den Schaden ein wenig zu kitten, würde sich zeigen, aber wenn er es wirklich machen würde, würde er sicher hart daran arbeiten müssen, denn weder ich noch mein Bruder würden ihm so ohne weiteres verzeihen.

„Meinst du, Ziva mag Blumen?" riss mich Chris aus meinen Grübeleien über unseren Vater und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich wie in Trance den Wagen gelenkt und nicht einmal wirklich mitbekommen hatte, dass ich bereits vom Highway abgefahren war und wir uns in einer ruhigeren Gegend befanden. Ich blinzelte ein paar Mal und blickte zu meinem Beifahrer.
„Was?" fragte ich, da ich mir nicht sicher war, ihn richtig verstanden zu haben. Er lächelte mich an und obwohl wir auf dem Weg zu Dad waren, fingen seine Augen auf einmal zu strahlen an. Seine gesamte Körperhaltung entspannte sich und er legte seinen Kopf schief, so als ob er sich über mein anscheinend nicht einwandfreies Gehör amüsieren würde. „Ziva", wiederholte er geduldig und sein Gesicht nahm einen träumerischen Ausdruck an. „Meinst du, sie mag Blumen oder bevorzugt sie ein neues Messer?" Ich richtete meinen Blick wieder auf die Straße und versuchte das Grinsen, das mich zu übermannen drohte, unter Kontrolle zu bringen. „Nun", begann ich langsam und schluckte das Lachen hinunter, da ich wusste, dass es nicht sonderlich gut ankommen würde, wenn ich über seine Frage spaßen würde, zumal er sie wirklich ernst zu meinen schien. „Das kommt darauf an, zu welchem Anlass du ihr die Sachen schenken willst. Was ist denn der Anlass?" wollte ich neugierig wissen, allzeit bereit, ihm jedes Detail aus der Nase zu ziehen, wenn er schweigen sollte.
„Wir gehen Dienstagabend aus", antwortete er nach ein paar Sekunden und ich widerstand nur knapp dem Drang, hart auf die Bremse zu steigen, um den Wagen am Straßenrand zum Stehen zu bringen, um Chris meine volle Aufmerksamkeit zu schenken. „Ihr habt ein Date?" Meine Stimme hatte einen ungläubigen Ton angenommen und ich versuchte, meinen Mund nicht nach unten klappen zu lassen. Ich hatte gewusst, dass zwischen den beiden etwas war und dass sie sich zueinander hingezogen fühlten, aber dass es so schnell gehen würde, damit hätte ich nicht gerechnet. „Wie hast du Ziva dazu bekommen, mit dir auszugehen?" „Ganz einfach, ich habe sie gefragt", erwiderte Chris trocken und lachte leise über meinen Gesichtsausdruck.
„Das ist doch prima", sagte ich ein paar Sekunden später, als ich mich wieder gefangen hatte und begann erneut zu grinsen. Mittwochmorgen würde der reinste Spaß werden, wenn Ziva das Büro betreten würde – und ich würde bereits auf sie warten. Einmal früher aufzustehen würde sich mehr als lohnen, denn wann bekam ich schon einmal die Gelegenheit, meine Kollegin nach einer Verabredung zu fragen?

„Also, was meinst du? Blumen oder Messer?" kam mein Bruder wieder auf das ursprüngliche Thema zu sprechen und riss mich aus meinen Träumereien, wie ich die Israelin aufzog. „Da es ein Date ist", begann ich und zügelte ein wenig die Geschwindigkeit, da wir uns jetzt viel zu schnell unserem Ziel näherten und ich diese Unterhaltung nicht unterbrechen wollte, außerdem war es eine gute Möglichkeit, Chris ein wenig abzulenken. „Würde ich Blumen vorschlagen. Es würde mehr als komisch aussehen, wenn du Ziva zu eurer ersten Verabredung ein Messer schenkst, obwohl sie sicher Verwendung dafür hätte. Aber ich denke, sie würde sich sicher über einen großen Strauß freuen, auch wenn sie nicht gerade wie der Blumentyp aussieht." Er nickte und dachte ein paar Sekunden darüber nach, während mein Blick über die vertraute Gegend schweifte. Seit ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich nichts verändert, alles war genauso üppig grün, wie ich es in Erinnerung hatte.
„Was hältst du von roten Rosen? Meinst du, sie wären ein wenig…?" Chris brach abrupt ab, als die uns nur allzu vertraute Auffahrt rechts von uns wie aus dem Nichts auftauchte. Sein gesamter Körper spannte sich innerhalb kürzester Zeit an und seine Miene verfinsterte sich, als ich abbog und das hohe, schwarze Schmiedeeisentor in unser Blickfeld kam.
Da Dad ein Gewohnheitstier war, wunderte es mich nicht, dass das Tor offenstand, so wie es jeden Sonntag der Fall gewesen war. An diesem Tag hatte er immer Besuch von Freunden erhalten und da er mit ihnen alleine sein wollte, war nur der Koch anwesend, ansonsten niemand, der sie hätte stören können. Es war nicht einmal 11 Uhr, von daher nahm ich an, dass er noch keine Gäste zu bewirten und nicht so viel von seinem Whiskey getrunken hatte.
Mein Bruder machte mittlerweile den Eindruck eines steifen Brettes mit steinerner Miene, während sich bei mir der Herzschlag um ein Vielfaches erhöht hatte. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, gab ich wieder Gas, brauste durch das Tor und die schnurgerade Allee entlang. Die Bäume hatten ein dichtes Blattwerk und warfen Schatten auf die saftig grünen Wiesen, die die Villa umgaben.
Die Straße stieg ein wenig an und nach ein paar Sekunden kam der Ort zum Vorschein, wo wir unsere Kindheit verbracht hatten. Das große Haus war ganz aus grauen Steinen aufgebaut worden und sah ein wenig wie ein Schloss aus. Vor den Fenstern im ersten und zweiten Stock blühten bunte Blumen und verliehen dem Anwesen eine freundliche Atmosphäre. Die Haustüre wurde von zwei weißen Marmorlöwenstauen flankiert und der bronzene Türklopfer in Form eines Löwenkopfes glänzte in der strahlenden Sonne. Überall waren Blumen gepflanzt worden und seit ich das letzte Mal hier gewesen war, war die Vegetation noch üppiger geworden. Sträucher waren zu den verschiedensten Figuren geschnitten worden und jede einzelne war ein reinstes Kunstwerk.
Ich stellte meinen Mustang auf dem gepflasterten Vorplatz ab, auf dem sonst kein einziger Wagen zu finden war. Wie vermutet, war es noch viel zu früh für die ersten Gäste und uns blieb etwa eine Stunde, bevor sie eintreffen würden – genug Zeit, um mit der Vergangenheit abzuschließen und wieder von hier zu verschwinden.

Ich zog den Zündschlüssel ab und steckte ihn in meine Hosentasche, bevor ich mich zu Chris umdrehte, der das Haus anstarrte, so als ob er ein Geisterschloss vor sich hätte. „Alles in Ordnung?" fragte ich und berührte ihn leicht an der Schulter. Er zuckte zusammen und blinzelte ein paar Mal. „Sicher", antwortete er ein wenig zögernd und setzte ein Lächeln auf, das seiner ernsten Stimme Lügen strafte. „Ich bin nur überrascht, dass sich hier nicht viel verändert hat, außer den vielen Blumen. Sieht fast so aus, als hätte Dad wieder geheiratet. Aber was soll's, bringen wir es hinter uns." Mit diesen Worten öffnete er entschlossen die Tür und stieg aus. Ich folgte seinem Beispiel und die warme Frühlingsluft nahm mich in Empfang. Von jeher hatte ich den Duft der Pflanzen, das Gezwitscher der Vögel und die Abgeschiedenheit geliebt, aber diesmal kam es mir ein wenig bedrohlich vor – vielleicht hatte es auch mit Chris' Aussage, dass unser Vater wieder geheiratet hätte, zu tun. Ich wusste nicht, ob es erneut eine Frau an seiner Seite gab und wenn ja, hatte er es versäumt, mir Bescheid zu sagen. Aber was kümmerte es mich schon? Ich war schon lange kein Teil mehr seines Lebens und wenn er nicht gerade eine Wandlung durchgemacht hätte, würde ich es auch weiterhin nicht sein.

Mein Bruder stand neben dem Mustang und blickte in den ersten Stock hinauf, fixierte mit zusammengekniffenen Augen das Fenster ganz rechts außen, hinter dem sein altes Zimmer lag und das für ihn 17 Jahre lang sein Zufluchtsort gewesen war. „Komm", sagte ich, legte ihm eine Hand auf den Rücken und brachte ihn mit sanfter Gewalt dazu, die Stufen zur Tür hinaufzusteigen. Sie war noch genauso wie ich sie in Erinnerung hatte, breit, weiß und mit kleinen bunten Fensterchen an den Seiten. Während Chris genau davor stehen blieb, stellte ich mich mit dem Rücken neben die Tür, genau in den blinden Winkel. Das war meine Idee gewesen und ich hatte sie zuvor mit ihm besprochen, was mich noch einmal 15 Minuten gekostet hatte, bis er damit einverstanden gewesen war. Obwohl ich innerlich wusste, was gleich passieren würde, hoffte ich doch, dass ich mich irrte. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, bildete sich auf meinen Armen eine Gänsehaut und mir wurde kalt, ungeachtet dessen, dass die Sonne warm vom Himmel schien.
Mein Bruder stand noch immer am selben Fleck und blickte mich unsicher an. „Na los", sprach ich ihm Mut zu. „Der Klingelknopf beißt nicht." „Ich finde es ein wenig seltsam, dass wir läuten müssen. Immerhin haben wir her gewohnt." „Aber wir können schlecht einfach hineinspazieren, oder? Außerdem ist die Tür sicher abgeschlossen, vor allem, wenn das Tor vorne offensteht. Und ich habe keinen Schlüssel mehr. Den hat er von mir zurückverlangt, kurz bevor er mich hinausgeworfen hat." „Also, dass hätte ich nur zu gerne gesehen", erwiderte Chris mit einem leichten Grinsten, wurde aber gleich darauf wieder ernst, atmete ein letztes Mal tief durch und drückte zögernd auf den Klingelknopf. Im Inneren des Hauses erklang ein melodischer Ton, der mich immer an ein Harfenspiel erinnerte.
Für ein paar Sekunden war nichts zu hören, bis leise Schritte erklangen, die wieder verstummten und ich wusste sofort, wer hinter der Tür stand und dass er durch den Spion, den man Dank des Türklopfers nicht sehen konnte, lugte. Mein Bruder ballte seine Hände zu Fäusten und zuckte zusammen, als das Geräusch eines Schlüssels, der umgedreht wurde, zu hören war. Ich stand weiterhin mit dem Rücken gegen die Wand, aber nichtsdestotrotz hatte ich den Eingang im Blickfeld und bekam genau mit, wie sich die Tür langsam öffnete und Dad zum Vorschein kam, dessen Gesicht noch nie so einen überraschten Ausdruck gehabt hatte. Er hatte sich in all den Jahren kein bisschen verändert, sah man von den vereinzelten grauen Strähnen in seinen braunen Haaren ab. Seine Erscheinung war tadellos und selbst an einem Sonntag trug er einen Anzug mit perfekt sitzender Krawatte – stets der Geschäftsmann. Dad war eine ältere Ausgabe von uns beiden, außer den Augen, die hatten wir von Mum.

Seine Miene verwandelte sich von überrascht in erfreut und er öffnete schließlich die Tür komplett, ließ sie aber nicht los. „Anthony", sagte er freudig und es war genau das falsche Wort. Chris' Miene verfinsterte sich von einer Sekunde auf die andere, seine gesamten Muskeln spannten sich an und er trat einen Schritt zurück, bevor er seinen Kopf drehte und mich anblickte. „Siehst du?" gab er mit bemerkenswert ruhiger Stimme, die nicht zu seiner Körperhaltung passte, von sich. „Ich habe dir ja gesagt, dass er mich für dich halten wird."
Die Hoffnung, dass Dad es endlich schaffte, uns auseinanderzuhalten, war dahin und ich wusste sofort, dass er sich kein bisschen geändert hatte. Ich stieß mich von der Wand ab, kam hinter der Löwenstatue hervor und trat neben meinem Bruder. Unser Vater starrte uns verwirrt an, sein Mund öffnete sich, aber er brachte kein Wort hervor. Sein Blick huschte im Sekundentakt zwischen uns hin und her und ich bemerkte genau, wie er seine Hand um die Tür krampfte, um daran Halt zu suchen.
„Hey, Dad", sagte ich und legte Chris eine Hand auf die Schulter, damit er sich nicht auf den Älteren stürzte – die fest zusammengebissenen Kiefer gefielen mir überhaupt nicht. Aber er blieb weiterhin ruhig stehen und seine Muskeln fühlten sich steinhart unter meinen Fingern an.
Noch ein letztes Mal sah unser Vater zwischen uns her, bevor seine Augen auf meinem Bruder zu ruhen kam, der dem Blick mühelos standhielt. „Christopher?" fragte er überrascht und mit heiserer Stimme. „Wow", meinte dieser in demselben kalten Ton, mit dem er mir vor Tagen seinen Plan, mir mein Leben wegnehmen zu wollen, erzählt hatte. „Ich bin beeindruckt. Ich hätte nicht gedacht, dass du noch meinen Namen weißt. Nicht, nachdem du es für nötig gehalten hast, mich für tot zu erklären."
Unser Gegenüber erstarrte und er trat einen winzigen Schritt in die Vorhalle zurück. Seine grauen Augen hatten sich in eisige Murmeln verwandelt und nichts war mehr von der Freude übriggeblieben.
„Ruhig", flüsterte ich meinen Bruder zu, der schon wieder seine Hände zu Fäusten geballt hatte und der sichtlich Mühe hatte, nicht einfach loszubrüllen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass er damit zu kämpfen hatte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Nach 15 Jahren stand er dem Mann gegenüber, für den er nur Ballast gewesen war und der ihn im Endeffekt aus seinem zu Hause vertrieben hatte. Die Gefühle, die in seinem Inneren toben musste, konnte ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen. Aber dennoch musste er da durch, wollte er wirklich mit allem abschließen.

„Können wir kurz reinkommen?" brachte ich Dads Aufmerksamkeit auf mich zurück und Chris entspannte sich ein wenig, als er aus dem kalten Blick entlassen wurde. „Es wird nicht lange dauern." Obwohl ich eher damit gerechnet hatte, dass er uns die Tür nach der Aussage meines Bruders vor der Nase zuschlagen würde, nickte er schließlich nach ein paar Sekunden und trat zurück. Anscheinend war er doch nicht kaltherzig genug, um seine eigenen Söhne ein kurzes Gespräch zu verwehren, egal was zwischen uns vorgefallen war.
Bevor ich Chris einen Schubs geben konnte, setzte er sich bereits in Bewegung und meine Hand rutschte von seiner Schulter. Ohne dem älteren Mann einen Blick zuzuwerfen, betrat er die Eingangshalle und ich folgte ihm. Nach der warmen Luft war es hier herinnen angenehm kühl und ein wenig dämmrig. Es war ein komisches Gefühl, nach so langer Zeit wieder das Haus zu betreten, in dem wir aufgewachsen waren. Es hatte sich nichts geändert, der Marmorboden war noch immer sauber poliert, die Teppiche wiesen keinen Fleck auf und es waren keine neuen Gemälde an den Wänden dazugekommen. Die lange gewundene Treppe, die in die erste Etage führte, hatte ein neues Geländer bekommen, aber sonst war alles gleich geblieben – sogar der Geruch.
Hinter uns fiel die Tür ins Schloss, wurde aber nicht wieder abgesperrt und ohne ein Wort zu sagen, ging Dad an uns vorbei, den Gang hinunter und ins Wohnzimmer, dessen Einrichtung sich ebenfalls nicht verändert hatte. Die Terrassentür stand weit offen und ließ die milde Frühlingsluft ein. Vor uns erstreckte sich der ausgedehnte Garten und das Wasser des Pools glitzerte im hellen Sonnenlicht. Die Rosenbüsche, die Mum gepflanzt hatten, gab es weiterhin und verströmten einen betörenden Duft.
Chris ließ sich ohne Aufforderung auf das schwarze Ledersofa fallen und ich setzte mich neben ihm, während Dad zu der kleinen Bar ging und sich ein Glas Whiskey einschenkte – etwas, wovon ich keineswegs überrascht war. Die feinen Äderchen auf seinem Gesicht und die leicht rote Nase wiesen darauf hin, dass er in letzter Zeit dem Alkohol reichlich zugesprochen hatte.
„Wollt ihr auch etwas?" fragte er, sich auf seine guten Manieren besinnend, aber wir schüttelten den Kopf – ich musste noch Autofahren und Chris mochte keinen Whiskey. Allerdings hätten wir etwas anderes verlangen können, aber wir hatten nicht vor, so lange zu bleiben, um es uns gemütlich zu machen.

„Ich muss schon sagen, ich bin mehr als überrascht", sagte er und setzte sich auf einen ausladenden Sessel uns gegenüber. „Und dabei überrascht mich so schnell nichts mehr. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehen würde, Chris." Dieser zuckte die Schultern und versuchte seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, was ihm aber nicht ganz gelang. „Das kann ich mir lebhaft vorstellen", erwiderte er und sah zu, wie Dad einen Schluck seines Lieblingsgetränkes zu sich nahm. „Du scheinst in mich ja nicht wirklich viel Vertrauen zu haben, wenn du mich nach nur einem Jahr für tot erklären hast lassen. Aber mir geht es prima und ich bin quicklebendig. Du kannst also aufhören, mich anzustarren, als ob du ein Gespenst vor dir hättest." Er lehnte sich zurück und schlug lässig die Beine übereinander, vermittelte damit einen entspannten Eindruck, aber innerlich brodelte er, das spürte ich sofort.
Unser Vater umklammerte sein Glas so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten und ich wusste, dass es nicht klug war, dass mein Bruder so mit ihm redete, aber ich konnte es ihm nicht verübeln, zu oft war er von diesem Mann verletzt worden.
„Was erwartest du von mir?" fragte dieser, stellte das Glas übertrieben heftig auf dem Glastisch ab und funkelte seinen jüngsten Sohn wütend an. „Du warst doch derjenige, der einfach ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verschwunden ist, du hast nicht einmal den Schneid besessen, anzurufen und uns wissen zu lassen, ob es dir gut geht. Und du wunderst dich, dass ich angenommen habe, du wärst tot?! Und nach 15 Jahren tauchst du plötzlich auf und glaubst, du kannst in diesem Ton mit mir reden?!" „Wundert es dich?! Du schaffst es doch nicht einmal, Tony und mich auseinanderzuhalten und dabei sind wir deine Söhne! Aber dieses Wort bedeutet dir ja anscheinend nicht viel!"
„Chris", sagte ich warnend, aber er schüttelte nur den Kopf – er begann, seiner Wut freien Lauf zu lassen. „Ich hatte wirklich für einen winzigen Moment gedacht, du hättest dich geändert! Als du die Tür aufgemacht hast, hatte ich wirklich geglaubt, du würdest mich erkennen und nicht Tony! Aber in all den Jahren ist er noch immer dein Liebling, während ich weiterhin Ballast bin! Nicht einmal eine Umarmung hast du für mich bereit! Nicht ein Lächeln, obwohl du gedacht hast, ich wäre tot! Würde ich dir etwas bedeuten, würdest du dich freuen, mich zu sehen! Ich habe ja gesagt, das es ein Fehler ist, hierher zu kommen", meinte er leise an mich gewandt und ich legte ihm beruhigend die Hand auf den Oberschenkel.
„Du lässt es zu, dass er so mit mir redet?" fragte Dad mich, nahm seinen Whiskey und leerte ihn in einem Zug aus. „War es also deine Idee, ihn her zu bringen, damit er mir all diese Sachen an den Kopf werfen kann?" „Was hast du denn gedacht, dass ich etwa hier bin, um dir mitzuteilen, dass ich doch in dein Unternehmen einsteigen will?" entgegnete ich ruhig und ich wusste sofort, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Er zuckte schuldbewusst zusammen und starrte in das leere Glas.
„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass mich Wirtschaft nicht die Bohne interessiert." „Und du meinst, dein jetziger Job ist besser? Als Polizist auf den Straßen…" „Bundesagent", unterbrach ich ihn und jetzt war es an mir, meine Wut unter Kontrolle halten zu müssen. „Ich bin seit Jahren kein Polizist mehr, sondern Bundesagent! Ich dachte, ich sei dein Liebling?! Aber anscheinend doch nicht, sonst hättest du dich am Laufenden gehalten, was dein Sohn so alles macht! Und soll ich dir was sagen?! Ich liebe meinen Job, auch wenn ich dabei mein Leben öfters aufs Spiel setze!" Hatte ich vor Minuten noch vorgehabt, ein normales Gespräch führen zu wollen, so war das mittlerweile unmöglich. Die Tatsache, dass er Chris wirklich nicht umarmt oder sonst irgendwie gezeigt hatte, dass er sich freute, dass er noch am Leben war, war einfach zu viel.

„Bevor ich es vergesse", fügte ich ruhiger hinzu und beugte mich nach vorne. „Hast du gewusst, dass ich vor knapp eineinhalb Jahren fast gestorben wäre?" Die Frage saß, das sah ich sofort. War Dad vor Sekunden noch wütend gewesen, dass wir hier auftauchten und ihm praktisch auf die Nase banden, dass er ein Mistkerl war, so verschwand alle Farbe aus seinem Gesicht und er starrte mich entgeistert an. „Wie bitte?" „Du hast mich schon richtig verstanden. Ich hatte das Pech, einen mit Lungenpestbakterien verseuchten Brief zu öffnen. Als ich mich im Krankenhaus erholt habe, habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass du mich besuchen kommst oder wenigstens eine Genesungskarte schickst, aber nichts ist gekommen. Meine Freunde und Kollegen haben sich praktisch die Türklinke meines Zimmers in die Hand gegeben, aber du bist nicht aufgetaucht."
Er sah mich schuldbewusst an und zum ersten Mal war deutlich zu erkennen, dass er bereits fast 60 Jahre alt war. Seine Schultern hingen nach unten und auf einmal zeichneten sich tiefe Falten in seinem Gesicht ab. „Ich habe nicht gewusst, dass…" „Dass ich eine mittelalterliche Krankheit gehabt habe, die mich beinahe umgebracht hat? Nun, es wundert mich nicht wirklich, dass du das nicht gewusst hast. Du interessierst dich doch nur für dein Geld. Und da wir gerade beim Thema Geld sind, deswegen sind wir auch hier."
Chris verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, stand auf, holte einen etwas zerknitterten Umschlag aus seiner Hosentasche und warf ihn auf den Tisch, genau vor Vaters Nase. Jetzt würde es sich entscheiden, was ihm wirklich wichtiger war: seine eigenen Kinder oder erneut sein geliebtes Geld. Zögernd nahm er den Umschlag in die Hand und blickte anschließend uns an. „Was ist das?" wollte er wissen. „Das sind die 4 000 Dollar, die ich dir vor 15 Jahren gestohlen habe, kurz bevor ich von hier verschwunden bin", erwiderte Chris ruhig und eine gewisse Befriedigung hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet. „Du kannst ruhig nachzählen, es fehlt nichts. Und keine Sorge, ich muss deswegen jetzt nicht am Hungertuch nagen. Ich bin nicht mittellos."
Ich stand ebenfalls auf und stellte mich neben meinen Bruder, während unser Gegenüber beinahe liebevoll den Umschlag in den Händen hielt. „Es sind nur Peanuts, im Gegensatz zu dem, was du pro Monat verdienst", meinte ich und sah ihn durchdringend an. „Und es war Chris' Idee, dir das Geld zurückzugeben, um damit die Schulden zu begleichen. Aber wenn du klug genug bist, nimmst du es nicht an und zeigst ihm und auch mir damit, dass du nicht mehr sauer bist, dass er dich bestohlen hat und er dir doch etwas bedeutet. Es ist deine Entscheidung, Dad." Ich stellte ihn beinhart vor die Wahl: wir oder das Geld.

Er blickte uns stumm an, die Schultern noch immer nach unten gesackt, der Umschlag zitterte leicht in seiner Hand. Schweiß war auf seine Stirn getreten und in diesem Moment sah er bedauernswert aus, aber ich ließ mich nicht täuschen, starrte ihn stur an, nicht bereit, nachzugeben. Nach endlos erscheinenden Sekunden, in denen nur die Geräusche der Natur zu hören waren – und mein eigener Herzschlag laut in meinen Ohren dröhnte – riss er seinen Blick von uns los und sah auf den Umschlag, umfasste ihn sogar noch fester – eine mehr als eindeutige Reaktion.
Ich schüttelte den Kopf und ich war nicht einmal wütend auf ihn, sondern empfand nur noch Mitleid. „Lass uns gehen, Chris", sagte ich leise und berührte ihn leicht an der Schulter. Aus seinen grünen Augen war die Wut verschwunden, sein Körper war entspannt und auf seinen Lippen lag ein kleines Lächeln, das überhaupt nicht zu der Situation passte. Ich erkannte sofort, dass er die Tür zur Vergangenheit endgültig geschlossen hatte, dass es ihm nichts ausmachte, wie Dad sich entschieden hatte, hatten wir beide insgeheim bereits damit gerechnet.
„Ja, lass uns gehen. Wir haben hier nichts mehr zu suchen. Nur damit du es weißt, ich werde bald offiziell wieder leben und den Namen DiNozzo führen. Und viel Spaß mit deinem Geld", fügte er kalt hinzu und atmete gleich darauf erleichtert aus. Unser Vater riss seinen Blick von dem Umschlag los, sah uns an, machte aber keine Anstalten, etwas zu sagen oder einzulenken. Ich schüttelte den Kopf und verließ ohne ein weiteres Wort zu sagen das Wohnzimmer, gefolgt von meinem Bruder, dessen Schritte sich beschwingt anhörten.
In der Vorhalle blieb er noch kurz stehen und blickte die Treppe nach oben, blickte dorthin, wo wir 17 Jahre lang unser Leben verbracht, gelacht aber auch gelitten hatten. „Sollen wir noch hinaufgehen?" frage ich leise, obwohl ich nicht das Bedürfnis verspürte, auch nur einen Fuß auf die Stufen zu setzen. „Nein", antwortete er und lächelte erleichtert. „Nein, ich will nicht mehr hinaufgehen. Wer weiß, was aus meinem Zimmer geworden ist und ich will es so in Erinnerung behalten, wie es gewesen ist, bevor ich von hier verschwunden bin. Lass uns einfach von hier verschwinden, okay?" Ich nickte und gemeinsam gingen wir zur Tür, öffneten sie und traten wieder hinaus in die warme Frühlingsluft.
„Es war doch keine so schlechte Idee, hierher zu kommen", sagte Chris, sah noch einmal in die Eingangshalle, so als ob er erwarten würde, dass uns Dad doch nachlaufen würde, aber er ließ sich nicht blicken. Entschlossen warf er die Tür ins Schloss und sein Lächeln wurde breiter.
„Ich habe immer gute Ideen", erwiderte ich gut gelaunt und stieg die Treppe hinunter, um zu meinem Wagen zu gehen. „Na klar, aber nur in deinen Träumen!" rief er mir hinterher, sprang leichtfüßig die Stufen hinab, so wie er es als Kind immer getan hatte. „Als ich ihn gesehen habe, war ich anfangs wirklich wütend, aber ich habe eingesehen, dass es nichts bringt. Ich bin froh, dass wir diesen Schritt gemeinsam gemacht haben. Jetzt weiß ich mit Bestimmtheit, dass er mir nicht mehr wehtun kann. Dad ist Vergangenheit." Chris ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, während ich hinter dem Steuer Platz nahm.
„Für mich ist er schon Vergangenheit, als ich erkannt habe, dass er sich mehr darüber aufgeregt hat, dass du sein Geld gestohlen hast, als darüber, dass du abgehauen bist. Er wird uns beiden nie wieder wehtun können." Ich startete den Motor, ließ ihn kurz aufheulen, bevor ich aufs Gaspedal trat und mit quietschenden Reifen losfuhr. Ich blickte in den Rückspiegel, wo die Villa immer kleiner wurde, ließ damit das zu Hause meiner Kindheit und meinen Vater hinter mir zurück. Es war wirklich die richtige Entscheidung gewesen, hierher zu kommen, um endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen, alles hinter uns zu lassen und um unbeschwert in die Zukunft sehen zu können – eine Zukunft, die ich mit meinem Bruder verbringen würde und ich wusste mit Bestimmtheit, dass uns nichts mehr auseinanderbringen würde.

Wie hatte es Zack Brewer, unser gemeinsamer Freund aus der Highschool, bei einer feuchtfröhlichen Party, nachdem er sich stockbetrunken auf einen Tisch gestellt hatte, einmal ausgedrückt?
„Anthony und Christopher DiNozzo: egal was die Zukunft für euch beide bereithalten wird, es gibt nichts, womit ihr nicht fertig werden würdet, zusammen seid ihr ein unschlagbares Team." – und er sollte Recht behalten.

Ende!!!
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