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Washington D.C.
Navystützpunkt Quantico
Zwei Stunden vorher


Mit großen Schritten ging Gibbs den mit einem dicken blauen Teppich ausgelegten Flur entlang. Die Wände waren in einem nüchternen Weiß gestrichen, jedoch waren in regelmäßigen Abständen Bilder aufgehängt worden, die verschiedenste Motive zeigten und somit für ein wenig Farbe sorgten. Zwischen Fotografien von Sehenswürdigkeiten gab es Kinderzeichnungen und Schnappschüsse der Familie – eine Familie, die es in dieser Form nie wieder geben wird, dafür hatte jemand gesorgt. Commander Brandon Emmerson lag erschlagen im Wohnzimmer und wartete nun darauf, von Ducky in die Pathologie gebracht und aufgeschnitten zu werden, um vielleicht einen Hinweis auf seinen Mörder zu finden.
Jethro eilte an den Bildern vorbei und steuerte auf eine Tür am Ende des Flures zu, die offen stand und ein wenig Licht in den sonst düsteren Flur ließ. Anstatt in einem nüchternen Weiß gehalten, war auf die Wände des Schlafzimmers eine geblümte Tapete geklebt worden, die den Raum leicht altmodisch wirken ließ. Gegenüber der Tür befand sich ein großes Doppelbett, auf dem eine mit großen roten Rosen verzierte Tagesdecke ausgebreitet war. Rechts an der Mauer stand ein breiter Schrank, in dem sich gut und gerne zwei Erwachsene verstecken hätten können. Links neben der Tür befand sich ein Frisiertisch mit einem Spiegel und zahlreichen Schubladen. Der dazugehörige Stuhl hatte eine dicke Polsterung, sodass man den Eindruck hatte, man würde darin versinken, wenn man sich hineinsetzen würde. Auch dieser Überzug war geblümt. Die linke Wand wurde von einer breiten Fensterfront eingenommen und die weißen Vorhänge, die normalerweise vor allzu neugierigen Blicken schützen sollten, waren zur Seite gezogen worden und ließen das helle Sonnenlicht in den Raum, dessen sämtliche Möbelstücke aus einem dunklen Holz waren und eine etwas bedrückende Atmosphäre verströmten.
Vor den Fenstern stand eine mittelgroße schlanke Frau, die mit einem beigen Rock und einer kurzärmeligen farblich dazupassenden Bluse bekleidet war. Ihre schwarzen Haare fielen ihr locker bis auf die Schultern, wobei sich die Spitzen leicht lockten. Ihre Füße waren nackt und versanken beinahe in dem flauschigen hellen Teppich, der einen starken Kontrast zu der dunklen Einrichtung bildete.
„Mrs. Emmerson?" fragte Gibbs vorsichtig und beobachtete, wie die Angesprochene leicht zusammenzuckte, sich aber schließlich umdrehte und ihren Blick von dem Garten unter ihr losriss. Ihre blauen Augen waren geweitet und von dem vielen Weinen gerötet. Ihr Make-up, das vorher sicher makellos gewesen war, war durch die Tränen verschmiert worden und die Wimperntusche hatte schwarze Flecken auf ihren unnatürlich blassen Wangen hinterlassen. Obwohl sie nicht älter als Mitte vierzig sein konnte, wirkte sie jetzt um mindestens 10 Jahre älter. In ihre Stirn waren tiefe Falten eingegraben, genauso wie um die Augen und Mund. Ihr gesamter Körper war angespannt und sie schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen – was auch kein Wunder war. Immerhin hatte sie ihren Mann vor nicht allzu langer Zeit tot aufgefunden.
„Ich bin Special Agent Gibbs, NCIS", sagte der Chefermittler und zeigte ihr kurz seine Marke, die sie nicht einmal wahrzunehmen schien. „Sind Sie eventuell dazu bereit, mir einige Fragen zu beantworten?" Mrs. Emmerson ballte ihre rechte Hand um das Taschentuch, das sie zwischen den Fingern hielt, starrte ihn für fünf Sekunden geistesabwesend an, nickte aber schließlich. Ihre Bewegungen wirkten abgehakt, als sie zu dem Bett ging zu und sich darauf niederließ. „Bitte nennen Sie mich einfach Valerie", sagte sie mit leiser, aber erstaunlich fester Stimme, die ihn aber nicht über ihren desolaten psychischen Zustand hinwegtäuschen konnte. Jethro ging zu ihr, setzte sich neben sie auf die Matratze und nahm seine Mütze ab. „Ich weiß wie schwer das für Sie ist, Valerie, aber ich muss Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen." Sie putzte sich geräuschvoll ihre Nase, nickte erneut und versuchte gleichzeitig, die grauenhaften Bilder aus ihrem Gehirn zu vertreiben - ihr geliebter Ehemann, der brutal erschlagen unten lag und nie wieder zu ihr zurückkehren würde. Aber noch fühlte sie sich wie betäubt und konnte die Ausmaße des Geschehens nicht erfassen – wollte es nicht einmal.
„Wann genau haben Sie Ihren Mann heute gefunden?" fragte Gibbs behutsam und nahm aus seiner Tasche einen kleinen Notizblock und einen Bleistift.
Mrs. Emmerson überlegte kurz, ging noch einmal in Gedanken durch, was sie heute Morgen alles gemacht hatte. „Ich war mit einer Freundin zum Frühstück verabredet", begann sie und krallte ihre Finger in die Tagesdecke. Während sie sprach, starrte sie mit geweiteten Augen aus dem Fenster in den blauen Himmel. „Tracy und ich treffen uns jeden Dienstagmorgen in einem kleinen Kaffee in Washington, um dort gemeinsam zu frühstücken. Nachher machen wir normalerweise einen Einkaufsbummel, aber sie hatte einen wichtigen Arzttermin und so bin ich wieder nach Hause gefahren. Ich weiß noch, dass es kurz vor dreiviertel neun war, da ich einen kurzen Blick auf die Uhr in meinem Auto geworfen und freudig festgestellt hatte, dass der Dienst von Brandon noch nicht angefangen hat. Ich bin dann sofort hineingegangen und da habe ich… da habe ich…" Valerie brach ab und neue Tränen traten in ihre Augen. „Schon in Ordnung", sagte Gibbs und ließ ihr Zeit, sich wieder zu fassen. Sie atmete tief durch und versuchte die aufsteigende Panik zurückzudrängen. „Alles war zerstört", schluchzte sie. „Die gesamte Wohnzimmereinrichtung und mitten in dem Chaos lag Brandon auf dem Sofa. Überall war Blut, da war so viel Blut!" Mrs. Emmersons Stimme wurde immer schriller und sie begann sich wie ein kleines Kind vor und zurück zu wiegen. Tränen strömten über ihre Wangen, aber sie schien sie gar nicht zu bemerken. Sie war in ihrer eigenen Welt, sah nur die schrecklichen Bilder der vergangenen Stunden vor sich. „Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur dagestanden habe, aber dann bin ich hier nach oben gerannt und habe Hilfe gerufen." Sie deutete auf das Schnurlostelefon, das auf dem Nachttisch lag. „Sie haben nicht versucht, Ihrem Mann zu helfen?" wollte Jethro wissen, was sie zu einem heftigen Kopfschütteln animierte. „Ich habe sofort gewusst, dass er… dass er…" Sie brachte das Wort nicht über ihre Lippen, deshalb zuckte sie mit den Schultern und schwieg.
Der Chefermittler machte sich eine kurze Notiz und blickte anschließend wieder zu der Frau, deren Tränenstrom versiegt war und die jetzt auf ihre zitternden Hände starrte. Ihre Finger zerrissen das Taschentuch in kleine Fetzen, die auf den Boden segelten und dort liegen blieben. „Haben Sie eine Ahnung, wer Ihrem Mann so etwas antun konnte?" Gibbs wusste, es würde nicht mehr lange dauern und er würde Mrs. Emmerson verlieren. Sie hielt sich bis jetzt tapfer, aber mit jeder Minute die verstrich, zeigte sie immer mehr Anzeichen eines nahenden Nervenzusammenbruchs. Vielleicht wäre es besser, einen Krankenwagen zu rufen oder Ducky, der sich dann um die Frau kümmern sollte.
Sie atmete tief ein und sah ihm zum ersten Mal, seit das Gespräch begonnen hatte, direkt in die Augen. „Nein, Agent Gibbs. Brandon war überall beliebt, auch bei seinen Kollegen und er hatte viele Freunde. Es gab fast kein Wochenende, wo wir nicht unterwegs gewesen waren und uns mit Leuten getroffen haben. Außer er hatte Dienst, dann war ich immer bei Tracy. Brandon war ein guter Ehemann und Vater, ja das war er." Sie stockte und ihre Augen weiteten sich noch einmal und sahen jetzt wie riesige blaue Murmeln aus. „Mein Gott." Mrs. Emmerson keuchte und griff sich an ihre Brust, so als ob sie einen Herzanfall erleiden würde. „Ty." „Wer ist Ty?" fragte Gibbs, obwohl er sich die Antwort schon denken konnte. Er sah die Bilder vor sich, die auf dem Flur hingen und einen Jungen in den verschiedenen Stadien des Erwachsenwerdens zeigten. „Tyler, unser Sohn. Er geht aufs College. In San Francisco. Wissen Sie, er wollte unbedingt an die Westküste. Mein Gott, er weiß noch gar nicht, was geschehen ist. Ich muss ihn anrufen, ich muss…" Jethro drückte die völlig aufgelöste Frau wieder auf die Matratze zurück, da sie bereits halb aufgestanden war. „Das können wir übernehmen", sagte er leise und machte sich gedanklich eine Notiz, dass er Ziva damit beauftragen würde. Ihm war nur allzu bewusst, dass sie sich dagegen sträuben würde, aber wenn sie wollte, konnte sie durchaus das nötige Mitgefühl an die Oberfläche holen. Und sie musste eben lernen mit Hinterbliebenen von Mordopfern zu sprechen, auch wenn es ihr nicht gefiel.
Gibbs wusste, dass er zum jetzigen Zeitpunkt nichts mehr aus Valerie herausbringen würde. Ihr schmaler Körper wurde von heftigen Schluchzern erschüttet und sie murmelte immer wieder den Namen ihres Sohnes. Deshalb steckte er den kleinen Notizblock ihn seine Tasche zurück und stand auf, in dem Bestreben, Ducky zu holen, der sich ein wenig um sie kümmern sollte. Obwohl er Pathologe war, wusste er nur allzu gut, wie er mit lebenden Patienten umgehen musste. Immerhin hatte er ihn auch schon einmal wieder zusammengeflickt, nachdem ihm Ex-Frau Nummer zwei mit einem Baseballschläger eines übergezogen hatte.
Der Chefermittler wandte sich zur Tür, in der Chris stand. Dieser hatte die letzten Minuten unbemerkt hier verbracht und hatte dem Gespräch gelauscht. Er war mehr als überrascht gewesen, dass Gibbs eine derart sanfte Seite hatte, hatte er ihn doch als schlechtgelaunten Mann kennen gelernt, der keine sich ihm bietende Möglichkeit ausließ, seine Mitarbeiter böse anzufunkeln. Es war, als ob er komplett verwandelt wäre und deshalb hatte er ihn auch nicht gestört sondern still zugehört. Mrs. Emmerson saß auf dem Bett und wiegte sich hin und her, und flüsterte beständig etwas, das er von seiner Position aus nicht hören konnte. Sie war sichtlich mit den Nerven am Ende, was er ihr nicht einmal verdenken konnte. Ihr Mann war tot, war auf grausamste Art und Weise aus dem Leben gerissen worden. Irgendwie erinnerte sie ihn an seine eigene Mutter. Diese hatte ebenfalls schwarze Haare gehabt, die ihr locker auf die Schultern gefallen waren. Nur selten hatte sie sie hochgesteckt oder zu einem Pferdeschwanz gebunden. Als ihr Vater – sein Großvater, den er über alles geliebt hatte – gestorben war, hatte sie genauso geweint. Chris hatte es damals auch schwer getroffen, den liebenswerten Mann zu verlieren, der ihm mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte, als seine eigene Mutter. Unwillkürlich ballte er seine Hände zu Fäusten und dabei drang leises Rascheln an seine Ohren, was ihn daran erinnerte, weshalb er überhaupt in das Obergeschoss gekommen war. Gibbs kam auf ihn zu, verließ das Schlafzimmer und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt, wodurch es in dem Flur wieder düsterer wurde. „Was gibt es?" fragte er und setzte sich sein Basecap auf. Chris hob den großen Beweismittelbeutel, in dem sich ein Baseballschläger befand. „Das ist die Mordwaffe", antwortete er leise, damit Mrs. Emmerson nicht mitbekam, was er sagte. „Ich habe sie im Wohnzimmer in dem Chaos gefunden. Der Commander wurde eindeutig damit erschlagen." Er deutete auf das Blut - das in dem düsteren Licht noch dunkler wirkte - an dem Holz. „So wie es momentan aussieht, hat der Täter damit auch die Einrichtung zertrümmert." Jethro betrachtete das Beweisstück und auch wenn das Blut darauf noch nicht von Abby untersucht und bestätigt worden war, dass es sich um das von Brandon Emmerson handelte, so sagte ihm sein Instinkt, dass es seines war. „Und da wäre noch etwas", fügte Chris hinzu und eilte dem Chefermittler nach, der sich auf den Weg nach unten machte, um Ducky zu holen. Mitten auf der Treppe blieb er stehen und sah zu DiNozzo hoch, der eine Stufe über ihm Halt machte, um nicht in den anderen hineinzulaufen. „Muss ich dich erst dazu auffordern, mir zu sagen, was ihr noch herausgefunden habt?" fragte er ungeduldig – der sanfte Gibbs von vorhin war wieder verschwunden. „Ähm, nein. Also, McGee hat sich ein wenig in der Küche umgesehen und da gibt es eine Hintertür, die in den Garten hinausführt. Jedenfalls hat er eindeutige Einbruchsspuren gefunden." Leroy hob überrascht seine Augenbrauen. Er war bis jetzt von einem vorsätzlichen Mord ausgegangen, aber die neue Information tauchte den Fall in ein komplett neues Licht. „Einbruchsspuren?" „Ja. Es sieht so aus, als ob das Schloss mit einem Stemmeisen geknackt worden war. Allerdings haben wir das Brecheisen bis jetzt nicht gefunden, was wahrscheinlich bedeutet, der Täter hat es wieder mitgenommen." Gibbs nickte und stieg die restlichen Stufen hinunter. „Also war es Einbruch", sagte er mehr zu sich selbst und betrat das Wohnzimmer, in dem Palmer gerade dabei war, den Reißverschluss des Leichensackes zu schließen. „Und Commander Emmerson hat ihn anscheinend überrascht", fügte Chris hinzu, der dem Chefermittler gefolgt war. „Versuch mit McGee herauszufinden, ob etwas gestohlen wurde. Vielleicht ist Mrs. Emmerson im Stande, uns eine Liste der Wertgegenstände zu geben, die sie besitzen." „Geht klar, Boss", sagte er, verstaute den Baseballschläger in seinem Rucksack und eilte in die Küche, wo seine beiden Kollegen dabei waren, die Tür auf Fingerabdrücke und andere Spuren zu untersuchen. Mittlerweile hatte er sich von dem Schock des grauenhaften Anblicks der Leiche erholt und er musste sich eingestehen, dass ihm die Arbeit als Ermittler durchaus Spaß machte. Es war irgendwie befriedigender, als kleinere Gaunereien über die Bühne zu bringen. Obwohl er selbst keine weiße Weste hatte, so hatte er doch noch nie einen anderen Menschen umgebracht, egal wie sehr er ihn verabscheut hatte. Aber dies war noch lange kein Grund, jemandem das Leben zu nehmen. Und wer so skrupellos gewesen war, einem anderen Mann den Schädel einzuschlagen und damit einer Familie den Vater zu rauben, gehörte ohne Zweifel bestraft. Und Chris würde dabei helfen, diesen Mörder zu identifizieren und ihn hinter Schloss und Riegel zu bringen, damit dem Toten Gerechtigkeit widerfuhr. Mit diesem Ziel vor den Augen stieß er die Küchentür auf, um McGee zu holen, um mit ihm gemeinsam das Haus zu durchsuchen.

Es stellte sich heraus, dass es sich wohl wirklich um einen Einbruch handelte. Nachdem sich Ducky um die völlig aufgelöste Mrs. Emmerson gekümmert hatte, war sie in der Lage gewesen, eine kurze Liste der Wertgegenstände, die sich im Haus befunden hatten, aufzustellen. Zusätzlich hatte sie ihnen verraten, wo sie ihre Schmuckstücke aufbewahrte – allerdings waren sie nirgendwo zu finden. Chris und McGee hatten sicherheitshalber jeden Winkel durchsucht, aber auch in den anderen Räumen gab es keine Spur ihrer teilweise teuren Ketten, Ohrringe, Armreifen und Ringe. Die meisten dieser Sachen waren Erbstücke ihrer Großmutter und daher für Valerie unersetzbar. Aber an diesem Vormittag machte sie sich keinerlei Gedanken darüber, sondern trauerte um ihren Mann, der sich bereits auf dem Weg in die Pathologie des NCIS befand.
Tim hatte ihre beste Freundin Tracy angerufen und sie darüber informiert, was geschehen war. 30 Minuten später – als der Leichnam schon abtransportiert worden war – hatte sie das Haus betreten und hatte angesichts der großen Zerstörung und des vielen Blutes beinahe einen Schock bekommen, hatte sich aber schließlich zusammengerissen, in dem Bewusstsein, dass es eine Person gab, die dringend ihre Hilfe benötigte. So hatte sie der Witwe beim Packen einiger Kleidungsstücke geholfen, da sie nicht weiter hier wohnen wollte – außerdem wollte Gibbs den Tatort noch nicht freigeben. Deshalb würde sie bei Tracy einige Zeit unterkommen, nachdem sie sich strikt geweigert hatte, sich im Krankenhaus durchchecken zu lassen und anschließend in ein Hotel zu ziehen.
Ziva hatte – obwohl sie versucht hatte, sich davor zu drücken – Tyler Emmerson angerufen, der um diese Zeit noch im Bett gelegen und erst nach über einer Minute s richtig realisiert hatte, dass sein Vater ermordet worden war. Sie hatte sich sein Schluchzen und die Vorwürfe angehört, sie würde lügen, aber sie hatte es geschafft, ihn zu überzeugten, dass sie die Wahrheit sagte und seine Mutter nun seine Hilfe benötigen konnte. Schließlich hatte er versprochen mit dem nächsten Flugzeug nach Washington zu kommen. Erleichtert darüber, dieses Gespräch hinter sich gebracht zu haben, hatte Ziva nicht einmal dagegen protestiert, gemeinsam mit Gibbs die Nachbarn zu befragen, ob sie etwas Verdächtiges gehört oder gesehen hatten. Wie nicht anders zu erwarten, war dabei nicht viel herausgekommen. Mary-Ann Judge, die Ehefrau eines Lieutenant hatte um kurz nach sieben Uhr morgens laute Geräusche gehört, sich aber nichts dabei gedacht, da allgemein bekannt war, dass Brandon Emmerson in seiner Garage gerne Möbelstücke zusammengebaut hatte und es deshalb öfters laut gewesen war. Besonders morgens, bevor sein Dienst angefangen hatte, hatte er bevorzugt gebastelt. Deshalb war es ihr nicht verdächtig erschienen, dass es lauter gewesen war. Die anderen Nachbarn hatten angegeben, nichts Auffälliges beobachtet zu haben, obwohl die teilweise gelangweilten Frauen der Navyangestellten gerne ihre Hälse reckten, um nichts zu verpassen, was in der Nachbarschaft vor sich ging.
So kam es, dass die Agents den Tatort verließen, ohne wirklich eine Spur zu haben. Mittlerweile war es Mittag – Mrs. Emmerson war bereits vor einer Stunde mit ihrer Freundin losgefahren und sie war nicht die Einzige, die froh war, diesen Ort des Verbrechens verlassen zu dürfen. Auch Chris war erleichtert, endlich von dem Haus fortzukommen, obwohl ihm bewusst war, dass ihm eine weitere Horrorfahrt à la Gibbs bevorstand. Aber sogar das war ihm lieber, als die Zerstörung und der penetrante Geruch des Blutes, der sich im Wohnzimmer ausgebreitet hatte und seine Sinne quälte. Deshalb atmete er erst einmal tief die warme Luft ein, kaum dass er einen Fuß auf die Straße gesetzt hatte. Die Schaulustigen hatten sich mittlerweile zerstreut, jedoch lugten hin und wieder neugierige Augenpaare hinter Vorhängen hervor, in der Hoffnung, noch etwas Interessanten mitzubekommen.
„Bin ich froh, wenn wir endlich im Hauptquartier sind. Ich sterbe vor Hunger", sagte Chris, verstaute seinen Rucksack im Truck und sah zu, wie McGee die restliche Ausrüstung aus dem Haus schleppte, wobei er ihn in diesem Moment eher an einen Packesel erinnerte als an einen Menschen. Ziva stand neben ihm und machte ebenfalls keine Anstalten, ihrem jungen Kollegen zu helfen. „Wie kannst du jetzt nur an Essen denken?" fragte sie und machte Platz, damit Tim die schweren Koffer in den Laderaum wuchten konnte, wobei er pfeifende Geräusche von sich gab.
„Wieso sollte ich nicht ans Essen denken? In meinem Magen herrscht ein großes Loch", entgegnete er und schlug die Türen zu, nachdem McGee sich zu der Ausrüstung gesellt hatte, die er an der linken Wand aufgereiht hatte, die aber wahrscheinlich schon in der ersten Kurve wild herumfliegen würden.
„Nach diesem Blutbad da drinnen?" Ziva deutete mit ihrer Hand zum Haus, das Gibbs gerade verließ und auf den Truck zueilte. „Mir ist da der Appetit vergangen." „Du scheinst einen schwachen Magen zu haben", sagte Chris und zog wissend seine Augenbrauen in die Höhe. „Ich habe überhaupt keinen schwachen Magen", erwiderte sie bissig und funkelte ihn ärgerlich an, was ihm komischerweise einen heftigen Schauer über den Rücken jagte. Unwillkürlich bildete sich in seinem Hals ein dicker Kloß und seine Handflächen wurden feucht – eine Reaktion, die er nicht kannte und die ihm ein wenig peinlich war. Für einen kurzen Moment hatte er nur diese wunderschönen braunen Augen im Kopf und er ballte seine Hände zu Fäusten, damit er nicht in die Versuchung geriet, sie in der üppigen Haarmähne der jungen Frau zu vergraben.
„Hey!" schrie Gibbs und seine laute Stimme hallte durch die milde Frühlingsluft. Er war wieder ausgestiegen, nachdem er realisiert hatte, dass seine Agents keine Anstalten machten, sich in den Truck zu setzen. Seine schlechte Laune – welche vor allem durch zu wenig Koffeinkonsum verursacht wurde – sank um einen weiteren Grad und wären die beiden in seiner Reichweite, hätte er ihnen eine saftige Kopfnuss verpasst. Heute hatte er einfach keinen Nerv für diese albernen Streitereien, zumal sein Körper nach Kaffee verlangte und er sich sein Grundnahrungsmittel so schnell wie möglich beschaffen wollte. Das Letzte was er folglich brauchen konnte, waren zwei kindische Agents, die nichts Besseres zu tun hatten, als zu versuchen, sich gegenseitig mit verbalen Ausdrücken zu übertreffen.
„Wollt ihr hier Wurzeln schlagen, oder was? Bis ihr euch einmal bequemt einzusteigen, hat Ducky sicher schon die Autopsie beendet!" Chris zuckte zusammen und realisierte erst jetzt, dass sie noch immer beim Tatort waren und nicht irgendwo in einem Park, in dem er sich mit Ziva bei einem Picknick gesehen hatte. ‚Reiß dich zusammen', schimpfte er mit sich selbst und wischte sich die noch immer feuchten Handflächen an seiner Hose ab. ‚Du kennst diese Frau doch erst seit Stunden und nicht seit Tagen.' Er riss seinen Blick von den braunen Augen los, die ihn noch immer anfunkelten, ging nach vorne und öffnete die Beifahrertür. Die junge Agentin folgte ihm, rauschte an ihm vorbei und stieg eilig ein, wobei ihm ihr Duft in seine Nase trat und ihn tief Luft holen ließ.
„Heute noch, DiNozzo!" rief Gibbs laut, der sich erneut hinter das Steuer gesetzt und bereits den Motor angelassen hatte. „Ist der schlecht gelaunt", murmelte er leise vor sich hin und stieg ein. „Das habe ich gehört", kam es prompt vom Chefermittler und ließ ihn erneut zusammenzucken. „Auch wenn meine Augen nicht mehr die besten sind, heißt das noch lange nicht, dass ich taub bin."
Chris blickte schuldbewusst zu dem Älteren, auch wenn er sich keiner Schuld bewusst war. So weit er sich erinnerte, hatte er die Worte gerade laut genug gesagt, dass er sie selbst hören konnte und hätte nie damit gerechnet, dass sie noch jemand anderer wahrnehmen würde – und schon gar nicht Gibbs. Egal was er machte oder akustisch von sich gab, der andere schien es immer mitzubekommen – einerlei ob er in der Nähe war oder nicht. Der Chefermittler war eine Klasse für sich, dass wurde ihm jetzt mehr als bewusst und seine Achtung vor diesem Mann stieg. Er war nicht umsonst Leiter eines Ermittlerteams – ein Team, dessen Mitglieder ihm vertrauten und jeden Befehl ohne zu zögern ausführten. Und auch Chris begann ihm zu vertrauen, obwohl er gerade zurechtgewiesen worden war. Mit Mühe riss er seinen Blick von den eisblauen Augen los und schloss die Tür, damit Jethro keinen weiteren Grund hatte, ihm die Schuld zu geben, dass sie nicht von hier wegkamen.
McGee, der seinen Kopf durch das kleine Fenster – das in der Wand, die die Fahrerkabine vom Laderaum abtrennte, eingelassen war – gesteckt hatte, sah von einem zum anderen. Irgendwie hatte er für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt, dass bei Tony soeben eine Veränderung stattgefunden hatte. Etwas in seiner Körperhaltung hatte sich verändert, auch wenn er jetzt den Eindruck erweckte, als ob nichts geschehen wäre. Aber Tim hatte keine Möglichkeit mehr, länger darüber nachzudenken, da Gibbs unvermittelt auf das Gaspedal trat und er durch die plötzliche Beschleunigung den Halt verlor. Mit einem erschrockenen Aufschrei fiel er nach hinten und landete mit dem Rücken auf dem kühlen Metallboden, wo er leicht benommen liegen blieb.

Fortsetzung folgt...
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