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30 Minuten und ein paar haarsträubende Ausweichmanöver, um nicht mit anderen Fahrzeugen zu kollidieren, später kamen sie endlich in der Tiefgarage des NCIS Hauptquartiers an. Chris hatte bereits aufgehört zu zählen, wie oft er gegen die Beifahrertür gedrückt worden war, wenn Gibbs wieder einmal bei einer Kreuzung, ohne abzubremsen, abgebogen war. An Ziva schien die Fahrt spurlos vorüber gegangen zu sein, aber von McGee war seit einiger Zeit kein einziger Laut mehr zu hören gewesen. Entweder hatte er sich das Genick gebrochen oder er war von einem schweren Koffer bewusstlos geschlagen worden. Allerdings war keines von beidem eingetreten, wie Christopher feststellte, als er die hinteren Türen des Trucks öffnete. Tim lag wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und nur die Tatsache, dass sich sein Brustkorb hob und senkte, zeigte ihm, dass er nicht mausetot war.
„Angenehme Fahrt gehabt, Bambino?" fragte er und schnappte sich seinen Rucksack. Irgendwie gefiel ihm dieser Spitzname und er passte ausgesprochen gut zu dem jungen, etwas pummeligen Agent. Es wunderte ihn gar nicht, dass Tony ihn so nannte, immerhin war es ein italienisches Wort und ihm war klar, dass zwischen den beiden eine Freundschaft herrschen musste, die sie sich wohl nicht eingestanden. Obwohl er selbst Tim nur wenige Stunden kannte, mochte er ihn unerklärlicherweise ein wenig, was ein irritierte. Schon seit langem hatte er nicht mehr dieses Gefühl gehabt, denn die Leute, mit denen er in L.A. seine „Geschäfte" abgewickelt hatte, waren bestenfalls Bekannte gewesen, aber keine Freunde. Die letzten Jahre hatte er nie Freundschaften geschlossen, aus Angst, enttäuscht und hintergangen zu werden, so wie ihn sein Bruder hintergangen hatte.
Chris schüttelte den Kopf, um die Bilder der Vergangenheit loszuwerden und beobachtete, wie McGee – der ihm einen betont ärgerlichen Blick wegen seiner vorherigen Frage zuwarf - aus dem Truck kletterte und sich seinen Rucksack umhängte. Ja, er mochte diesen jungen Mann und der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich diese Chance, endlich neue Freundschaften zu knüpfen, entgehen lassen würde. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen folgte er seinen Kollegen zum Fahrstuhl, der sie innerhalb kürzester Zeit in den dritten Stock beförderte, in dem es trotz der Mittagsstunde hektisch zuging – so als ob die Agents der Bundesbehörde nie eine Pause machen würden. Aber auf ihn würde das sicher nicht zutreffen. Als Chris seinen Rucksack auf den Boden vor dem Schreibtisch fallen ließ, gab sein Magen – obwohl er eine wilde Fahrt hinter sich hatte – ein lautes Knurren von sich und forderte somit sein Recht auf Nahrung ein. Bei dem Gedanken an das Essen, das es bei einem Chinesen nur eine Querstraße weiter gab, lief ihm das Wasser im Mund zusammen und anstatt sich auf seinen Stuhl zu setzen – wie es die anderen getan hatten – wollte er wieder in Richtung Fahrstuhl gehen, aber die Stimme von Gibbs ließ ihn inne halten. „Wo willst du hin, DiNozzo?" Chris drehte sich um und sah zu dem Agent, der bei seinem Schreibtisch saß und ihn mit zusammengekniffenen Augen musterte. ‚Kein gutes Zeichen', schoss es ihm durch den Kopf und gegen seinen Willen kam er sich ganz klein vor. Wieso hatte er in der Gegenwart des Chefermittlers ständig das Gefühl, etwas verbrochen zu haben? Wieso kam er sich wie ein unartiger Schüler vor, der beim Schummeln erwischt worden war?
„Ich wollte mir etwas zu Essen holen, da es bereits nach Mittag ist und ich Hunger habe", sagte er mit fester Stimme. Tief in seinem Inneren wusste er bereits, wie die Worte des anderen lauten würden – und er sollte sich nicht täuschen. „Wir haben einen Fall zu lösen", erwiderte Jethro und unterdrückte ein Lächeln, als er das enttäuschte Gesicht seines Agents sah. „Irgendwo dort draußen rennt frei ein Mörder herum und den will ich so schnell wie möglich hinter Gittern sehen. Anstatt dir Essen zu besorgen, kannst du die Beweismittel zu Abby hinunterbringen. Je schneller sie mit der Analyse anfangen kann, desto eher haben wir die Ergebnisse." „Aber…" begann Chris und rieb sich über seinen protestierenden Magen. Ziva grinste ihn hämisch an und biss in einen Apfel, den sie sich in weiser Voraussicht von zu Hause mitgenommen hatte. Hilfesuchend blickte er zu McGee, der es aber vorzog, auf seinen Computerbildschirm zu starren.
„Hast du ein Problem mit meinen Anweisungen, Tony?" wollte Gibbs wissen und beugte sich vor. „Nein", meinte er kleinlaut und sah ein, dass es sinnlos war, eine Diskussion anzufangen, die er von vornherein verlieren würde. Verärgert verzog er seinen Mund, schnappte sich den Rucksack, in dem sich alle Beweisstücke befanden und ging zum Fahrstuhl, auf den er nicht allzu lange warten brauchte und den ein ihm unbekannter Agent verließ, der in seinen Händen eine große Tüte hielt, aus der es verführerisch nach Hamburgern duftete. Chris' Magen gab noch ein lauteres Knurren von sich und mit einem „das ist nicht fair" betrat er die kleine Kabine. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Knöpfe mit den verschiedenen Etagenzahlen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, wo sich die Forensik befand. Aber nachfragen konnte er nicht, da damit sein Spielchen sofort auffliegen würde, immerhin arbeitete Tony seit Jahren in diesem Gebäude. Deshalb hörte er auf sein Bauchgefühl und drückte schließlich einen Knopf, von dem er hoffte, dass er ihn in die richtige Etage bringen würde. Ganz unten befand sich sicher die Autopsie, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Räume oberhalb der Erde lagen. Im Erdgeschoss hatte er keinen Hinweis auf ein Labor gefunden, also nahm er an, dass es sich im ersten Untergeschoss befinden musste.
Dass seine Vermutung richtig gewesen war, erfuhr er ein paar Sekunden später. Die Türen des Aufzuges glitten auseinander und gaben den Blick auf eine Glastür frei, hinter der unübersehbar ein forensisches Labor lag. Bereits hier auf dem Gang konnte Chris den Krach hören, der anscheinend Musik sein sollte, obwohl er kein einziges Wort des Gekreisches verstehen konnte. Er widerstand dem Drang, sich die Finger in die Ohren zu stecken, um den Lärm zu dämpfen. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild der jungen Goth, die hier arbeitete und anscheinend noch verrückter war, als er angenommen hatte. Wer hörte sich schon Lieder an, von dem man nicht einmal den Text verstehen konnte?
In der Hoffnung, dass seine Trommelfelle heil bleiben würden, ging er auf die Glastür zu, die sich automatisch öffnete und ihn in Abbys geheiligte Hallen einließ.

Kaum hatte Chris einen Fuß in das Labor gesetzt, blieb er stehen, so als ob er gegen eine unsichtbare Mauer geprallt wäre. Was aber nicht an den ultramodernen, sicher teuren Analysegeräten, die im Raum herumstanden, lag und auch nicht an der lauten Musik, die in seinen Ohren dröhnte und dabei alle anderen Geräusche überdeckte. Die farbenfrohen Bilder an den Wänden, die ihn an abstrakte Kunstwerke erinnerten, beachtete er genauso wenig wie die zahlreichen Hilfsmittel, mit den man die Beweismittel untersuchen konnte. Die Sonne, die durch die Fenster schien, erhellte den großen Raum und ließ die Oberflächen schimmern. Aber all das interessierte den jungen Mann nicht, der wie gebannt auf den Rücken der Forensikerin starrte, die vor einem Computer stand, mit atemberaubender Geschwindigkeit ihre Finger über die Tastatur fliegen ließ und dabei gleichzeitig mit den Füßen – die in kniehohen Plateaustiefeln steckten – zum Takt des grauenhaften Kraches auf den Boden klopfte. Die beiden Rattenschwänze, zu denen sie ihre Haare gebunden hatte, wippten lustig auf und ab, so als ob sie ein Eigenleben entwickelt hätten. Ihr schlanker Körper wurde von einem weißen Laborkittel umhüllt und verbarg ihre restliche Kleidung. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass sie soeben Besuch hatte, was Chris auch nicht wunderte, denn er hatte das Gefühl, dass er nicht einmal seine eigene Stimme bei dieser Lautstärke hören würde. Er kam sich wie in einer Disko vor. Nur die Kugel und die ganzen Tänzer fehlten. Kopfschüttelnd sah er sich weiter um, ließ seinen Blick über die Geräte schweifen, von denen er nicht einmal ansatzweise wusste, wie sie funktionierten. Und dann bemerkte er es: die Quelle dieses Lärms, von dem er beinahe die Befürchtung hatte, einen Tinitus davonzutragen.
Chris löste sich aus seiner anfänglichen Starre und durchquerte das Labor, ohne dass ihn Abby bemerkte. Sie tippte weiter fleißig in ihre Tastatur und schien ihre Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen. Wenn er wollte, hätte er sie jetzt locker überfallen können. Mit weit ausholenden Schritten ging er zu der Stereoanlage und eine Sekunde später hatte er den Off Knopf gefunden, der innerhalb kürzester Zeit den Song zum Verstummen brachte. Wohltuende Ruhe breitete sich in dem Labor aus, aber dennoch hatte er das Gefühl, das Lied würde in seinem Gehirn weiter abgespult. ‚Na klasse', dachte er und drehte sich um. ‚Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein Ohrwurm von einem Song, den ich nicht einmal ausstehen kann.' Aber trotzdem war er froh, dass es still war und jetzt konnte er auch die verschiedenen Geräusche der Geräte hören.
Abby hingegen war überhaupt nicht erfreut darüber, dass es soeben jemand gewagt hatte, die Quelle ihrer Unterhaltung zu unterbrechen. Genau im Refrain, den sie mittlerweile in und auswendig kannte und dessen Text sie äußerst aussagekräftig fand. Drei Sekunden später und ihre Lieblingsstelle wäre gekommen, aber jetzt drangen nur noch die unterschiedlichen Laute ihrer „Babies" an ihr Gehör, was sie aber noch lange nicht so beruhigte wie ihre geliebte Musik. Gerade war sie dabei gewesen, ein neues Programm für Tatortanalysen zu schreiben und war wirklich weit gekommen, aber jetzt, wo sich diese Stille ausgebreitet hatte, war sie in ihrem Fluss gestört worden. Abbys Finger hatten automatisch aufgehört, die Tastatur zu bearbeiten und ihre Augen huschten durch ihr Reich, um den Schuldigen zu suchen, der es gewagt hatte, ihre Lieblingsband zum Verstummen zu bringen. Als sie allerdings die Person gefunden hatte, hellte sich ihre Miene, die sich verfinstert hatte, sofort wieder auf. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie trat vom Tisch zurück.
„Tony!" Die Stimme der Forensikerin ließ Chris leicht zusammenzucken und ehe er sich versah, fand er sich in einer schraubstockförmigen Umarmung wider. Nur mit Mühe konnte er sein Gleichgewicht halten und taumelte deswegen einen Schritt rückwärts, bevor er seine Balance wiederfand. Ihr Parfum stieg ihm in die Nase und ihre schwarzen Haare kitzelten seine Haut. Dadurch, dass ihn ihre Arme – in denen erstaunlicherweise viel Kraft steckten – fest umschlangen, wurde ihm die Luft aus den Lungen gepresst und er hatte Mühe, überhaupt zu atmen. „Luft", war das einzige Wort, was er herausbrachte und das kam auch noch erbärmlich gekrächzt aus seinem Mund. In seinem gesamten Leben hatte es noch nie jemand geschafft, ihn derart aus der Puste zu bringen, auch nicht, als er in der Highschool Football gespielt hatte und über den ganzen Platz gerannt war, um einen Touchdown zu machen. Und diese junge Frau schaffte es mit einer einzigen Umarmung, ihn fast zu erwürgen. Sie musste Tony folglich sehr gerne haben, wenn sie ihn derart stürmisch begrüßte.
Abby schien endlich zu realisieren, dass sie dabei war, ihn auf dem besten Wege ins Jenseits zu befördern und ließ schließlich von ihm ab. Erleichtert sog Chris Sauerstoff in seine Lungen und die Umgebung, die vorhin ein wenig verschwommen geworden war, manifestierte sich wieder. Er rollte mit seinem Kopf, um die halbgequetschten Nackenmuskeln zu lockern und setzte ein Lächeln auf, von dem er hoffte, dass es auf die Forensikerin den Eindruck erweckte, das er sich freute, sie zu sehen. Jetzt, wo sie zwei Schritte von ihm entfernt stand, konnte er auch den Rest von ihr bewundern. Unter ihrem Laborkittel trug sie einen rot-schwarz karierten Minirock und ein dazu passendes schwarzes T-Shirt, auf dem rote Flecken abgebildet waren, die erschreckend nach Blutspritzer aussahen. Um ihren Hals war ein Stachelband, das ziemlich gefährlich wirkte, gelegt und ihre Handgelenke wurden von Nietenarmbändern geziert. Abbys grüne Augen sahen ihn erfreut an und auf ihrem mit dunkelrotem Lippenstift geschminkten Mund lag ein breites Lächeln.
Den Eindruck, dass sie noch verrückter war, als er angenommen hatte, schien sich nach dieser beinahe mörderischen Umarmung zu bestätigen. Kaum zu glauben, dass so eine Frau Forensikerin war und für eine Bundesbehörde arbeitete. Aber wenn er es sich recht überlegte, war niemand aus dem Team so richtig normal. Dennoch fühlte er sich auf seltsame Art wohl.
Abby musterte ihn von oben bis unten mit so einem intensiven Blick, dass Chris sich unwillkürlich fragte, ob sie bemerkt hatte, dass nicht Tony vor ihr stand. Fühlte er sich möglicherweise anders an oder roch er anders? Dabei hatte er heute Morgen das Aftershave seines Bruders verwendet – genauso wie das Shampoo und Duschgel.
Die junge Frau verzog leicht enttäuscht ihre Lippen und sah ihm direkt in die Augen, mit denen sie ,dank ihrer schwindelerregenden Stiefel, fast auf gleicher Höhe mit den seinen war. „Kein CafPow?" fragte sie mit ihrer leicht rauchigen Stimme und trat einen weiteren Schritt zurück. ‚CafPow? Was ist denn das?' fragte er sich im Stillen und versuchte einen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der ihr vermitteln sollte, dass er genau wusste, wovon sie sprach. War es vielleicht ein Schokoriegel oder sonst etwas zu Essen? Für Chris hörte es sich nach etwas Exotischem an und wenn er sich recht erinnerte, dann hatte er bis jetzt in keinem Geschäft ein Produkt mit diesem komischen Namen gefunden.
„Tut mir leid", erwiderte er, in Ermangelung einer besseren Antwort. „Aber ihr wisst doch, dass ich ohne mein geliebtes Koffeingetränk nicht so gut arbeiten kann." Bei diesen Worten zog Abby einen Schmollmund, der auch den härtesten Kerl erweicht hätte. In dieser Sekunde sah sie wie ein unschuldiges Schulmädchen aus, das eine schlechte Note bekommen hatte. Er musste sich ein Grinsen verkneifen, auch wenn es ihm mehr als schwer fiel. Die junge Frau vor ihm war definitiv verrückt, aber dennoch liebenswert. Und jetzt wusste er auch, was ein CafPow war. Anscheinend war sie danach genauso süchtig wie Gibbs nach Kaffee.
„Ich bin mir sicher, du wirst es auch ohne hinbekommen", sagte Chris, nahm den Rucksack von den Schultern und stellte ihn auf einen freien Tisch. Abby verfolgte jede seiner Bewegungen und kniff dabei die Augen zusammen. ‚Komisch', dachte sie und legte ihren Kopf schief. ‚Täusche ich mich, oder ist Tony heute irgendwie anders?' Sie konnte nicht sagen, woher sie plötzlich dieses Gefühl hatte. Es hatte sich in ihrem Bauch eingeschlichen und ließ sie nicht mehr los, seit sie ihr Lieblingsgetränk erwähnt hatte und dabei für den Bruchteil einer Sekunde Unverständnis über sein Gesicht gehuscht war. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Äußerlich wirkte er wie immer, außer… Sie tippte sich kurz mit dem Zeigefinger an ihre Lippen und fragte: „Hast du etwas mit deinen Haaren gemacht, Tony?" „Was?" Chris zuckte zusammen und seine Hand, die im Rucksack herumgekramt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. Unwillkürlich krampften sich seine Finger um die Beweismitteltüte, in der das Messer - welches dem Commander in die Brust gerammt worden war - steckte. Sein Herz fing an, schneller zu schlagen und er hatte den Eindruck, dass man es bis hoch in die dritte Etage hören konnte. Er räusperte sich, um seinen trockenen Hals freizubekommen, setzte eine unbeschwerte Miene auf und drehte sich zu Abby um, wobei er das Beweisstück noch immer in seiner Hand hielt. „Wie kommst du darauf?" wollte er wissen und widerstand dem Drang, dass Messer fester zu umfassen. „Nun…", begann die Angesprochene, kam auf ihn zu und zupfte ein wenig an seinen Haarspitzen herum. „Irgendwie kommen sie mir länger vor und heller, so als ob du ziemlich lange in der Sonne gewesen wärst. Und deine Haut ist auch eine Spur brauner. Warst du in einem Sonnenstudio?" „Ähm… tja, weißt du, ich dachte nicht, dass das gleich so offensichtlich ist", erwiderte Chris ein wenig unsicher und setzte ein unschuldiges Lächeln auf. „Wow, und ich habe dich nicht für den Typ gehalten, der jemals in ein Sonnenstudio geht", meinte Abby und zupfte weiter an seinen Haaren herum, sodass er Mühe hatte, ihre Hand nicht beiseite zu schlagen. „Die stehen ja heute mehr als sonst in alle Richtungen ab." „Ich hatte keine Zeit, mich allzu lange in den Spiegel zu schauen. Ausnahmsweise wollte ich einmal nicht zu spät erscheinen. Und was das Sonnenstudio angeht. Das war die Idee eines Freundes." Dass er von der kalifornischen Sonne so braun war, brauchte sie ja nicht zu wissen. Chris konnte von Glück sagen, dass er nicht auf den Mund gefallen war und für jede Situation eine Ausrede parat hatte – na ja, für fast jede Situation. Wie er das mit den längeren Haaren erklären sollte, hatte er keine Ahnung. Und dabei hatte er gedacht, Tonys Frisur perfekt kopiert zu haben.
Zu seiner Erleichterung ließ sich Abby nicht länger über seinen Haarschnitt aus, sondern begann jetzt, an seinem rechten Bizeps herumzudrücken. „Du solltest nicht gleich auf deinen Freund hören. Weißt du denn nicht, dass so etwas schädlich für die Haut ist? Also, deine Muskeln fühlen sich auch härter an. Besuchst du etwa ein Fitnessstudio?" „Auch wenn es heißt, Sport ist Mord, will ich mich fit halten", erwiderte er und hoffte, dass diese Fragerunde bald vorbei war. Kaum zu glauben, aber der Forensikerin schienen Dinge aufzufallen, die den anderen des Teams entgangen waren – was ein wenig beängstigend war. In Zukunft musste er Abby gut im Auge behalten. Nicht, dass sein falsches Spiel sofort auffliegen würde.
„Und ich habe gedacht, dass dein einziger Sport darin besteht, hübschen Frauen hinterher zu jagen", sagte sie, grinste breit und ließ von ihm ab. Obwohl er für jede ihrer Fragen eine Antwort parat gehabt hatte, so blieb doch das komische Gefühl, dass an ihrem Freund etwas anderes war. Sie hätte schwören können, dass seine Haare wirklich um einen Tick länger waren und viel mehr vom Kopf abstanden. Und gestern war er noch nicht so braun gewesen. Obwohl, vielleicht lag es auch an dem Licht im Labor. ‚Du siehst ja schon Gespenster', schalt sich Abby selbst und beschloss – jedenfalls für den Augenblick – ihre Grübeleien zu unterbrechen und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Messer zu.
Chris war erleichtert, als er mitbekam, dass er es wohl überstanden hatte. Das war ja wie eine Feuerprobe gewesen und sein Instinkt sagte ihm, dass er froh sein konnte, sie überstanden zu haben. Bei der Erinnerung an den letzten Satz der jungen Frau hatte sich trotz des Ernstes der Lage ein Grinsen auf seinen Lippen ausgebreitet. Sein Bruder schien ja ein Schürzenjäger zu sein, wenn er hinter jeder Frau her war. Aber ihn wunderte es nicht. Bereits in der Highschool hatte er jedem Mädchen mit langen Beinen hinterher gesehen und war dabei sogar einmal in Professor Narby hineingelaufen, der das Fach Biologie unterrichtet hatte. Dieser hatte ihn gleich darauf zusammengestaucht und ihm angedroht, in der nächsten Stunde zu prüfen. Da Tony allerdings in Biologie nicht gerade ein Genie gewesen war, hatte sich Chris seiner erbarmt und hatte mit ihm die Rollen getauscht. Professor Narby war mehr als erstaunt gewesen, dass Anthony plötzlich so gut gewesen war.
Bei dieser Erinnerung wurde sein Lächeln noch breiter und für einen Moment sah er die Highschool wieder vor sich, die langen Gänge und die Klassenräume, in denen er viel Zeit verbracht hatte. Aber kurz darauf wedelte ihm Abby mit der Hand vor den Augen herum und riss ihn in die Gegenwart zurück. „Erde an Tony", sagte sie. „Tschuldigung", erwiderte er. „Ich war gerade in Gedanken." „Ja, das war nicht zu übersehen. Also, was hast du für mich?" Dabei deutete sie auf das Messer und er reichte es ihr. „Commander Brandon Emmerson wurde heute Morgen von seiner Frau ermordet aufgefunden. Das Messer steckte mitten in seiner Brust und sein Schädel wurde mit einem Baseballschlager eingeschlagen. Jedenfalls glauben wir das." Er holte besagten Gegenstand aus dem Rucksack und reichte ihr ihn. An dem Holz klebte gut sichtbar Blut, das bereits eine hässliche braune Farbe angenommen hatte. „Dann haben wir noch zahlreiche Blutproben und Fingerabdrücke genommen." Abby nickte und war innerhalb einer Sekunde wieder die professionelle Wissenschaftlerin. „Wann will Gibbs die Ergebnisse haben?" fragte sie, zog sich Latexhandschuhe an und nahm das Messer aus dem Beutel. „Das hat er nicht gesagt", erwiderte Chris und hängte sich den jetzt viel leichteren Rucksack wieder über die Schulter. „Aber ich schätze, so bald wie möglich." „Was wohl heißt, bis gestern." Die junge Frau verzog leicht ihre Lippen. „Spätestens in zwei Stunden wird er hier unten antanzen und mich fragen: wie weit bist du, Abbs?" Dabei machte sie die tiefe Stimme des Chefermittlers nach, was Chris dazu brachte, dass ihm fast der Mund aufklappte. „Noch nicht weit, mein silberhaariger Fuchs", redete sie weiter, nur um darauf wieder in die tiefe Tonlage zu fallen. „Was heißt, noch nicht weit?" Abby wollte sich selbst gerade antworten, als ein lautes Knurren sie unterbrach und dazu veranlasste, zu DiNozzo zu blickte, der sich über seinen Magen rieb. „Hunger, Tony?" fragte sie und sah ihn mitfühlend an. „Das ist wohl nicht zu überhören. Gibbs hat mir nicht erlaubt, mir etwas zu Essen zu holen und hat mich stattdessen hier herunter geschickt. Ich glaube, bis ich wieder etwas zwischen die Zähne bekomme, bin ich nur mehr Haut und Knochen." Die junge Goth legte ihm verständnisvoll eine Hand auf den Unterarm. „Wenn du willst, dann kannst du etwas von mir haben", schlug sie vor und deutete zu dem Kühlschrank mit der Glastür, wo er eine rote Lunchbox entdeckte, auf der ein Totenkopf abgebildet war. Aus einem Impuls heraus wollte Chris bereits ihr Angebot annehmen, überlegte es sich aber anders. „Ich will dir nicht dein Essen wegnehmen, Abby. Ich werde es schon überstehen. Außerdem habe ich noch einen kleinen Schokoriegelvorrat in meinem Schreibtisch. Aber trotzdem danke." Dennoch war er ein wenig gerührt, dass sie ihm ihre Nahrung angeboten hatte. Seit Jahren hatte das niemand mehr getan und es fühlte sich richtig gut an, dass sich jemand um ihn Sorgen machte. Obwohl er die junge Frau noch nicht lange kannte, so hatte er sie doch innerhalb von Minuten ins Herz geschlossen. Auch wenn sie auf den ersten Blick einen verrückten Eindruck machte, so war sie doch hinter dieser Fassade ein ganz anderer Mensch.
„Dann mache ich mich einmal an die Arbeit", sagte Abby, unterschrieb, dass sie die Beweismittel übernommen hatte und schenkte ihm noch ein letztes Lächeln. „Und du lass am besten Gibbs nicht allzu lange warten." Er schüttelte den Kopf, rückte den Rucksack zurecht und verabschiedete sich mit einem „bis nachher." Gleich darauf verließ er das Labor und ging zum Fahrstuhl, um in die dritte Etage zu fahren, wo er sich erneut von Tonys Schokoriegelvorrat bedienen würde.
Abby hingegen blieb für kurze Zeit noch am selben Fleck stehen und sah ihrem Freund stirnrunzelnd hinterher. Es war äußerst bizarr, dass er das Angebot ausgeschlagen hatte, sich an ihrem Essen zu bedienen. Dabei ließ er sonst nie eine Gelegenheit aus, sich an der Nahrung von jemand anderem zu vergreifen. „Wirklich seltsam", sagte sie zu sich selbst. „Wirklich seltsam."

Fortsetzung folgt...
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