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Mit großen Schritten eilte ich in das Großraumbüro hinunter, Jens Worte weiterhin in meinem Kopf widerhallend. Ich war verwundert, dass sie mir doch erlaubt hatte, Gibbs' Wagen zu untersuchen, noch dazu, da sie sich zuvor dagegen gesperrt hatte. Ihr Blick war eindeutig gewesen und ich hätte eher damit gerechnet, dass sie mich in Zwangsurlaub schicken würde, um zu verhindern, dass ich vielleicht einem Phantom nachjagte. Die Möglichkeit, dass Jethros Unfall doch kein Unfall gewesen war, bestand natürlich und ich wusste nicht, mit welcher Variante ich besser zurecht kam – damit, dass er ermordet worden war oder dass er einfach Pech gehabt und das erste Mal die Kontrolle über seinen Wagen verloren hatte. Dennoch, da war immer noch die Tatsache, dass er nach Norfolk gefahren war und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er nur für ein Frühstück diesen weiten Weg auf sich genommen hatte.
Ärger stieg in mir auf und überdeckte für kurze Zeit den Schmerz in meinem Inneren. Wieso hatte mich Gibbs nicht geweckt? Wovor hatte er mich schützen wollen? Hätte er mir doch nur Bescheid gegeben, dann würde er jetzt wahrscheinlich nicht bei Ducky unten in einem der Kühlfächer liegen und darauf warten, dass er begraben wurde. Alleine der Gedanke an eine Beerdigung führte dazu, dass ich beinahe mitten auf der Treppe angefangen hätte, zu schreien. Da das aber keinen guten Eindruck hinterlassen und mich Jen wirklich nach Hause schicken würde, begnügte ich mich damit, meine Hände zu Fäusten zu ballen. Ich hatte keine Ahnung, wann die Trauerfeier stattfinden würde und wenn ich ehrlich zu mir war, wollte ich es überhaupt nicht wissen, da ich mich an diesem Tag endgültig von Jethro verabschieden musste und ich wusste nicht, wie ich das überstehen sollte. Die ganzen Menschen, die einem kondolierten, den Friedhof verließen und anschließend mit ihrem Leben weitermachten, so als ob nichts geschehen wäre. Ich hingegen würde in ein leeres Haus zurückkehren, wo mich alles an meinen Freund erinnern würde. Ducky hatte zwar gestern Abend gesagt, dass der Schmerz mit der Zeit besser werden würde, aber momentan hatte ich nicht das Gefühl, dass das stimmte. Ich vermisste einfach alles an Gibbs, selbst seine herrische Art und seine gelegentlichen Ausraster, wenn etwas ganz und gar nicht nach Plan verlief.
Ich verlangsamte meine Schritte, blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah in das Büro hinunter, wo die übliche Hektik herrschte. Agenten gingen oder eilten zwischen den Schreibtischen hin und her oder warteten auf den Aufzug. Es war wie an einem gewöhnlichen Montag, wäre da nicht der leere Platz schräg unter mir. Ich würde mich wohl nie an diesen Anblick gewöhnen, kein Gibbs, der wegen dem Computer frustriert war und parallel einen großen Becher Kaffee trank, keine Telefonanrufe mehr, die er mit einsilbigen Antworten entgegennahm und vor allem konnte ich ihn nicht mehr während der Arbeit beobachten, so wie ich es gerne gemacht hatte.
In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß – ein sicheres Zeichen dafür, dass ich erneut kurz davor stand, einen Teil meiner Selbstbeherrschung zu verlieren, weshalb ich meinen Blick ganz schnell von dem unbesetzten Schreibtisch losriss und stattdessen meine beiden Kollegen musterte, die damit beschäftigt waren, die Arbeit zu erledigen, die ich ihnen aufgetragen hatte. Nicht eine Sekunde lang hatten sie dagegen protestiert oder auch nur gezögert. Waren sie wirklich bereit, mich ohne weiters als neuen Boss zu akzeptieren oder lag es daran, dass sie Gibbs' möglichen Mörder genauso finden wollten wie ich? Was es auch immer war, ich hoffte, sie würden ihren Eifer beibehielten, vor allem, weil es wichtig war, dass eine gewisse Routine zurückkehrte. Es war wie bei beim Reiten: fiel man einmal vom Pferd, war es das Beste, sich gleich darauf wieder hinaufzusetzen, um sich seinen Ängsten zu stellen. Und genauso war es hier, nur war niemand vom Pferd gefallen, sondern wir hatten einen wichtigen Menschen verloren – den wichtigsten Menschen den es überhaupt gibt, fügte ich in Gedanken hinzu und trat vom Geländer zurück, um die restlichen Stufen hinunterzugehen.
Es war an der Zeit, dass ich Ziva und McGee sagte, dass wir von der Direktorin grünes Licht erhalten hatten und vielleicht hatten sie bereits irgendwelche Ergebnisse, mit denen ich etwas anfangen konnte.

Auf meinem Weg nach unten kamen mir erneut Agenten entgegen, aber wie bereits am Morgen ignorierte ich ihre Blicke, unterband damit sogleich jeglichen Versuch ihrerseits, zu fragen, was wirklich geschehen war und mir blieb zudem ihr Mitleid erspart. Es genügte mir bereits, dass ich spürte, wie sie mir förmlich hinterher sahen und genauso neugierig wie Tratschweiber waren – und da hieß es, wir seien in einer Bundesbehörde.
Erleichtert darüber, endlich meinen Platz erreicht zu haben, ließ ich mich auf den Stuhl fallen, legte automatisch meine Füße auf den Tisch – wobei ich fast den leeren Kaffeebecher hinuntergeworfen hätte – und fuhr mir müde mit der rechten Hand über mein Gesicht. Langsam machte es sich bemerkbar, dass ich in der Nacht nicht geschlafen hatte und die sechs Stunden, die ich am Nachmittag im Bett verbracht hatte, waren nicht wirklich erholsam gewesen, hatte ich mich danach wie erschlagen gefühlt. Ich wusste genau, wenn ich heute wieder kein Auge zubekommen würde, würde ich irgendwann zusammenbrechen, aber ich hatte einfach Angst, von Gibbs zu träumen, die glückliche Zeit mit ihm noch einmal zu durchleben, was mir bloß zeigen würde, dass es nie wieder so sein würde. Ich wünschte nur, es würde nicht so weh tun, nur an ihn zu denken, aber ich vertraute auf Duckys Worte, dass es mit der Zeit besser werden würde.
Nach Kates Tod war es dasselbe gewesen, die ersten Tage waren einfach so an mir vorbeigezogen, ohne dass ich wirklich mitbekommen hatte, dass Minute um Minute vergangen war. Noch dazu waren wir damit beschäftigt gewesen, Ari zu jagen. Aber ich hatte gelernt, mit Kates Verlust zu leben, genauso wie ich anfangen musste, damit zu leben, dass Jethro für immer fort war, auch wenn es mir weiterhin schwer fiel, es zu akzeptieren. Er hinterließ eine größere Lücke als meine ehemalige Kollegin und diese zu füllen war unmöglich, selbst wenn ich schlussendlich das Team übernehmen würde.

Ich seufzte leise, zwang mich in die Gegenwart zurück und blickte zwischen Ziva und McGee hin und her, die mich eingehend musterten und anscheinend darauf warteten, dass ich irgendetwas sagte. „Wir haben grünes Licht von der Direktorin", durchbrach ich schließlich das Schweigen und setzte mich eine Spur gerader hin, behielt aber die Füße auf dem Tisch. Immerhin gab es jetzt niemanden mehr, der mir deswegen eine Kopfnuss verpassen konnte – eine Erkenntnis, die mir einen großen Kloß in den Hals trieb und mich hart schlucken ließ. Deshalb war ich auch froh, dass Tim das Wort ergriff.
„Sie hat uns tatsächlich erlaubt, Gibbs' Wagen zu untersuchen?" fragte er vollkommen perplex und starrte mich ungläubig an. „Hast du etwas anderes erwartet, Bambino?" wollte ich wissen und schenkte ihm meinen gefährlichsten Blick. Er räusperte sich kurz, um seine Stimme wiederzufinden. „Nun, ich… ich meine, immerhin sind wir alle persönlich involviert und… nun ja, vor allem du…" Er brach ab und sah stattdessen auf seine Hände. Innerlich musste ich grinsen, dass ich es schaffte, ihn aus dem Konzept zu bringen, aber äußerlich ließ ich es mir nicht anmerken.
„Direktor Sheppard war anfangs dagegen, aber durch meine hervorragenden Verhandlungskünste hat sie schließlich nachgegeben." Dass ich selbst überrascht davon war, dass sie uns so ohne weiteres erlaubt hatte, Jethros Tod zu untersuchen, verschwieg ich.
Von Ziva war ein Prusten zu hören. „Hervorragende Verhandlungskünste? Meinst du nicht, sie hat nachgegeben, damit du ihr nicht weiterhin auf das Fell rückst?" „Es heißt auf den Pelz rücken", korrigierte ich sie ohne lange darüber nachzudenken, schnappte mir einen Bleistift und drehte ihn geistesabwesend mit meinen Fingern hin und her. „Und nein, ich glaube nicht, dass sie nachgegeben hat, nur damit ich sie in Ruhe lasse. Außerdem werde ich in Zukunft wohl mehr mit ihr zu tun haben, immerhin hat sie mir die vorübergehende Leitung des Teams übertragen."
„Wirklich?" kam es erfreut von McGee und riss seinen Blick von seinen Händen los. „Das ist ja großartig. Also bekommen wir keinen wildfremden Agenten vor die Nase gesetzt?" „In den nächsten Tagen nicht", erwiderte ich und tippte mit der Spitze des Stiftes auf meinem Oberschenkel herum. „Was aber nicht heißt, dass sich Direktor Sheppard nicht anders entscheiden kann. Und um ihr keinen Grund dafür zu liefern, müssen wir uns ein wenig zusammenreißen."
„Keine Bange, Tony, du wirst das sicher hinbekommen", sagte Ziva und beugte sich ein wenig vor. „Immerhin ist es ja nicht das erste Mal, dass du der Leiter bist, schon vergessen? Damals, als dieser Junge seine Klasse mit einer Bombe um den Bauch gestürmt hat und Gibbs…" „Mit dem Unterschied, dass Gibbs damals wieder zurückgekommen ist, was diesmal nicht der Fall sein wird", unterbrach ich sie unwirsch und warf den Bleistift auf den Tisch zurück. Ich wusste, es war nicht klug, derart aus der Haut zu fahren, aber es tat so verdammt weh zu wissen, dass meine Worte der reinen Wahrheit entsprachen und ich brauchte einfach ein Ventil, um alles aus mir herauszulassen.
Unbehagliches Schweigen breitete sich aus und ich fuhr mir frustriert durch meine Haare, nahm die Füße vom Tisch und setzte mich normal hin. Es machte keinen guten Eindruck, wenn ich hier herumlümmelte, als ob ich mich bei mir zu Hause auf der Couch befinden würde. „Es tut mir leid, aber…" begann ich mit einer Entschuldigung, aber Ziva winkte mit einer Hand ab. „Schon in Ordnung, Tony. Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast." Ich nickte, dankbar dafür, dass sie nicht nachtragend war, zumal es nicht das erste Mal an diesem Tag war, dass ich sie angefahren hatte.

„Okay, Leute, dann lasst uns an die Arbeit gehen", sagte ich und drehte mich so, dass ich McGee ansehen konnte. „Was hast du über den Zeugen herausgefunden, der den Unfall beobachtet hat?" Tim schnappte sich eine Akte, stand auf und kam zu uns herüber, wobei er sich an Zivas Schreibtisch lehnte. „Kyle Zeke, wohnt seit über zehn Jahre in Norfolk und hat dort in einem Laden für Elektronikzubehör gearbeitet, ist momentan aber arbeitslos. Seit seiner Geburt hat er in Washington gelebt, aber nach dem Tod seiner Frau ist er umgezogen. Die beiden hatten keine Kinder und auch sonst gibt es keine lebenden Verwandten. Laut den Kontoauszügen seiner Bank hat er keine Geldprobleme, ist aber auch nicht übermäßig reich. Sein Vater hat ihm ein wenig Geld vererbt, mit dem er sich über Wasser halten kann.
Mr. Zeke hat die Highschool abgeschlossen, aber das College abgebrochen. Die Liste seiner Jobs, die er im Laufe seines Lebens ausgeübt hat, ist länger als mein gesamter Arm. Er scheint sich nicht gerade auf eine Sache festlegen zu können. Seine Weste ist jedoch sauber, er hat bisher nur ein paar Strafzettel wegen zu schnellem Fahren kassiert, sonst gibt es keine gröberen Verstöße gegen das Gesetz." „Oder er wurde nie erwischt", fügte ich hinzu und runzelte die Stirn. Anscheinend war Kyle Zeke ein normaler Mann, der ein langweiliges Leben führte. Auf den ersten Blick konnte ich mir nicht vorstellen, dass er etwas mit Jethros Tod zu tun hatte, aber der Schein konnte trügen. Ich würde mir selbst ein Bild von diesem Mann machen, indem ich ihm einen Besuch abstatten würde.
„Na schön. Ziva, was hast du?" wandte ich mich an die Israelin, als sich McGee wieder an seinen Platz setzte und die Akte sorgfältig an den Rand seines Tisches legte. „Nicht viel. Ich bin noch dabei herauszusuchen, wer bereits alles entlassen wurde, den Gibbs jemals verhaftet hat. Nicht zu vergessen die Familienangehörigen, die vielleicht einen Groll auf ihn haben, weil er ihre Liebsten ins Gefängnis gesteckt hat. Aber ich bleibe am Ball."
Ich nickte und verzichtete darauf, sie anzutreiben. Ziva wusste selbst, dass sie sich beeilen sollte und ich hatte keine Zweifel, dass sie dies auch machen würde. Ich stand auf, öffnete die oberste Schublade meines Schreibtisches und holte meine Waffe heraus, die ich an meiner Hüfte befestigte. „McGee, wir werden zu Kyle Zeke fahren, aber vorher muss ich noch etwas erledigen. Wir treffen uns in 15 Minuten in der Tiefgarage. Und sieh nach, ob der Tank voll ist, nicht, dass wir auf halber Strecke liegen bleiben." „Alles klar", erwiderte Tim, fragte aber nicht nach, was ich noch erledigen musste. Er schien zu merken, dass ich nicht darüber sprechen wollte.
Ich schnappte mir meine Jacke und eilte zum Fahrstuhl. Es wurde Zeit, dass ich noch jemandem einen Besuch abstattete.

Fortsetzung folgt...
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