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In den letzten 10 Minuten war es bereits das achte Mal, dass ich auf meine Uhr gesehen hatte. Die Zeit schien überhaupt nicht zu vergehen, was größtenteils an den mehr als langweiligen Akten vor meiner Nase lag – kombiniert mit meinem knurrenden Magen, der sich gar nicht mehr beruhigen wollte, trotz des Schokoriegels, den ich vor kurzem gegessen hatte. Kaum war Gibbs zu Direktor Sheppard hinaufgegangen, hatte ich mir eine weitere Süßigkeit geschnappt und mit wenigen Bissen verschlungen, was Ziva zu einem Nasenrümpfen veranlasst hatte. Trotz des Zuckerschocks war mein Hunger nicht verschwunden und ich hatte beinahe den Verdacht, dass ich eine Resistenz gegen Schokoriegel entwickelt hatte, da er überhaupt nicht half. Aber ich wusste, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis ich etwas Ordentliches zwischen die Zähne bekommen würde. Jethro war nicht lange bei Jen geblieben und nach seinem zufriedenen Gesichtsausdruck zu schließen, hatte sie nichts dagegen gehabt, dass wir das FBI um Hilfe gebeten hatten. Vielleicht hatte sie ohne größere Diskussion eingesehen, dass es von Vorteil war, diesmal mit der Bundesbehörde zusammenzuarbeiten, immerhin ging es um einen mehrfach gesuchten Mörder – und mein Leben.
Und Gibbs hatte mir letzte Nacht gesagt, dass er nicht zulassen würde, dass mir etwas passierte und ich vertraute ihm in dieser Sache. Aber noch wussten wir nicht, von wem die Gefahr ausging und wenn ich ehrlich war, wollte ich es auch nicht wissen. Von mir aus konnten die Verbrecher weiterhin in der Versenkung bleiben, wenn sie mich dadurch in Ruhe ließen. Was hatte ich nur wieder verbrochen, dass ich einmal mehr in Schwierigkeiten steckte? Hatte ich in der Vergangenheit unwissentlich eine höhere Macht verärgert, die sich nun an mir rächte? Oder war es eine Prüfung, die Jethros und meinen Zusammenhalt testete, die zeigen sollte, ob wir auch schwierige Situationen überstehen konnten? Wenn es so war, dann fand ich das nicht gerade lustig. Beinahe wünschte ich mir, dass mein Leben unspektakulärer verlaufen würde. Aber wer wusste, wie es aussehen würde, wenn ich in Baltimore geblieben wäre. Dann wären zwar keine Gangster hinter mir her, aber Gibbs und ich wären auch kein Paar und wenn ich ehrlich war, wollte ich das nicht mehr missen. Egal wie oft ich in Zukunft Probleme anzog, ich hatte jemanden, der sie gemeinsam mit mir durchstand.
Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und ich sah zum neunten Mal auf die Uhr. Zwei weitere Minuten waren vergangen und damit war es kurz vor eins. Gibbs war mittlerweile knapp eine Stunde weg, was für ihn mehr als untypisch war. Normalerweise brauchte er nie solange, um sich einen Kaffee zu besorgen. Zwar nahm er mir auch etwas zu Essen mit, aber das dauerte keine 60 Minuten – außer das Restaurant oder der Imbiss wäre zum Bersten vollgestopft mit Leuten, die ihren Hunger genauso wie ich stillen wollten. Außerdem wusste ich ja nicht, welchen Coffeeshop mein Freund aufsuchte, da sein üblicher Koffeindealer immer noch geschlossen hatte. Trotzdem konnte der Weg nicht so weit sein, egal ob er zu Fuß oder mit dem Auto unterwegs war. Wenn er fahren würde, musste er ja noch viel schneller zurück sein, was aber definitiv nicht der Fall war.
Ich blickte zu Jethros Schreibtisch. Unwillkürlich verkrampften sich meine Eingeweide und vertrieb mir somit das Lächeln aus meinem Gesicht. Ohne etwas dagegen tun zu können, stieg in mir eine ungute Ahnung auf, die sich festsetzte und sich nicht zurückdrängen ließ, egal wie hartnäckig ich es versuchte. Ein Gefühl der Angst breitete sich in mir aus und schaffte es sogar, meinen Hunger zu dämpfen. Irgendetwas war geschehen, das spürte ich genau und auch wenn ich noch nicht wusste was, würde es mir sicher nicht gefallen, wenn ich es erfuhr. Vielleicht hätte ich Gibbs nicht alleine gehen lassen und ihn begleiten sollen. Aber nachdem wir heute Morgen verfolgt worden waren, hätte er mir sicher nicht erlaubt, das Hauptquartier zu verlassen, egal wie sehr ich versucht hätte, ihn mit meinem Dackelblick weich zu klopfen. Wenn es um die Sicherheit einer seiner Kollegen ging, konnte er stur wie ein Esel sein und ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass er mich ohne weiteres irgendwo einsperren würde, nur um zu verhindern, dass die Verbrecher eine Gelegenheit bekamen, einen erneuten Angriff auf mich zu starten. Allerdings hätte ich nichts dagegen, mich in einem Raum einsperren zu lassen, wenn sich Jethro ebenfalls dort befinden würde und wir es uns ein wenig gemütlich machen könnten. Dann würde ich immerhin wissen, dass es ihm gut ging, anstatt mir jetzt Sorgen zu machen, die vielleicht unbegründet waren und nur an meinen etwas überstrapazierten Nerven lagen. ‚Außerdem kann Gibbs hervorragend auf sich aufpassen', versuchte ich mich zu beruhigen. Er war immerhin ein Marine gewesen und somit bereits öfters in gefährliche Situationen geraten und bis jetzt hatte er alles unbeschadet überstanden. Dennoch blieb in mir eine Unruhe zurück, die mir überhaupt nicht gefiel. Meine Eingeweide fühlten sich mittlerweile wie ein harter Knoten an und schienen sich auch in nächster Zeit nicht entspannen zu wollen. Nervös sah ich erneut auf meine Uhr – wieder waren fünf Minuten vergangen, ohne ein Zeichen von meinem Freund.
„Wartest du auf etwas?" fragte Ziva und riss mich aus meinen mehr als deprimierenden Gedanken. Ihr Aktenstoß war in der letzten Stunde um mehr als die Hälfte geschrumpft, wohingegen meiner unverändert hoch auf dem Tisch lag. Der Ordner, den ich mir genommen hatte, als Agent Sacks noch hier gewesen war, war noch immer offen und zeigte noch meinem derzeitigen Arbeitseifer.
„Auf mein Essen", antwortete ich schließlich knapp und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mir große Sorgen machte und verbarg sie hinter einer sorglosen Miene. Immerhin zeigte ich es nie offen wenn ich einmal Angst hatte und ich würde jetzt auch nicht damit anfangen. „Schon vergessen? Ich bin halb am verhungern." Ziva hob bei meinen Worten eine Augenbraue und beugte sich etwas vor, wobei sie sich mit ihren Unterarmen auf den Akten abstützte. Eine Strähne ihres Haares fiel ihr ins Gesicht, aber sie schien es gar nicht zu merken, so sehr war sie auf mich fixiert.
„Dein Wohlergehen liegt Gibbs anscheinend sehr am Herzen, ansonsten hätte er sich nie so schnell bereit erklärt, dir Essen mitzunehmen", sagte sie und grinste, wodurch ich frustriert aufseufzte. Es hätte mich auch gewundert, wenn sie nicht wieder davon angefangen hätte. Ich konnte es ihr aber nicht verdenken, denn Jethro war sonst nie darauf bedacht, dass wir etwas zu Essen bekamen, geschweige denn, dass er uns einmal gefragt hätte, ob er uns auch einen Kaffee mitbringen sollte. Diese Tatsachen und die anderen Szenen, die sie beobachtet und vor ein paar Stunden aufgezählt hatte, waren Grund genug, sich Gedanken darüber zu machen und sie schien das die ganze Zeit über getan zu haben. Aber jetzt hatte ich definitiv keinen Nerv für ihre Spekulationen, zu sehr war ich darauf bedacht, mich nicht verrückt zu machen, weil Gibbs noch nicht zurückgekehrt war.

„Fang nicht schon wieder damit an", erwiderte ich sichtlich genervt und schenkte ihr zur Unterstreichung meiner Worte einen ärgerlichen Blick, der sie allerdings nicht aus dem Konzept brachte. „Und wieso nicht?" wollte Ziva sogleich wissen und beugte sich noch weiter vor. „Hast du vielleicht Angst, ich könnte etwas herausfinden, was dir unangenehm ist?" Ich schüttelte den Kopf und verfluchte nicht zum ersten Mal ihre Neugierde. „Es gibt nichts, was mir unangenehm ist, außer deine unablässigen Fragen, die mir langsam aber sicher auf den Geist gehen." Meine Stimme war lauter als beabsichtigt geworden und selbst McGee schien seine Arbeit zu vergessen, um ja nichts von unserer Auseinandersetzung zu verpassen. „Wo liegt eigentlich das Problem?" fauchte Ziva zurück und kniff ihre Augen zu Schlitzen zusammen. „Wenn etwas zwischen dir und…" Aber auch diesmal kam sie nicht dazu, die Worte auszusprechen, die ihr auf der Zunge lagen, da mich erneut mein Handy rettete. Hastig – und dankbar - griff ich danach, klappte es auf und atmete erleichtert auf, als Gibbs' Name auf dem kleinen Display erschien. Wahrscheinlich wollte er mir endlich Bescheid sagen, dass er sich verspäten würde - als wenn ich das nicht schon längst bemerkt hätte. Ich nahm das Gespräch nach dem dritten Klingeln an. „Hey, wo steckst du? Ich habe mir schon Sorgen gemacht", sagte ich, obwohl mir bewusst war, dass Ziva jedes Wort verstehen konnte. Aber das war mir momentan ziemlich egal, sollte sie sich ruhig in ihrer Vermutung bestätigt fühlen.

Eine Sekunde war es am anderen Ende der Leitung still, bis ein lautes Lachen erklang, das so eiskalt war, dass sich mir unwillkürlich meine Nackenhärchen aufstellten. Plötzlich wurde mir klar, dass es nicht Jethro war, der mich da anrief und auf einmal wurde meine vorherige Ahnung grausame Realität und die Angst in meinem Inneren wurde größer. „Wie süß", meldete sich schließlich eine mir unbekannte Stimme, deren Klang hervorragend zu dem kalten Lachen passte. „Da hat sich wohl jemand wirklich Sorgen gemacht und das zu Recht, wie ich sagen würde. Vermissen Sie zufällig jemanden, Agent DiNozzo?" Bei der Frage krampfte ich meine Hand, die das Handy hielt, so fest zusammen, dass sich das Plastik des kleinen Gerätes unangenehm in meine Haut bohrte. Der höhnische Klang, der sich in die Stimme dazugesellt hatte, ließ zusätzlich zu meiner Angst Wut aufsteigen und ich hatte Mühe, ruhig zu bleiben und nicht loszubrüllen. Mein Gefühl, dass heute noch etwas geschehen würde, hatte sich also bestätigt, aber ich hätte nie damit gerechnet, dass sie es auf Gibbs abgesehen hatten. Verdammt, wieso war er bloß alleine losgegangen? Wieso hatte ihn niemand begleitet? Wäre er vielleicht gar nicht erst hinausgegangen, wenn ich keinen Hunger gehabt hätte? Der Appetit war mir mit einem Schlag vergangen und der Schokoriegel lag mir bleischwer in meinem Magen.
„Sie Mistkerl", zischte ich verächtlich und zog damit sofort die Aufmerksamkeit von Ziva und McGee auf mich, die mich verwundert ansahen. „Wenn Sie ihm auch nur ein Haar gekrümmt haben oder krümmen werden, dann schwöre ich bei Gott, dass Sie den Tag nicht überleben werden." „Was ist los, Tony?" fragte Tim und stand auf, aber ich ignorierte ihn. Für mich zählte nur noch, dass sich Gibbs jetzt in der Gewalt der Gangster befand, die die ganze Zeit hinter mir her waren. „Oh, jetzt habe ich aber Angst. Mir schlottern bereits die Knie. Werden Sie dabei ein Messer verwenden, so wie Sie es bei meinem Freund getan haben?" Nun war es an ihm, leise zu zischen, der höhnische Ton war aus seiner Stimme verschwunden und hatte Wut Platz gemacht. „Ein stumpfes, damit es schön schmerzt", erwiderte ich aus einem Impuls heraus. „Damit Sie mehr jammern als ihr Kumpel, bevor er in meiner Küche gestorben ist." „Passen Sie auf, was Sie sagen. Ich muss nur meine Waffe ziehen und schon ist Ihr Freund tot, haben wir uns da verstanden?" Mit einem leisen Geräusch brach ich den Bleistift in meiner linken Hand entzwei und hätte die beiden Stücke am liebsten quer durch das Büro geschleudert. „Gibbs hat mit alldem nichts zu tun!" schrie ich, unfähig meine Wut zurückzuhalten. „Lassen Sie ihn in Ruhe!" Nur am Rande bekam ich mit, wie sich Ziva und McGee geschockte Blicke zuwarfen und ihnen langsam dämmerte, was vor sich ging. „Sie haben sich ja noch immer nicht unter Kontrolle. Wo soll ihn die Kugel treffen? Vielleicht in der Schulter oder im Knie? Oder noch besser, im Bauch? Ihre Entscheidung." „Warten Sie", sagte ich ganz schnell und was noch wichtiger war, viel ruhiger. Seine Worte hatten zwar meine Wut nur noch mehr geschürt aber der Teufel sollte mich holen, wenn ich schuld daran war, dass sich Jethro wegen mir eine Kugel einfing. Es reichte schon, dass er wegen mir in den Fängen von diesen Verrückten war. „Lassen Sie uns in Ruhe darüber sprechen." „Ah, da scheint endlich jemand einzusehen, dass es unklug ist, mich anzubrüllen. Kluge Entscheidung, Agent DiNozzo." „Was wollen Sie?" stellte ich endlich die Frage, die mir die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte, deren Antwort ich aber bereits kannte. Für ein paar Sekunden war es am anderen Ende der Leitung ruhig, ich konnte nur Rauschen hören und glaubte bereits, dass die Verbindung unterbrochen worden war, als sich der Unbekannte erneut meldete: „Was wohl? Das Handy natürlich. Und fangen Sie ja nicht an, sich dumm zu stellen und mir vormachen zu wollen, dass Sie keine Ahnung haben, wovon ich rede." „Das hatte ich auch nicht vor." Ich setzte mich aufrecht hin und blickte zu meinen beiden Kollegen, die jetzt vor meinem Schreibtisch standen und jedes meiner Worte verfolgten. Sorge stand in ihre Gesichter geschrieben, aber sie verspürten nicht die Angst, die
ich hatte und die mich beinahe verrückt machte.
„Eine weitere kluge Entscheidung. Jetzt hören Sie mir gut zu, denn ich werde mich nicht wiederholen. In ein paar Minuten werden Sie eine E-Mail bekommen, in der eine Adresse steht, zu der Sie mit dem Handy in genau zwei Stunden kommen und zwar alleine und unbewaffnet, sonst ist Ihr Freund schneller tot als Sie blinzeln können. Ist das klar?" „Glasklar", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und schleuderte die Bruchteile des Bleistiftes auf meinen Tisch. „Kann ich mit Gibbs sprechen? Ich will mich davon überzeugen, dass er noch lebt." Die Angst, dass er vielleicht schon tot war, ergriff von mir Besitz und ließ mich nicht mehr klar denken. „Das ist zurzeit nicht möglich", antwortete der Mann und der höhnische Klang war in seine Stimme zurückgekehrt. „Was soll das heißen?" wollte ich wissen und Panik stieg in mir auf, was man mir auch anhören konnte, aber ich machte keinen Versuch, sie zu unterdrücken. „Das soll heißen, dass er noch bewusstlos ist. Er hat es uns nicht gerade leicht gemacht. Aber mit der E-Mail werden Sie einen Beweis bekommen, dass Ihr Freund noch lebt. Also, von jetzt an zwei Stunden. Wenn Sie eine Sekunde zu spät auftauchen, sehen Sie ihn nie wieder." Gleich darauf konnte ich nur mehr ein lautes Tuten hören, das mich zu verspotten schien. Obwohl der Unbekannte bereits aufgelegt hatte, war ich unfähig, das Handy aus meiner Hand zu legen, zu sehr war ich noch von dem Gespräch eingenommen. Adrenalin strömte durch meinen Körper und ich verspürte eine Angst wie noch nie in meinem Leben. Das soll heißen, dass er noch bewusstlos ist. Er hat es uns nicht gerade leicht gemacht. Die Worte hallten noch immer laut in meinem Kopf wider und verdrängten alle anderen Geräusche in der Umgebung. Gibbs hatte sich also gewehrt und sich nicht einfach entführen lassen. Es hätte mich auch gewundert, wenn er sich kampflos ergeben hätte, aber dass er nun bewusstlos war, gefiel mir gar nicht. Ich hätte zu gerne von ihm selbst gehört, dass es ihm gut ging, dass er nicht verletzt war, aber so musste ich warten, musste auf die E-Mail warten, die angeblich einen Beweis enthielt, dass er noch lebte.
Zu der Angst, die mich quälte, kamen nun auch Schuldgefühle dazu. Wäre ich gestern nicht in das Einkaufszentrum gefahren, hätte mir keiner ein Handy zustecken können, mit dem ein Mord gefilmt worden war. Andererseits konnte ich auch Gibbs' Kaffeesucht die Schuld geben. Hätte ich nicht die Angst gehabt, dass er wegen zu wenig Koffein schlechte Laune haben würde, hätte ich auch keinen Umweg eingelegt. Und hätten sich die Gangster auch an ihm vergriffen, wenn sie nicht gewusst hätten, dass wir beide zusammen waren? Deshalb stellte sich die Frage, woher sie das erfahren hatten, denn noch hatten wir es keinem gesagt. ‚Sie haben euch beobachtet', schoss es mir durch den Kopf und ließ meine Eingeweide noch mehr verkrampfen. Vage erinnerte ich mich daran, dass die Vorhänge vor meiner Terrassentür nicht zugezogen waren und man einen wunderbaren Blick in mein Wohnzimmer hätte werfen können, hätte sich jemand in meinem Garten aufgehalten. Und so musste es sich auch abgespielt haben. Die Erkenntnis traf mich mit einer Wucht, die mich beinahe von meinem Stuhl geworfen hätte und ich kam mir irgendwie beschmutzt vor, bei dem Gedanken, dass jemand mich und Jethro beobachtet hatte, wie wir uns gegenseitig von unseren Kleidungsstücken befreit hatten. Meine Entscheidung, uns ins Schlafzimmer zurückzuziehen, war im jetzt Nachhinein mehr als richtig gewesen und ich schwor mir, ab sofort überall immer die Vorhänge zuzuziehen, nachdem meine Privatsphäre derart verletzt worden war.
Langsam, so als ob mein rechter Arm keine Kraft mehr hätte, ließ ich das Handy schließlich sinken und klappte es wie in Trance zu. Ich hatte nicht mehr ganz zwei Stunden und hatte die E-Mail noch immer nicht erhalten. Was wäre, wenn sie sie nicht schicken würden? Was wäre, wenn…
„Tony?" McGees Stimme holte mich in die Wirklichkeit zurück und mit einem Mal waren die lauten Geräusche des Großraumbüros wieder präsent, verdeutlichten mir noch mehr, dass mir Gibbs wohl kein Essen bringen würde, wobei mir der Hunger mehr als vergangen war und ich in diesem Moment sicher keinen einzigen Bissen hinunterbringen würde.
„Was ist los?" Ich hob meinen Kopf und sah zu Tim, der vor meinem Schreibtisch stand und mich leicht verwirrt anblickte, was ich ihm nicht einmal verdenken konnte. Aber dennoch hätte ich erwartet, dass er bereits wusste, was vorgefallen war. „Was los ist?!" wiederholte ich seine Frage eine Spur zu laut, in dem Bewusstsein, dass es nicht gerecht war, wenn ich meine Wut auf die Entführer an ihm ausließ. Aber momentan war niemand anderer hier, weshalb er ein wunderbares Ziel bot. „Die haben Gibbs, das ist los!" schrie ich und merkte wie sowohl McGee als auch Ziva zusammenzuckten, als ich meine Stimme erhob. „Was… was soll das heißen, die haben Gibbs?" wollte er zögerlich wissen und am liebsten hätte ich ihm jetzt bei seinem Unverständnis den Kopf abgerissen. „Das soll heißen, jemand hat ihn entführt", übernahm Ziva die Antwort, wahrscheinlich aus Angst, ich würde noch irgendetwas Unüberlegtes tun. „Jemand hat es geschafft, Gibbs zu entführen?" Tim klappte der Mund ungläubig auf. Ich fuhr mir frustriert durch meine Haare und brachte sie noch mehr durcheinander. Seine Verblüffung war verständlich, denn wer rechnete schon damit, dass der Chefermittler je in die Fänge von Gangstern geraten würde. Die waren mehr als strohdumm und lernten anscheinend nicht aus ihren Fehlern. Es war nicht klug, sich mit Jethro anzulegen, schon gar nicht, weil er wütend war, da sie eigentlich hinter mir her waren. Und jetzt war er statt ich bei diesen Männern. Eigentlich sollte ich derjenige sein, der in Schwierigkeiten steckte und nicht er.
„Verdammt", entfuhr er es mir und ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Die Schuldgefühle drohten mich erneut zu übermannen und blockierten mein logisches Denken. Wieso hatten sie sich nicht einfach mich schnappen können, anstatt Gibbs? ‚Weil du das Hauptquartier den ganzen Tag über nicht verlassen hättest, darum', gab ich mir selbst die Antwort und sah wieder auf. Es war mehr als offensichtlich, dass sie dachten, wir könnten noch mehr über das Video herausfinden. Aber woher hatte der Mann überhaupt gewusst, dass wir es gefunden hatten? Das hatten wir niemandem außer dem FBI gesagt. Oder gab es sogar hier im Großraumbüro unsichtbare Lauscher? Wie und wann die Verbrecher herausgefunden hatten, dass Abby das Video gefunden hatte, war jetzt unwichtig, wichtig waren nur Gibbs und die Tatsache, dass ich ihn da rausholen musste, auch wenn ich mich dafür in die Höhle des Löwen begeben musste.
„Was wirst du nun machen?" wollte Ziva wissen und fing an, eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger zu wickeln. „Was wohl? Ich werde ihn da rausholen." „Ganz alleine? Das kannst du vergessen, Tony. Wir sind ein Team und…" „Aber ich muss alleine dahin. Der Anrufer hat mir mehr als deutlich gemacht, dass Gibbs tot ist, wenn er auch nur einen Begleiter sieht." „Aber…" Ihre Worte gingen jedoch ein wenig in dem Piepsen meines Computers unter, der ankündigte, dass ich eine E-Mail erhalten hatte. Meine Kollegen und ihre noch immer leicht ungläubigen Mienen ignorierend, öffnete ich die Nachricht und holte unwillkürlich tief Luft, bevor ich sie anhielt. Das Bild, das sich meinen Augen zeigte, brannte sich in meine Netzhaut ein und ich wusste, es würde lange dauern, bis ich es aus meinem Gehirn bringen würde. Ich spürte förmlich, wie mir alle Farbe aus dem Gesicht wich und sich meine Hände zu Fäusten ballten. Nur am Rande bekam ich mit, wie Ziva und McGee meinen Schreibtisch umrundeten, sich hinter mir stellten und erstarrten, als sie das Foto sahen, das unübersehbar erst vor kurzem aufgenommen worden war. Ein Seil, das an der Decke befestigt war, war um Gibbs' Handgelenke gewickelt und zog seine Arme nach oben, was mir alleine beim Zusehen Schmerzen in den Schultergelenken verursachte. Sein Kopf hing nach unten und seine Augen waren mit einem schwarzen Tuch verbunden. Er wurde nur durch das Seil, das sich sichtlich unangenehm in seine Haut grub, aufrecht gehalten. Die Jacke, die er getragen hatte, war verschwunden, genauso wie sein Jackett. Er hatte nur noch sein Poloshirt und das weiße T-Shirt darunter an und beide waren kurzärmelig. Da um ihn herum nur graue Betonwände waren, war anzunehmen, dass er sich in einem Keller befinden und es dementsprechend kühl sein musste. Vielleicht war es ganz gut, dass er ohne Bewusstsein war, so fror er wenigstens nicht. Da Gibbs keine sichtbaren Verletzungen aufwies, war er anscheinend wirklich am Leben, außer sie hätten ihm das Genick gebrochen oder ein Messer in den Rücken gerammt, so wie ich es bei dem Einbrecher gemacht hatte. ‚Hör auf dich selbst verrückt zu machen', schalt mich gleich darauf und stieß meinen angehaltenen Atem aus. Außerdem hätten sie ihm nicht die Augen verbunden, wenn er bereits tot wäre und es bestand somit immerhin die Chance, dass er lebend aus dieser Sache herauskommen würde. Für mich war es offensichtlich, dass Jethro die Gesichter der Männer nicht gesehen hatte, was mir wieder neuen Mut verlieh. Ich durfte mich jetzt erst Recht nicht unterkriegen lassen, immerhin lag sein Leben von nun an in meinen Händen und ich schwor mir, ihn da rauszuholen, koste es, was es wolle. Und noch bevor es Abend wurde, würde ich ihn höchstpersönlich nach Hause fahren und ihn von vorne bis hinten verwöhnen, während die Gangster, die ihm das angetan hatten, im Knast schmorten – oder in der Hölle.
„Und ich hätte gedacht, das wäre ein Scherz", sagte McGee und durchbrach somit unser Schweigen. „Du hast wirklich geglaubt, ich mache Scherze, Bambino?!" brüllte ich beinahe, wodurch er ein paar Zentimeter zurückwich, wir uns aber weiterhin anblickten. „Hör auf, deine Wut an mir auszulassen", erwiderte er schließlich trotzig und reckte sein Kinn. „Das ist leichter gesagt als getan! Es ist ja nicht deine Schuld, dass Gibbs knietief in der Scheiße sitzt!" „Und auch nicht deine", mischte sich Ziva ein und riss ihren Blick von dem Bild los. „Wenn jemand etwas dafür kann, dann diese Männer, die ihn entführt haben. Also hör auf, dir Selbstvorwürfe zu machen. Das hilft ihm jetzt auch nicht." Ich atmete tief durch, beruhigte mich langsam und nickte. „Du hast Recht. Es ist nur so, dass es sich anfühlt, als ob es meine Schuld wäre, aber darüber kann ich mir auch nachher Gedanken machen. Jetzt werden wir versuchen, ihn da rauszuholen." Bei dem Wort wir hellten sich ihre Mienen auf und ich war wieder ganz Bundesagent, wobei die Angst um meinen Freund präsent war, aber mittlerweile hatte ich sie unter Kontrolle.
Mit neuer Zuversicht scrollte ich die Mail nach unten und somit verschwand das Bild von Jethro aus meinem Blickfeld, aber dennoch blieb es in meinem Gehirn bestehen. Ich prägte mir die Adresse ein, die am Stadtrand von Washington lag und von der ich wusste, dass es eine nicht gerade nette Gegend war und dort vor allem arme und arbeitslose Menschen wohnten. Ein hervorragendes Gebiet, um einen Bundesagenten zu verstecken, oder ihn umzubringen. Bevor meine Gedanken jedoch erneut in eine deprimierende Richtung wandern konnten, schloss ich die Mail und stand auf.
„McGee, ruf Fornell an und sag ihm was passiert ist. Er soll sofort herkommen. Wenn wir Gibbs da lebend rausholen wollen, brauchen wir die Unterstützung des FBI." „Und was machst du?" fragte er, während er zu seinem Schreibtisch eilte und nach dem Telefonhörer griff. „Ich werde mir das Handy von Abby holen. Und wenn ich wieder zurück bin, will ich Fornell hier sehen." Damit ließ ich meine Kollegen stehen und eilte zum Treppenhaus, da ich nicht auf den Fahrstuhl warten wollte. Jede Minute zählte und ich wusste, ich würde mindestens eine halbe Stunde brauchen, um bei der Adresse anzukommen. Also blieben mir noch knapp 60 Minuten, um mir einen sinnvollen Plan auszudenken. ‚Halte durch, Jethro', dachte ich, in der Hoffnung, die stummen Worte würden ihn erreichen. Ich wusste, er würde sicher nicht aufgeben und wenn ich ihn gefunden hatte, dann gnade den Männern Gott – denn ich würde bestimmt keine walten lassen.

Fortsetzung folgt...
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