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Etwas außerhalb von Washington
Zur selben Zeit


Wieder einmal war Weihnachten vergangen und Silvester stand vor der Tür. Wie jedes Jahr waren meine Eltern mit mir und meinem 7-jährigen Zwillingsbruder Christopher in die Rocky Mountains geflogen, wo wir ein Ferienhaus besaßen. Rundherum gab es nur Wälder, ausgedehnte Wiesen und in die nächste Stadt – eine kleine Ansammlung von wenigen Geschäften - brauchte man mit dem Auto gute 15 Minuten, vorausgesetzt, die Straße war wegen dem vielen Schnee nicht gesperrt. Vor zwei Jahren war dies der Fall gewesen und Chris und ich hatten das als ein aufregendes Abenteuer in Erinnerung. Mein Vater hingegen war die drei Tage, die wir uns von dem Haus nicht entfernen konnten, meistens schlecht gelaunt, da aufgrund des Schneesturmes das Telefonnetz zusammengebrochen war und er keine Hilfe anfordern konnte – und auch mit seinen Geschäftspartnern hatte er keinen Kontakt aufnehmen können. Meine Mutter hatte alles möglichst gelassen gesehen und das Beste aus der Situation gemacht.
Die Weihnachtsferien waren für meinen Bruder und mich die einzigen Tage, in denen wir gemeinsam mit unseren Eltern etwas unternahmen. Sonst hatten beide immer viel zu tun und überließen es Lucille – dem Kindermädchen – die Erziehung. Sie war Mitte dreißig, gerade mal 1,60 Meter groß und hatte eine etwas füllige Taille. Auch wenn sie nach außen hin streng aussah – ihre braunen Haare hatte sie immer zu einem Knoten geschlungen – war sie überraschend nett und geduldig. Und im Gegensatz zu unseren Eltern behandelte sie uns gleichberechtigt. Obwohl ich erst sieben war, bekam ich bereits mit, dass Chris vernachlässigt wurde und ich der behütete Schatz unserer Erzeuger war. Weshalb das so war, verstand ich nicht und es machte keiner Anstalten uns das zu erklären. Neugierig wie ich war, fragte ich mindestens einmal in der Woche Lucille danach, aber sie schüttelte immer nur den Kopf. Entweder wusste sie nichts davon oder sie durfte nicht darüber reden. Jedenfalls schenkte sie meinem Bruder die Aufmerksamkeit die er eigentlich von unseren Eltern bekommen sollte. Sie passte die meiste Zeit auf uns auf, außer wenn wir über Weihnachten in die Rocky Mountains flogen. Da blieb sie in Washington und besuchte ihre eigene Familie.
Am Nachmittag des 28. Dezembers liefen Chris und ich durch den tief verschneiten Wald hinter unserem Ferienhaus. Unsere Mutter saß im Wohnzimmer und ging ein paar Akten ihrer Mandaten – sie war Rechtsanwältin – durch und unser Vater hatte sich in die kleine Bibliothek zurückgezogen, um mit einigen Geschäftspartnern zu telefonieren. Obwohl sie es uns immer wieder versprachen in den Ferien nicht zu arbeiten, so hatten es beide bisher nie geschafft, Wort zu halten. Normalerweise ärgerte ich mich darüber, aber heute war ich froh, dass sie nicht dabei waren. So konnten wir alleine den Wald erkunden und zu dem zugefrorenen See auf einer großen Lichtung gehen, der besonders mich wie magisch anzog. Obwohl uns Mom verboten hatte uns zu weit vom Haus zu entfernen, konnten wir nicht anders, als einfach weiterzulaufen. Die Sonne schien durch die blätterlosen Bäume und ließ den Schnee glitzern, der den Boden und die Äste der Riesen bedeckte. Die Luft war kalt, aber nicht so kalt, dass man es nicht aushalten könnte. Vor unseren Mündern stieg Dampf auf, wenn wir ausatmeten und unsere Gesichter waren vor Aufregung und wegen der Kälte gerötet. Unsere Stiefel hinterließen Abdrücke und knirschten bei jedem Schritt.
Immer weiter liefen wir in den Wald hinein, sprangen geschickt über Äste, die auf dem Boden lagen und wichen jedem Hindernis aus. Chris rannte etwas vor mir, blieb aber schließlich abrupt stehen, als wir die Lichtung erreichten, die mein eigentliches Ziel war. Keuchend machte ich neben ihm halt und bestaunte den großen zugefrorenen See, der in der Nachmittagssonne in verschiedenen Farben glitzerte. Auf dem Eis lag eine dünne Schneedecke und reflektierte das Licht noch mehr.
Langsam näherte ich mich dem Ufer und drehte mich schließlich um, als mir mein Bruder nicht folgte. „Wer als erstes in der Mitte des Sees ist", sagte ich und sah ihn herausfordernd an. Er kniff seine grünen Augen unbehaglich zusammen und schüttelte den Kopf. „Du weißt doch was Mom gesagt hat, Tony. Wir dürfen nicht auf das Eis, da es ziemlich dünn ist. Außerdem sollten wir uns nicht so weit von dem Haus entfernen. Wenn sie es herausfindet, bekommen wir sicher jede Menge Ärger." „Ach was", erwiderte ich und betrat vorsichtig den zugefrorenen See. „Wenn wir nichts verraten, wird sie es nie erfahren. Außerdem, was soll schon passieren?" Ich hüpfte auf dem Eis auf und ab. „Siehst du? Es hält mich aus. Jetzt komm schon, Chris. Sei ein einziges Mal nicht so ein Feigling. Lass uns ein kleines Wettrennen machen und dann werden wir sofort wieder zurückgehen. Versprochen." Einige Sekunden war es ruhig und man konnte nur die Geräusche des Waldes hören. Er zögerte noch immer, kaute nervös an seiner Unterlippe herum. „Mom und Dad werden es nicht erfahren?" fragte er ängstlich und kam auf mich zu. „Nie im Leben", antwortete ich und trat noch einen Schritt weiter auf die Mitte des Sees zu. „Was ist nun, Kleiner?" Ich wusste, er mochte es überhaupt nicht, wenn ich ihn so nannte und auch diesmal blieb die Wirkung nicht aus. Er verzog wütend sein Gesicht und ehe ich mich versah, versetzte er mir einen Stoß, sodass ich beinahe hingeflogen wäre. „Ich werde dir zeigen, wer hier der Kleine ist!" rief er und lief los. Bevor ich mich wieder gefasst hatte, war er bereits drei Meter vor mir. „Na warte!" schrie ich ihm nach und rannte ihm hinterher, wobei ich immer wieder auf dem glatten Eis ausrutschte und nur mit Mühe einen Sturz verhindern konnte. Chris stellte sich wesentlich geschickter an und machte den Eindruck, als ob er auf Asphalt unterwegs wäre.
„Wo bleibst du denn?!" fragte er laut, als er die Mitte des Sees erreicht hatte. Er strahlte über das ganze Gesicht und grinste hämisch, als ich erneut fast hingefallen wäre. Aber gleich darauf veränderte sich seine Miene von fröhlich in ängstlich. Verwirrt blieb ich stehen, zwei Meter von ihm entfernt. Deutlich konnte ich das Knacken vernehmen, das von Chris' Füßen ausging. „Tony?" fragte er panisch und auf einmal war auch in mir Angst. „Was ist das?" Ich wusste genau, was das Geräusch bedeutete und mein Herz begann schneller zu schlagen. Meine Beine fühlten sich wie festgefroren an und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Die Warnung unserer Mutter kam mir wieder in den Sinn, ja nicht den See zu betreten, da die Eisdecke viel zu dünn war. Wieso hatte ich nicht auf sie gehört? Wieso musste ich auch unbedingt hier heraus rennen?
Das Knacken wurde immer lauter und riss mich aus meiner Starre. „Lauf!" schrie ich meinem Bruder zu, aber da war es schon zu spät. Noch bevor er einen Schritt machen konnte, gab das Eis unter ihm nach und mit einem lauten Schrei landete er in dem kalten Wasser. „CHRIS!!!" rief ich und sah wie er wild mit den Armen ruderte, um nicht unterzugehen. Ich wusste, dass es gefährlich war, aber dennoch legte ich mich auf dem Bauch und rutschte vorsichtig zu dem Loch hin. Wie in Zeitlupe registrierte ich, dass ihn das Gewicht seiner nassen Kleidung nach unten zog. Reflexartig packte ich die Kapuze seiner dicken Winterjacke und zog ihn mit aller Kraft nach oben. Meine Muskeln zitterten vor Anstrengung und meine Finger, die in dem Wasser waren, begannen bereits taub zu werden, aber ich ignorierte das alles. Wichtig war jetzt nur, meinen Bruder nicht loszulassen. Seine Lippen liefen blau an und er brachte kein Wort heraus, so sehr zitterte er. Ich versuchte immer wieder ihn aus dem Wasser herauszuziehen, aber er war einfach zu schwer. „Hilfe!" schrie ich und nahm auch noch meinen anderen Arm, um Chris festzuhalten. „Wieso hilft uns denn keiner?!" Mein Schrei verhallte ungehört in der Ferne. Ich wusste, lange würde ich ihn nicht mehr über Wasser halten können, aber trotzdem gab ich nicht auf. „Halt durch", sagte ich, wobei ich nicht sicher war, wem von uns beiden die Worte galten. Er nickte schwach, aber kurz darauf fielen ihm seine Augen zu. „Nein, nein, nein", flüsterte ich panisch. Und dann holte ich noch einmal tief Luft und schrie so laut ich konnte: „HILFE!!!!!"


Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Mein Atem raste und mir war eisig kalt, so als ob ich erneut mit dem Bauch voran auf dem zugefrorenen See liegen würde, meine Arme in dem Wasser und zu verhindern versuchte, dass mein Bruder vor meinen Augen ertrank. Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust und ich brauchte in paar Sekunden um zu realisieren, dass es nur ein Traum gewesen war. Anstatt den verschneiten Wald vor mir zu sehen, konnte ich graue Betonwände bestaunen, auf denen verschiedene Bilder aufgeklebt waren – Bilder die im Laufe meiner Kindheit entstanden waren.
Es herrschte drückende Stille in dem Raum, der mein Gefängnis war, und ließ den Herzschlag noch lauter in meinen Ohren ertönen. Ich fuhr mir mit einer Hand über mein Gesicht, versuchte den Traum aus meinem Gehirn zu verbannen, aber er blieb an der Oberfläche und quälte mich weiterhin. Die Schuldgefühle von damals kamen zurück und nahmen mir beinahe die Luft zum Atmen. Erneut sah ich Chris vor mir, wie ihn die Kraft verließ, wie ich versuchte, ihn aus dem Wasser zu ziehen und mein eigener Hilfeschrei hallte laut in meinen Ohren wider – ein Schrei, der doch noch erhört worden war. Ein Jäger war gerade am Rande der Lichtung vorbeimarschiert, als er meinen Ruf gehört hatte. Ohne zu zögern war er hinaus aus den See gelaufen und hatte Chris, so als ob er überhaupt nichts wiegen würde, aus dem eiskalten Wasser gezogen. Der Mann, dessen Namen ich bis heute nicht wusste, hatte seine Jacke ausgezogen und meinen Bruder darin eingewickelt, der erbärmlich gezittert hatte. Alles Weitere war wie ein Film, den ich im Kino gesehen hatte, an mir vorbeigezogen. Er hatte Chris auf seine Arme gehoben und ihn durch den Wald getragen - ich hatte ihm den Weg zu unserem Haus erklärt. Wie erwartet hatte meine Mutter, als sie uns beide so gesehen hatte, beinahe eine Schreiattacke bekommen und der Fremde hatte schließlich meinem Vater erklärt, wo er uns gefunden hatte. Dieser war sichtlich wütend auf uns gewesen, hatte aber trotzdem einen Arzt gerufen. Während der ganzen Zeit hatte ich auf einem Sessel gekauert und kein Wort gesagt. Ich hatte mich mies gefühlt und gewusst, dass es meine Schuld gewesen war, dass Chris halberfroren auf dem Sofa lag – dick eingepackt in Decken.
Der Arzt hatte meinen Eltern aufgetragen, ihn zur Sicherheit in ein Krankenhaus zu bringen, das etwa eine Stunde Fahrtzeit entfernt gewesen war. Drei Tage musste er dort bleiben und wurde von den netten Schwestern gehegt und gepflegt. Danach hatten wir unseren Urlaub abgebrochen und waren nach Washington zurückgeflogen. Um mich von meinen Schuldgefühlen zu befreien, hatte ich ihnen schließlich gestanden, dass ich es war, der auf die Idee gekommen war, auf den See hinauszulaufen. Hatte ich geglaubt, mindestens einen Monat Hausarrest zu bekommen, so hatte ich mich geirrt. Meine Dummheit hatte überhaupt keine Konsequenzen gehabt und eine Woche später hatten meine Eltern so getan, als ob überhaupt nichts geschehen wäre.
Chris war nach dem Vorfall noch viel stiller geworden und hatte sich in seine Bücher vergraben. Jedes Mal wenn ich versuchte, mit ihm etwas zu unternehmen, hatte er abgeblockt und mich ignoriert. Damals hatte ich es auf den Schock geschoben, den er unweigerlich erlitten hatte, aber jetzt in meinem Gefängnis kam mir in den Sinn, dass er mir die Schuld an der ganzen Sache gegeben hatte. Zwar hatte sich unser Verhältnis etwa drei Monate später wieder verbessert, aber dieser Unfall hatte seitdem immer zwischen uns gestanden.
Der Außenwelt hatten sich meine Eltern glücklich darüber gezeigt, dass Chris überlebt hatte und hatten mich als Held gefeiert, weil ich ihn gerettet hatte. Dabei war es der Mann gewesen, den ich nie wieder zu Gesicht bekommen hatte. Seit diesem Ereignis war mir klar geworden, dass mein Bruder nicht den Stellenwert bei meinen Eltern hatte, den ich gehabt hatte und den Grund wusste ich bis heute nicht. Und zum ersten Mal kam mir jetzt in den Sinn, dass sie ihm die Schuld daran gaben, dass er in das Eis eingebrochen war. Jedenfalls würde es erklären, weshalb ich überhaupt nicht bestraft worden war.

„Was ist nur aus dir geworden?" fragte ich in die Stille hinein, schwang meine Beine über das Bett und vergrub meinen Kopf in den Händen, der Dank des Aspirins wenigstens nicht mehr schmerzte. Obwohl ich sicher mehrere Stunden geschlafen hatte, war ich noch immer müde, aber wenigstens fühlten sich meine Gliedmaßen nicht mehr unendlich schwer an und mein Magen meldete sich auch zu Wort, aber ich ignorierte das Knurren. Noch immer konnte ich nicht glauben, dass Chris mein Leben übernehmen wollte und mich hier eingesperrt hatte. Allerdings fragte ich mich, was er wohl mit mir vorhatte. Wollte er mich laufen lassen, wenn er genug davon hatte, Anthony DiNozzo zu sein oder würde er mich für immer verschwinden lassen? Meine Hoffnung bestand jedoch darin, dass er nicht so skrupellos war und seinen eigenen Bruder einfach so umbringen konnte. Aber tief in meinem Inneren traute ich es ihm allerdings zu, dass er den Schlüssel zu der Tür verlieren würde und ich somit in diesem Raum ewig gefangen war – jedenfalls so lange, bis ich verhungert war.
Erneut drohte die Verzweiflung, die mich schon einmal ergriffen hatte, zu überkommen und so stand ich auf und schaltete den kleinen Fernseher ein, um wenigstens so die Stille zu durchbrechen, die schwer auf mir lastete. Es liefen gerade Nachrichten und die Uhr links unten auf dem Bildschirm zeigte kurz nach neun Uhr. Also war es bereits Morgen und Chris wahrscheinlich schon im NCIS Hauptquartier. Irgendwie brannte es mir unter den Fingernägeln zu erfahren, wie er sich so anstellte. Hatten meine Kollegen ihn schon durchschaut oder glaubten sie, dass sie Tony vor sich hatten? Bei dem Gedanken an meine Freunde zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen und ich warf einen kurzen Blick auf die Bilder, die auf der Kommode standen. „Ihr müsst doch mitbekommen, dass ich nicht ich bin", sagte ich zu den Gesichtern, die mir starr entgegenblickten. Ich fuhr mit dem Zeigefinger meiner rechten Hand das Gesicht von Ziva nach, drehte dann aber aus einem Impuls heraus jedes einzelne Foto um, sodass ich sie alle nicht mehr ansehen musste. Ich wusste, dies war ein weiterer Versuch von Chris, mich zu zermürben, mich noch mehr verzweifeln zu lassen, in dem er mir zeigte, wer er jetzt war und was ich verloren hatte.
„Wenn du glaubst, mich hier festhalten zu können, hast du dich getäuscht", sagte ich laut und wandte dem Fernseher den Rücken zu. Nur am Rande bekam ich mit, wie Tom und Jerry anfingen, sich das Leben gegenseitig schwer zu machen. Wie bereits vor Stunden begann ich erneut den Raum zu durchsuchen, in der Hoffnung, einen Gegenstand zu finden, der mir dabei helfen würde, die Tür aufzubekommen. Aber ich wusste bereits, wie die Suche ausgehen würde. Chris hatte sorgfältig darauf geachtet, mir nichts dazulassen, was mir eine Flucht ermöglichen könnte – aber dennoch gab ich nicht auf. Er hatte mir zwar meine Freiheit und meine Identität geraubt, aber meine Hoffnung, aus meinem Gefängnis herauszukommen, die würde er mir nicht nehmen – egal was er noch mit mir vorhatte.

Fortsetzung folgt...
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