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Der Name verließ mit einer weißen Atemwolke meinen Mund, schwebte für kurze Zeit in der Luft und löste sich schließlich im Nichts auf. Aber im Gegensatz zu dem Wort verschwand Gibbs nicht, wovon ich eigentlich ausgegangen war. Seine Gestalt war nicht verschwommen – so wie es bei Geistern in Filmen der Fall war – sondern war fest und schien nicht aus nebligem Rauch zu bestehen, der vom Wind fortgeweht wurde. Das einzige, was sich an ihm bewegte, waren weiterhin der Mantel und die Haare, einzelne Strähnen fielen in seine Stirn, aber er bemerkte es nicht. Stattdessen stand er vor mir, rührte sich nicht vom Fleck und seine blauen Augen funkelten mich an, so als ob sich eine lebende Person vor mir befinden würde.
Ich schüttelte erneut ungläubig meinen Kopf, konnte nicht verarbeiten, was hier anscheinend passierte. Wie konnte das nur sein? Wie konnte Jethro auf einmal vor mir stehen und so lebendig aussehen? Ich hatte ihn doch erst vor wenigen Stunden begraben, hatte mich von ihm für immer verabschiedet? Spielte mir mein Bewusstsein einen Streich? Stand etwa jemand ganz anderes vor mir, aber ich konnte nur meinen Freund in ihm erkennen? Wurde ich jetzt komplett verrückt?
„Das ist nicht möglich", flüsterte ich und meine Stimme war nur ein Hauch, leiser als der Wind, der durch den Park heulte und die Flocken herumwirbeln ließ. „Das ist nicht echt. Ich träume, nur ein Traum." Ich wiederholte die Worte immer wieder, aber sie halfen nicht, nichts veränderte sich. Gibbs war immer noch vor mir, wurde von der Laterne angestrahlt, verlieh seinen Haaren einen leichten Schimmer. Alles war so vertraut, seine Größe, die Form seines Körpers unter dem Mantel, seine Lippen, seine Augen – Gott, seine Augen, in ihnen lag der liebevolle Ausdruck, mit dem er mich ständig bedachte.
Ich wollte zurückweichen, wollte von hier weg, aber ich konnte mich nicht bewegen. Irgendetwas Unsichtbares hielt mich an Ort und Stelle, zwang mich, mich diesem Wahnsinn auszusetzen. Und dann kam mir die Nachricht in den Sinn – die eine Zeile, die in Gibbs' Handschrift verfasst worden war. Das Stück Papier war echt gewesen, genauso wie die Buchstaben, genauso wie dieser Park echt war, genauso wie ich den eisigen Wind auf meiner Haut fühlen konnte… war es möglich, dass Jethro auch echt war? Aber wie…?
Seine DNA wurde in Norfolk doch eindeutig zugeordnet, der Pathologe dort hatte ihn obduziert, Ducky hatte seine Überreste gesehen und es hatte nie ein Zweifel bestanden, dass etwas nicht stimmte – außer an der Aussage von Kyle Zeke. Aber nichts von dem erklärte, warum mein Freund vor mir stand und so aussah, als ob er am Leben sei.
An diesem Tag hatten wir doch seine Beerdigung vollzogen, hatten ihn unter jeder Menge Erde begraben, seinen Körper für immer in einen Sarg eingeschlossen. Ich hatte ihm lebewohl gesagt, hatte ihm eine rote Rose mitgegeben, in der Hoffnung, der Geruch würde ihn begleiten. Der Schmerz war in diesem Moment grenzenlos gewesen und jetzt schien er noch einmal zurückzukommen – mit doppelter Wucht.
Das Zittern, das mich vorhin ergriffen hatte, wurde stärker und das Atmen war eine schiere Qual. Ich hatte das Gefühl, irgendetwas würde mir schwer auf die Brust drücken, mich langsam aber sicher ersticken. Meine Knie wurden weich wie Butter und es war nur mehr eine Frage der Zeit, bis sie unter mir nachgeben würden. Wieso tat man mir das nur an? Wieso musste ich derjenige sein, der derart leiden, der diesen Schmerz ertragen musste? Wieso konnte ich nicht einfach in Ruhe trauern?

Jethro bewegte sich schließlich, trat einen Schritt vor, hielt aber sofort inne, als ich zurücktaumelte und abwehrend die Hände hob. „Nein!" schrie ich mit überraschend kräftiger Stimme. „Du bist nicht echt! Du bist doch tot!" Die Worte hallten laut in der sonst so stillen Luft des Parks wider. Ein schmerzhafter Ausdruck erschien in seinen blauen Augen, die ich so sehr liebte. Gibbs wurde jetzt nicht mehr direkt von der Laterne angestrahlt und jetzt registrierte ich zum ersten Mal so richtig die Atemwölkchen, die seinen Mund in regelmäßigen Abständen verließen. Seine Brust hob und senkte sich – er atmete, Jethro atmete eindeutig! Und ein Geist oder eine Einbildung würde das nicht tun, würde keine Luft zum Leben brauchen. Aber das würde ja bedeuten, dass er…
Die Wahrheit traf mich mit einer so unglaublichen Wucht, dass sich die Umgebung so stark zu drehen anfing, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Meine Knie gaben unter mir nach, aber ich spürte nicht einmal den Schmerz, als ich mit diesen auf dem harten Boden landete. Ich stützte meinen Oberkörper mit meinen Händen ab und die kleinen Kieselsteine bohrten sich unangenehm in meine Haut, aber selbst das bekam ich nicht wirklich mit. Ich ließ meinen Kopf hängen, zwang mich ruhig zu atmen und meinen Kreislauf wieder in Ordnung zu bringen.
Tränen traten mir in die Augen und ein Schluchzer löste sich aus meinen Mund, der leise in der Stille verhallte. Der Boden unter mir wurde verschwommen, als sich immer mehr Tränen bildeten und auf meine Wangen tropften. „Nein", flüsterte ich immer wieder, aber meine Worte konnten die Schritte, die auf mich zukamen, nicht übertönen – Schritte, die ein weiterer Beweis dafür waren, dass Gibbs echt war, dass es kein Geist war, kein Streich, den mir mein Gehirn spielte.

„Tony." Er sprach meinen Namen mit einer derartigen Sanftheit aus, dass ich nicht anders konnte, als den Kopf zu heben. Seine Stimme war so vertraut - der weiche Ton darin, wie eine Liebkosung strich das eine Wort über meine Haut, sendete einen intensiven Schauer über meinen Rücken. Er kniete sich vor mich hin, sodass wir auf gleicher Höhe waren. Jethros Gesichtsausdruck war so zärtlich, sein Blick voller Liebe und ich konnte nichts anderes tun, als erneut zu schluchzen und ungläubig den Kopf zu schütteln.
„Du bist doch tot", brachte ich hervor und blickte in seine blauen Augen. „Ich habe dich doch be… begraben. Ich habe…" Ich zuckte zusammen, als er mir seine rechte Hand sanft auf meine linke Wange legte und meine Haut damit wärmte. Die Berührung war unbeschreiblich intim und ich konnte die Schwielen fühlen, die sich im Laufe der Jahre gebildet hatten, da er ständig an einem Boot gebaut hatte. Sachte entfernte er die Tränen mit seinem Daumen, liebkoste meine Wange, so wie er es in den vergangenen sieben Monaten gerne getan hatte.
„Tony", wiederholte er ein weiteres Mal, seine Stimme - nur ein Flüstern - war jedoch fest genug, um den Wind zu übertönen. „Es ist in Ordnung, Tony. Ich bin hier." Seine Hand war trotz des kalten Wetters herrlich warm, er strich damit immer wieder über meine Haut, entfernte die Tränen, die nicht aufhören wollten zu fließen. Die gesamte Situation war weiterhin so unwirklich, ich konnte nicht glauben, dass Gibbs hier bei mir war, vor mir kniete und versuchte, mich zu beruhigen. Es bestand kein Zweifel daran, dass er echt war, dafür fühlte sich seine Berührung viel zu fest an, dafür war seine Hand viel zu warm, dafür war das Funkeln in seinen Augen viel zu lebendig. Sein Atem strich über mein Gesicht und ich umschloss unwillkürlich seine Finger, die weiterhin an meiner Wange ruhten, mit den meinen.
„Aber, wie…? Ich dachte, du bist… Du lebst", brachte ich schließlich die Worte heraus, ließ es endlich zu, dass alles zur Wirklichkeit wurde, schüttelte damit das restliche Bedenken, dass es sich vielleicht doch nur um einen Streich meines Gehirns handelte, von mir ab.
„Oh Gott, du lebst!" schrie ich und fiel ihm buchstäblich um den Hals. Ich umarmte ihn so fest ich konnte, presste seinen herrlich vertrauten Körper an meinen, spürte das Spiel seiner Muskeln durch den Mantel. Ich ließ meinen Kopf auf seine Schulter fallen, vergrub meine Nase in den Kragen seines Poloshirts und atmete tief ein – obwohl er seit Tagen nicht an seinem Boot gebaut hatte, haftete ihm weiterhin der Geruch nach Sägespänen an, so als ob dieser für immer tief in seine Haut eingegraben wäre.
Jethro strich mir sanft durch meine Haare, presste mich noch näher an sich und ließ es zu, dass ich mich an seiner Schulter ausheulte – aber es waren keine Tränen des Schmerzes, sondern des Glücks. Unbändige Freude vertrieb innerhalb weniger Sekunden die anfängliche Ungläubigkeit und je länger er mich im Arm hielt, desto mehr wurde mir bewusst, dass er sich nicht in Luft auflösen würde, dass er nicht mit einem leisen Pop verschwinden würde. Er lebte! Gibbs lebte! Immer wieder wiederholte ich diese Worte in meinem Kopf und in meiner grenzenlosen Freude begann ich, seinen Hals mit kleinen Küssen zu bedecken. Ich musste ihn einfach fühlen, musste wieder erleben, wie es war, meine Lippen auf seine Haut zu drücken, musste seinen ureigenen Geschmack kosten.
Seine Gegenwart überflutete meine gesamten Sinne und ich krallte mich an ihn wie an einen Rettungsanker. Der ganze Schmerz der letzten Tage war auf einmal vergessen, für den Moment zählte nur noch, dass Jethro hier bei mir war, dass er mich fest in seinen Armen hielt und mir immer wieder zuflüsterte, das alles gut werden würde. Er legte seine Wange seitlich an meine Schläfe und sog seinerseits tief die Luft in seine Lungen, roch an meinen Haaren, deren Kokosduft er immer geliebt hatte.

Ich war in diesen Park gekommen, um herauszufinden, wer sich den Scherz mit der Nachricht erlaubt hatte, aber auf die Idee, dass sie von Gibbs selbst stammen könnte, wäre ich nie gekommen. Wie auch? Er war für tot erklärt worden, die Beerdigung war der Beweis dafür und ich hatte mich von ihm verabschiedet. Wie hätte ich nur damit rechnen können, dass er derjenige war, der mich sehen wollte, der mich in den Park gelotst hatte? Als er so unvermittelt unter der Laterne aufgetaucht war, hatte ich wahrscheinlich den Schock meines Lebens bekommen, aber jetzt hatte sich dieser in reinste Freude verwandelt. Wie hatte ich nur daran zweifeln können, dass es nicht Jethro war, der unter der Lampe stand?
Ich drückte meine Stirn an seinen Hals und schloss die Augen, ließ seine Körperwärme auf mich wirken. Jetzt, wo der erste Schrecken abgeklungen war und ich aufgehört hatte zu weinen, registrierte ich wieder den Wind, die Schneeflocken, die kontinuierlich vom Himmel herabsegelten, die Kälte des Bodens und die Kieselsteine, die sich unangenehm in meine Knie bohrten, aber das alles war unwichtig.
„Du musst aufstehen, Tony", sagte Jethro leise in mein Ohr – so als ob er meine Gedanken lesen konnte - und drückte mir gleich darauf einen sanften Kuss auf die Stelle darunter. Es war eine der Stellen, die er so gerne liebkoste und die mich jedes Mal beinahe wie eine Katze schnurren ließ, aber diesmal seufzte ich nur glücklich und schmiegte mich an ihn. Seine Lippen waren so herrlich weich, die Berührung so sanft, dass ich unwillkürlich erschauderte und meine Stirn noch fester gegen seinen Hals presste. „Komm schon, du wirst dich noch erkälten."
Seine Worte ergaben durchaus Sinn, aber ich wollte mich nicht rühren, wollte ihn nicht loslassen und somit unsere Berührungen unterbrechen. Was kümmerte es mich, wenn ich mir eine ernsthafte Erkältung oder eine Grippe einfing? Es war bedeutungslos, jetzt, wo ich Gibbs wieder zurückhatte und er mich gesund pflegen konnte, wenn ich mit Fieber im Bett liegen sollte. Er würde mir wahrscheinlich das Essen servieren, mit Argusaugen an meiner Seite wachen und aufpassen, dass ich auch meinen Tee trank oder die Medizin schluckte, die mir Ducky verschreiben würde. Selbst die grausigsten Tabletten oder Hustensäfte würde ich ertragen, nur damit ich noch ein wenig länger hier sitzen konnte, Jethros Arme fest um meinen Körper geschlungen.
Allerdings schien dieser nicht sonderlich davon begeistert zu sein, wenn ich krank wurde, weshalb er sich trotz meines gemurmelten Protestes erhob und mich somit mit auf die Füße zerrte. Meine Beine fühlten sich weiterhin an, als wären sie aus Butter, aber ich konnte immerhin stehen, ohne gleich wieder einzuknicken. Außerdem hielt ich Gibbs weiterhin fest, meine Hände verließen keine Sekunde lang seinen Körper, aber als wir aufrecht standen, lehnte er sich ein wenig zurück, sodass er mich ansehen konnte. Ich ließ meine Arme nach unten rutschen, legte sie um seine Taille und lächelte ihn freudig an.
Seine Augen glitzerten in dem Schein der Laterne, die sich in unserer Nähe befand, sein Gesicht spiegelte das Glück, das ich selbst empfand wider und sein Blick war so liebevoll, dass ich das Gefühl hatte, ich würde auf der Stelle dahinschmelzen. Jethro hob seine Hände und wischte mir damit die Tränenspuren von den Wangen, ehe er mir einen sanften Kuss auf meine Nasenspitze gab, der mich noch breiter lächeln ließ.
„Ich habe dich so sehr vermisst", flüsterte er und strich durch meine Haare, spielte mit den Strähnen, ließ sie wie Seide durch seine Finger gleiten. Seine Worte hätten eigentlich ein warmes Gefühl hinterlassen sollen, aber irgendwie war das genaue Gegenteil der Fall. Sie rissen mich gegen meinen Willen in die Realität zurück und auf einmal überfluteten mich Fragen über Fragen, deren Antworten ich nicht wirklich hören wollte. Ich spürte, wie mein Lächeln verschwand und sich Angst in mir ausbreitete, meine Eingeweide zu einem harten Knoten werden ließ.
Das Gewicht, welches mir vorhin auf die Brust gedrückt hatte, kam zurück und Gibbs merkte sofort, das etwas nicht stimmte. Das Funkeln in seinen Augen wurde intensiver und er runzelte die Stirn, suchte direkten Blickkontakt mit mir. „Wie… wie kommt es, dass du doch lebst?" fragte ich so leise, dass ich meine Stimme beinahe selbst nicht hören konnte. Der Knoten, der einst meine Eingeweide gewesen waren, wurde noch härter und in meinem Hals bildete sich ein großer Kloß. „Ich habe Bilder von deinem ausgebrannten Wagen gesehen, Jethro. Ducky hat den Autopsiebericht gelesen, in Norfolk haben sie eindeutig deine DNA zugeordnet. Und dann die Beerdigung, also weshalb…?" Ich brach ab, als mir die Wahrheit dämmerte, bevor Gibbs dazu kam, eine meiner Fragen zu beantworten.
Der Park begann sich erneut um mich zu drehen und ich hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Meine Hände rutschten von seiner Hüfte und ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück, sodass unsere Berührung unterbrochen wurde. Uns trennte nur etwa ein halber Meter, dennoch glaubte ich, es wären Welten.
„Sag, dass das nicht wahr ist", brachte ich schließlich hervor und blickte Jethro flehentlich an. „Sag, dass das ein Scherz ist, dass du deinen Tod nicht vorgetäuscht hast." Aber der Ausdruck in seinen blauen Augen war Antwort genug. Sein Gesichtsausdruck wurde unbeschreiblich ernst, die ganze Freude verschwand aus seinem Blick und wenn ich mich nicht täuschte, konnte ich auf einmal Angst in ihm erkennen.

„Am Samstagabend, als Jen zu mir gekommen ist und gemeint hat, es gäbe eine Videokonferenz… sie hat mich stattdessen in ihr Büro gebracht", begann er und seine Stimme war ruhig, allerdings kannte ich ihn mittlerweile genug, um zu wissen, dass er Mühe hatte, mit dieser Nüchternheit zu sprechen, keine Emotionen zuzulassen. „Sie hat mir von einer Verbrecherorganisation erzählt, die vor ein paar Tagen gedroht hat, bald ein Gebäude in die Luft zu sprengen, mit möglichst vielen Opfern, wenn nicht 50 Millionen Dollar gezahlt werden. Es hat sich herausgestellt, dass sämtliche Mitglieder dieser Organisation offiziell für tot erklärt worden sind. Deshalb…"
Ich stand da und starrte auf den Mann, der mir auf einmal so fremd vorkam. Jethro hatte mich die ganze Zeit angesehen, aber ich war es, der unseren Blickkontakt unterbrach, als ich einen weiteren Schritt zurücktrat. Ich fühlte mich, als ob mich jemand in Wanne voll Eiswasser getaucht hätte. Mein gesamter Körper wurde taub und meine Knie begannen erneut, unter mir nachzugeben.
„Soll das heißen, Direktor Shepard hat dich auf eine Undercovermission geschickt, obwohl sie gewusst hat, dass du dafür deinen Tod vortäuschen musst? Sie hat die ganze Zeit gewusst, dass du lebst?" Panik stieg in mir auf und ich versuchte, alles zu begreifen. Was ging hier nur vor sich? War das eine großangelegte Verschwörung oder etwas in der Art? Machte es der Direktorin Spaß, mich und die anderen zu quälen?
Gibbs blickte zu Boden und seine gesamte Haltung versteifte sich. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und ich wusste auf einmal, dass das noch nicht alles war, das noch etwas kommen würde, was viel schlimmer sein würde. Mein Herz raste wie verrückt und ich versuchte verzweifelt, meinen Atem unter Kontrolle zu halten.
„Es war meine Entscheidung, Tony", flüsterte Gibbs und seine Stimme war ungewohnt schwach, ich hatte beinahe den Eindruck, dass es ihm seelisch wehtat, hier zu stehen und mir die Wahrheit zu sagen. Aber in diesem Moment war es mir egal, wie er sich fühlte, als ich die Bedeutung seiner Aussage realisierte. Seine Worte trafen mich mitten in mein Herz und ich dachte, es würde in tausend Scherben zerspringen. Mir wurde buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen und die ganze Wiedersehensfreude verwandelte sich in schiere Wut – verdrängte die Angst in meinem Inneren und ich sah buchstäblich rot. Ich ballte meine Hände so fest zu Fäusten, dass sich meine Nägel in die Haut gruben und es hätte nicht viel gefehlt, dass ich zu bluten angefangen hätte.
„Was?!" schrie ich, unfähig, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Jethro hob seinen Kopf und blickte mich traurig und… ja, entschuldigend an – es war genau das, was es nur noch schlimmer machte. „Jen hat mir die Wahl gelassen. Ich… ich habe den Auftrag freiwillig angenommen." Hätte er mir einen Faustschlag mit der Durchschlagskraft einer Bombe versetzt, wäre die Wirkung bei weitem nicht so verheerend gewesen. Ich kam mir verraten vor, der Schmerz, den ich empfunden hatte, als ich erfahren hatte, dass Gibbs angeblich tot war, war nichts im Vergleich zu dem, der mich in diesem Moment überrollte. Ich wollte von ihm weg, wollte von dem Mann weg, der mir wissentlich das alles angetan hatte, aber ich konnte mich nicht rühren. Erneut brannten Tränen in meinen Augen und ich hasste mich dafür, hasste mich dafür, dass ich so schwach war – und das stachelte meine Wut zusätzlich an.

„ICH FASS ES NICHT!!!" schrie ich so laut, dass sich meine Stimme beinahe überschlug und in dem Park widerhallte. Jethro zuckte zusammen und der traurige Ausdruck wurde intensiver, sein Gesicht kam mir so weiß wie der Schnee vor und ich sah Schmerz in seinen Augen, aber das war mir egal. Ich wollte ihm wehtun – wollte ihm so wehtun, wie er es bei mir getan hatte.
„WEIßT DU EIGENTLICH, WAS DU MIR DAMIT ANGETAN HAST?! WAS DU UNS ALLEN DAMIT ANGETAN HAST?! ICH DACHTE, ICH HÄTTE DICH FÜR IMMER VERLOREN! HAST DU EINE AHNUNG, WAS ICH DURCHGEMACHT HABE?! VERDAMMT, ICH HABE MICH FÜR IMMER VON DIR VERABSCHIEDT, HABE GEGLAUBT, ICH MUSS VON NUN AN WIEDER ALLEINE LEBEN, IN EIN LEERES HAUS ZURÜCKKEHREN! ICH HABE GEDACHT, ICH HÄTTE DICH HEUTE BEGRABEN! ABER NEIN, DANN STELLT SICH HERAUS, DASS DAS NUR FÜR EINEN BLÖDEN UNDERCOVEREINSATZ WAR!!! FÜR EINEN UNDERCOVEREINSATZ!!!" Ich betonte jede Silbe einzeln, bis meine Stimme brach und ich den Schluchzer nicht mehr unterdrücken konnte. Ohne dass ich gemerkt hatte, strömten erneut Tränen über meine Wangen.
Jethro stand vor mir und ließ alles über sich ergehen, ließ es zu, dass ich ihn anschrie, wie ich vorher noch nie jemanden angeschrien hatte. Aber ich fühlte mich dadurch nicht besser, ich hatte eher das Gefühl, die Wut würde mich von innen heraus zerfressen. Er trat einen Schritt vor, hielt aber inne, als ich vor ihm zurückwich. „BLEIB WO DU BIST!!!" Meine Stimme war mittlerweile heiser und mein Hals fühlte sich wund an, aber das hielt mich nicht davon ab, ihm zu sagen, was ich von seinem hinterhältigen Spiel hielt.
„Tony, lass es mich bitte erklären", begann er vorsichtig, aber ich schüttelte den Kopf – ich bekam nicht einmal mit, dass er bitte gesagt hatte, etwas, das höchstens einmal im Jahr vorkam. „LASS ES EINFACH!!!" schrie ich und hob abwehrend eine Hand. In diesem Moment wollte ich nichts mehr hören, wollte keine Erklärung, wollte nur mehr von diesem Park verschwinden, weg von dem Mann, dem ich mein Herz geschenkt hatte und der dabei war, es zu zerbrechen.
„Tony…" Seine Stimme war so verzweifelt - wie der Ausdruck in seinen Augen – aber es kümmerte mich nicht die Bohne. „ICH WILL ES NICHT HÖREN!!! GEH UND FÜHRE DEINEN ACH SO WICHTIGEN AUFTRAG AUS, DER JA ANSCHEINEND WICHTIGER IST ALS ICH! ICH DACHTE, ICH KENNE DICH, ABER DAS WAR WOHL EIN IRRTUM!!!" Gibbs zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen und der Schmerz in seinen Augen wurde stärker. Er wollte erneut einen Schritt auf mich zumachen, hielt aber mitten in der Bewegung inne.
Ich schüttelte einfach nur den Kopf, wischte mir die Tränen von den Wangen und atmete tief durch. „Weißt du, eines ist mir jetzt klar geworden", sagte ich überraschend ruhig, ja beinahe leise, ungeachtet dessen, dass ich noch immer fuchsteufelswild war. „Du hattest damals recht, das zweite ‚b' in Gibbs steht tatsächlich für Bastard." Ich hatte die Worte vollkommen nüchtern ausgesprochen – und sie erreichten ihr Ziel, sie hatten genau in Jethros Herz getroffen. Es war nicht das erste Mal, dass ihn jemand Bastard genannt hatte, aber diesmal war es von mir gekommen und es traf ihn härter als es irgendein Faustschlag geschafft hätte.
Gibbs stand regungslos da, die einzige Bewegung kam von seinem Mantel und den Haaren, die durch den Wind zerzaust wurden. Ich drehte mich wortlos um und entfernte mich von ihm, blieb aber nach ein paar Metern unter einer Laterne stehen und betrachtete den silbernen Ring, den ich an meinem Finger stecken hatte. Das Metall glitzerte in dem Licht, aber der Anblick versetzte mir einen heftigen Stich in die Brust, erinnerte es mich nur an die glücklichen Zeiten – bevor sich Jethro dafür entschieden hatte, alles für einen Undercoverauftrag aufs Spiel zu setzen.
Auf einmal war es unerträglich, das Kleinod weiter zu tragen, weshalb ich mir den Ring beinahe panisch vom Finger zerrte und ihn auf meine rechte Handfläche legte. Ich betrachtete den silbernen runden Gegenstand und ich spürte Gibbs' Blick auf meinen Rücken, hörte aber keine Schritte. Eine Träne löste sich aus meinem rechten Auge, lief die Wange hinunter und tropfte auf die geöffnete Hand. Eine Sekunde später kippte ich diese, bis der Ring der Schwerkraft folgend von meiner Haut glitt und mit einem leisen Geräusch, das irgendwie etwas Endgültiges an sich hatte, auf dem gefrorenen Boden landete.
Ohne dem Ring einen weiteren Blick zu würdigen, setzte ich mich erneut in Bewegung, ging gerade so schnell, dass es nicht einer Flucht gleichkam – und ließ den Mann, den ich weiterhin über alles liebte, hinter mir zurück. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, ich hatte keine Ahnung, ob ich Jethro jemals wieder unter die Augen treten konnte – dafür war der Schmerz momentan viel zu groß.
Als ich mir sicher war, dass er mich nicht mehr sehen konnte, fing ich zu rennen an, verließ so schnell ich konnte den Park und wollte einfach nur den unerträglichen Schmerz – genauso wie Gibbs - hinter mir lassen.

Fortsetzung folgt...
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