- Text Size +
Je weiter wir uns von meinem Haus entfernten, desto düsterer wurde der Morgen – jedenfalls hatte ich das Gefühl. Die Wolken hingen bedrohlich tief über Washington und durch die fehlende Sonne wurden die Straßen, Gebäude und Parks in ein dämmriges Licht getaucht. Aus den Kanaldeckeln stieg dichter weißer Dampf auf, der die Autos wie Nebel einhüllte und deren Scheinwerfer wie verschwommene Kleckse aufscheinen ließ. Die Einwohner, die das Pech hatten, zu Fuß unterwegs zu sein, hasteten durch den kalten Nieselregen, der sich unangenehm auf ihre Haut legte und sie durchnässte. Anstatt in kurzärmeligen T-Shirts und kurzen Hosen herumzurennen, waren in diesem Frühling Jacken und Regenschirme in Mode. Die teilweise besonders bunten Motive der Stoffe wirkten wie Farbkleckse in dem vorwiegend grauen Licht des Morgens. Von der Jahreszeit, die ich am liebsten mochte, war keine Spur zu sehen. Man sah keine verliebten Pärchen, die Händchen haltend und Eis schleckend durch die Parks schlenderten und sich hin und wieder in aller Öffentlichkeit leidenschaftlich küssten. Die normalerweise quicklebendigen und lauten Vögel ließen nur selten einen Ton von sich hören und blieben lieber in ihren Nestern. Es war das Wetter, das momentan perfekt zu meiner etwas misslichen Lage passte. Meine Stimmung war leicht gedrückt, obwohl Gibbs neben mir saß und seine Anwesenheit eine gewisse Beruhigung auf mich ausübte. Aus den kleinen Lautsprechern in den Türen drang die Stimme eines Nachrichtenmoderators an meine Ohren, aber ich verstand nicht wirklich, was er sagte. Es kam mir so vor, als ob die Worte einfach ein mir vorbeirauschten, ohne einen Sinn zu ergeben. Obwohl es in dem Wagen angenehm warm war, war mir kalt und meinen Körper überzog eine Gänsehaut, aber ich widerstand dem Drang, die Heizung weiter hinaufzudrehen. Jethro sollte sich nicht noch mehr Sorgen machen, als er es ohnehin schon tat. Egal wer von seinem Team in Schwierigkeiten steckte, er würde jedes Mal alles unternehmen, um denjenigen aus dem knietiefen Tümpel zu befreien, in dem er sich befand. Aber heute, wo das Los auf mich gefallen war, schien es mir, als hätte er sich ein wenig in ein Raubtier verwandelt, das auf Beutejagd war. Und irgendwie stimmte das auch. Gibbs war auf der Jagd. Auf der Jagd nach den Verbrechern, dir mir ans Leder wollten.
Ich löste meinen Blick von der in atemberaubender Geschwindigkeit vorbeiziehenden Straße und sah zu meinem Freund, dessen Augen konzentriert auf den dichten Morgenverkehr gerichtet waren. Seine Hände waren fest um das Lenkrad gekrallt – ein deutliches Zeichen der inneren Anspannung, unter der er momentan stand. Sein Mund wirkte verkniffen und er schien genauso wenig von den Informationen, die aus dem Radio kamen, mitzubekommen. Unwillkürlich bildete sich auf meinen Lippen ein kleines Lächeln, als mir bewusst wurde, dass er auf mich den Eindruck eines Raubtieres machte, das kurz davor stand, sein Opfer zu zerfleischen. Seine Worte, dass er nicht zulassen würde, dass mir etwas passierte, und dass wir es zusammen durchstehen würden, kamen mir wieder in den Sinn. Ich war mir sicher, dass er mich beschützen würde. Ein unglaublich warmes Gefühl breitete sich von meiner Körpermitte aus, strömte bis in meine Fingerspitzen und vertrieb die Kälte aus meinem Inneren. Plötzlich kam mir das Wetter nicht mehr so bedrückend vor und das Grau des Morgens wurde freundlicher. Die Farben um mich herum leuchteten kräftiger und selbst die Tatsache, dass sich das Handy, mit dem alles angefangen hatte, in Gibbs' Jackentasche befand, brachte mich nicht aus der Ruhe.
Allerdings war es mit der Ruhe gleich darauf vorbei, als ich auf einmal mit Wucht in den Sitz gepresst wurde, der Wagen ausscherte und das Auto überholte, das vor uns fuhr und dessen Fahrer sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt. Dass wir uns jetzt auf der Gegenspur befanden und helle Scheinwerfer viel zu schnell auf uns zukamen, schien Jethro nicht zu stören. Seelenruhig blickte er nach vorne und kurz bevor wir mit dem anderen Wagen, dessen Hupe laut in meinen Ohren dröhnte, kollidieren konnten, riss er das Steuer herum und reihte sich wieder ein. Mein Herz schien aus meiner Brust springen zu wollen, so schnell schlug es und mein Atem strömte ein wenig abgehackt aus meinem offenen Mund.
„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne lebend im Hauptquartier ankommen und nicht in einem Leichensack in der Pathologie landen", keuchte ich und schluckte den dicken Kloß in meinem Hals hinunter, der sich dort gebildet hatte, als wir beinahe in den Gegenverkehr gekracht waren. Gibbs löste für einen kurzen Moment seinen Blick von der Straße und sah zu mir herüber, wobei seine Lippen ein für mich ungewohntes unschuldiges Lächeln umspielte. „Wir sind zu spät dran", sagte er nur und bog an einer Kreuzung, dessen Ampel bereits gelb war, mit quietschenden Reifen nach links ab. Ohne Vorwarnung wurde ich gegen die Beifahrertür gepresst, wobei ich mich fragte, ob ich mir soeben ein paar Rippen angeknackst hatte. Ich wollte gerade erneut meinen Mund aufmachen, um zu erwidern, dass wir noch viel später im Büro sein würden, wenn wir einen Unfall bauten, als ich im Seitenspiegel etwas sah, was mir das Blut in meinen Adern gefrieren ließ. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde stärker und sämtliche Haare im meinem Nacken richteten sich auf. Meine Muskeln spannten sich an und ich setzte mich kerzengerade auf. „Was ist los, Tony?" fragte Gibbs sofort, dem meine Veränderung nicht entgangen war, obwohl seine Konzentration weiterhin der Straße galt. „Sag jetzt nicht, dir ist von meinem Fahrstil übel geworden." Ich schüttelte den Kopf und obwohl mir überhaupt nicht der Sinn danach stand, fand ich es amüsant, dass er annahm, mir wäre schlecht, nur weil er riskant überholt hatte. Früher war ihm das egal gewesen, aber heute hatte er sofort seinen Fuß vom Gas genommen, um im Notfall sofort stehen bleiben zu können, damit ich das Innere seines Wagens nicht versaute.
„Nein, das ist es nicht", meinte ich und sah weiter in den Seitenspiegel. „Ich glaube, wir werden verfolgt." Kaum waren die Worte über meine Lippen, trat Gibbs erneut auf das Gaspedal und der Wagen schoss vorwärts, wobei wir beinahe mit dem Vordermann kollidiert wären. Für einen kurzen Augenblick, in dem ich damit beschäftigt war, mir keine blauen Flecken einzufangen, verlor ich das Fahrzeug aus meinem Blickfeld, fand es aber nach ein paar Sekunden wieder. Es war ein unauffälliger schwarzer Ford, der sich zwei Autos hinter uns befand und von dem ich mir sicher war, dass er uns bereits seit wir mein Haus verlassen hatten an unserer Stoßstange klebte. Die Scheiben waren getönt und ich konnte den Mann – oder die Frau – hinter dem Steuer nicht erkennen. Außerdem erschwerte der Dampf aus der Kanalisation weiterhin die Sicht. Obwohl wir uns in der langen Blechschlange des Morgenverkehrs befanden, wusste ich mit Sicherheit, dass wir von diesem Ford, der für meinen Geschmack viel zu unauffällig war, verfolgt wurden. Wer auch immer in dem Innenraum saß, hatte wohl noch nie etwas davon gehört, wie man jemanden ohne aufzufallen observierte.
„Bist du dir sicher?" wollte Jethro wissen und blickte in den Rückspiegel. „Hinter uns wimmelt es nur so von Autos." „Es ist der Ford zwei Wagenlängen hinter uns. Er folgt uns schon seit wir von mir weggefahren sind." Ich hielt kurz inne und kaute leicht an meiner Unterlippe. Sollte ich ihm von meinem Verdacht erzählen, dass wir schon länger beobachtet wurden? Ich sah zu Gibbs, dessen Augen zwischen dem Rückspiegel und der Windschutzscheibe hin und her huschten und der jetzt wieder ganz der Chefermittler war. Aber bevor ich den Mund aufmachen konnte, bog er ohne Vorwarnung an der nächsten Kreuzung links ab, schnitt dabei einen anderen Wagen und hätte beinahe die Kontrolle verloren, da der Asphalt vom Regen ganz feucht war und an vielen Stellen noch tiefe Wasserpfützen waren. Aber innerhalb von zwei Sekunden hatten die Reifen wieder Bodenhaftung und summten leise vor sich hin. Etwas verärgert rieb ich mir meinen rechten Ellenbogen, den ich mir an der Tür angeschlagen hatte, kam aber nicht dazu, mich zu beschweren. „Ich glaube, du hast Recht", sagte Gibbs, wobei sein Blick wieder am Rückspiegel hängen blieb. Nur mehr eine Wagenlänge hinter uns war der Ford ebenfalls abgebogen und folgte uns beständig. „Scheint aber nicht sehr geübt darin zu sein, jemanden zu observieren", fügte er hinzu und trat erneut auf das Gaspedal. „Meinst du, die werden etwas unternehmen, um uns aufzuhalten?" fragte ich und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich ein wenig nervös war. „Keine Ahnung. Und wenn, dann haben sie sich eindeutig mit den Falschen angelegt. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass, wer auch immer diesen Wagen fährt, es riskieren wird, in aller Öffentlichkeit anzugreifen. Nicht, wenn es so viele Zeugen gibt." ‚Wo er Recht hat, hat er Recht', schoss es mir durch den Kopf und zum ersten Mal in meinem Leben freute ich mich über den dichten Verkehr, der auf Washingtons Straßen herrschte. Solange wir nicht in ein Gebiet kamen, wo niemand unterwegs war, waren wir sicher. Und ich wusste, bis wir im Hauptquartier angekommen waren, würden wir immer auf den Hauptverkehrswegen bleiben.
„Kannst du das Nummernschild erkennen?" wollte Jethro wissen und kniff seine Augen zusammen. Ich schüttelte den Kopf, während ich weiterhin in den Seitenspiegel blickte. „Tut mir leid, aber der Fahrer ist schlau genug, uns seine Stoßstange nicht zu zeigen. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, ist er nicht ganz so schlau, wenn er sich mit zwei Bundesagenten anlegt. Seinem Kumpel ist das gar nicht gut bekommen." Gibbs sah mich kurz mit erhobenen Augenbrauen an und seine Mundwinkel zuckten leicht. „Was?" „Du scheinst deinen Humor wohl nie zu verlieren", antwortete er amüsiert. Aus einem Impuls heraus legte ich ihm eine Hand auf den Oberschenkel und grinste. „Nun, das ist meine Art mit den Dingen umzugehen", meinte ich und fuhr mit einem Finger sein Bein hinauf. Er schluckte sichtbar, zuckte kurz zusammen und krampfte seine Hände um das Lenkrad. „Wenn du nicht willst, dass ich gleich in den Vordermann krache, dann solltest du besser damit aufhören", sagte er gepresst, was mich noch breiter grinsen ließ. Aber da ich heil im Hauptquartier ankommen wollte, nahm ich meine Hand von seinem Oberschenkel und behielt sie brav bei mir, auch wenn es mich mehr als reizte, ihn so zu streicheln, wie er es bei mir getan hatte, als wir auf meiner Treppe gesessen waren. Bei der Erinnerung daran wurde mir ganz heiß und um mich abzulenken, blickte ich wieder in den Seitenspiegel. Ungläubig klappte mir der Mund leicht auf und ich vergaß ganz schnell, wo meine Finger vor kurzem noch gewesen waren. Ich blinzelte ein paar Mal, aber das Bild blieb gleich. Verwirrt runzelte ich die Stirn und für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob ich verrückt geworden war.
„Der Ford ist weg", sagte ich, drehte mich sogar um und sah nach hinten. Aber auch jetzt änderte sich nichts. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein sollte oder nicht. Hatte ich mir das Ganze etwa nur eingebildet? Waren wir vielleicht gar nicht verfolgt worden?
„Anscheinend dürfte er abgebogen sein", erwiderte Gibbs und ging ein wenig mit der Geschwindigkeit herunter. „Vielleicht waren in dem Wagen gar nicht diese Handytypen und ich sehe schon Gespenster." „Ich bin mir da nicht so sicher. Mein Instinkt sagt mir, dass wir verfolgt wurden. Denkbar, dass sie gemerkt haben, dass wir sie entdeckt haben." Und plötzlich war das Gefühl, beobachtet zu werden, verschwunden. Aber dennoch blieb ich auf der Hut. Wer wusste schon, ob die nicht wieder auftauchen würden. Oder wir wurden gerade in einen Hinterhalt gelockt. ‚Hör auf', wies ich mich selbst zurecht. ‚Du machst dich doch nur selbst verrückt.' Aber trotzdem zog sich mein Magen ohne Vorwarnung schmerzhaft zusammen und die Ahnung, dass heute noch etwas geschehen würde, wurde stärker - stärker als das Beobachtungsgefühl von vorhin. Irgendetwas war im Busch, das spürte ich genau und dieses Etwas ließ mich unruhig meine Hände kneten. Die Gangster lagen auf der Lauer – wie hungrige Raubtiere, die nur darauf warteten, ihre Beute zu fangen und zu verschlingen.

Fortsetzung folgt...
You must login (register) to review.