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Die Luft war eisig, die Temperaturen lagen unter dem Gefrierpunkt und der leichte Wind ließ sie noch kälter wirken. Jeder, der um diese Uhrzeit im Freien unterwegs war, würde sich dem Wetter entsprechend warm anziehen, um nicht zu erfrieren, allerdings gab es eine Person, die die Kälte begrüßte und sie in sich aufsog wie ein fast Ertrunkener kostbaren Sauerstoff.
Gibbs stand in seinem eigenen Garten, hinter einem großen Baum versteckt, dessen kahle Äste hoch in den dunklen Himmel ragten und wie gespenstische Schatten aussahen. Kleine, weiße Atemwolken stoben vor seinem Mund auf und verschwanden innerhalb von ein paar Sekunden wieder, so als ob sie nie dagewesen wären. Seine Hände waren taub und sie begannen unangenehm zu kribbeln, aber dennoch steckte er sie nicht in die Manteltaschen. Er wollte die Kälte spüren, wollte den Wind spüren, der mit seinen Haaren spielte, seine Wangen rötete und einzelne gefrorene Schneekristalle in sein Gesicht wehte. Er kam sich wie ein Eindringling vor, obwohl es sein Garten war, in dem er sich aufhielt und es sein Haus war, das er beobachtete. Trotzdem fühlte er sich fehl am Platz und mittlerweile erkannte er, dass es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen. Er hätte dem Drang, Tony sehen zu wollen, nicht nachgeben dürfen, aber jetzt war es zu spät, es war für alles zu spät.
Jethro hatte die letzten Stunden bei Darien verbracht und sie hatten vor allem über die Vergangenheit geredet, über ihre gemeinsame Zeit bei den Marines und ihre Erlebnisse danach. Irgendwann hatte er nur mehr automatisch geantwortet, hatte ab und zu genickt, war aber nicht mehr wirklich bei der Sache gewesen. Je mehr Stunden vergangen waren, desto öfter hatte er sich gefragt, wie es seinem Freund ging, was er gerade machte und wie er die Nachricht aufgenommen hatte. Alleine die Vorstellung, dass Anthony wegen ihm weinen würde, hatte ihn innerlich aufschreien lassen, aber er hatte nicht aufhören können, darüber nachzudenken, was er allen mit seinem vorgetäuschten Tod antat. Er wusste nicht genau wann, aber als die Sonne unterzugehen begann, hatte es Klick in seinem Gehirn gemacht und die Entscheidung, sich selbst zu überzeugen, wie es Tony ging, hatte sich in ihm festgesetzt. Dass es ein Fehler war, hatte er bereits da gewusst, aber es war ihm egal gewesen. Es hatte für ihn auch nicht gezählt, dass er sich damit in höchste Lebensgefahr begeben würde, würde Darien herausfinden, wohin er unterwegs war – und sein alter Freund traute ihm immer noch nicht, das hatte er sofort gemerkt. Kaum hatte er die Fabrikhalle verlassen und sich in den Mietwagen gesetzt, hatte er gespürt, dass er verfolgt wurde. Der Fahrer hatte sich nicht gerade geschickt angestellt, weshalb es Gibbs nicht schwer gefallen war, ihn abzuhängen. An einer Kreuzung war er einfach bei gelb abgebogen und hatte somit den anderen zum Anhalten gezwungen, da der Gegenverkehr losgebraust war.
Dennoch war er nicht gleich zu seinem Haus gefahren, sondern zu dem Apartment, das ihm Jenny besorgt hatte und hatte sich von dort ein Taxi gerufen.
Seinen Wagen hatte er stundenlang unbeobachtet gelassen, als er mit Darien geredet hatte und er konnte sich lebhaft vorstellen, dass dieser eine Wanze oder ein anderes kleines Gerät anbringen hatte lassen, damit er mitverfolgen konnte, wo Gibbs unterwegs war. Coolidge brauchte nicht zu wissen, dass Jethro vorhatte, Tony zu besuchen – wenn auch heimlich. Er würde seinen Freund nicht in Gefahr bringen, nur weil er seine Sehnsucht nicht in den Griff bekam. Es war bereits genug, dass Anthony wegen seinem angeblichen Tod litt, da wollte er nicht auch noch Schuld daran sein, wenn diesem etwas passierte.

Gibbs entließ seinen Atem, von dem er nicht einmal mitbekommen hatte, dass er ihn angehalten hatte, aus seiner Lunge und folgte mit den Augen den weißen Wölkchen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem hellerleuchteten Fenster zuwandte, hinter dem er die Küche ausmachen konnte. Er wusste, dass er nicht gesehen werden konnte, da sich das Licht sicher in dem Glas spiegelte und es dadurch undurchschaubar machte, aber dennoch blieb er weiterhin hinter dem dicken Baumstamm versteckt, der ihm einen gewissen Halt vermittelte. Ducky saß mit dem Rücken zu ihm und schien irgendetwas zu lesen, neben sich eine Tasse stehend, von der er ab und zu einen Schluck trank.
Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen, als er sich daran erinnerte, dass der Ältere immer ein paar Teebeutel für den Notfall bei sich hatte. Als er den Pathologen gesehen und erkannt hatte, dass Tony nicht alleine war, dass er die Sache nicht ohne Hilfe durchstehen musste, war er erleichtert gewesen.
Eine Sekunde später jedoch erstarb Gibbs' Lächeln, als er bemerkte, wie eine weitere Person die Küche betrat und bei deren Anblick stockte ihm erneut der Atem. Sein Herz verwandelte sich in einen einzigen, schmerzenden Klumpen und er fühlte sich auf einmal hohl und leer. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er widerstand nur knapp dem Drang, auf den Baum einzuschlagen. Die kalte Luft spielte keine Rolle mehr und er fing an zu zittern, aber nicht von den niedrigen Temperaturen, sondern von dem Anblick der sich ihm bot. Tony stand mitten in der Küche, redete mit Ducky und sah dabei so einsam und verloren aus, dass sich Jethros Innerstes nach außen kehrte. Sein Freund trug einen schwarzen Kapuzensweater, weite Jeans und kam anscheinend frisch aus der Dusche, jedenfalls waren seine Haare nass und standen in alle Richtungen ab - Haare, durch die er so gerne mit seinen Fingern gefahren war und es auch in diesem Moment gerne tun würde. Unglaubliche Sehnsucht stieg in ihm auf und ließ seine Eingeweide in Flammen aufgehen.
Es waren jedoch das weiße Gesicht, die Augenringe und die unendliche Trauer, die Tony ergriffen hatte, die ihn aus der Bahn warf. Jethros Atem ging in keuchenden Stößen und ein riesiger Kloß bildete sich in seinem Hals, sein Herz schmerzte ihn derart, dass er am liebsten laut geschrien hätte. Er hatte gewusst, dass es schlimm für Anthony sein würde, aber so schlimm? Sein Freund sah aus wie ein wandelndes Gespenst, nur mehr ein Abbild seines selbst, nichts war mehr von seiner Unbeschwertheit geblieben. Die Tatsache, dass Anthony so litt, ließ ihn taumeln und er hielt sich unwillkürlich an dem Baumstamm fest. Er lehnte seine Stirn gegen das raue Holz und versuchte die Kontrolle über sich zurückzuerlangen. Was hatte er nur getan? Wieso hatte er sich bloß für das Versprechen entschieden? Wieso hatte ihm Jenny überhaupt gesagt, dass Darien noch am Leben war? Wieso musste das gerade jetzt passieren, wo er so glücklich gewesen war? Seine Zweifel, die er seit gestern Abend mit sich herumschleppte, wurden stärker und er wusste, dass das kein gutes Zeichen war. In diesem Zustand war die Wahrscheinlichkeit, dass er einen Fehler machte, ziemlich groß und es konnte ihm das Leben kosten – oder noch schlimmer, Tonys Leben gefährden. Aber es gab kein Zurück mehr, er hatte seine Entscheidung getroffen und er musste jetzt mit den Konsequenzen leben. Er wusste, dass für ihn die nächsten Tage die Hölle sein würden und er das Bild seines Freundes, wie er blass und völlig fertig mitten in der Küche stand, lange nicht los werden würde. Vor 24 Stunden war seine Welt noch heil gewesen und er hatte sich auf den Abend mit Anthony gefreut, aber jetzt war alles anders. Er wusste nicht, was er machen sollte, wenn ihm dieser nicht verzeihen würde, wenn er die Wahrheit erfuhr. Wenn es so weit war, musste er über seinen Schatten springen und alles tun, um ihn wieder zurückzubekommen und wenn er dafür das Wort bitte verwenden musste, dann würde er das auch machen. Dennoch, so leicht würde es nicht werden, das spürte er genau und er wünschte sich nichts sehnlicher, als die Zeit zurückdrehen zu können.
Gibbs holte noch ein paar Mal tief Luft, bevor er seine Stirn vom Stamm löste und sich zwang, wieder durch das Fenster in die Küche zu sehen. Tony saß jetzt Ducky gegenüber am Tisch und hielt ein leeres Glas so fest in den Händen, dass er selbst von hier aus die weißen Knöchel sehen konnte. Seine Lippen bewegten sich, als er etwas zu dem Pathologen sagte, das Behältnis losließ und seine Finger von denen des anderen bedeckt wurden. Aber Jethro konzentrierte sich nicht darauf, sondern auf den silbernen Ring, den Anthony jetzt trug und der ihm gehört hatte. Also hatten sie ihn gefunden und jemand hatte dafür gesorgt, dass er dem Mann zurückgebracht worden war, der ihn gekauft hatte. Zu wissen, dass das Kleinod gut aufgehoben war, ließ ihn etwas entspannen, aber trotzdem blieb der Schmerz in ihm bestehen. Er war sich bewusst, dass er ein Versprechen gebrochen hatte - das Versprechen, den Ring niemals abzunehmen, egal was passierte. Falls die ganze Sache gut ausgehen würde, würde er ihn nie wieder weggeben und ihn immer am Finger tragen, so lange, bis er wirklich sterben würde.
Jethro sah dabei zu, wie Ducky aufstand und die Tasse in die Spüle stellte. Gleich darauf drehte sich Tony zu ihm um und die beiden redeten erneut miteinander, was damit endete, dass sein Freund nickte und der Ältere Richtung Tür ging und somit aus Gibbs' Blickfeld verschwand. Für ein paar Sekunden konnte er nur Anthonys Profil erkennen, bis sich dieser wieder dem Fenster zuwandte und eine Bewegung machte, so als ob er sich von dem Stuhl erheben wollte. Aber er hielt plötzlich inne und Jethros Herz setzte einen Schlag aus, ehe es mit doppelter Geschwindigkeit weiterraste. Grüne Augen bohrten sich in seine und obwohl er sich sicher war, dass er nicht entdeckt werden konnte, zuckte er bei dem direkten Blickkontakt heftig zusammen. Das Funkeln, das er so sehr liebte, war verschwunden und hatte Schmerz und Trauer Platz gemacht – Empfindungen, die Gibbs leise aufstöhnen ließen und er sich nur knapp zurückhalten konnte, einfach durch die Hintertür zu stürmen und seinen Freund fest in die Arme zu nehmen, um ihm zu sagen, dass alles gut werden würde und kein Grund bestand, traurig zu sein.
Gibbs schüttelte jedoch den Kopf, unterbrach den Sichtkontakt zu Tony und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Es wurde Zeit von hier zu verschwinden, bevor er noch irgendeine Dummheit anstellte, die alle gefährden würde, aber dennoch fiel es ihm schwer diesen vertrauten Ort zu verlassen, der ihm verriet, was er aufs Spiel setzte und dabei war, zu verlieren.
Er musste jetzt alleine sein, um den Schmerz in seinem Inneren unter Kontrolle zu bringen, bevor er mit einem abhörsicheren Handy, das ihm Jenny gegeben hatte, eben diese anrufen und ihr berichten würde, dass er von Darien aufgenommen worden war. Er war froh, dass es kein persönliches Treffen mit seiner Vorgesetzten geben würde, da sie sicher sofort erkennen würde, was ihm so sehr zu schaffen machte.
Jethro stieß sich von dem Baum ab, durchquerte ohne einen Blick zurückzuwerfen leise den Garten und trat schließlich auf die Straße hinaus. Obwohl er sich ein Taxi rufen hätte können, beschloss er, einen Teil der Strecke zu Fuß zu gehen. Er musste nachdenken und hoffte, die Kälte des Winterabends würde seinen Kopf etwas freier machen. Mit jedem Schritt den er machte, entfernte er sich von seinem Haus, von dem Mann, den er über alles liebte und von seinem alten Leben, von dem er hoffte, es irgendwann einmal wieder zurückzubekommen.

Fortsetzung folgt...
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