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Viel zu schnell kam ihnen ein Pick up, dessen Fahrer unablässig die Lichthupe betätigte, auf derselben Spur entgegen. Kurz bevor es zur Kollision kam, riss Gibbs das Steuer herum, schnitt den Wagen, den er gerade überholt hatte und fädelte sich wieder in den fließenden Verkehr ein. Der Lenker des Pick ups wedelte wie wild mit der Hand herum und dann war er auch schon vorbei.
Chris klammerte sich an dem Griff an der Tür fest und versuchte sein wie wild klopfendes Herz zu beruhigen. Seit Jahren hatte er nicht mehr das Bedürfnis verspürt zu beten – seinen Glauben an Gott hatte er schon lange verloren – aber in dieser Minute fand er, dass es der passende Zeitpunkt wäre, wieder damit anzufangen. Vielleicht sollte er auch wieder einmal in die Kirche gehen – als Dank dafür, dass er diese Höllenfahrt lebendig überstand.
Mühsam schluckte er und versuchte seinen Mageninhalt bei sich zu behalten, der mit jeder weiteren Kurve, die sie passierten, weiter in Richtung seines Halses wanderte. Innerlich verfluchte er sich selbst, dass er ausgerechnet so viel gefrühstückt hatte. Normalerweise begnügte er sich mit einer Tasse Kaffee und Toast, aber heute Morgen hatte er es für eine gute Idee gehalten, so richtig zuzuschlagen. Und was hatte es ihm eingebracht? Das Essen lag bleischwer in seinem Magen und wartete nur darauf, hoch zu kommen.
Als sich der Chefermittler hinter das Steuer des Trucks gesetzt hatte, hatte er nicht einmal ansatzweise geahnt, was auf ihn zukam. Er hatte sich noch darüber amüsiert, dass McGee vorne keinen Platz mehr gehabt hatte und deswegen hinten im Laderaum sitzen musste. Aber eine Minute später war er vollauf damit beschäftigt gewesen, keine Angstschreie auszustoßen. Bereits als sie die Tiefgarage verlassen hatten, war Jethro mit quietschenden Reifen auf die Straße abgebogen und hatte dabei fast ein anderes Auto gerammt. Da hatte er noch gedacht, es wäre ein Versehen gewesen, dass er vielleicht den anderen nicht bemerkt hatte, aber kurz darauf hatte er feststellen müssen, dass er sich geirrt hatte. Gibbs schien einen Betonklotz als Fuß zu haben und drückte das Gaspedal bis zum Boden durch. Nicht einmal bei einer Kreuzung ging er mit der Geschwindigkeit herunter, sondern überquerte sie ungebremst.
Chris riss seinen Blick von der Windschutzscheibe los und sah aus dem Seitenfenster, in der Hoffnung, so nicht mitbekommen zu müssen, wenn ihnen erneut ein Wagen auf derselben Spur entgegenkam. Er hätte sich natürlich beschweren oder verlangen können, dass der Chefermittler das Tempo etwas reduzierte, allerdings hatte er keine Ahnung, wie dieser darauf reagieren würde. Seine Miene war undurchdringlich und er schien nur Augen für die Straße zu haben. Außerdem bestand die Gefahr, dass er das Gaspedal noch mehr durchtreten oder dass er ihm erneut eine saftige Kopfnuss verpassen würde, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten. Der Agent schien seine eigene Methode zu haben, wenn einer seiner Untergebenen etwas sagte, was ihm nicht gefiel – oder nicht das tat, was er verlangt hatte. Und Tony schien der Rekordhalter zu sein, wenn es darum ging, sich einen Klaps einzufangen. Aber Chris wunderte es nicht. Schon in ihrer Kindheit hatte sein Bruder eine vorlaute Klappe besessen und hatte es nicht geschafft, seinen Mund zu halten. Seine Freunde hatten dies mehr als amüsant gefunden, wohingegen die Lehrer mehr als genervt davon gewesen waren. Aber hatte er deswegen von seinen Eltern eine Strafe bekommen? Nein, sie hatten nur gemeint, dass es in dem Alter normal wäre, dass ihr Junge eine derart lose Zunge hatte.
Ein harter Ruck, Reifengequietsche und ein lauter Schrei rissen den jungen Mann aus den Erinnerungen und er konnte nur aufgrund seiner schnellen Reflexe verhindern, dass er mit voller Wucht gegen die Tür krachte. Ziva wurde gegen ihn gedrückt, richtete sich aber sofort wieder auf, so als ob sie es stören würde, dass sie auf ihm gelandet war. Für eine Sekunde hatte er noch den Duft ihres dezenten Parfüms in der Nase, aber gleich darauf verfolg der Geruch wieder – sehr zu seinem Leidwesen.
Aus dem Laderaum konnte man ein Poltern und ein lautes Fluchen hören und obwohl Chris mehr als übel war, fing er zu grinsen an. Unwillkürlich stellte er sich McGee vor, der wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken lag und versuchte, einen Ausrüstungskoffer von seinem Oberkörper zu wuchten. Obwohl er selbst von der rasanten Fahrt sicher einige blaue Flecken davon trug, so war er froh, hier vorne sitzen zu dürfen, und nicht hinten im Laderaum.
„Wäre es nicht besser, auch hinten einen Sicherheitsgurt einzubauen?" fragte er und hoffte, dass er nicht wieder etwas gesagt hatte, was den Verdacht erregen könnte, dass nicht Tony in diesem Truck saß. Ziva sah ihn von der Seite her an und verzog nicht einmal die Miene, als Gibbs erneut ein anderes Fahrzeug überholte und deswegen ein weiteres Hupkonzert kassierte. Chris hingegen schloss kurz die Augen und betete darum, endlich in Quantico anzukommen. Er fuhr gerne mit dem Auto und hatte auch nichts dagegen, Beifahrer zu sein, aber dies grenzte ja schon an Folter. Vielleicht sollte er eine Gehaltserhöhung fordern. Als kleine Entschädigung dafür, dass er um sein Leben fürchten musste – und dass, obwohl er normalerweise vor nichts Angst hatte.
Als Chris es wieder wagte, die Augen zu öffnen, sah er das hämische Grinsen von Ziva. Sie saß lässig zwischen ihm und Gibbs und für sie schien es das Normalste der Welt zu sein, knapp dem Tod zu entrinnen. „Du machst dir doch nicht etwa ins Shirt, oder, Tony?" fragte sie und ihr Grinsen wurde noch breiter. Obwohl ihm mehr nach Schreien zu Mute war – Jethro hatte soeben eine Kreuzung bei Gelb überquert – kam ihm ein lautes Prusten aus. Heute Morgen hatte er noch geglaubt, ihr Versprecher war ein Einzelfall gewesen, aber anscheinend machte sie öfters Fehler, wenn es um Redewendungen ging. „Es heißt ins Hemd machen", korrigierte er sie und vergaß für einen Moment, dass ihm übel war. Aus Zivas Augen schossen Funken in seine Richtung, was ihn aber noch mehr amüsierte. „Oder du kannst auch in die Hose machen sagen. Beide Varianten sind…" „Ich habe es kapiert", erwiderte sie leicht gereizt. „Was habt ihr überhaupt mit diesen dämlichen Redewendungen? Es ist doch egal, wie man es sagt, Hauptsache die Bedeutung stimmt. Außerdem, wieso heißt es, in das Hemd machen? Wie kann man sich…?" „Seit ihr beiden fertig?" wollte Gibbs neben ihnen wissen. „Wenn ja, habt ihr sicher nichts dagegen, endlich auszusteigen. Außer, ihr wollt hier übernachten?" Blinzelnd sah sich Chris um und bemerkte erst jetzt, dass sie endlich ihr Ziel erreicht hatten. Er war so sehr in die Betrachtung von Ziva vertieft gewesen, dass er gar nicht mitbekommen hatte, dass der Truck zum Stehen gekommen war. Anscheinend hatte er endlich ein Mittel gefunden, die Fahrt halbwegs unbeschadet zu überstehen. Vielleicht würde er nachher einen kleinen Streit mit der jungen Frau beginnen, in der Hoffnung, die ganze lange Strecke zurück zum Hauptquartier irgendwie zu überleben.
„Ähm, nein, Boss", antwortete er gespielt zerknirscht und öffnete erleichtert die Tür. Er war froh, endlich dieses Höllengefährt verlassen zu dürfen und sog tief die laue Frühlingsluft in seine Lungen. Bäume, die die Straße säumten, warfen Schatten auf den Asphalt und boten ein wenig Schutz vor der hellen Sonne. Die Umgebung des großen, in einem nüchternen weiß gestrichenen Hauses, war mit gelbem Flatterband abgesperrt worden und Männer in der Uniform des Marine Corps hinderten ein paar Schaulustige daran, den Tatort zu betreten. Obwohl sie sich auf einem Stützpunkt befanden, gab es auch hier neugierige Gaffer – vorwiegend Frauen aus der Nachbarschaft, deren Gatten zu diesem Zeitpunkt im Dienst waren. Sie reckten ihre Hälse, um ja nichts zu verpassen und schnatterten eifrig mit den anderen - es fehlten nur noch Kaffee und Kuchen.
Chris machte ein paar Schritte, bis er das Gefühl hatte, seine Beine wären nicht mehr aus Butter und setzte sich seine Sonnenbrille – oder besser gesagt, Tonys Sonnenbrille – auf. Er hatte bereits heute Morgen festgestellt, dass sie ihm ein cooles Aussehen verlieh und erneut musste er zugeben, dass sein Bruder einen ausgezeichneten Geschmack hatte, am meisten mochte er sein Auto. Das leise Brummen des Motors, die bequemen Sitze und vor allem die vielen PS. Es juckte ihn in den Fingern, den Wagen einmal bis zu seiner Grenze der Belastbarkeit zu testen.
Mit einem breiten Grinsen ging er um den Truck herum und öffnete die Türen, um sich seinen Rucksack zu holen, den er vor der Abfahrt dort verstaut hatte. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, konnte er sich ein lautes Auflachen beinahe nicht verkneifen. McGee lag auf dem Rücken und hielt sich mit beiden Händen die rechte Seite. Anscheinend war der schwere Koffer, der neben ihm lag, auf ihm gelandet und hatte ihn schmerzhaft getroffen. „Hör bloß auf zu grinsen, Tony", sagte er wütend und rappelte sich mühsam auf, wobei er sein Gesicht leicht verzog. „Ich möchte mal wissen, wie du aussiehst, wenn dich ein tonnenschwerer Koffer fast halbiert." „Na, übertreib nicht so. Der wiegt sicher keine Tonne und außerdem lebst du doch noch, oder, Tim?" Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde wusste Chris, dass er etwas Falsches gesagt hatte. McGee klappte der Mund so weit auf, dass man seine Mandeln problemlos bestaunen konnte und Ziva warf ihm einen verwirrten und überraschten Blick zu. Beide rührten sich keinen Millimeter und sahen ihn ganz komisch an. „Was ist jetzt schon wieder?" fragte er verwundert, aber innerlich wusste er bereits, was passiert war – eine Sekunde später bekam er es bestätigt. „Nun, du hast ihn noch nie beim Vornamen angeredet", antwortete Ziva an McGees Stelle, der noch immer damit beschäftigt war, seinen Unterkiefer nach oben zu bewegen. Chris setzte einen Gesichtsausdruck auf, so als ob es für ihn nichts Neues wäre, dass er seinen Kollegen noch nie Tim genannt hatte. „Das weiß ich doch", sagte er so unbeschwert wie möglich. „Ich wollte doch nur mal sehen, wie der gute McGee reagiert, wenn ich es mache. Du hättest mal deine schockierte Miene sehen sollen", wandte er sich an seinen Kollegen, der es endlich geschafft hatte, seinen Mund zu schließen. „Schade, dass ich keine Kamera dabei gehabt habe. Das hätte ich zu gerne für die Nachwelt festgehalten." „Wirklich witzig, Tony", erwiderte dieser, kletterte aus dem Truck und schnappte sich seine Ausrüstung. „Und ich habe schon gedacht, du würdest endlich damit aufhören, mich Bambino zu nennen." Ein wenig beleidigt ließ er ihn einfach stehen und eilte Gibbs nach, der bereits hinter dem Absperrband verschwunden war und das Haus betreten hatte.
Äußerlich ließ sich Chris zwar nichts anmerken, aber innerlich brodelte er vor Wut. Er hätte es wissen müssen, dass Tony ihn angelogen hatte, als er ihm gesagt hatte, er würde McGee nur mit Tim anreden. In seinen Augen war ein hinterlistiger Ausdruck gewesen, aber er hatte gedacht, sich das nur einzubilden. Sein Bruder ließ also keine Möglichkeit aus, ihm seinen Plan durchkreuzen zu wollen. Damit hätte er eigentlich rechnen müssen, aber er war zu sehr von seiner Freude abgelenkt gewesen, endlich das Leben leben zu können, was er sich immer gewünscht hatte.
‚Na warte', dachte er ärgerlich, schnappte sich seinen Rucksack und ließ Ziva einfach stehen, die ihm verwundert hinterher sah. Er zückte seinen Dienstausweis, hielt ihn einen der Männer unter die Nase, der sofort das Band hochhob und ihn somit durchließ. ‚Glaub ja nicht, dass du damit durchkommst. Du wirst schon sehen, was du davon…' Chris wurde allerdings aus seinen wütenden Gedanken gerissen, als er das Wohnzimmer des großen Hauses betrat. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn erstarren und er hatte das Gefühl, sein Frühstück nun endgültig von sich geben zu müssen. In den Jahren, die er in Los Angeles gelebt hatte, hatte er schon viele Leichen gesehen und er hatte geglaubt, Toten gegenüber abgehärtet zu sein. Aber in diesem Moment erkannte er, dass dies wohl ein großer Irrtum gewesen war.

Vor dem Mord an dem Commander war das Wohnzimmer sicher ein Ort gewesen, wo man sich nach einem anstrengenden Arbeitstag prima entspannen hatte können. Die Einrichtung, die mit großer Sorgfalt ausgesucht worden war, wirkte selbst jetzt noch teuer und hatte dem Raum vor Stunden eine Behaglichkeit verliehen. Allerdings war an diesem Vormittag davon nichts mehr zu sehen. Durch das große Fenster schien die Sonne herein und tauchte die Szene, die sich vor Chris' Augen befand, in ein erbarmungsloses helles Licht, welches im starken Kontrast zu der Brutalität der Tat stand. Nicht das kleinste Detail konnte einem entgehen – nicht einmal, wenn man ein unerfahrener Tatortermittler war. Das Bild brannte sich unauslöschlich in sein Gehirn ein und innerhalb des Bruchteils einer Sekunde wusste er, dass er es wohl so schnell nicht wieder loswerden würde. Unwillkürlich kam ihm der Vergleich mit einem Tornado, der durch dieses Zimmer gefegt war. Es gab kein Möbelstück, das nicht zerstört oder umgeworfen worden war. Ein hohes Regal lag quer auf dem dunkelblauen Teppich, der den Parkett davor schützen sollte, Kratzer abzubekommen. Der Inhalt – zahlreiche Bücher, Porzellanfiguren und Sporttrophäen - war dabei umbarmherzig verteilt und zu Stolperfallen degradiert worden. Neben dem Regal hatte sich einmal ein Breitbildfernseher – der ein kleines Vermögen gekostet hatte – befunden, aber auch dieser war umgeworfen worden. Das Gehäuse war durch die Wucht des Aufpralls geborsten und das Innenleben quoll teilweise heraus. Zusätzlich war das Glas des Bildschirms in kleine scharfe Splitter zerborsten.
Die Türen der Kästen und die Laden der Kommoden, die in dem Raum aufgestellt worden waren, standen offen und die Gegenstände, die sich darin befunden hatten, waren achtlos auf den Boden geworfen worden – hauptsächlich DVDs und CDs.
Der gläserne Couchtisch war ebenfalls zerstört worden und nur mehr die Beine aus Metall waren übrig geblieben. Das Obst, welches sich in einer Schale befunden hatte, lag inmitten des Scherbenhaufens – gemeinsam mit einer Fernsehzeitschrift und einer Fernbedienung. Aber die Zerstörung war nichts im Vergleich zu dem Toten, der halb auf dem Sofa saß und teilweise auf den beigen Kissen lag. Die linke Hand hing über den Rand und in regelmäßigen Abständen tropfte Blut von den schlaffen Fingern. Die rote Flüssigkeit landete auf dem blauen Teppich, wo sich bereits eine hässliche, dunkle und vor allem klebrige Pfütze gebildet hatte. Das Hemd, das der Mann trug und das vorher einmal blau weiß kariert gewesen sein musste, war ebenfalls damit getränkt. Aus seiner muskulösen Brust ragte der schwarze Griff eines Messers, dessen Klinge unübersehbar im Herzen steckte. Aber auch diese Verletzung war nicht die Ursache dafür, dass Chris für einen kurzen Moment das Gleichgewicht verloren hatte. Der Grund war der Kopf – oder besser gesagt, was davon noch übrig war – der Leiche. Der Schädel war mit großer Wucht von einem harten Gegenstand eingeschlagen worden. Nicht einmal oder zweimal. Nein, so wie das Gesicht des Commanders aussah, hatte der Täter seine ganze Wut an ihm ausgelassen. Die Nase war zersplittert und die Wangenknochen gebrochen. Die Haut war an zahlreichen Stellen aufgerissen worden und hatte grässliche Fleischwunden hinterlassen. Das einzige, das aus der roten Masse, in die sich das Gesicht verwandelt hatte, hervorstach, waren die leblosen Augen, die starr und voller Entsetzen an die Decke blickten. Die vormals braune Iris war bereits trüb geworden und verlieh dem Ganzen zusätzlich einen schaurigen Touch. Das Blut hatte auf dem hellen Stoff des Sofas hässliche Flecken hinterlassen, die bereits einen Braunton angenommen hatten. Über der ganzen Szenerie lag der unverwechselbare Geruch des Todes.
„Da hatte anscheinend jemand eine Mordswut", sagte Chris, in dem Versuch, die Situation locker zu nehmen und zu überspielen, dass er sich hier mehr als unwohl fühlte. Gibbs, der neben der Leiche stand und sie stirnrunzelnd gemustert hatte, blickte auf und sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
McGee hingegen, der dabei war, seine Kamera auszupacken, fand diese Aussage amüsant. Seit Tony ihn plötzlich mit dem Vornamen angeredet hatte, war er ziemlich irritiert gewesen und das Gefühl, dass er nicht er selbst war, hatte sich noch um eine kleine Spur verstärkt. Allerdings war der Spruch, der soeben über die Lippen seines Kollegen gekommen war, so typisch DiNozzomäßig gewesen, das er nicht anders konnte, als seinen Instinkt für verrückt zu erklären. Zwar war Anthony ein wenig blass um die Nase - er selbst hatte ebenfalls von der Fahrt noch ein flaues Gefühl im Magen – aber in seinen Augen lag das ihm mehr als vertraute humorvolle Funkeln. Er hatte seinen Mund zu einem Grinsen verzogen, das Gibbs ziemlich oft auf die Palme brachte - also schien alles wieder beim Alten zu sein. Vielleicht hatte Tonys neueste Flamme einfach mit ihm Schluss gemacht und er war deswegen so durch den Wind. Aber er schien ja relativ schnell darüber hinweggekommen zu sein.
„So, glaubst du das, DiNozzo?" fragte Gibbs und seine Stimme war gefährlich ruhig. Er fand es überhaupt nicht witzig, dass sein Agent über diesen Mord blöde Sprüche reißen konnte. Allerdings war er ein wenig erleichtert, auch wenn er es nach außen hin nicht zeigte. Seit sein bester Agent heute Morgen ins Büro gekommen war – noch dazu vor seiner normalen Zeit, was alleine schon ein Grund wäre, misstrauisch zu werden - hatte er sich merkwürdig verhalten, aber allem Anschein nach war es nur eine vorübergehende Phase gewesen. Zufrieden bemerkte er, wie dem Jüngeren das Grinsen auf dem Gesicht gefror und er erkannte, dass er am besten den Mund hätte halten sollen.
Chris wusste sofort, dass der Chefermittler nicht zum Spaßen aufgelegt war. ‚Ob er das jemals wäre?' schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf. Das Grinsen, welches ihm vor Sekunden vergangen war, drohte erneut ihn zu überkommen, aber er schaffte es, es mit Mühe zu unterdrücken. Sein Instinkt sagte ihm, dass er dann wohl eine weitere Kopfnuss kassieren würde – auf die er aber gut und gerne verzichten konnte.
Gibbs runzelte ungeduldig die Stirn und wartete noch immer auf eine Antwort. Allerdings fiel dem anderen keine passenden Wörter ein. Normalerweise hatte er keine Probleme damit, schlagfertig zu sein, aber heute, an diesem Ort des Verbrechens und durch den Blick aus den eisblauen Augen war sein Gehirn wie leergefegt. Chris hatte keine Ahnung, weshalb er in der Nähe des Chefermittlers oft nach den richtigen Worten suchen musste. In Los Angeles hatte es keiner geschafft, ihn aus dem Konzept zu bringen oder einzuschüchtern – egal wie gefährlich derjenige gewesen war. Der Agent schaffte dies aber mit einem einzigen Blick. ‚Ob Tony damit auch Probleme hat?' fragte er sich, aber er fing gar nicht erst an, darüber nachzudenken. Stattdessen konzentrierte er sich auf eine Antwort, auf die Jethro noch immer wartete, wie ihm sein Gesichtsausdruck verriet. „Nun…" begann Chris, obwohl er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte, aber eine höhere Macht schien doch noch Mitleid mit ihm zu haben, denn Schritte erklangen hinter ihm und kurz darauf erschien Ziva – im Schlepptau mit Ducky und Jimmy.
Innerhalb einer Sekunde erkannte die junge Frau, dass ihr Kollege wohl wieder einmal in ein großes Fettnäpfchen getreten war. Sein zerknirschter Gesichtsausdruck sprach Bände und sie konnte nicht anders als breit zu grinsen. Sie würde McGee später fragen, was für einen Spruch Tony von sich gegeben hatte, denn sie hatte das untrügliche Gefühl, dass es ihr der Italiener nicht sagen würde. Gibbs schien jedenfalls nicht gerade glücklich über den Scherz zu sein, wie ihr das Funkeln in seinen Augen verriet. Gehässigkeit gewann die Oberhand und verdrängte das komische Gefühl, das sie befallen hatte, als Anthony Tim mit seinem Vornamen angeredet hatte. Ziva glaubte nicht wirklich, dass er nur wissen hatte wollen, wie der Jüngere darauf reagierte. Aber jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt dafür, um darüber nachzudenken – nicht, nachdem sie einen Blick auf den toten Commander geworfen hatte, der in den letzten Sekunden seines Lebens anscheinend Todesangst ausgestanden haben musste. Ungeachtet dessen, dass die Agentin bereits viele Leichen in ihrem Leben gesehen hatte, so schockierte sie der Anblick des Mannes doch ein wenig. Der Täter musste ziemlich viel Wut im Bauch gehabt haben, als er diesen Mord verübt hatte.
„Es tut mir leid, dass wir so spät kommen, Jethro", sagte Ducky und lenkte damit seinen Freund von Chris ab, der erleichtert aufatmete. „Aber Mister Palmer hat sich wieder einmal verfahren. Diese jungen Menschen heutzutage. Sind einfach nicht fähig, eine Straßenkarte richtig zu lesen." Dabei sah er seinen Assistenten leicht kopfschüttelnd an und stellte seine schwarze Tasche auf dem Boden ab. „Aber Sie hatten doch die Karte, Doktor", verteidigte sich Jimmy und rückte sich seine Kappe zu Recht. „Das mag schon sein, aber Sie hätten mir ruhig sagen können, dass wir falsch abgebogen sind. Immerhin…" „Können wir uns endlich an die Arbeit machen?" wurde er von Gibbs ungeduldig unterbrochen. „Ah ja, richtig. Nun, was haben wir denn heute?" wollte Ducky wissen und beugte sich zu dem Commander hinunter. „Der Arme hatte einen sehr unschönen Tod, so viel kann ich dir jetzt schon sagen. Diese Art der Verletzungen erinnert mich an eine Geschichte aus dem Jahre 1986. Ein befreundeter Pathologe aus London hatte einen Fall, der erschreckend dem hier ähnelt. Damals war…" „Duck", wurde er von seinem Freund ein weiteres Mal in seinem Redefluss gebremst. Jethro hatte jetzt keinen Nerv für eine dieser langen Geschichten. Schon gar nicht, wenn sein Körper nach Koffein verlangte, es in der Nähe aber nirgendwo ein Geschäft gab, wo er sich sein Lieblingsgetränk beschaffen konnte.
„Schon gut", meinte der Pathologe und winkte seinen Assistenten zu sich heran. „Nun, dann machen wir uns einmal an die Arbeit." Er öffnete seine schwarze Tasche und holte das Thermometer heraus, mit dem er die Lebertemperatur messen konnte. Mit einem widerlichen Geräusch verschwand das Instrument in dem Körper des Commanders.
Zufrieden damit, dass seinem Befehl Folge geleistet wurde, wandte sich Gibbs an seine Kollegen, die allesamt noch immer bei der Tür standen, außer McGee, der bereits seine Kamera in der Hand hielt. „Ziva, du und Tony sucht in diesem Chaos hier nach Spuren. Vielleicht findet ihr irgendwo Fingerabdrücke oder sonstige Hinweise auf den Täter. McGee, du kümmerst dich um die Fotos, Laser und Skizzen. Und wenn es geht, heute noch." „Und was machst du?" fragte Chris mutig und stellte den Rucksack auf einen Fleck auf dem Boden ab, der nicht von zerstörter Einrichtung bedeckt wurde. „Ich werde die Frau des Commanders befragen. Sie hat die Leiche ihres Mannes gefunden. Und jetzt macht euch endlich an die Arbeit. Ich will Ergebnisse sehen. Und das bis gestern." Damit ließ er alle stehen und strebte auf die Treppe zu, die in das Obergeschoss führte, in dem sich die Gattin des Ermordeten aufhielt.
„Puh, der hat heute aber wieder eine schlechte Laune", sagte Chris und zog sich Gummihandschuhe über. Aufregung, dass er gleich seinen ersten Tatort untersuchen würde, überkam ihn. „Das liegt wahrscheinlich daran, dass er heute noch nicht so viel Kaffee wie sonst intus hat", erwiderte McGee, der sich seine Kamera umhängte und anfing, die Leiche zu fotografieren. „Und wir wissen ja, wie Gibbs ist, wenn er nicht genug Koffein bekommt", fügte Ziva hinzu und trat über einen Scherbenhaufen. „Wie ein hungriges Raubtier auf Beutesuche", meinte DiNozzo und fing an zu grinsen. „Das trifft den Nagel auf den Kopf." Seine Kollegin schenkte ihm ein Lächeln, was ihm einen Schauder über den Rücken jagte und für einen Moment war er abgelenkt. ‚Reiß dich zusammen', schimpfte er mit sich selbst. ‚Du bist nicht hier, um zu flirten.' Er ignorierte die Tatsache, dass ihn Ziva an seine damalige Freundin Amy erinnerte und machte sich daran, irgendwelche Spuren auf dem Boden zu finden, der von zahlreichen Gegenständen bedeckt wurde. Allerdings hatte er mehr und mehr das Gefühl, dass es eher wie die Suche einer Nadel in einem Heuhaufen werden würde. Chris wollte sich bereits dem kaputten Fernseher zuwenden, als ein kleines gerahmtes Bild, das zwischen den Büchern lag, seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es zeigte einen schwarzhaarigen Jungen im Alter von acht Jahren, der auf einer Bühne stand und das Kostüm von Peter Pan trug.
Unwillkürlich bildete sich in seinem Hals ein dicker Kloß und er hatte nur noch Augen für das Foto. Er betrachtete das Gesicht des Kindes, aber nach einer Sekunde verwandelte es sich in sein Eigenes. Das sonnendurchflutete Wohnzimmer, der Geruch des Todes, die Leiche und die Stimmen der anderen verschwammen, als ihn eine Erinnerung aus seiner Kindheit überkam und ihn zurück an den Abend brachte, an dem er als 10 jähriger auf einer Bühne gestanden hatte…

Fortsetzung folgt...
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