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Die Sekunden, die zwischen dem Eindringen des Messers in den Rücken des Mannes und seinem Zusammenbrechen vergingen, kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Ich hatte das Gefühl, als unbeteiligter Dritter daneben zu stehen und alles neutral zu beobachten. Wie bei einem schlechten Film sah ich vor mir, wie die lange Klinge die Haut des Mannes zerteilte, unbarmherzig Muskeln, Sehnen und Blutgefäße zerstörte und schließlich irgendwo stecken blieb. Der Schrei, der meinem Gegenüber über die Lippen kam, war eher überrascht als von Schmerzen bestimmt und er riss verblüfft seine dunklen Augen auf. Die Waffe entglitt seinen Fingern und fiel leise polternd zu Boden. Seine rechte Hand, die fest meinen Hals umklammert hielt, lockerte ihren Griff und ließ mich schließlich ganz los. Keuchend sog ich die Luft in meine Lungen, hustete ein paar Mal und versuchte das Gefühl, ersticken zu müssen, niederzuringen. Nur am Rande bekam ich mit, wie der Einbrecher vor mir auf die Knie fiel und eine Sekunde später mit dem Bauch voran auf den Fliesen zu liegen kam, genau an der Stelle, wo sich die Scherben des Glases befanden. Sein abgehackter Atem und die Geräusche seines Kampfes gegen den Tod erfüllten die Küche, aber kurz darauf kehrte unheimliche Stille ein. Ich sog weiter köstlichen Sauerstoff in mich hinein und langsam verebbten die bunten Sterne vor meinen Augen und ich konnte wieder klar sehen. Erst jetzt realisierte ich so richtig, was überhaupt geschehen war. Wie erstarrt blickte ich auf den leblosen Mann zu meinen Füßen, der noch vor kurzem versucht hatte, mich zu erwürgen. Ich hatte einem Menschen das Leben genommen und obwohl ich wusste, dass es Notwehr war, fühlte ich mich irgendwie schuldig. Er war zwar ein Verbrecher gewesen, hatte aber sicher Freunde, Familie und vielleicht auch Kinder. Ungeachtet dessen, dass ich schon jahrelang Bundesagent und vorher Polizist gewesen war, hasste ich es, jemanden zu töten. Heute war es bei weitem nicht das erste Mal gewesen, aber ich fühlte mich danach jedes Mal schrecklich. Ich hatte eine super Ausbildung erhalten, aber niemand konnte einen darauf vorbereiten wie es war, wenn man eine Person umbrachte.
Mit Mühe riss ich meinen Blick von dem leblosen Körper los und starrte auf meine blutverschmierten Hände. Ich hatte keine Ahnung, ob das meiste von mir selbst oder von dem Toten stammte und wenn ich ehrlich war, wollte ich es auch überhaupt nicht wissen. Das Einzige was ich wollte, war, es loszuwerden, meine Hände so lange zu waschen, bis sie klinisch rein waren. Die Geräusche der Nacht traten in den Hintergrund, genauso wie die Schmerzen, die noch immer von meiner linken Wange ausgingen und ich sah nur noch die rote klebrige Flüssigkeit vor mir, die sich an meinen Fingern befand und die stetig aus meiner Nase tropfte.
Wie durch einen dichten Nebel hindurch bekam ich mit, wie die Tür zur Küche aufgestoßen wurde und laut gegen die Wand krachte. Ich hörte eilige Schritte, die kurz inne hielten und dann auf mich zukamen. Erst durch die starken Arme, die mich fest hielten und durch den vertrauten Geruch von Gibbs kehrte ich wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und widerstand dem Drang, ihn mit meinen Armen zu umschlingen, da ich nicht wollte, dass er genauso mit dem Blut besudelt wurde. Er presste meinen Körper an sich, drückte meinen Kopf an seine Schulter und ich atmete seinen Duft ein, der sich wie Balsam auf meine Seele legte. Alleine seine Anwesenheit schaffte es, die Schuldgefühle in meinem Inneren auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und ich spürte, wie ich ruhiger wurde, und mich langsam entspannte.
Unsere Umarmung dauerte nur einige Sekunden, aber als er mich losließ, hatte ich das Gefühl, es wären Stunden vergangen. Jethro legte seine Waffe auf die Anrichte neben uns, umfasste sanft mit beiden Händen mein Gesicht – wobei er es vermied, die beachtliche Prellung an meiner Wange zu berühren – und musterte mich aus seinen blauen Augen, in denen ein Ausdruck von Sorge lag.
„Geht es dir gut, Tony? Ist mit dir alles in Ordnung?" sprudelten die Fragen aus ihm heraus und die Sorge aus seinem Blick übertrug sich auf seine Stimme. Obwohl er es nicht zugab, so spürte ich die Angst, die er um mich gehabt hatte und das rührte mich auf sonderbare Weise. Mir war überhaupt nicht danach, aber trotzdem huschte ein kleines Lächeln über meine Lippen. Ich hatte ja schon immer gewusst, dass er einen weichen Kern hatte. „Mir geht es bestens", antwortete ich ihm, fügte aber, als er seinen Mund skeptisch verzog, hinzu: „Na ja, mehr oder weniger. Ich glaube, der Typ hat mir die Nase gebrochen." Gibbs legte seinen Kopf leicht schief und nickte. „So sieht es auch aus. Du blutest ziemlich viel." „Ich blute wie ein Schwein", erwiderte ich ohne nachzudenken und brachte ihn damit zum Grinsen. „Ja, so könnte man es auch ausdrücken." Er hielt kurz inne und fuhr, nach kurzer Überlegung, fort: „Anscheinend geht es dir wirklich gut." „Sag ich doch. Außer der Tatsache, dass ich soeben jemanden umgebracht habe." Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und er wurde schlagartig ernst. „Ich hatte einfach keine andere Wahl. Er hat mich fast erwürgt und das Messer war das Erste, was ich erreicht habe. Ich wollte, dass er mich loslässt, dass ich wieder atmen kann. Und da habe ich zugestochen – ohne nachzudenken. Ich habe…" „Es ist in Ordnung, Tony", unterbrach er mich und zwang mich – da mein Blick abgeschweift war – ihn wieder anzusehen. In seinen Augen lag nichts weiter als Liebe, Sorge und Verständnis und nicht Vorwurf, was ich eigentlich erwartet hatte. Anscheinend kannte ich ihn doch nicht so gut, wie ich es gerne hätte. „Es war Notwehr. Dich trifft keine Schuld, hörst du? Es ist nicht deine Schuld." Den letzten Satz sagte er eindringlich und alleine dadurch, dass diese Worte von ihm kamen, fühlte ich mich gleich viel besser. Deshalb nickte ich und Jethro sah mir noch einmal fest in die Augen, bevor er zufrieden brummte und mich schließlich losließ. Er beugte sich zu dem Mann auf dem Boden hinunter und obwohl wir beide wussten, dass er nicht mehr lebte, suchte er nach seinem Puls – fand jedoch wie erwartet keinen. „Ich glaube, ich sollte Ducky anrufen. Hier ist jetzt er gefragt." „Und was ist mit der Polizei?" wollte ich wissen und starrte wie gebannt den Griff des Messers an. „Was soll schon mit der Polizei sein? Du bist ein NCIS Agent, Tony und somit übernehmen auch wir den Fall", meinte er und erhob sich wieder. „Das Telefon steht im Wohnzimmer, aber du kannst natürlich auch dein Handy benutzen", schlug ich vor und riss meinen Blick von der Leiche los, ging zu dem Tisch, der unter einem Fenster stand und setzte mich auf die Platte. Die Morgenzeitung und die leere Kaffeetasse, die neben mir standen, schienen plötzlich in eine andere Welt zu gehören, so irreal wirkten sie. Ob ich jemals wieder meine Küche betreten konnte, ohne daran zu denken, was vor ein paar Minuten passiert war, war mehr als fraglich. Allerdings würde ich sicher nicht ausziehen, denn ich mochte dieses Haus, hatte es auf Anhieb gemocht, als ich es gesehen hatte. Vielleicht würde ich den Raum renovieren, neue Möbel aussuchen und eventuell würde mir Gibbs ja dabei helfen. Die Vorstellung, dass wir gemeinsam eine neue Einrichtung für meine Küche aussuchen würden, gefiel mir durchaus und ließ mich wieder positiver in die Zukunft blicken. Es brachte ein Stück Normalität zurück.
Ich seufzte leise und fuhr mir mit dem Handrücken unter meiner Nase entlang, um das Blut zu entfernen, zuckte aber vor Schmerz zusammen. „Verdammt", fluchte ich und brachte meinen Boss, der bereits an der Tür war, dazu, stehen zu bleiben. Er drehte sich zu mir um und als er mich so dasitzen sah, kam er wieder auf mich zu, alles andere schien ihm plötzlich unwichtig zu sein. „Ich dachte, du wolltest Ducky anrufen", sagte ich verwundert und beobachtete, wie er einen Schrank nach dem anderen öffnete. „Das kann noch warten", erwiderte er, während er weiter strategisch meine Küche durchforstete. „Was suchst du überhaupt?" wollte ich wissen und musterte seinen muskulösen Rücken. Er grummelte etwas Unverständliches und drehte sich ein paar Sekunden später zu mir um – ein Geschirrtuch in der rechten Hand haltend. „Das hier." Er wedelte kurz damit herum, schnappte sich eine der vier Ecken und ging zu der Spüle, wo er das Wasser aufdrehte und das Stück Stoff darunter hielt. Gleich darauf wrang er es aus und war mit wenigen Schritten bei mir. „Was wird das?" fragte ich, da er mir das Geschirrtuch nicht gab – womit ich eigentlich gerechnet hatte. Stattdessen drückte Jethro mit einem Knie meine Beine auseinander, stellte sich dazwischen und hob meinen Kopf sanft nach oben. „Wonach sieht es denn aus?" „Nun, wenn neben uns kein Toter liegen würde und ich nicht am Verbluten wäre, würde mir durchaus etwas einfallen", meinte ich und brachte ihn mit meinen Worten tatsächlich zum Grinsen. „Wenn du am Verbluten wärst, würdest du nicht mehr aufrecht sitzen, Tony." „Seit wann bis du denn unter die Mediziner gegangen?" „Das sagt mir mein Hausverstand. Und jetzt halt deinen Mund." Obwohl seine Worte wie ein Befehl klingen sollten, wurden sie durch den weichen Ton in seiner Stimme gemildert, aber dennoch tat ich, was er gesagt hatte. Zufrieden lächelte er, hob meinen Kopf noch weiter an und begann sanft, mir das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Als der Stoff meine Haut berührte, zuckte ich leicht zusammen, aber nicht vor Schmerz, sondern weil er kalt war. Gibbs hielt sofort inne und sah mich besorgt an. „Tu ich dir weh?" Verblüfft hob ich eine Augenbraue und starrte ihn beinahe entgeistert an. Hatte ich das eben richtig verstanden? Seit wir uns kannten, hatte er mich noch nie danach gefragt, ob er mir Schmerzen zufügte – schon gar nicht, wenn es darum ging, mir eine Kopfnuss zu verpassen – aber jetzt war er richtig fürsorglich. Ein ungewohnter Charakterzug an ihm, der mir aber durchaus gefiel und den er öfters an den Tag legen könnte. „Nein, aber du hättest warmes Wasser nehmen sollen. Das Tuch ist verdammt kalt", antwortete ich schließlich. „Ich werde es mir für das nächste Mal merken", meinte er und machte sich wieder an die Arbeit. „Ich hoffe, dass es so ein nächstes Mal nicht mehr geben wird." Er seufzte leise und sah mich tadelnd an – wie einen begriffsstutzigen Schüler, der auch nach der 10. Erklärung nicht verstanden hatte, dass eins plus eins zwei ergab und nicht elf.
„Habe ich nicht gesagt, du sollst deinen Mund halten?" „Tschuldigung", murmelte ich und er zog seine Augenbrauen in die Höhe, gab aber keine Antwort, obwohl ich mit der Regel, man solle sich nicht entschuldigen, da es ein Zeichen der Schwäche sei, gerechnet hatte. Stattdessen hob er erneut meinen Kopf leicht an, sodass ich die Decke meiner Küche bewundern konnte, während er mir beinahe professionell das Blut von meinem Kinn und meinen Lippen entfernte. Je näher er meiner Nase kam, desto vorsichtiger wurde er. Jethro schien in dieser Tätigkeit vollkommen vertieft zu sein, hatte nur Augen für mich und ich hatte den Eindruck, dass er die Umgebung gar nicht mehr wahrnahm. Die Tatsache, dass er es selbst in die Hand nahm und mich verarztete, ließ mein Herz schneller schlagen. Für kurze Zeit vergaß ich, dass ich vor Minuten einen Mann umgebracht hatte und konzentrierte mich auf meinen Freund, der versuchte, mir nicht allzu weh zu tun. Aber ich spürte komischerweise keinen Schmerz, sondern nur seine sanften Berührungen, die Erinnerungen an unsere gemeinsame Nacht hervorriefen – eine Nacht, die ein abruptes Ende gefunden hatte, als dieser Kerl sich entschieden hatte, bei mir einzubrechen. Und was hatte es ihm eingebracht? Er lag tot zu unseren Füßen. Aber ich verstand immer noch nicht, von welchem Handy er überhaupt gesprochen hatte. Vielleicht hatte er sich wirklich nur geirrt und war bei dem Falschen eingebrochen. ‚Aber woher wusste er dann, dass du Bundesagent bist?' fragte ich mich, konnte aber nicht weiter darüber nachdenken, da mich ein stechender Schmerz durchfuhr. „Au!" rief ich unwillkürlich und riss somit auch Gibbs aus seinem tranceähnlichen Zustand. Sofort hörte er auf, an meiner Nase herumzuwischen und sah mich erneut besorgt an. „Alles in Ordnung?" fragte er. „Es geht schon", antwortete ich. „Du machst das echt klasse. An dir ist ein Arzt verloren gegangen." „Ja sicher", meinte er zynisch und legte das Tuch neben mir auf den Tisch – anscheinend war er fertig. „Und apropos Arzt. Du solltest dir deine Nase untersuchen lassen. Nicht, dass sie wirklich gebrochen ist." Ich wollte bereits aufstehen, hielt aber in der Bewegung inne. „Oh nein, das kannst du vergessen, ich gehe sicher nicht in ein Krankenhaus. Ich hasse diese Gebäude. Dort wird man doch nur gepiekst wie ein Nadelkissen und nachher fühlt man sich noch schlechter. Mich bringen dort sicher keine zehn Pferde hinein." Trotzig wie ein kleines störrisches Kind verschränkte ich meine Arme vor der Brust, wobei ich jedoch vergaß, dass meine Hände ganz blutig waren und ich die Flüssigkeit somit auf meinen Oberarmen verschmierte.
Gibbs sah mich mit erhobener Augenbraue an und schüttelte leicht den Kopf. „Hör auf zu jammern, Tony. Ich habe eigentlich gemeint, dass dich Ducky untersuchen soll. Ich weiß doch, dass du Krankenhäuser nicht ausstehen kannst." „Oh", gab ich von mir und kam mir plötzlich mehr als dämlich vor. „Wenn sich aber herausstellen sollte, dass deine Nase wirklich gebrochen ist, dann werde ich dich persönlich dorthin schleppen, egal ob du dich mit Händen und Füßen wehrst." Ich schluckte und wusste, dass er es ernst meinte, was mir das Funkeln in seinen Augen verriet. „Nun ja, ich hoffe, so weit wird es nicht kommen." „Um das herauszufinden, werde ich jetzt erst einmal Ducky anrufen. Und du solltest aufpassen, wohin du mit deinen Händen greifst." Erst jetzt bemerkte ich, dass ich dabei war, auch andere Körperteile von mir zu besudeln und ließ ganz schnell meine Arme sinken. Auf einmal fühlte ich mich mehr als schmutzig und mich überkam ein heftiger Schauder. „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich gerne duschen. Ich will endlich das Blut loswerden." Jethro überlegte einen Augenblick, schließlich nickte er. Dankbar darüber, dass er nicht vorhatte, mich als Beweismaterial anzusehen, stand ich von dem Tisch auf und ging zur Tür, drehte mich aber noch einmal um und musterte meinen Boss, der nur mit einer Boxershorts bekleidet mitten in meiner Küche stand. „Es tut mir leid, Jethro", sagte ich ein wenig zerknirscht. „Was tut dir leid?" fragte er überrascht nach. „Wie der Abend geendet hat." Er kam auf mich zu und umfasste meine Schultern. „Du kannst nichts dafür, Tony. Wenn einer Schuld daran hat, dann der Mann, der bei dir eingebrochen ist. Auch ich finde es mehr als schade, wie der Abend ausgegangen ist, zumal ich ganz andere Pläne gehabt habe. Aber dafür haben wir in Zukunft noch viel Zeit." Er beugte sich vor und drückte, darauf bedacht, nicht an meiner Nase anzukommen, zärtlich seine Lippen auf meine und schenkte mir somit ein wenig Trost. Wärme durchströmte mich und ich wusste tief in meinem Inneren, dass er Recht hatte, dass wir in Zukunft noch sehr viel Zeit miteinander verbringen würden.

Fortsetzung folgt...
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