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Es waren gerade einmal 10 Minuten vergangen, als Gibbs den Fahrstuhl verließ. In seiner rechten Hand hielt er einen Becher Kaffee, der sicher von dem Automaten im Foyer stammte und der den Namen Kaffee bei Weitem nicht verdiente – immerhin schmeckte er mehr nach Wasser, als nach den gerösteten Bohnen, oder in diesem Fall, nach dem Pulver. Aber Jethro schien das überhaupt nichts auszumachen. Er trank einen großen Schluck und als er an meinem Schreibtisch vorbeiging, konnte ich einen zufriedenen Ausdruck in seinen blauen Augen erkennen. Die Wut, die ich vorhin bereits aus der Entfernung von mehreren Metern gespürt und die die Luft knistern hatte lassen, war komplett verflogen. Da McGee immer noch seinen Kopf in einer Akte vergraben hatte und Ziva nur seinen Rücken bestaunen konnte, schenkte er mir ein kurzes Lächeln, das mir einen heftigen Schauer der Erregung über meinen Körper jagte und bevor ich wirklich realisieren konnte, was da eben passiert war, hatte er wieder seine undurchdringliche Miene aufgesetzt und ging zu seinem Schreibtisch. Verwirrt blickte ich Gibbs hinterher, der sich auf seinen Stuhl setzte, seinen Kaffee austrank und den Becher gezielt in den Mülleimer warf, wo er mit einem leisen Geräusch landete.
Mir war sofort klar, dass zwischen ihm und dem Detective in dem Fahrstuhl etwas vorgefallen sein musste. Denn dass Jethro den Lift angehalten hatte, war nicht zu übersehen gewesen, da sich eine kleine Gruppe vor den Türen versammelt und sich aufgeregt hatte, dass er nicht in die dritte Etage kam. Zwei der Männer hatte es schließlich gereicht und sie hatten das Treppenhaus genommen.
Da sein Ärger verpufft war, musste die Auseinandersetzung zu seinen Gunsten ausgegangen sein und ich hatte das Gefühl, dass ich Edwards nun endgültig los war. Aber was hatte Gibbs nur zu ihm gesagt? Obwohl ich mehr als neugierig war, konzentrierte ich mich wieder auf die Akten vor meiner Nase. Das Großraumbüro war nicht der richtige Ort, um ihn danach zu fragen und außerdem würde er es mir schon sagen, sollte er sich jemals dazu entschließen, dies zu tun.
Mit den Erinnerungen an das Lächeln, das er mir zugeworfen hatte, und den Schauer der Erregung, der noch immer in meinem Körper kribbelte, schnappte ich mir einen neuen Ordner und begann ihn zu bearbeiten.

Drei Stunden später hatte ich den Stapel immer noch nicht geschafft, aber er war immerhin auf ein Drittel geschrumpft. Ziva hingegen war bereits fertig und verfluchte wieder einmal ihren Computer, der nicht das machte, was sie wollte. McGee war noch mehr im Rückstand als ich, da er kurz nach 12 Uhr zu dem Chinesen um die Ecke gegangen war und uns ein Mittagessen besorgt hatte, welches meinen Magen endlich dazu gebracht hatte, still zu sein. Während den langweiligen Stunden der Schreibtischarbeit war es draußen noch düsterer geworden. Die Wolken hingen tief über der Stadt und verliehen ihr etwas Bedrohliches. In der Ferne zuckten hin und wieder Blitze über den Himmel und selbst durch das Telefongeklingel hindurch konnte man das Donnern hören. Das schlechte Wetter drückte nicht nur mir auf die Stimmung, sondern auch allen anderen und bald hatte ich überhaupt keine Lust mehr, irgendwelche Akten zu bearbeiten. Deshalb legte ich den Kugelschreiber zur Seite, streckte mich genüsslich und überlegte bereits, wie ich Gibbs davon überzeugen konnte, eine kleine Pause einzulegen, als sein Telefon klingelte. Mit einem üblichen schroffen „Ja" meldete er sich aber gleich darauf hellte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig auf. „Ducky ist mit der Autopsie fertig", sagte er, als er aufgelegt hatte und stand auf. Glücklich darüber, endlich dem Schreibtisch entfliehen zu können, sprang ich auf und eilte ihm hinterher, dicht gefolgt von Ziva und McGee. Ein paar Sekunden später glitten die Türen des Fahrstuhls auf und wir betraten die kleine Kabine, wobei Jethro und ich hinten an der Wand standen, während unsere beiden Kollegen direkt vor den Türen ihren Platz gefunden hatten. Wir waren uns plötzlich so nahe, dass ich das Gefühl hatte, seine Körperwärme auf meiner Haut zu fühlen. Einem inneren Drang folgend, warf ich meinem Boss einen verstohlenen Blick zu. Hätte ich gedacht, er würde es nicht merken, so hatte ich mich gründlich getäuscht. Es war so, als ob er spüren würde, dass ich ihn ansah. Er drehte leicht seinen Kopf und seine Augen begegneten den meinen. Mein Puls erhöhte sich prompt und mein Hals wurde staubtrocken – ich konnte mich nicht einmal mehr bewegen. In dem intensiven Blau lag ein Funkeln, das ich bei ihm noch nie gesehen hatte. Sein Gesicht nahm einen zärtlichen Ausdruck an und wie zufällig berührte seine Hand meine Finger. Mein Herz schlug viel zu laut in meiner Brust und ich hatte die Befürchtung, Ziva und McGee würden es hören. Unwillkürlich erwiderte ich seine Berührung, suchte seine Nähe, obwohl uns nicht einmal ein halber Meter trennte. Da war es wieder, dieses unzerreißbare Band, welches uns bereits am Morgen verbunden hatte, als ich ihm den Kaffee überreicht hatte. Ich verspürte den Drang, ihn an mich zu ziehen und ihn so lange zu küssen, bis wir beide keine Luft mehr bekamen, ihn zu liebkosen, seine warme Haut unter meinen Fingern spüren. Mein Atem beschleunigte sich unwillkürlich und ich umfasste seine Hand noch fester, wollte ihn nicht loslassen.
Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, die unser Blickkontakt dauerte und als ein leises Pling ankündigte, dass wir im Keller angekommen waren, musste ich erstmals blinzeln, um wieder klar sehen zu können. Erst jetzt realisierte ich, dass wir uns nicht alleine in dem Fahrstuhl befanden. Ich hatte meine beiden Freunde komplett vergessen, so sehr war ich von Jethros Blick gefesselt gewesen.
Wir beide fuhren blitzschnell auseinander, so als ob uns jemand dabei erwischt hätte, dass wir verbotenerweise herumgefummelt hätten. Bevor sich die Türen ganz geöffnet hatten, hatte sich Gibbs wieder unter Kontrolle und seine normale griesgrämige Miene aufgesetzt. Allerdings erreichte diese seine Augen nicht. In ihnen lag weiterhin ein Funkeln, das ich nicht einordnen konnte, was mir aber ein ungewohnt warmes Gefühl bescherte.
„Willst du hier Bäume schlagen, Tony?" fragte Ziva und riss mich somit komplett aus meinen Gedanken. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich der Einzige war, der noch in der Kabine stand – selbst Jethro war schon draußen und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an und er ließ mich damit wissen, dass ihm bewusst war, weshalb ich mich nicht vom Fleck rührte. Mein Gesicht fühlte sich plötzlich ganz warm an und um zu überspielen, dass ich ein wenig verlegen war, sagte ich: „Es heißt Wurzeln schlagen, Ziva." „Ist doch dasselbe", gab sie bissig zurück. Ihrer Miene konnte ich entnehmen, dass sie sich fragte, warum ich wie eine Statue im Lift stand. Um ihr keinen weiteren Grund für weitere Spekulationen zu geben, verließ ich endlich den Fahrstuhl. Ich warf Gibbs einen Blick zu, den er ruhig erwiderte, sich aber dann abwandte und der Pathologie entgegenstrebte.
‚Was ist da gerade eben passiert?' fragte ich mich selbst und versuchte erfolglos, meinen Herzschlag zu beruhigen. Automatisch setzte ich einen Fuß vor den anderen. ‚Weshalb hat er mich so seltsam angesehen? Ist es etwa möglich, dass er…?' Aber bevor ich den Gedanken zu Ende führen konnte, drang ein leises Zischen an meine Ohren und die Türen der Pathologie öffneten sich, um uns in die Hallen des Todes einzulassen.

Im Gegensatz zum Großraumbüro bekam man hier unten nichts von dem schlechten Wetter, das draußen herrschte, mit. Es war ruhig, nur das leise Summen der Klimaanlage war zu hören, genauso wie unsere Schritte, die auf dem Boden widerhallten.
Ducky stand an der gegenüberliegenden Wand und studierte eingehend die Röntgenbilder des Toten, der auf einen der beiden Stahltische lag. Deutlich konnte man seine inneren Organe sehen, die vor nicht allzu langer Zeit gewogen worden waren. Noch klaffte der Y-Schnitt in der Haut des Oberkörpers, aber Palmer machte sich gerade an die Vorbereitungen, um diesen zusammenzunähen. Er hatte sich bereits Gummihandschuhe übergezogen und in den Fingern seiner rechten Hand hielt er eine Nadel, die mit einem langen Faden bestückt war. Er hob seinen Kopf, um zu sehen, wer in die Pathologie gekommen war und nickte uns grüßend zu, bevor er sich daran machte, das spitze Instrument in der Haut der Leiche zu versenken.
Ducky drehte sich bei dem Geräusch der sich öffnenden Tür um. „Ah, da seid ihr ja endlich", sagte er und trat von der Wand weg, sodass ich einen wunderbaren Blick auf ein Bild eines Schädels hatte, in dessen Stirn ein rundes Loch prangte. Der Pathologe hatte sich bereits umgezogen und das grüne Gewand, das er bei der Autopsie normalerweise trug, durch einen weißen Arztmantel ersetzt.
„Wir wären schon eher da gewesen, wenn sich Tony nicht dazu entschlossen hätte, im Fahrstuhl zu einer Statue zu erstarren", erwiderte Ziva und warf mir ein gehässiges Lächeln zu. „Wie kann man denn in einem Fahrstuhl zu einer Statue erstarren?" wollte Jimmy neugierig wissen und vergaß für einen Moment, dass er eigentlich den Toten zusammennähen sollte. „Leiden Sie etwa unter Klaustrophobie?" „Nein", antwortete ich zischend und schenkte den beiden einen ärgerlichen Blick. „Warst du noch nie so in Gedanken, dass du für kurze Zeit vergessen hast, wo du dich befindest, Officer David?" „Woran hast du denn gedacht? Vielleicht an den Detective? Der schien dich ja sehr zu mögen." „Und wenn ihr beide nicht sofort aufhört, dann sorge ich persönlich dafür, dass ihr die Nacht im Fahrstuhl verbringt", mischte sich Gibbs ein. In seinen Augen lag das mir nur allzu bekannte Funkeln, aber gleich darauf wurde der Ausdruck milder, als er mich ansah. Wenn ich mich nicht täuschte, zuckten sogar seine Mundwinkel verräterisch – eine Sekunde später war jedoch der mürrische Chefermittler zurückgekehrt. „Tschuldigung, Boss", murmelte ich und stellte überrascht fest, dass ich das letzte Wort nur mit Mühe über meine Lippen brachte. Normalerweise hatte es mir noch nie etwas ausgemacht, ihn so zu nennen, aber jetzt? Es schien, als ob sich mit der Erkenntnis, dass ich ihn liebte, plötzlich alles verändert hatte. Nur ob es zu meinen Gunsten war, das musste ich noch herausfinden.
„Wisst ihr, eure kleinen Streitereien erinnern mich an eine Geschichte aus meiner Jugend, die, wie ihr sicher alle richtig vermutet, bereits lange zurückliegt. Dennoch kommt es mir wie gestern vor. Mein damaliger bester Freund hat…" „Ducky!" unterbrach ihn Gibbs ungeduldig und runzelte seine Stirn – ein sicheres Zeichen dafür, dass er momentan keinen Nerv dafür hatte, sich einen endlosen Vortrag über die Teenagerzeit seines Freundes anzuhören.
„Was war denn damals mit Ihrem besten Freund, Doktor?" fragte Jimmy neugierig, aber als ihn vier Paar funkelnde Augen trafen, zog er es vor, die Leiche weiter zusammenzunähen.
„Also, was hast du für uns?" nützte Jethro die Sekunde, in der wir alle schwiegen, um wieder auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen. Er ging zu dem Toten und ohne es wirklich zu merken, blieb ich ihm dicht auf den Fersen, suchte seine körperliche Nähe, so als ob diese plötzlich lebenswichtig für mich wäre – genauso wie die Luft zum Atmen.
Ducky folgte uns und blieb neben Palmer stehen, der kurz in seiner Aufgabe inne hielt, um den Ausführungen seines Vorgesetzten zu lauschen. „Die Todesursache war eindeutig der Kopfschuss. Der Arme hat zum Glück nichts mehr gespürt. Ich schätze, er war bereits nicht mehr unter uns, als er auf dem Boden aufgeschlagen ist. Ansonsten habe ich noch ein paar bläuliche Verfärbungen an seinen Rippen gefunden." Er deutete mit seiner rechten Hand auf die Hämatome, die man auf der blassen Haut deutlich sehen konnte. „Also wurde er vor seinem Tod verprügelt", stellte McGee fest und beugte sich über die Leiche, um einen genauen Blick auf die Verletzungen zu erhaschen. „Höchstwahrscheinlich", erwiderte Ducky und bedeutete seinem Assistenten, dass er mit dem Nähen weitermachen konnte. „In seiner Kindheit hat sich unser unbekannter Marine einmal das Handgelenk gebrochen, was jedoch vollkommen verheilt ist." Bei seinen Worten deutete er auf eines der Röntgenbilder und wandte sich anschließend erneut uns zu.
„Todeszeitpunkt?" fragte Gibbs knapp. „Zwischen zwei und halb vier Uhr morgens", antwortete der Pathologe genauso knapp. „Ich habe seine Fingerabdrücke zu Abby hinaufgeschickt. Vielleicht kann sie ihn dadurch identifizieren. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn ein Grab ohne Name bleibt. Vor Jahren hatte ich einmal einen Fall, der…" „Danke, Ducky", unterbrach ihn Gibbs erneut und gefolgt von Ziva und McGee verließ er die Pathologie.
Ich hingegen blieb einfach stehen, denn auf einmal hatte ich das Bedürfnis, mit jemandem über meine Gefühle für Jethro sprechen zu müssen und wer wäre dafür besser geeignet als der Pathologe? Immerhin wusste er alles, was zwischen uns vorgefallen war und ich war mir sicher, er würde mir einen Rat geben können, wie ich jetzt weiter vorgehen sollte.
„Willst du nicht mitkommen, Tony?" fragte Ziva, bereits unter der Tür stehend. „Geht schon einmal vor. Ich will noch kurz mit Ducky sprechen." Verwundert hob sie eine Augenbraue und selbst McGee war überrascht. Ich blickte zu Gibbs, der mich mit leicht geneigtem Kopf musterte und als er den Mund aufmachte, rechnete ich bereits mit seiner Widerrede. Umso erstaunter war ich über seine nächsten Worte: „In Ordnung. Aber bleib nicht zu lange. Wir sind in der Zwischenzeit bei Abby." Damit drehte er sich um und ging zum Fahrstuhl. McGee sah ihm mit offenem Mund nach und auch Ziva schien nicht wirklich zu realisieren, dass er mir so ohne weiteres erlaubt hatte, hier zu bleiben. „Braucht ihr beide eine Extraeinladung?!" hallte Jethros Stimme aus dem Lift und mit einem letzten Blick in meine Richtung verließen sie die Pathologie. Kurz darauf schloss sich hinter ihnen zischend die Tür.
Zurück blieben ein neugieriger Palmer, Ducky, der mich interessiert ansah und in dessen Augen Verständnis aufblitze und meine Wenigkeit, die leicht nervös an der Unterlippe herumkaute. Ich blickte zu dem Pathologen und da ich keine Anstalten machte, etwas zu sagen, verstand er sofort. „Mister Palmer, könnten Sie uns bitte kurz alleine lassen?" wandte er sich deshalb an seinen Assistenten, dem das nicht sonderlich gefiel. Immerhin hatte er sicher gedacht, etwas Interessantes zu erfahren. „Aber ich soll doch den Toten zusammennähen", wagte er einen Versuch, seinen Vorgesetzten überreden zu können, hier zu bleiben – dieser blieb jedoch eisern. „Das können Sie auch nachher noch machen. Gönnen Sie sich eine Pause, trinken Sie eine Tasse Kaffee oder machen Sie einen Spaziergang." Jimmy nickte nach ein paar Sekunden, legte die Nadel aus der Hand und verließ schließlich die Pathologie.
Erleichtert darüber setzte ich mich auf den freien Stahltisch und sah Ducky dabei zu, wie er das Licht an dem Kasten ausmachte, auf dem die Röntgenbilder aufgehängt waren. „Also, was hast du auf dem Herzen, Tony?" fragte er, nachdem er sich zu mir umgedreht hatte. Ich seufzte leise und erwiderte: „Nicht was, sondern wen, Ducky." Dieser hob eine Augenbraue, aber da er keine Anstalten machte, etwas zu sagen, fuhr ich fort: „Es geht um Gibbs." Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen. „Ja, das habe ich mir bereits gedacht." Er kam langsam auf mich zu und setzte sich neben mich auf den Tisch, sodass ich den Kopf drehen musste, um ihn weiter anzusehen. Es überraschte mich keineswegs, dass er wusste, weshalb ich mit ihm reden wollte. Immerhin hatte ich ihm vor etwas mehr als drei Wochen schon einmal mein Herz ausgeschüttet und er schien ein Gespür dafür zu haben, weshalb jemand zu ihm kam – außer von ihm obduziert zu werden.
„Was hat Jethro denn angestellt?" wollte er wissen, da ich zögerte, als Erster das Wort zu ergreifen und ich war ihm dankbar dafür, dass er mir einen Faden hingeworfen hatte, den ich jetzt aufnehmen konnte. „Er hat gar nichts angestellt", antwortete ich und stützte mich mit meinen Händen rechts und links von meinen Oberschenkeln auf dem Tisch ab, da ich nicht wusste, was ich mit ihnen anstellen sollte. „Oder besser gesagt, er macht mich alleine durch seine Anwesenheit fast verrückt. In seiner Nähe habe ich das Gefühl, nicht mehr denken zu können und die Umwelt wird auf einmal vollkommen unwichtig. Vorher im Fahrstuhl haben wir uns angesehen, so als ob es nur uns beide geben würde und mir war sogar egal, dass Ziva und McGee sich vor uns befanden und möglicherweise alles mitbekommen haben. Wir haben sogar für ein paar Sekunden Händchen gehalten." Ich hielt inne und ließ meine Beine baumeln. „Jetzt verstehe ich, weshalb Ziva vorhin gemeint hat, du wärst im Lift zu einer Statue erstarrt." Ducky rutschte ein wenig umher, um eine bequemere Position zu finden und fixierte mich dann mit seinen Augen. „Ich konnte mich einfach nicht mehr bewegen. Meine Muskeln haben mir einfach nicht mehr gehorcht und Gibbs wusste natürlich, weshalb ich mich nicht vom Fleck gerührt habe." „Nun, Jethro war schon immer intelligent und er scheint zu wissen, welche Wirkung er auf dich hat." „Tja, dagegen kann ich wohl nichts machen", sagte ich und fing erneut an, an meiner Unterlippe zu kauen. Dass mein Boss eventuell von meinen Gefühlen ihm gegenüber wusste, machte mir ein wenig Angst, denn diese Empfindungen machten sogar mir Angst, mehr als ich mir zurzeit eingestehen wollte. Ich hatte einfach keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte.
„Heute morgen ist mir etwas klar geworden", sagte ich beinahe flüsternd und ließ meinen Blick kurz in der Pathologie schweifen, bevor er erneut auf Ducky landete, der an seiner Hose herumzupfte, um mir die Möglichkeit zu geben, die richtigen Worte zu finden. Eine Sekunde später sah er auf und mir direkt in die Augen, wobei in den seinigen nichts weiter als Gutmütigkeit lag. Seine Miene verriet nicht, was er dachte, aber trotzdem ahnte ich bereits, dass er wusste, was jetzt kommen würde – ihm entging eben nichts.
Ich holte noch einmal tief Luft und sagte die Worte, die seit Stunden in meinem Inneren herumspukten und die ich noch niemandem verraten hatte. „Ich liebe Jethro." Für einen kurzen Moment war es totenstill und ich nahm nur das Rauschen meines Blutes in den Ohren wahr. Obwohl es jetzt heraus war, fühlte ich mich nicht wirklich erleichtert, aber trotzdem tat es gut, dass es jemand wusste – jemand, der sicher einen Rat für mich parat hatte.
Auf Duckys Lippen bildete sich ein Lächeln und er legte seinen Kopf ein wenig schief. „Das ist nicht zu übersehen, Tony", erwiderte er schließlich und bei meinem verdutzten Gesichtsausdruck lächelte er noch breiter. „Hast du etwa geglaubt, ich würde es nicht mitbekommen? Seit eurem Auftrag hast du ein Funkeln in deinen Augen, was du vorher noch nie gehabt hast. Du suchst seine Nähe, selbst an Tatorten oder wie vor ein paar Minuten, als ihr hier herunter gekommen seid. Du bist ihm kein einziges Mal von der Seite gewichen. Ich hatte beinahe den Eindruck, als ob ihr beide durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden seid. Und dann sind da die Blicke, die du ihm zuwirfst, wenn du glaubst, keiner würde es bemerken. Mir ist schon lange bewusst, dass du Jethro liebst und ich habe mich in den letzten Tagen ständig gefragt, wann du darauf kommst, wann dein Verstand realisiert, was dein Herz schon längst weiß."
„Ich hätte nicht gedacht, dass es so offensichtlich ist", murmelte ich und starrte auf den Boden. Seine Worte machten mir ein wenig Angst. Immerhin hatte ich es selbst erst heute Morgen begriffen, dass ich Gibbs liebte und nie damit gerechnet, dass es man mir ansehen konnte – noch bevor ich es selbst überhaupt realisiert hatte.
Ducky schien zu spüren, was in mir vorging, denn er legte mir beruhigend eine Hand auf meine. „Für mich war es offensichtlich, da ich weiß, was zwischen euch geschehen ist", sagte er und ich blickte erneut zu ihm auf. Das Lächeln auf seinen Lippen war verschwunden und Sanftheit hatte die Oberhand gewonnen. „Die anderen werden sich dabei sicher nichts gedacht haben. Ihr arbeitet ja ständig zusammen und da ist es nichts Ungewöhnliches, wenn du in Jethros Nähe bist." Ich entspannte mich wieder ein wenig, ließ meine Muskeln locker, die sich verkrampft hatten. Aber dennoch war das Problem noch nicht gelöst.
„Was soll ich denn jetzt machen?" fragte ich. „Ich meine, ich schaffe es einfach nicht, so zu tun, als ob ich keine Gefühle für Gibbs hätte. Es fällt mir schwer, ihn nicht zu berühren oder nicht zu lange anzusehen. Und ich bringe es nur mühsam über mich, ihn Boss zu nennen. Ich will einfach nicht, dass er weiter nur mein Vorgesetzter ist und schon gar nicht will ich, dass er mich weiterhin als seinen Untergebenen ansieht." Ich starrte erneut zu Boden, in der Hoffnung, dort eine Lösung zu finden. Für ein paar Sekunden breitete sich Schweigen zwischen uns aus und jeder hing seinen Gedanken nach.
„Rede mit Jethro", meinte Ducky schließlich und ich hob abrupt meinen Kopf. „Was?" „Rede mit ihm, Tony. Sei ehrlich zu ihm und sage ihm, was du fühlst." Ich kniff meine Augen zusammen und presste meine Kiefer aufeinander, bis sie schmerzten. „Oder hast du Angst davor, was die anderen denken werden? Mich würde das nicht verwundern. Selbst in unserer heutigen aufgeklärten Gesellschaft stehen noch viele Menschen homosexuellen Paaren kritisch gegenüber. Das erinnert mich übrigens an eine Geschichte aus dem Jahr 1988. Ich hatte einen Freund, der…" „Mir ist egal, was die anderen denken", unterbrach ich ihn, da ich momentan nicht in der Stimmung für einen seiner unendlich langen Vorträge war. „Ich würde mich sofort öffentlich zu unserer Beziehung bekennen und mich nicht verstecken – allen zeigen, wie glücklich ich bin. Aber in einem Punkt hast du Recht. Ich habe Angst, Angst davor, zurückgewiesen zu werden. Was ist, wenn Gibbs nicht dasselbe empfindet? Ich weiß nicht, ob ich es schaffen würde, dann jeden Tag mit ihm zusammenzuarbeiten, in seiner Nähe zu sein."
„Nun, diese Gefahr besteht natürlich", sagte Ducky. „Aber sei mal ehrlich, Tony. Willst du es Jethro wirklich verheimlichen? Willst du wirklich riskieren, dass deine Liebe unerfüllt bleibt? Wirst du dich in Zukunft nicht fragen, was hätte sein können, wenn du mit ihm gesprochen hättest? Und wer weiß, vielleicht empfindet er ja dasselbe für dich. Ich an deiner Stelle würde mir Gewissheit verschaffen wollen, auch wenn die Gefahr der Zurückweisung besteht. Aber ich finde, Unwissen ist noch viel schlimmer. Ich gebe dir also den Rat: rede mit Jethro und du kannst mir glauben, wenn ich dir jetzt sage, dass danach alles gut werden wird." Ein Lächeln umspielte seine Lippen, aber er machte keine Anstalten, weiter zu reden – oder die Bedeutung des letzten Satzes zu erklären. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass er mehr wusste als ich - mich aber nicht einweihen würde. Deshalb seufzte ich leise auf. „Dann werde ich wohl mit Gibbs sprechen", meinte ich und glitt vom Tisch herunter. „Mehr als mich feuern oder erschießen kann er nicht machen." Ich grinste breit und auf einmal fühlte ich mich erleichtert. Duckys Zuversicht, dass alles gut gehen würde, hatte sich ein wenig auf mich übertragen und die Zukunft sah nicht mehr ganz so schwarz aus. Aber dennoch begannen meine Nerven bei dem Gedanken daran, dass ich bald mit Gibbs alleine sein würde, zu flattern.
„Ihr beide werdet das sicher schaffen", sagte der Pathologe und glitt ebenfalls vom Tisch, um sich kurz darauf zu strecken. „Und jetzt solltest du besser zu Abby hinauffahren. Die anderen warten bestimmt auf dich." Ich nickte, ging zur Tür, die sich leise zischend öffnete, drehte mich aber noch einmal um. „Danke, Ducky." „Keine Ursache." Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und setzte sich kurz darauf an seinen Schreibtisch, um den Autopsiebericht zu schreiben.
Mit viel mehr Optimismus – als noch vor wenigen Minuten - ausgestattet, betrat ich den Fahrstuhl und drückte den Knopf für die Forensik – in dem Wissen, dass sich eine Etage höher der Mann befand, den ich über alles liebte und mit dem ich in Zukunft mein Leben verbringen wollte.

Fortsetzung folgt...
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