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Nicht einmal eine halbe Minute später verließ ich den Fahrstuhl wieder und kurz darauf öffneten sich die Türen des Labors, um mich einzulassen. Normalerweise konnte man bereits am Gang laute Musik hören, aber diesmal war sie auf ein erträgliches Maß heruntergedreht worden. Dennoch das Lied, welches gerade aus den Boxen schallte, für mich nichts weiter als Krach. Was hatte denn ein Song für einen Sinn, wenn man nicht einmal den Text verstand? Abbys Musikgeschmack war eben genauso verrückt wie ihr Kleidungsstil. Heute trug sie eine schwarze Hose mit einem Nietengürtel und ein dazu passendes dunkles T-Shirt, welches ihre schlanke Figur betonte. Ihre Haare waren wie üblich zu Rattenschwänzen zusammengebunden, die lustig tanzten, als sie sich bei meinem Eintreten umdrehte. Ein breites Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie mich erkannte und prompt übertrug sich ihre gute Laune auf mich. In Gegenwart der Forensikerin konnte man einfach nicht lange eine miese Stimmung haben. „Da bist du ja, Tony", sagte sie fröhlich und wippte leicht auf ihren Fersen auf und ab. Meine Kollegen wandten ebenfalls ihre Aufmerksamkeit mir zu und als mich Gibbs kurz ansah, stieg in mir das bereits vertraute Kribbeln auf. Und wieder verspürte ich den Drang, ganz in seiner Nähe zu sein, aber diesmal riss ich mich zusammen – immerhin wollte ich den anderen nicht zeigen, was in mir vorging, jedenfalls jetzt noch nicht.
„Was hast du denn mit Ducky so Wichtiges besprechen müssen?" fragte McGee, auf dessen Gesicht man die Neugier richtiggehend ablesen konnte, sofort. „Nichts Interessantes", gab ich zurück, in dem Wissen, dass ich ihm auswich. Aber was hätte ich ihm auch anderes sagen sollen? Bevor ich nicht alleine mit Jethro geredet hatte, würde ich keinem anderen verraten, dass ich ihn verliebt war. Er hatte ein Recht darauf, es von mir zu erfahren und nicht durch irgendwelchen Bürotratsch.
„Dafür, dass es nichts Interessantes war, warst du ganz schön lange in der Pathologie", sagte Ziva und verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Wenn ich mich nicht täusche, länger als 10 Minuten. Da habt ihr sicher nicht über Nichts geredet." In mir stieg Ärger auf, Ärger darüber, dass sie nicht locker lassen konnte. „Es war etwas Privates, okay?" meinte ich etwas lauter als angebracht, aber dennoch hielt ich mich nicht zurück. „Du brauchst nicht gleich so aus der Schale zu fahren." „Es heißt, aus der Haut fahren", berichtigte sie McGee, bevor ich die Gelegenheit dazu hatte. „Wo ist da der Unterschied?" wollte die junge Frau prompt wissen. „Wenn ihr nicht sofort aufhört, werdet ihr bald nichts weiter zu tun haben, als langweilige Schreibtischarbeit", mischte sich Gibbs ein, den langsam die Geduld verließ. Ein wütendes Funkeln lag in seinen blauen Augen und er schien uns alle drei mit seinen Blicken aufzuspießen. „Tschuldigung", murmelte Tim und musterte interessiert seine Schuhe. Ziva hingegen war nicht anzumerken, was sie über die Zurechtweisung dachte und ich wünschte mir, meine Kollegen würden nicht immer so neugierig sein. Hätten sie nicht einfach nicht Mund halten können?
Abby sah von einem zum anderen und amüsierte sich köstlich. „Das ist ja wie im Kindergarten", sagte sie grinsend. „Jetzt siehst du, mit womit ich täglich zu kämpfen habe", meinte der Chefermittler, aber seinen Worten wurde die Schärfe genommen, da seine Mundwinkel zuckten. Für eine Sekunde streifte mich sein Blick und erleichtert stellte ich fest, dass das wütende Funkeln aus seinen Augen verschwunden war - wobei ich jedoch nicht sagen konnte, ob es an der Fröhlichkeit Abbys lag oder an meiner Anwesenheit.
Gibbs drehte sich wieder zum Bildschirm um und besah sich die Informationen, die darauf zu erkennen waren. Sekunden des Schweigens vergingen, in denen ich seinen Rücken musterte, die breiten Schultern und seine starken Arme. Unglaubliche Sehnsucht stieg in mir auf und unwillkürlich entschlüpfte mir ein leises Seufzen, das jedoch in einem lauten Piepsen unterging – worüber ich mehr als froh war.
„Ich bin die Beste!" rief Abby aufgeregt und tippte wie wild auf ihrer Tastatur herum. Vergessen war ihr Interesse über unsere kleine Auseinandersetzung. „Sag schon, bin ich gut oder gut?" wandte sie sich an ihren Boss und strahlte ihn an. „Wenn du mir verrätst, was du herausgefunden hast?" „Habe ich das nicht erwähnt?" „Nein, hast du nicht", meinte McGee, der sich von dem Anblick seiner Schuhe losgerissen hatte und jetzt ebenfalls zu dem Computer ging, um zu sehen, was die junge Frau in Begeisterung versetzte. „Also, Ducky hat mir ja die Fingerabdrücke des unbekannten Marines heraufgebracht, obwohl, wenn ich ehrlich bin, war es Jimmy, der mir einen Besuch abgestattet hat, denn unser guter Duck war ja damit beschäftigt, den Toten zu obduzieren und…" „Abbs!" unterbrach Jethro ungeduldig ihren Redefluss. „Tschuldigung. Also, wo war ich? Ach ja, bei den Fingerabdrücken des Marines." Sie tippte einen kurzen Befehl und auf dem großen Plasmabildschirm, der an der hinteren Wand aufgehängt war, erschien ein Bild des jungen Mannes, der unten in der Pathologie lag, in der Uniform eines Marines. Seine Haare waren kurz und sein Gesichtsausdruck zeigte Langeweile, so als ob es eine Qual gewesen wäre, sich fotografieren zu lassen. „Darf ich vorstellen? Lance Corporal Frank Clarence." Sie drehte sich zu uns um und strahlte uns an. „Klasse, jetzt haben wir wieder etwas anderes zu tun als Akten bearbeiten", rutschte es mir heraus und ich zog bereits den Kopf ein, da ich die Befürchtung hatte, Gibbs würde mir einen Klaps verpassen. Er schenkte mir jedoch nur einen kurzen Blick, bevor er sagte: „Ich will alles über diesen Mann wissen, von seiner Geburt bis zu seinem Tod, was er in den Stunden vor seinem Ableben gemacht hat und wenn es geht, heute noch. McGee, setz dich mit seinem Vorgesetzten in Quantico in Verbindung und finde heraus, ob einer seiner Kameraden einen Groll gegen ihn gehegt hat." „Geht klar, Boss", erwiderte dieser und verließ sofort das Labor. „Und worauf wartet ihr beide?" wandte er sich an Ziva und mich. „Wenn ich mich recht erinnere, wollte ich alles über das Leben des Lance Corporals erfahren." „Sind schon weg", meinte ich und verließ widerwillig seine körperliche Nähe. Kurz bevor sich die Tür zischend hinter uns schloss, hörte ich noch: „Du bist die beste, Abbs."

Waren die vorherigen Stunden zäh wie geschmolzener Gummi verronnen, so verlief der Nachmittag um einiges schneller. Durch den anhaltenden Regen war es bereits früh düster geworden und in dem Großraumbüro wurden am frühen Abend Lichter eingeschaltet, die das Zwielicht halbwegs vertrieben. Die kleinen Wassertropfen hämmerten unermüdlich gegen die Fensterscheiben, wo sie in langen Schlieren hinabrannen und sich auf halber Strecke vereinigten.
Diesmal hatte ich jedoch keinen Blick für das Wetter übrig, sondern konzentrierte mich auf das Leben von Frank Clarence. Ich war froh, endlich etwas anderes tun zu können und so hatte ich einfach den unerledigten Stapel Akten auf den Boden abgestellt, um für die anderen Sachen genug Platz zu haben. Seit Stunden sammelten Ziva, McGee und ich kleine und große Details aus dem nicht gerade langen Leben des Mannes. Trotz der umfassenden Informationen kristallisierte sich kein Verdächtiger heraus und langsam begann ich daran zu zweifeln, dass es sich um einen geplanten Mord gehandelt hatte. Immerhin wurde keine Brieftasche bei dem Toten gefunden und sonst auch keine Wertgegenstände, was eher auf einen Raubmord hindeutete. Noch war es zu früh, um das bestimmt sagen zu können, zumal es nicht einmal einen Zeugen gab. Abby hatte, nachdem sie die den Marine identifiziert hatte, das Tonband mit dem anonymen Anruf bearbeitet, aber nichts dabei herausgefunden. Die Telefonnummer gehörte zu einer öffentlichen Telefonzelle vier Blocks vom Tatort entfernt. Der Anrufer war ein Mann gewesen, in dessen Stimme ein Südstaatenakzent mitgeschwungen war und der sich leicht betrunken angehört hatte. Ansonsten hatte das Band nichts hergegeben.
„Was habt ihr?" fragte Gibbs, der gerade das Büro betrat, in der rechten Hand einen Kaffeebecher haltend. Seine Haare waren von dem Regen nass, genauso wie seine Jacke, die er achtlos auf seinen Stuhl warf. Anschließend stellte er sich vor den großen Plasmabildschirm und wartete darauf, dass jemand von uns das Wort ergriff. „Ähm, ja", sagte ich, stand auf und schnappte mir die Fernbedienung, um das Bild des Lance Corporals aufzurufen. Dabei stellte ich mich dichter neben Jethro, als es nötig gewesen wäre. Er roch angenehm nach Kaffee und nach seinem Aftershave, das ich besonders gerne mochte. Ich atmete tief seinen Duft ein, bevor ich mit meinen Ausführungen begann und gleichzeitig versuchte, mein schnell klopfendes Herz zu ignorieren.
„Frank Clarence, geboren und aufgewachsen in Washington. Seine Mutter stammte aus England und sein Vater war Amerikaner. Beide sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Frank neun Jahre alt war. Da er sonst keine Verwandten hatte, nicht einmal Großeltern, kam er in ein städtisches Waisenhaus, wo er ziemlich schnell an die falschen Leute geriet. Bereits im Alter von 10 Jahren wurde er zum ersten Mal bei einem Ladendiebstahl erwischt. Sein Vorstrafenregister ist ganz schön lang, bis er mit 19 Jahren wegen Einbruchs verhaftet wurde und der Richter ihn vor die Wahl gestellt hat. Entweder tritt er dem Marine Corps bei oder er wandert in den Knast. Und wie wir alle wissen, hat er sich für das Corps entschieden, sonst würde er jetzt nicht unten bei Ducky liegen."
Gibbs trank einen großen Schluck Kaffee, nickte schließlich und sah zu Ziva, die mir die Fernbedienung aus der Hand genommen hatte und die Dienstakte aufrief. „Der Lance Corporal ist seit sieben Jahren im Dienst", fuhr sie fort und las dabei die Informationen aus der Akte ab, die sie in der Hand hielt. „Am Anfang gab es hin und wieder Schwierigkeiten, da er Probleme gehabt hatte, sich auf dem Stützpunkt in Quantico einzuleben. Er hatte öfters Streit mit Kameraden, aber das hat sich nach drei Monaten gelegt und er hat sich anscheinend in sein Schicksal gefügt. Seitdem ist seine Dienstakte weiß wie frisch gefallener Schnee." „Das stimmt auch mit dem überein, was mir sein Vorgesetzter erzählt hat", mischte sich nun McGee ein, der bis jetzt schweigend unseren Ausführungen gelauscht hatte. „Commander Travis hat mir berichtet, dass er seit Jahren keine Probleme mehr mit Frank Clarence gehabt hat. Er hat seine Arbeit zur Zufriedenheit aller erledigt und hat sich sogar mit den Kameraden gut verstanden, mit denen er am Anfang Streitereien hatte. Keiner kann sich vorstellen, dass ihn jemand tot sehen wollte, zumal er sich wirklich bemüht hat, ein neues Leben zu beginnen – jedenfalls sagen dass seine Zimmergenossen."
„Na schön", meinte Jethro, trank seinen Kaffee aus und warf den leeren Becher gezielt in den Mülleimer, der neben Tims Schreibtisch stand. „Also haben wir einen toten Lance Corporal, der anscheinend keine Feinde hatte und auch sonst mit seinem vorherigen Leben abgeschlossen hatte. Was ist mit denjenigen, die mit ihm im Waisenhaus waren und mit denen er die Einbrüche verübt hat?" „Zwei seiner damaligen Freunde sitzen wegen Mordes hinter Gitter", antwortete McGee. „Und der Dritte ist seit gut einem Jahr tot, nachdem er eine Bank ausgeraubt hat und auf der Flucht erschossen wurde." „Also haben wir zurzeit keine Verdächtigen", sagte Ziva und schlug die Akte in ihrer Hand zu. „Und was machen wir jetzt?" Gibbs sah auf seine Uhr und überlegte für ein paar Sekunden, bevor er erwiderte: „Ihr könnt Feierabend machen. Heute Abend werden wir sowieso nicht mehr viel ausrichten können." Ziva atmete erleichtert auf und auch McGee war nicht unglücklich darüber, endlich nach Hause fahren zu können – immerhin war es bereits nach 18 Uhr. Ich hingegen wurde plötzlich total nervös, denn ich wusste, entweder würde Jethro mich in etwa einer Stunde in die Wüste schicken oder mich leidenschaftlich küssen. Angst vor der ersten Variante kroch in mir empor, aber dann erinnerte ich mich an Duckys Worte, dass alles gut werden würde. Irgendwie teilte ich seine Zuversicht jedoch nicht ganz.
Langsam ging ich zu meinem Platz, hob die Akten vom Boden auf und fuhr meinen PC herunter. Ziva hatte bereits ihre Sachen gepackt, genauso wie McGee, der uns einen schönen Abend wünschte und zum Fahrstuhl eilte. „Kommst du, Tony?" fragte meine Kollegin und hängte sich ihren Rucksack um. „Ich muss noch kurz etwas erledigen. Du brauchst nicht auf mich zu warten", erwiderte ich und erhielt dafür einen verwunderten Blick. Aber da ich keine Anstalten machte, ihr zu erklären, weshalb ich länger blieb, zuckte sie die Schultern und folgte Tim, der soeben im Fahrstuhl verschwunden war.
Als ich sicher war, dass die beiden weg waren, sah ich auf und zu Gibbs, der an seinem Platz saß und etwas auf dem Bildschirm las. In meinem Hals bildete sich ein großer Kloß und mein Puls schoss in ungeahnte Höhen. „Nur Mut, Anthony", murmelte ich und bevor ich es mir anders überlegen konnte, stand ich auf und ging zu meinem Boss, der, als mein Schatten auf den Tisch fiel, aufblickte. Überrascht hob er eine Augenbraue, aber gleich darauf erhellte sich sein Gesicht etwas. „Ich dachte, du bist schon gegangen", sagte er und seine Stimme klang ganz anders als sonst, nicht so schroff, sondern eher weich. Ich schluckte, fuhr mir nervös durch meine Haare und setzte ein kleines Lächeln auf. „Nun ja, ich wollte… also, ich habe mich gefragt, ob du vielleicht Lust hast, mit mir ein Bier zu trinken. Ich habe gestern Abend ein paar Flaschen eingekühlt und ich finde es besser, sie in Gesellschaft zu leeren als alleine." Ich hielt inne und wartete mit wild klopfendem Herzen auf Jethros Reaktion, der mich mit schiefgelegtem Kopf musterte. Würde er ja sagen oder es vorziehen, an seinem Boot weiterzubauen? Mein Blut rauschte laut in meinen Ohren und ich fing an, meine Hände zu kneten, da er noch immer nichts gesagt hatte. Der Kloß in meinem Hals wurde noch größer und als er mir schließlich seine Entscheidung mitteilte, zuckte ich unwillkürlich zusammen, als seine Stimme an mein Ohr drang. „In Ordnung", meinte er. „Du hast Recht, ein Bier sollte man besser nicht alleine trinken, noch dazu bei diesem Wetter." Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein sollte, denn anstatt dass sich mein Puls beruhigte, erhöhte er sich noch um ein Stückchen mehr. Ich sah zu, wie Gibbs seinen PC abschaltete und sich seine Jacke schnappte. „Und ich habe schon geglaubt, du würdest lieber an deinem Boot bauen", sagte ich, um das Schweigen zu unterbrechen. „Ach, das läuft mir nicht davon", erwiderte er und ging bereits Richtung Fahrstuhl. Verwundert sah ich ihm hinterher. Hatte ich das eben richtig verstanden? Er zog mich seinem Boot vor? Ein breites Lächeln bildete sich auf meinen Lippen. „Was ist nun?!" rief er mir zu, da ich noch immer am selben Fleck stand. Deshalb nahm ich mir schnell meine Jacke, den Rucksack und quetschte mich in die Kabine, bevor sich die Türen ganz schlossen.

Fortsetzung folgt...
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