- Text Size +
Etwas außerhalb von Washington
Kurz vor Mittag


Die Zeit war noch nie so zäh verronnen wie jetzt – nicht einmal, wenn mich Gibbs zur Aktenarbeit verdonnert hatte. Wenigstens hatte ich da Ziva und McGee, die ich ärgern konnte, wenn ich kurz davor war, vor Langeweile zu sterben, aber hier, in diesem großen Raum mit den Betonwänden gab es niemanden mit dem ich reden konnte. Und Selbstgespräche führen wollte ich auch nicht, da ich mir dabei mehr als dämlich vorkommen würde.
Erneut hatte ich versucht, die Tür aufzubekommen und hatte aber schließlich einsehen müssen, dass es sinnlos war. Sie war fest verschlossen und rührte sich keinen Millimeter. Ich hatte das gesamte Zimmer auf den Kopf gestellt, in der Hoffnung, ein Stück Draht oder etwas Ähnliches zu finden, mit dem ich das Schloss knacken konnte, hatte aber feststellen müssen, dass Chris darauf geachtet hatte, mir keine Hilfsmittel dazulassen, mit denen ich ausbrechen hätte können. Nicht einmal im Bad hatte ich einen Gegenstand gefunden. Allerdings musste ich zugeben, dass ich im ersten Moment fast sprachlos gewesen war, als ich den Raum gesehen hatte. Die Betonwände waren mit einer hellgelben Farbe gestrichen worden, was ihnen ihre Trostlosigkeit nahm - zusätzlich wurde das Bad von einer Lampe an der Decke hell beleuchtet. In der rechten hinteren Ecke befand sich eine Duschkabine, die ziemlich neu aussah und aus bruchsicherem Glas bestand, jedenfalls wurde das auf einem kleinen Aufkleber unten links erwähnt. Gegenüber der Tür war ein Waschbecken an der Wand befestigt worden, das sauber in dem hellen Licht der Lampe glänzte. Oberhalb davon hing ein Spiegel und ich hatte mit der Idee gespielt, ihn zu zerbrechen, es dann aber doch unterlassen, da ich mit den Scherben die Tür sicher nicht aufbekommen hätte. Und wer weiß, vielleicht hätte ich mir dadurch auch noch sieben Jahre Pech eingehandelt – obwohl, wenn ich es mir recht überlegte, hatte mich im Moment das Glück sowieso verlassen.
Gegenüber der Dusche stand ein Schrank aus hellem Holz, in dem feinsäuberlich Handtücher, Duschgel, Shampoo, Seife, Rasierapparat und verschiedene Kleidungsstücke verstaut waren – alles Sachen von mir zu Hause, wie ich nach einem kurzen Blick festgestellt hatte. Neben dem Waschbecken befand sich noch die Toilette, die ebenfalls neu aussah. Chris hatte sich anscheinend Mühe gegeben, mir meinen unfreiwilligen Aufenthalt an diesem Ort möglichst komfortabel zu machen. Er hätte mich auch in ein finsteres feuchtes Kellerloch stecken können, aber stattdessen hatte er eine kleine Wohnung eingerichtet, auch wenn die Fenster fehlten - und wäre die Tür nicht abgesperrt gewesen, hätte ich mich durchaus wohl fühlen können.
Seit fast zwei Stunden saß ich nun auf dem erstaunlicherweise bequemen Sofa und starrte etwas geistesabwesend auf den Fernseher. In meiner rechten Hand hielt ich einen Keks, an dem ich etwas lustlos herumkaute. Wie Chris gesagt hatte, hatte er mir in der Kommode ein paar Snacks dagelassen – allerdings nichts, was wirklich nahrhaft war. Es waren ein paar Energieriegel, zwei Packungen Kekse – mit Schokostückchen, wie ich sie in meiner Kindheit gerne gegessen hatte – Knabbergebäck und ein paar Äpfel, damit die Kost nicht ganz ohne Vitamine war, darunter. Allerdings hatte ich jetzt viel mehr Lust auf einen großen Hamburger mit Pommes oder eine Pizza mit extra viel Käse. Alleine bei dem Gedanken daran knurrte mein Magen laut, obwohl ich gerade eine halbe Packung Kekse verdrückt hatte. Mit meiner freien Hand rieb ich mir über den Bauch, in der Hoffnung, den Störenfried zum Schweigen zu bringen und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher. Die langweilige Talkshow, die kurz vorher über den Bildschirm geflimmert war und in der sich die verschiedensten Frauen öfter als einmal unflätige Worte an den Kopf geworfen hatten, verschwand und machte einem jungen Mann Platz, der verkündete, dass es 12 Uhr und somit Zeit für die Mittagsnachrichten war. Mittag – die Stunde, in der ich normalerweise anfing die anderen mit meinem Hunger zu nerven und McGee losschickte, um mir etwas zu Essen zu besorgen. Falls ich hier rauskommen sollte – lebend versteht sich – dann würde ich Bambino einmal einen Burger oder etwas vom Chinesen bringen, genauso wie meinen anderen Kollegen. Erst jetzt, wo ich hier in diesem Raum eingesperrt war, wurde mir bewusst, was ich an ihnen gehabt hatte und was ich dabei war, zu verlieren. Gibbs, der oftmals schlechtgelaunte Chefermittler, der keine Gelegenheit ausließ, um mir eine Kopfnuss zu verpassen und meinen Tisch mit Akten anzufüllen, wenn wir gerade keinen Fall zu bearbeiten hatten. Ziva, die noch nicht lange beim NCIS war, sich aber hervorragend in das Team integriert und sogar ihre anfänglichen Streitereien mit Abby überwunden hatte. Unsere kleinen Auseinandersetzungen brachten jedes Mal eine wunderbare Abwechslung in den Alltag, auch wenn wir damit Jethro mehr als einmal auf die Palme brachten. McGee, den ich noch immer Bambino nannte, obwohl er jetzt nicht mehr der Frischling war. Seit er zu uns ins Team gekommen war, hatte er immer mehr sein Selbstbewusstsein gesteigert und wurde nicht gleich verlegen, wenn ihn Gibbs wütend anfunkelte oder ich ihm einen Streich spielte. Er hatte definitiv seine Schüchternheit abgelegt und setzte sich nun auch mir entgegen, wenn ich ihn mit irgendetwas aufzog. Mittlerweile war er ein unverkennbar guter Ermittler und ich musste zugeben, dass ich ihn sehr gerne hatte. Aber egal wie erwachsen er mit jedem Tag wurde, für mich würde er immer Bambino bleiben.
Ducky und Palmer, das Duo der Pathologie. Beide harmonierten hervorragend miteinander und ich vermisste die langen Geschichten des älteren Mannes. Sie würden mir vor allem hier, in dieser Einsamkeit, eine willkommene Abwechslung sein. Falls mich Chris wirklich gehen lassen sollte oder meine Kollegen sein falsches Spiel durchschauen würden, nahm ich mir vor, mir eine seiner Geschichten zu Ende anzuhören, auch wenn es den ganzen Tag dauern sollte.
Und dann war da noch Abby, die junge, leicht verrückte Goth, die mich jedes Mal mit ihrer Fröhlichkeit ansteckte. Sie war wie ein Wirbelwind, der durch das Labor fegte und auch noch den kleinsten Hinweis fand, der dazu führte, einen Mörder zu schnappen. In den Jahren hatte sich zwischen uns beiden eine tiefe Freundschaft entwickelt und ich merkte, dass ich sie am meisten von allen vermisste. Ich würde jetzt sogar liebend gerne einen ihrer manchmal mehr als unverständlichen Vorträge über Computer hören, während sie in ihren geheiligten Hallen auf und ab lief, wobei ihre Rattenschwänze lustige Tänze aufführten. Bei diesem Gedanken bildete sich auf meinen Lippen ein breites Lächeln, das mir aber gleich darauf auf dem Gesicht gefror. Ich verschluckte mich an dem Keks, den ich mir doch noch komplett in den Mund geschoben hatte und versuchte, nicht zu ersticken. Während ich an einem Hustenanfall litt, schnappte ich mir die Fernbedienung und drehte den Ton lauter, um ja kein Wort zu verpassen. Auf dem Bildschirm war eine junge Frau mit langen lockigen blonden Haaren zu sehen, deren blaue Augen mit der Kamera zu flirten schienen. Unter dem grauen Kostüm zeichnete sich unübersehbar eine wunderbare Figur ab, aber es war nicht die Reporterin, auf die ich mich konzentrierte, sondern auf das Geschehen hinter ihr. Ihre sanfte Stimme drang an meine Ohren und fütterte mein Gehirn mit Informationen. Sie sprach von einem Mord, der anscheinend heute Morgen am Navystützpunkt in Quantico geschehen war. Hinter ihr konnte man einige Soldaten sehen, die dabei waren, die neugierige Reportermeute von dem Schranken, der das Gelände absperrte, wegzubringen. Allerdings blieb dieser Schranken nicht lange unten, als sich der mir nur allzu bekannte Truck des NCIS näherte, der dabei war, den Stützpunkt zu verlassen. Die Kamera, die vorher auf die Reporterin gerichtet gewesen war, vollführte einen Schwenk und machte eine Großaufnahme des Fahrzeuges. Für eine Sekunde konnte man einen Blick in das Innere werfen und ich sah deutlich mein eigenes Antlitz, nur dass es Chris war, der auf dem Beifahrersitz saß. Neben ihm war Ziva und Gibbs befand sich hinter dem Steuer. Wut stieg in mir auf und ich drückte meine rechte Hand so fest zusammen, dass das Plastikgehäuse der Fernbedienung, die ich immer noch hielt, leise knackte.
„Verdammt, wieso merkt ihr denn nichts?" fragte ich laut und am liebsten wäre ich in den Bildschirm hineingekrochen, um sie alle bei den Schultern zu rütteln, damit sie endlich aufwachten. Die Verzweiflung, die ich in den letzten Stunden erfolgreich verdrängt hatte, drohte erneut mich zu überschwemmen. Ich verfolgte, wie die Kamera an dem Truck dranblieb, der jetzt mit schnellem Tempo das Gelände verließ und ich konnte förmlich das Quietschen der Reifen hören. Die junge Frau kam wieder ins Bild und wiederholte ihre Worte von vorhin noch einmal, dass es sich anscheinend um einen äußerst brutalen Mord an einem Commander handelt, wie sie aus einer zuverlässigen Quelle, die anonym bleiben möchte, erfahren hatte.
Ich ließ mich kraftlos in das Sofa zurücksinken und widerstand dem Drang, die Fernbedienung gegen eine der Betonmauern zu werfen. Plötzlich hatte ich das fast unstillbare Bedürfnis, auf etwas einzuschlagen, so lange, bis der Gegenstand kaputt war oder meine Knöchel blutig waren. Chris hatte es anscheinend wirklich geschafft, die anderen davon zu überzeugen, dass sie weiterhin mit Anthony DiNozzo zusammenarbeiteten. Ich wusste, er war ein hervorragender Schauspieler, aber ich hätte es nie für möglich gehalten, dass er alle derart überzeugen konnte.
‚Hast du denn wirklich etwas anderes erwartet?' sagte eine Stimme in meinem Kopf. ‚Er ist immerhin dein Bruder. Ihr stammt von derselben Eizelle ab und seid ihm selben Bauch gewachsen.' Ja, wir waren zusammen aufgewachsen, hatten jede Menge Spaß gehabt, auch wenn Chris es nicht so leicht gehabt hatte wie ich und wir waren beinahe unzertrennlich gewesen. Jedenfalls bis zu dem einen Freitag, der alles verändert hatte. Noch immer sah ich seinen verständnislosen Blick vor mir, die weit aufgerissenen Augen und dann sein vor Wut verzerrtes Gesicht.
Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen aus meinem Gehirn zu verbannen und konzentrierte mich wieder auf den Fernseher, was mir aber nicht so recht gelang. Die Blondine hatte dem Moderator im Studio wieder Platz gemacht, der nun die aktuellen Börsenberichte verlas.
Auch wenn es mir Chris in meinem Gefängnis gemütlich machte, so war er doch noch immer unübersehbar wütend auf mich. Dabei hätte ich damals sofort alles aufklären können, hätte er mir nur eine Minute zugehört. Aber er hatte abgeblockt und hatte mich sogar geschlagen, wodurch ich gelernt hatte, dass seine Faust ziemlich hart war. Aber der Schmerz war nichts im Vergleich zu der Erkenntnis gewesen, dass ich meinen Bruder verloren hatte.
In meinem Hals bildete sich ein Kloß und plötzlich fühlten sich meine Augen verräterisch feucht an. Ich fuhr mir mit einer Hand über das Gesicht, atmete tief durch und nach einer unendlich langen Minute erlangte ich meine Selbstbeherrschung wieder. Die Nachrichten waren einer weiteren langweiligen Talkshow gewichen, die sich mit dem Thema Familienstreitigkeiten befasste. „Wie passend", murmelte ich sarkastisch und begann weiterzuzappen. Obwohl ich zahlreiche Kanäle zur Auswahl hatte, fand ich keinen Spielfilm, der mich wirklich interessierte und so beschloss ich Chris zu fragen, ob er mir nicht wenigstens meine DVDs bringen könnte. Denn das er mich besuchen würde, dass stand alle mal fest. Ich konnte mir richtig vorstellen, dass er mir seinen Triumph, dass sein Plan erfolgreich verlief, nicht vorenthalten würde. Und vielleicht konnte ich seine gute Laune ausnützen, um ein paar Vorteile herauszuschlagen – oder abzuhauen, fügte ich in Gedanken hinzu und nahm mir einen weiteren Keks. Und an diesem Nachmittag wünschte ich mir zum ersten Mal einen riesigen Stapel Akten, den ich bearbeiten konnte. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemals die langweilige Schreibtischarbeit vermissen würde – aber selbst ein Anthony DiNozzo konnte sich einmal irren.

Fortsetzung folgt...
You must login (register) to review.