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Kaum hatten die Vier Abbys Labor verlassen, eilte sie in den anderen Raum und drehte ihre Musikanlage auf volle Lautstärke auf. Ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen, als sie die geliebten Töne hörte und hüpfte wieder zu ihrem Computer zurück, um sich in den Stuhl fallen zu lassen. Drei Stunden hatte Gibbs gesagt und sie wusste, er gab ihr keine Minute länger. Wie sollte sie es in so einer kurzen Zeit nur schaffen, das Video so weit zu bearbeiten, dass man mehr Details erkennen konnte? Es hatte sie schon jede Menge Arbeit gekostet, herauszufinden, dass insgesamt vier Personen die Hauptrollen spielten, wovon eine unverkennbar erschossen worden war. Und nur weil jemand auf die Idee gekommen war, diesen Mord zu filmen, steckte Tony jetzt in ziemlichen Schwierigkeiten. Wieso musste er auch unbedingt in diesem Einkaufszentrum vorbeifahren, um sich Kaffee zu kaufen. ‚Der aber für Gibbsman war', fügte sie in Gedanken hinzu und fing zu grinsen an. Sie wusste nur zu gut, dass sein Lieblingscoffeeshop derzeit wegen Renovierungsarbeiten geschlossen war. Und Anthony hatte der schlechten Laune des Bosses vorbeugen wollen und ihm Koffein besorgt. Nur, seit wann machte dieser sich solche Sorgen um Gibbs? Sicher, es war mehr als unangenehm, wenn er keinen Kaffee hatte – immerhin war er dann den ganzen Tag schlecht gelaunt – aber dass er deshalb einen kleinen Umweg in Kauf genommen hatte?
„Hmmm", machte Abby und tippte sich mit einem Zeigefinger an die Lippen. Für den Moment vergaß sie, dass sie sich eigentlich mit dem Video beschäftigen sollte und nicht mit Tony. Aber seit sie erfahren hatte, dass er verliebt war, ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf, genauso wie Gibbs. Es war schon ein komischer Zufall, dass sich die beiden zur gleichen Zeit verknallten, es aber versuchten, es zu verbergen, wobei ihr silberhaariger Fuchs dabei eindeutig besser abgeschnitten hatte. Würden seine Augen nicht so strahlen – auch wenn er jemanden böse anfunkelte – wäre sie nie darauf gekommen. Anthony hingegen schien mit einem Dauergrinsen durch die Gegend zu laufen und war bestens gelaunt, obwohl hinter ihm Gangster her waren, aber dennoch war er ein wenig rastlos gewesen. Vorher hatte er einfach nicht gewusst, was er mit seinen Händen anstellen sollte und wenn sie sich nicht täuschte, hatte er bewusst versucht, nicht zu nahe bei Gibbs zu stehen. Aber weshalb? Normalerweise machte es ihm auch nichts aus, in der Nähe des Chefermittlers zu sein, außer jener war dabei, wieder einmal eine Kopfnuss auszuteilen.
Und wenn Tony dann doch zu ihm gesehen hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, seine teils unbewegte Miene wäre nur aufgesetzt, denn seine Augen hatten dennoch wie noch nie gestrahlt. Beinahe könnte man meinen, er wäre nicht in irgendeine Frau verliebt, sondern…
„Denk nicht einmal daran, Abigail", sagte sie zu sich selbst und schüttelte den Kopf. „Tony ist immerhin der Macho schlechthin und sieht jedem Rockzipfel hinterher." Aber dennoch, irgendetwas sagte ihr, dass sie diese Überlegung auf gar keinen Fall zur Seite schieben sollte. Immerhin hatte er seit Wochen mit keiner seiner zahlreichen Freundinnen angegeben. Wenn sie es sich recht überlegte, seit dem Undercovereinsatz vor über drei Wochen. Seitdem war irgendetwas anders zwischen ihm und Gibbs, das hatte sie sofort gespürt, bereits damals, als sie zu dieser alten Fabrik gefahren waren oder als Tony ins Krankenzimmer gekommen war. Und auch seit Jethro wieder arbeitete, schien sich die spannungsgeladene Atmosphäre nicht verändert zu haben. Erst seit heute Morgen hatte sie das Gefühl, dass es nicht mehr ganz so knisterte, wenn sich die beiden in einem Raum aufhielten, wenn man von den Blicken absah, die sie sich zuwarfen.
Plötzlich versteifte sich Abby und setzte sich kerzengerade auf. „Nein, das ist nicht möglich!" rief sie, obwohl sie niemand hören konnte, was einerseits daran lag, dass sie alleine war und andererseits, dass die Musik auf volle Lautstärke aufgedreht war. So abwegig der Gedanke auch war, aber es würde einen Sinn ergeben. Sie sah Gibbs vor sich, wie seine Augen angefangen hatten zu strahlen, als Tony mit den anderen ins Labor gekommen war, seine entspannte Körperhaltung, obwohl er sichtlich verärgert gewesen war, dass er das FBI informieren musste. Und dennoch hatte er glücklich gewirkt, auch wenn er versucht hatte, das zu verbergen. Aber ihren Augen war das nicht entgangen.
Dann war da noch Tonys Knutschfleck, der eindeutig frisch war und gestern noch nicht auf seinem Hals geprangt hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er eine heiße Frau einfach so wegschicken oder frühzeitig nach Hause fahren würde, schon gar nicht, wenn er verliebt war. Da würde man doch erst recht zusammenbleiben und die Nähe zueinander genießen. Und er hatte es selbst zugegeben, dass keine Frau bei ihm gewesen war und war nicht laut McGee Gibbs zuerst bei Anthony gewesen? Was wäre, wenn ihr Boss gar nicht erst zu ihm gefahren war, sondern bereits in dem Haus gewesen war?
Von den ganzen Fragen wurde Abby ein wenig schwummrig, weshalb sie nach ihrem CafPow griff und gierig an dem Strohhalm sog. Sie fand es immer noch abwegig, in welche Richtung ihre Gedanken abschweiften und es gab definitiv Lücken in dieser Geschichte, aber dennoch…
Und dann kamen ihr Tonys Worte in den Sinn: Blaue Augen, so tief wie ein See und weiche Lippen, die einen ins Paradies schicken. Unwillkürlich verschluckte sie sich an ihrem Getränk und prustete ein paar Tropfen über den Boden. Die ganze Zeit war es so offensichtlich gewesen und erst jetzt registrierte sie, was der Satz bedeutete. Gibbs hatte blaue Augen, so tief wie ein See und da er ihr öfters einen kleinen Kuss auf die Wange gab, wusste sie auch, dass seine Lippen weich waren.
Und wie hatte Jethro noch einmal seine neue Freundin beschrieben? Hatte sie nicht kurze braune Haare und grüne Augen? Abby würde alles darauf verwetten, dass diese kurzen braunen Haare und die grünen Augen nicht irgendeiner Frau gehörten, sondern Anthony DiNozzo, dem Mann, der seinen Boss ständig auf die Palme brachte und mehr Kopfnüsse als alle anderen kassierte.
Von ihrer neu gewonnenen Erkenntnis übermannt, ließ sie sich in ihren Stuhl zurückfallen und ihr klappte der Mund auf. Wie hatte sie nur so blind sein können? Wie hatte sie nur übersehen können, was sich zwischen den beiden entwickelt hatte? Dabei fiel ihr so etwas sonst gleich auf. Aber wer rechnete schon damit, dass sich zwei Männer, die ihr ganzes Leben lang auf Frauen gestanden waren, einmal ineinander verlieben würden?
Plötzlich breitete sich auf Abbys Lippen ein breites Grinsen aus, sie sprang auf und begann auf und ab zu hüpfen. „Das ist ja abgefahren!" rief sie, schnappte sich Bert und drückte das Stoffnilpferd ganz fest. „Ich kann es nicht fassen! Die beiden?! Unglaublich!" Ihr wurde ganz warm ums Herz, als sie auf einmal realisierte, dass der brummige Chefermittler und Tony ein Paar waren und bereits über das Stadium des Händchenhaltens hinaus waren, wie der Knutschfleck auf dem Hals des jungen Mannes bewies. Und sie würde alles darauf verwetten, dass es der Undercovereinsatz gewesen war, der die beiden in andere Gefilde geführt hatte. Man spielte nicht einmal kurz ein homosexuelles Paar und küsste sich in einem Club, ohne dass das Folgen hatte. Trotzdem hatte sie angenommen, dass es die beiden hinbekommen würden, diese Sache einfach als Auftrag abzutun, aber anscheinend hatte sie sich da geirrt.
Abby hielt in dem Tanz mit ihrem Nilpferd inne. Wieso verschwiegen Tony und Gibbs es aber, dass sie zusammen waren? War es ihnen etwa peinlich? Glaubten sie etwa, ihre Autorität als Agents geriete in Gefahr und man würde sie nicht mehr Ernst nehmen? So wie es aussah, wussten weder McGee noch Ziva etwas davon, denn das hätte sie sofort bemerkt. Was wiederum bedeutete, sie durfte ebenfalls niemandem von ihrer neugewonnen Erkenntnis erzählen, jedenfalls nicht, bevor sich die beiden entschlossen hatten, sich vor allen zu outen.
Mit einem lauten Seufzer ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen und drückte Bert fest an sich, dessen Pupsgeräusch wegen der Musik nicht zu hören war. „Mein silberhaariger Fuchs und der Frauenheld Anthony DiNozzo. Wer hätte das jemals für möglich gehalten?" murmelte sie und grinste breit. Sie freute sich für die beiden, immerhin schienen sie mehr als glücklich zu sein und sie wünschte es sich von ganzem Herzen, dass ihr privates Glück lange andauern würde – am Besten für immer. Und falls sich jemand daran stören sollte, dass die beiden homosexuell waren, dann würde es derjenige höchstpersönlich mit ihr zu tun bekommen – so wahr sie Abigail Sciuto hieß.

Fortsetzung folgt...
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