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Chris stand mitten auf der großen Bühne, die den hinteren Teil des weitläufigen Raumes einnahm, der als Theater der Privatschule, die er besuchte, fungierte. Normalerweise drang jede Menge Sonnenlicht durch die hohen Fenster, aber an diesem frühen Abend waren sie mit dicken und vor allem schweren Vorhängen verdeckt, was dem Ganzen eine etwas unheimliche Atmosphäre verlieh. Das einzige Licht kam von dem Scheinwerfer, der ihn anstrahlte, ihn aber nicht blendete. So konnte er problemlos in den Zuschauerraum blicken, der teilweise im Halbdunkel lag. Vor allem die Personen, die in den hinteren Reihen saßen, waren nur mehr als Schatten zu erkennen. Ihre Bewegungen kamen ihm teilweise gespenstisch vor, wie bedrohende Gesten. Genauso sahen die gesichtslosen Menschen aus seinen Albträumen aus, die er als fünfjähriger gehabt hatte. Aber er ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen, schon gar nicht heute. Schon als kleines Kind hatte er die Abenteuer von Peter Pan verfolgt und sich gewünscht, genauso fliegen zu können. Und als vor vier Monaten in der Schule bekannt gegeben worden war, dass die Theatergruppe einen Hauptdarsteller suchte, hatte er sich sofort für die Rolle beworben – obwohl er sich bereits für andere Dinge interessierte. Aber dennoch wollte er einmal der Junge sein, der Captain Hook das Leben schwer machte.
Sein schärfster Konkurrent beim Vorsprechen war Tom Richmond gewesen, der bis jetzt jedes Jahr eine Hauptrolle in einem Stück ergattert hatte. An dem Tag, an dem verkündet worden war, wer welchen Part übernehmen wollte, hatte er sich vor allen gebrüstet und behauptet, er wäre garantiert der Sieger. Von jeher war er so überheblich gewesen und hatte die Nase ständig viel zu weit nach oben gehalten. Und nur, weil sein Vater einer der reichsten Männer von Washington war.
Ein paar Minuten später war er jedoch auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden, als Miss Anders – die Regisseurin – bekannt gegeben hatte, wer die Hauptrolle übernehmen würde. Und zu seiner größten Verblüffung war die Wahl auf Chris gefallen. Tom hatte kurz darauf einen Wutanfall bekommen, war rot angelaufen und zur Tür rausgestürmt, die er so heftig zugeschlagen hatte, dass das Krachen bis in die erste Etage gehört wurde. Natürlich hatte sein Dad versucht, die Professorin zu überreden, aber sie hatte stur gemeint, Chris wäre die idealere Besetzung und war von ihrem Standpunkt nicht mehr abgewichen. So kam es, dass er nun auf der Bühne stand, anstatt des hochnäsigen Bengels, der ihn in den letzten Tagen ständig wütend angefaucht und keinen Hehl daraus gemacht hatte, was er von ihm hielt. Aber jetzt dachte er nicht an Tom und seine ärgerlichen Blicke, sondern konzentrierte sich auf seinen Text. Ohne zu stocken oder einen einzigen Fehler zu machen, sprach er Wort für Wort und versetzte sich in die Figur hinein, versuchte die richtigen Gefühle zu empfinden und sie den Zuschauern zu präsentieren.
Der Scheinwerfer schwenkte von ihm weg und drehte eine kurze Runde über das Publikum, um schließlich wieder zu Chris zurückzukehren. Charlize Hauser, die Wendy spielte, kam auf die Bühne und stahl ihm für eine Minuten die Show. Jeder konzentrierte sich nur auf sie und so hatte er die Möglichkeit, seinen Blick über die Zuseher wandern zu lassen. Reihe für Reihe klapperte er ab, aber die beiden Personen, die er suchte, waren nirgendwo zu sehen. Obwohl er bereits damit gerechnet hatte, dass seine Eltern nicht erscheinen würden, versetzte es ihm einen Stich ins Herz. Sein Vater hatte bereits vor Wochen gesagt, dass er einen wichtigen Termin in der Stadt hatte und seine Mutter hatte gestern nicht gewusst, ob sie sich rechtzeitig vom Gericht losreißen konnte.
Ein großer Kloß bildete sich in seinem Hals, als er erkannte, dass von seinen Freunden sogar einige Onkeln und Tanten erschienen waren. Von jedem, der heute Abend auf der Bühne stand, war die Familie anwesend, nur von ihm nicht. Enttäuscht suchte Chris erneut die Reihen ab und schließlich entdeckte er zwei Menschen im Publikum und deren Anblick schaffte es, seine Traurigkeit ein wenig zu lindern. Lucille saß in der vierten Reihe und verfolgte das ganze Geschehen. Ihre langen schwarzen Locken hatte sie zu einem dicken Zopf zusammengebunden und das schlichte Frühlingskleid passte hervorragend zu ihrem dunklen Teint. Sie war Mitte Dreißig, aber äußerlich wirkte sie wie zwanzig. Ihre Augen strahlten Tag für Tag vor Fröhlichkeit und sie war für jeden Spaß zu haben. Für die beiden Brüder war sie mehr als nur ihr Kindermädchen. Lucille war ihre Freundin, ihre Aufpasserin und Spielkameradin.
Links neben ihr saß Tony, leicht vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie abgestützt und verfolgte gespannt das Geschehen auf der Bühne. Chris wusste, er hatte sich nie sonderlich für Peter Pan interessiert, aber dennoch hatte er ihm geholfen, seinen Text zu lernen, hatte sogar ab und zu mit ihm geprobt. Seit dem Vorfall vor drei Jahren kurz nach Weihnachten hatte Anthony das Gefühl, etwas gut machen zu müssen, auch wenn sein Bruder ständig behauptete, er brauche sich keine Vorwürfe zu machen. Beiden war nur allzu bewusst, dass damals alles anders ausgehen hätte können, wäre nicht zufällig der Jäger vorbeigekommen. Das Ereignis lag über ihnen wie ein drohender Schatten und sie versuchten, es so gut wie möglich zu ignorieren.
Tony, der zu spüren schien, dass ihn sein Bruder direkt ansah, zwinkerte ihm zu, hob beide Daumen in die Höhe und grinste breit. Chris lächelte kurz zurück, konzentrierte sich aber schließlich wieder auf seine Rolle, um seinen Einsatz nicht zu verpassen. Nicht mehr lange, dann käme der Kampf mit Captain Hook, in dessen Verlauf dieser von seinem Schiff stürzen würde und von dem Krokodil, in dessen Inneren beständig eine Uhr tickte, gefressen wurde.
In dem Bewusstsein, dass doch Mitglieder seiner Familie – er sah auch Lucille als solches an – gekommen waren, um ihn auf der Bühne stehen zu sehen, bemühte er sich noch mehr, seine Rolle zu spielen. Die leichte Nervosität, die ihn während des gesamten Stückes begleitet hatte, verpuffte und plötzlich hatte er das Gefühl, nichts anderes in seinem Leben getan zu haben. Bis zum Ende waren es noch 15 Minuten und in denen stellte er seine Mitspieler in den Schatten. Als sich der Vorhang schließlich senkte und Chris den Blick auf das Publikum verwehrte, brandete lauter Applaus auf. Überglücklich darüber, dass alles so super gelaufen war, hatte er ein Dauergrinsen im Gesicht. Sämtliche Schüler umarmten sich und in diesem Moment war es egal, dass alle unterschiedlich alt waren. Hinter der Bühne waren sie jetzt gleich gestellt und genossen gemeinsam den Beifall.
Kurz darauf fassten sie sich alle an den Händen und der Vorhang hob sich noch ein letztes Mal. Synchron verbeugten sie sich, bedankten sich für den Applaus, winkten Eltern und Freunden kurz zu, um sich dann auf den Weg zu den Umkleideräumen zu machen.
War es vorher ruhig gewesen, so konnte man nun überall laute Stimmen und aufgeregtes Gemurmel hören. Miss Anders war ganz aus dem Häuschen und lief mit einem strahlendem Gesicht herum, und dass, obwohl sie normalerweise aussah, als ob sie in eine besonders saure Zitrone gebissen hätte.
Chris sah sich noch einmal auf der Bühne um – der Vorhang war wieder heruntergelassen worden – betrachtete versonnen die Kulissen und ließ die vergangene Stunde Revue passieren. Deshalb war er auch der Letzte, der die Stufen zu den Kabinen hinunter stieg. In dem Gang war es ruhig, alle waren hinter den Türen verschwunden, um sich umzuziehen. Es war ein wenig düster und die gedämpften Stimmen, die von den Personen, die sich noch immer in dem Zuschauerraum aufhielten, hallten von den Wänden wider. Aber davon ließ er sich nicht stören. Gut gelaunt eilte er auf die Tür zu, hinter der sich die Umkleide für die Jungen befand – allerdings kam er nur drei Meter weit. Plötzlich und ohne Vorwarnung erhielt er von hinten einen heftigen Stoß. Durch die Wucht verlor er das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Reflexartig versuchte er den Fall mit seinen Händen abzufangen, aber es nützte nichts. Chris knallte auf die kühlen Fliesen und blieb leicht benommen mit dem Bauch voran liegen. Vor seinen Augen tanzten für eine Sekunde bunte Sternchen, die sich aber wieder in Luft auflösten. Seine Hände, mit denen er sich abstützen hatte wollen, schmerzten ein wenig, aber ansonsten konnte er von Glück sagen, dass ihm nicht mehr passiert war.
Hinter ihm erklang ein gemeines Lachen und er erkannte sofort, wer das war, wer verantwortlich dafür war, dass er hier auf dem Boden lag. Langsam drehte er sich auf den Rücken, setzte sich auf und blickte zu Tom hoch, der über ihm stand und ihn feixend angrinste. Dieser sah ihn aus seinen blauen Augen kalt an und die dunklen Haare schienen ihm vom Kopf abzustehen. Sein Körper zeigte erste Anzeichen von Übergewicht und sein Gesicht war ein wenig rundlich. Er hatte seine Arme demonstrativ vor der Brust verschränkt, um ihm zu zeigen, wer der Stärkere war. „Na, bist du über deine eigenen Füße gestolpert?" fragte er hämisch und beugte sich zu Chris hinunter. „Schon dämlich, wenn man zu blöd ist, um zu gehen." Dem Angesprochenen schoss die Schamesröte ins Gesicht und er ballte unwillkürlich seine Hände zu Fäusten. Er wusste, er könnte einfach um Hilfe rufen, aber er wollte keinem zeigen, dass er sich nicht alleine gegen Tom wehren konnte. Oh nein, er würde sicher nicht wie ein kleines Mädchen anfangen zu schreien.
„Na, was ist los. Hat es dir die Sprache verschlagen, du halbe Portion?" fagte der andere, packte ihn am Kragen seines Kostüms und schüttelte ihn heftig. „Du machst dir doch nicht etwa in die Hose? Vor kurzem bist du noch über die Bühne stolziert, hast so getan, als ob du ein Held wärst, aber in Wirklichkeit bist du nur ein kleiner Feigling. Und so etwas hat mir die Show gestohlen." Er schüttelte Chris immer weiter, der vergeblich versuchte, sich aus dem Griff zu befreien.
„Hey!" erklang plötzlich hinter ihnen eine Stimme. „Nimm deine dreckigen Finger von meinem Bruder." Tom erstarrte mitten in der Bewegung und drehte sich langsam um, wobei er sein Opfer noch immer fest hielt. „Da haben wir ja die zweite halbe Portion", meinte er und grinste breit. Tony, der zwar um einen halben Kopf kleiner war als der andere, ließ sich das nicht gefallen. Er wusste nur zu gut, wer da vor ihm stand – oder besser gesagt, hockte. Der Ruf des Jungen war an der Schule weithin bekannt, aber nie konnte man ihm etwas nachweisen. Die Schüler, auf die er es abgesehen hatte, trauten sich nicht zu verraten, wer sie quälte und schwiegen. Bis jetzt waren die DiNozzo Brüder von ihm verschont geblieben, aber seit Chris die Hauptrolle in dem Stück ergattert hatte, hatte er seine Wut geschürt, um sie am heutigen Tag auszulassen. Und dass er jetzt alle beide in die Finger bekam, freute ihn umso mehr. Zu lange hatte er in ihrem Schatten gestanden, da sie viel beliebter waren, selbst bei den Mädchen, die ihre grünen Augen anhimmelten. Dabei war er es, der viel mehr Geld besaß und sich kaufen konnte, was er wollte.
Ohne zu zögern lief Tony auf die beiden zu und zerrte Tom am Kragen seines weißen Hemdes in die Höhe. Dieser war so perplex, dass er Chris losließ. Er hatte angenommen, der Kleinere würde nur harmlose Drohungen ausstoßen und sich breitbeinig aufstellen, um besonders furchterregend aussehen zu wollen. „Nenn mich nicht halbe Portion", herrschte ihn Anthony an und stieß ihn von sich, sodass er gegen die Wand prallte. „Und lass meinen Bruder in Ruhe!" Erneut packte er ihn am Kragen und hob drohend seine Faust. Er musste zwar zu dem anderen aufblicken, aber das war ihm egal. Tom war noch immer sprachlos darüber, dass sich jemand gegen ihn zur Wehr setzte. Das schrie förmlich nach Rache. Er hob bereits ein Bein, um damit kräftig gegen das Schienbein des anderen zu treten. Chris allerdings hatte das mitbekommen und schrie sofort: „Pass auf!" Tony reagierte blitzschnell, sprang zur Seite und sein Kontrahent trat daneben. Sein eigener Schwung brachte ihn aus dem Gleichgewicht und da er nicht mehr länger festgehalten wurde, taumelte er nach vorne. Allerdings erholte er sich innerhalb von wenigen Sekunden und wollte auf Anthony losgehen, als ihn dessen Faust hart im Magen traf und er einknickte. Laut keuchend krachte er mit den Knien auf dem Boden und versuchte Luft in seine Lungen zu pumpen.
Chris rappelte sich auf und starrte auf Tom, der wie ein kleines Kind auf dem Boden lag und wimmerte. In diesem Moment hatte er überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit dem großspurigen Jungen. „Alles klar?" wurde er von seinem Bruder gefragt und er nickte. „Klar." Die Zwillinge grinsten sich an, aber gleich darauf gefror es beiden auf den Gesichtern, als Miss Anders auftauchte. Ihr strahlender Gesichtsausdruck verschwand rasend schnell und diesmal sah sie aus, als ob sie in hundert saure Zitronen gebissen hätte. Ihre Augen funkelten zornig und beiden war sofort bewusst, dass sie jetzt mächtigen Ärger bekommen würden. Aber das Tom Richmond keuchend am Boden lag, machte jede Strafe allemal wett.


„Tony?" Eine Hand wurde Chris auf die Schulter gelegt und riss ihn somit aus seinen Erinnerungen. Noch immer starrte er das Bild auf dem Boden, das einen Jungen im Peter Pan Kostüm zeigte, an. Auch er hatte diese Rolle gespielt, vor zig Jahren. Er hatte schon ewig nicht mehr an diesen Abend gedacht, aber jetzt, wo er das Foto gesehen hatte, kam alles wieder hoch. Das Glücksgefühl, als ihm alle applaudiert hatten, die Freude, die er empfunden hatte, als er Lucille und seinen Bruder im Publikum entdeckt hatte, die Scham, als ihn Tom Richmond zu Fall gebracht hatte und dann die Gehässigkeit, als dieser wimmernd auf der Erde gelegen hatte – geschlagen von Tony. Unwillkürlich bildete sich auf seinen Lippen ein Grinsen, als er daran dachte. Genau wie vorhergesagt hatte sein Bruder wegen der Sache Schwierigkeiten bekommen. Da es keine Zeugen für den Streit gegeben hatte, hatte Tom behauptet, Anthony hätte ihn ohne Grund geschlagen. Natürlich hatte Chris versucht, es richtig zustellen und seinem Bruder zu Hilfe zu kommen, allerdings war dabei nicht viel herausgekommen. Egal ob mit oder ohne Grund, eine Schlägerei wurde an der Schule nicht geduldet, egal wie sehr der eine von dem anderen provoziert worden war. Miss Anders hatte ohne Umschweife den Direktor informiert, der mehr als erbost gewesen war. Dieser hatte natürlich sofort die Eltern verständigt und noch am selben Abend ein Gespräch mit ihnen geführt. Mister Richmond war außer sich gewesen, dass sein Sohn geschlagen worden war und wollte den Worten des Schulleiters keinen Glauben schenken, dass ihm Grunde sein Sprössling angefangen hatte. Er hatte Tom in Schutz genommen und war mit ihm nach Hause gefahren, nicht ohne vorher zu drohen, dass das Ganze noch ein Nachspiel haben würde.
Tony wurde für die nächsten zwei Wochen zum Nachsitzen verdonnert und musste zusätzliche Hausaufgaben erledigen, was für ihn nicht sehr angenehm gewesen war. Immerhin war er mehr draußen unterwegs als für die Schule zu lernen. Aber Chris, der sich die Schuld an allem gab, hatte ihm da durch geholfen und jedes Mal, wenn ihre Eltern nicht daheim gewesen waren, hatte er einen Teil der Aufgaben gelöst.
Sonst hatte sein Bruder keine Strafe erhalten, nicht einmal Hausarrest. Mister DiNozzo hatte gemeint, Tom hätte es schon lange verdient, dass ihm jemand eine Abreibung verpasste. Er hatte seinen Sohn anerkennend auf die Schulter geschlagen, zu Chris gemeint, er solle sich das nächste Mal gefälligst nicht so überrumpeln lassen und war dann wieder zu der Tagesordnung übergegangen.
In der Schule war die kleine Schlägerei natürlich in aller Munde gewesen und jeder hatte Tony hoch gelobt, der gemeint hatte, ohne seinen Bruder hätte er das nie geschafft. Tom war die nächsten Wochen mit gesenktem Kopf durch die Gänge geschlichen und hatte jeden angefaucht, der ihn auch nur angesprochen hatte. Mister Richmond hatte seine Drohung nie wahr gemacht und irgendwann war der ganze Vorfall immer mehr in Vergessenheit geraten.
Aber am heutigen Tag kam er wieder an die Oberfläche und erinnerte Chris daran, wie super er sich mit Anthony verstanden hatte. Damals hatten sie wie Pech und Schwefel zusammengehalten, ungeachtet dessen, dass er von seinen Eltern vernachlässigt worden war. Aber je älter sie geworden waren, desto mehr hatten sie sich auseinander gelebt. Sie hatten verschiedene Richtungen eingeschlagen und dann, im Alter von 17, hatte er schließlich den Grund erfahren, weshalb er nicht genauso wie Tony behandelt worden war. Und am selben Tag hatte sein Bruder etwas getan, was ihm vor Augen geführt hatte, dass er eigentlich nicht besser war als alle anderen. Die Wut, die er damals verspürt hatte, kam erneut in ihm hoch und er ballte unwillkürlich seine Hände zu Fäusten.
„Hey, ist mit dir alles in Ordnung?" riss ihn Ziva aus seinen Gedanken und erst jetzt realisierte Chris, dass er sich noch immer am Schauplatz eines Verbrechens befand. „Sicher", sagte er unbeschwert. „Ich war nur kurz in Gedanken. Das Bild hier hat mich an meine Kindheit erinnert. Damals bin ich selbst einmal auf der Bühne gestanden." Von sich selbst überrascht, hielt er inne. Er hatte gar nicht darüber reden wollen, aber irgendwie waren ihm die Worte einfach über die Lippen gekommen.
Ziva hob amüsiert ihre Augenbrauen. „Du hast als Kind Theater gespielt?" „Ja, aber nur einmal. Irgendwie war das dann doch nichts für mich." „Das kann ich mir durchaus vorstellen." Sie hielt inne und grinste breit. „So viel lesen zu müssen und dann auch noch auswendig lernen, war sicher nicht dein Fall, oder?" Chris zuckte nur mit den Schultern und schwieg. Irgendwie fand er es amüsant, dass Tony anscheinend nicht mehr gerne las, obwohl er in seiner Kindheit öfters Bücher richtig verschlungen hatte. Vielleicht hätte er ihm in seinem Gefängnis nicht so viel zu lesen da lassen sollen. In seinem Haus standen reihenweise DVDs herum. Nun, eventuell sollte er ihm vielleicht ein paar seiner Filme mitnehmen und Magnum, denn mit dieser Serie konnte er einfach nichts anfangen – irgendwie fand er sie total langweilig.
Aber bevor er seinem Bruder am Abend einen Besuch abstatten würde, musste er vorher noch einen Tatort untersuchen und wenn möglich, zum ersten Mal in seinem Leben, einen Mörder schnappen.

Fortsetzung folgt...
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