- Text Size +
Jen starrte auf die Tür und hörte noch immer das Geräusch, mit dem sie ins Schloss geworfen worden war – ein Geräusch, von dem sie glaubte, dass es sie verhöhnte. Kaum war Tony verschwunden, ließ sie sich gegen die Lehne ihres Sessels fallen und fuhr sich mehr als frustriert ein paar Mal über ihr Gesicht, nur um gleich darauf ihre Haare zu zerzausen, die in den letzten Tagen aufgehört hatten, das zu machen, was sie wollte. Die Idee, sie kürzer schneiden zu lassen, war ihr damals hervorragend erschienen, aber da hatte sie noch nicht damit gerechnet, dass sie öfters in alle Richtungen abstanden und sich nicht einmal mit Spray oder sonstigen Hilfsmitteln bändigen ließen. Noch dazu hatte Gibbs damals ihre neue Frisur nicht bemerkt oder hatte sie absichtlich übersehen, dabei hatte sie gedacht, sie würde ihm gefallen. Jen hätte wissen müssen, dass er sich zu keinem Kommentar hinreißen lassen würde, egal wie sehr sie an ihren Haaren herumgezupft hatte, um ihn darauf aufmerksam zu machen.
Aber jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, dafür hatte sie viel zu viele Probleme und ein großes hatte soeben ihr Büro verlassen. Sie hatte gewusst, dass diese ganze Sache nicht leicht werden würde und es war ihr mehr als schwer gefallen, Gibbs zu sagen, dass sein alter Freund noch am Leben war. Samstagabend hatte sie sofort bemerkt, in welchem Zwiespalt er gesteckt hatte, als sie ihm die Informationen anvertraut und ihn damit vor die Wahl gestellt hatte, ob er den Auftrag annehmen wollte. Noch dazu war ihr klar, was es für ihn bedeutete, erfahren zu haben, wer hinter der Explosion des Einkaufszentrums vor fast sechs Jahren steckte. Damals waren sie Partner gewesen und sie war eine der Ersten gewesen, die von ihm erfahren hatte, was geschehen war und sie hatte förmlich gespürt, dass er danach gierte, die Schuldigen zu finden, aber man hatte keine Ahnung gehabt, wer hinter der Verbrecherorganisation steckte, bis Jen vor drei Tagen den entscheidenden Hinweis erhalten hatte. Sie hatte ein wenig gezaudert, es Jethro zu sagen, hatte aber eingesehen, dass sie es ihm nicht verschweigen konnte und schon gar nicht die Tatsache, dass Darien einen neuen Anschlag plante.
Irgendwie hatte sie damit gerechnet, dass Gibbs den Auftrag nicht übernehmen würde, vor allem, da er seinen Tod vortäuschen musste und Tony damit mehr als leiden würde, genauso wie alle anderen des Teams. Alle hatten eine unglaublich enge Beziehung zueinander, aber die festeste Beziehung war diejenige zwischen Jethro und seinem Freund. Jen hatte ihren ehemaligen Partner noch nie so glücklich erlebt, schon gar nicht über einen derart langen Zeitraum von sieben Monaten. Dass sie anfangs gegen die Beziehung gewesen war, konnte sie nicht leugnen und es hatte ihr mehr als einmal einen Stich der Eifersucht versetzt, dass Jethro mit jemand anderem sein Glück gefunden hatte. Als sie erfahren hatte, dass Anthony und er ein Paar waren, hatte sie erkannt, dass sie noch immer ein wenig an Gibbs hing und sie sich insgeheim leichte Hoffnungen gemacht hatte, dass aus ihnen vielleicht doch noch etwas wurde. Aber irgendwann hatte sie schließlich eingesehen, dass das nicht mehr möglich war, nicht, seitdem der Chefermittler sein Herz jemand anderem geschenkt hatte.
Die Direktorin wusste, dass er all das für den Wunsch, Darien zu überführen, aufs Spiel setzte und es war ihr selbst mehr als schwer gefallen, gestern allen zu sagen, dass Gibbs bei einem Autounfall ums Leben gekommen war und sie hatte sich zusammenreißen müssen, um nicht spontan die Wahrheit zu sagen, vor allem, als Tony im Großraumbüro beinahe zusammengebrochen war. Es war offensichtlich gewesen, dass ihn diese Nachricht schlimm getroffen hatte und der Schmerz in seinen Augen war ihr ziemlich nahe gegangen – immerhin war sie auch ein Mensch und es ließ sie nicht kalt, wenn es jemandem von ihren Schützlingen schlecht ging, auch wenn praktisch sie es war, die dafür verantwortlich war.
Sie mochte den Job als Direktorin sehr, aber in diesem Moment wünschte sie sich, jemand anderes würde in ihrer Haut stecken und die Fäden ziehen. Auch wenn Jen während dem Gespräch mit Anthony nach außen hin ruhig geblieben war, so hatte doch ihr Herz schnell geklopft und ihre Eingeweide waren ein einzig harter Knoten gewesen, die sich noch immer nicht vollständig entrollt hatten. Sie hatte den jungen Mann noch nie so gesehen, vollkommen erschöpft und ohne dem sonst so strahlenden Funkeln in seinen grünen Augen. Es war mehr als deutlich, dass er in der letzten Nacht nicht viel oder gar nicht geschlafen hatte und sie war überrascht gewesen, als sie erfahren hatte, dass er Abby beauftragt hatte, Gibbs' Wagen nach Washington kommen zu lassen. Bereits als sie von Norfolk informiert worden war, hatte sie geahnt, was der Zweck dieser ganzen Aktion war und sie hatte sich nicht geirrt. Anstatt sich zu Hause zu vergraben und zu trauern, glaubte Tony nicht an einen Unfall und schnüffelte herum. Jen hatte angenommen, dass er erst einmal mit dem Verlust fertig werden musste, aber sie hatte ihn gewaltig unterschätzt.
Obwohl der Agent sichtlich zu kämpfen hatte, sich nicht einzuigeln, kam er an den Ort zurück, wo er erfahren hatte, dass sein Freund gestorben war und begann, seinen Tod zu untersuchen. Als sie ihn in ihr Büro beordert hatte, hatte sie sich fest vorgenommen, ihm zu befehlen, die Untersuchungen ruhen zu lassen und dann lösten sich auf einmal ihre gesamten Vorsätze in Luft auf. Sie hatte keine Ahnung, warum sie DiNozzo nicht einfach angeordnet hatte, Urlaub zu nehmen. Im Laufe der Unterhaltung hatte er ihr mehr als klar gemacht, dass er so oder so Mittel und Wege fand, um den Wagen untersuchen zu lassen und das hatte sie keine Sekunde lang bezweifelt. Er war nicht die Sorte von Mann, der einfach herumsaß und zusah, wie sich andere die Hände schmutzig machten, weshalb er auch so ein guter Agent war – und er hatte mindestens genauso einen Sturkopf wie Gibbs. Wenn jemand hinter die ganze Sache kam, dann er und sie hatte es versäumt, ihm Steine in den Weg zu legen.
Vielleicht hatte Jen Tony vor allem deswegen erlaubt, Ermittlungen anzustellen, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, obwohl sie wusste, dass Abby Spuren an dem Wagen finden würde, die deutlich machten, dass Jethro nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen war und Anthony würde sich deswegen noch mehr hineinknien, um den angeblichen Mörder zu finden. Allerdings würde er damit lange beschäftigt sein, vor allem, weil es keinen Täter gab und sie hoffte, dass Gibbs möglichst schnell herausfinden würde, welches Ziel sich Darien als nächstes ausgesucht hatte, um DiNozzos Ermittlungen somit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie war jetzt schon gespannt, wie der junge Mann darauf reagieren würde, wenn er erfuhr, dass sein Freund noch am Leben war und seinen Tod nur vorgetäuscht hatte. Würde er wütend werden oder einfach nur glücklich sein, dass er Jethro wieder zurück hatte? Aber bis es so weit war, würden sicher noch Tage vergehen, in denen sie aufpassen musste, dass Tony der Wahrheit nicht zu nahe kam und damit den gesamten Auftrag gefährdete.

Die Direktorin seufzte, stand auf und ging zu dem Regal, wo sie eine Flasche Whisky aufbewahrte. Es war zwar erst später Morgen, aber sie brauchte jetzt einen starken Drink, um ihre Nerven ein wenig zu beruhigen und wieder klar denken zu können. Mit geübten Bewegungen schenkte sie sich drei fingerbreit ein und stellte die Flasche wieder an ihren Platz zurück, ehe sie sich erneut hinter ihren Schreibtisch setzte und genüsslich einen Schluck trank. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle, verwandelte sich jedoch rasch in ein herrlich warmes Gefühl, das sich in ihrem Magen ausbreitete und sich wie Balsam auf ihre strapazierten Nerven legte. Jen musste sich unbedingt etwas einfallen lassen, um Tony ein wenig an der kurzen Leine zu halten, damit er den Auftrag nicht gefährdete und nicht vor dessen Erfüllung erfuhr, dass Gibbs noch am Leben war. Er würde dann nicht mehr den trauernden Freund spielen können und sich wahrscheinlich von seinen Gefühlen leiten lassen, anstatt über alles logisch nachzudenken. Sie konnte nur noch darauf bauen, dass Jethro so bald wie möglich herausfand, welches Ziel sich Darien als nächstes ausgesucht hatte, um die Gefahr, dass er vorzeitig aufflog, so gering wie möglich zu halten.
Die Möglichkeit, dass dabei etwas schief ging, bestand immer, aber sie wollte den besten Agent, den der NCIS seit langem hatte, lebendig wiederhaben, schon alleine wegen DiNozzo. Wer wusste, wie er es verkraften würde, wenn er mitbekam, dass sein Freund noch lebte, nur um ihn gleich darauf wirklich zu verlieren. Tony war stark und er kam überraschend gut mit seiner Trauer zurecht, aber wenn er kurz hintereinander Gibbs ein zweites Mal verlieren sollte, würde es sogar ihn mehr als mitnehmen und die Wahrscheinlichkeit, dass er danach jemals wieder der Alte werden würde, war enorm gering.
Jen wusste ganz genau, dass die Eventualität, dass Anthony Jethro nicht verzeihen würde, wenn er erfuhr, dass er seinen Tod nur vorgetäuscht hatte, eintreten könnte und obwohl sie anfangs gegen die Beziehung gewesen war, so hoffte sie doch, dass sich die beiden wieder zusammenraufen würden. Immerhin war sie nicht so kaltherzig, wie manche annahmen und sie fand es schön, dass ihr ehemaliger Partner privat endlich sein Glück gefunden hatte, vor allem, weil es seine Arbeit nicht im Geringsten beeinflusste, sondern er diese eher noch effizienter erledigte - sie konnte sich also nicht beschweren.
Entschlossen trank Jen den Rest des Whiskeys in einem Zug aus und stellte das Glas mit einem leisen Geräusch auf den Tisch zurück. Eine Sekunde später blickte sie auf die Uhr und seufzte. Es war gerade einmal kurz nach neun Uhr, also noch drei Stunden, bis sie das nächste Mal Kontakt mit Gibbs aufnehmen würde, andererseits wollte sie nicht so lange warten, bis sie ihm erzählte, dass Tony angefangen hatte, herumzuschnüffeln.
Bevor es sich Jen anders überlegen konnte, griff sie nach dem Telefonhörer – in der Hoffnung, Jethro würde den Anruf entgegennehmen - und wählte die Nummer, die sie seit gestern auswendig kannte und von der sie hoffte, sie bald nicht mehr verwenden zu müssen.

Fortsetzung folgt...
You must login (register) to review.