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Washington D.C.
Sonntag, 26. Januar
08:42 Uhr


Sonnenstrahlen erhellten das Schlafzimmer und schienen mir direkt ins Gesicht, wodurch ich aus einem tiefen und traumlosen Schlaf geholt wurde. Diesmal war es kein nervtötender Wecker, der mir sagte, dass ich aufstehen und in der Finsternis ins Büro fahren musste. Heute war der erste freie Tag seit langem und das Hauptquartier würde mich garantiert erst morgen wieder sehen. Keine Verbrecher, keine Toten, kein lästiges Telefonklingeln und vor allem keine langweilige Aktenarbeit – nur Gibbs und ich. Besser konnte der Sonntag gar nicht mehr werden.
Zufrieden seufzte ich leise, atmete die angenehm kühle Luft ein und kuschelte mich tiefer in die Decke hinein. Ich fühlte mich auf angenehmste Weise entspannt, obwohl ich vor ein paar Stunden mehr als erschöpft eingeschlafen war. Ein Grinsen huschte über meine Lippen, als ich an letzte Nacht dachte. Jethro und ich hatten uns insgesamt drei Mal geliebt, wobei wir es beim letzten Mal endlich ins Schlafzimmer geschafft hatten. Ich hatte ihn noch nie so leidenschaftlich erlebt und seine Finger und Lippen hatten mich immer wieder zu Höchstleistungen animiert, obwohl ich bereits nach dem ersten Liebesakt auf meinem Sofa geglaubt hatte, eine Ewigkeit zu brauchen, um wieder in Fahrt zu kommen. Aber mein Freund hatte mir bewiesen, dass ich meinen Körper falsch eingeschätzt hatte und hatte mich innerhalb von Minuten so weit gehabt, dass ich mich erneut lustvoll keuchend an ihn gepresst hatte, wobei er diesmal eine Spur zärtlicher gewesen war.
Bei unserer nachfolgenden gemeinsamen Dusche war ich schon fast im Stehen eingeschlafen, was mich nach drei Höhepunkten auch gar nicht gewundert hatte. Unter dem heißen Wasserstrahl waren seine Berührungen zärtlich und nicht mehr ungeduldig gewesen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er genauso am Ende seiner Kräfte angelangt war wie ich. Um kurz vor halb drei waren wir schließlich ins Bett gefallen, hatten uns eng aneinander gekuschelt und ich war, gleich nachdem ich ihm eine gute Nacht gewünscht hatte, in einen tiefen Schlaf gefallen, aus den ich erst jetzt durch die Sonnenstrahlen gerissen worden war.
Ich streckte mich, lockerte meine Muskeln und öffnete blinzelnd meine Augen, um mich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen. Aus einem Reflex heraus befreite ich einen Arm aus der Decke und wollte ihn um Gibbs schlingen, aber er landete nur auf der leeren Matratze, die bereits ausgekühlt war und erst jetzt realisierte ich, dass ich auch nicht mehr an ihn gekuschelt dalag. Ich schlug meine Augen komplett auf und blickte auf die Betthälfte, wo vor Stunden noch mein Freund gewesen war. Das Einzige, was sich nun dort befand, war das Kopfkissen, das er verwendet hatte, und der leicht zusammengeballt war. Ich hatte mich längst daran gewöhnt, dass Jethro vor mir aufstand, da er nicht so ein Morgenmuffel war wie ich, aber dennoch fühlte ich mich jedes Mal einsam in dem großen Bett, wenn er nicht mehr neben mir lag. Und da die Matratze seine Körperwärme bereits wieder abgegeben hatte, musste er schon länger als ein paar Minuten fort sein. Für mich war es immer noch ein Wunder, dass er mit viel weniger Schlaf auskam als ich und dabei den Eindruck erweckte, dass er putzmunter war, was natürlich auch an dem starken Kaffee liegen konnte, den er ständig trank und dessen Koffeingehalt ausreichte, um mich einen ganzen Tag lang aufgedreht herumlaufen zu lassen.
Ich gähnte ausgiebig, setzte mich auf und warf einen Blick auf meinen Wecker, der heute ausnahmsweise einmal Ruhe gegeben hatte und stellte verblüfft fest, dass es bereits viertel vor neun war. Normalerweise schmiss mich Jethro an unseren freien Tagen um spätestens acht Uhr aus dem Bett, egal wie sehr ich dagegen protestierte. Diesmal hatte er mich jedoch schlafen lassen, eine Tatsache, die mich verwunderte. Aber vielleicht hatte er gemerkt, dass mich unsere Liebesnacht mehr als erschöpft hatte und hatte mich ausnahmsweise nicht geweckt. Dafür hatte er einen ausgiebigen Guten Morgen-Kuss verdient, entschied ich, schlug die Decke ganz zurück und stand auf. Das Fenster war gekippt und ließ kalte Winterluft ein, die mich leicht zittern und doppelt so schnell in meinem Schrank nach warmer Kleidung suchen ließ – eine blaue Jeans und ein dunkelblaues Hemd, von dem ich wusste, dass mich Gibbs gerne darin sah. Innerhalb einer Minute war ich fertig angezogen, frisierte meine Haare mit den Fingern, eilte aus dem Schlafzimmer und machte mich auf die Suche nach meinem Freund, um ihm den verdienten Kuss zu geben, dass er mich länger hatte schlafen lassen.
„Jethro!" rief ich und betrat den sonnendurchfluteten Wohnraum. Durch die große Terrassentür konnte ich in den Garten blicken, der sich in einer wunderschönen Winterlandschaft vor meinen Augen erstreckte. Der Schnee lag zentimeterdick auf dem Rasen und wurde durch die Sonne in ein wahres Glitzermeer verwandelt. In regelmäßigen Abständen rieselte er von den blätterlosen Ästen der Bäume und bildete kleine Hügel auf dem Boden. Der Sturm von gestern hatte sich gelegt und hatte dem schönsten Wetter, das ich seit langem gesehen hatte, Platz gemacht. Obwohl es klirrend kalt war, zog es mich förmlich nach draußen. Vielleicht hatte Gibbs ja Lust, mit mir einen kleinen Spaziergang zu machen, wobei ich mich jedoch hüten würde, ihn mit einem Schneeball zu bewerfen. Anfang Dezember hatte ich das beim gemeinsamen Schneeschaufeln einmal gemacht und war innerhalb von drei Sekunden mit dem Rücken in der weißen Pracht gelandet, wobei die pulvrigen Flocken in jede nur erdenkliche Kleideröffnung geraten waren. Die Folgen waren, dass ich wie ein Schneemann ausgesehen, vor Kälte gezittert und mich drei Tage später eine heftige Erkältung heimgesucht hatte, obwohl mich mein Freund nach seiner gemeinen Attacke wieder aufgewärmt hatte. Ich hatte meine Lektion gelernt und seitdem nie wieder versucht, auch nur eine runde Kugel zu formen, wenn er in der Nähe war.
Mit einem Lächeln riss ich mich von dem Anblick meines Gartens los und rief noch einmal nach Jethro, der aber erneut nicht antwortete. Stirnrunzelnd sah ich mich im Wohnzimmer um und bemerkte erst jetzt, dass sein Mantel nicht mehr da war, den er gestern einfach über einen Sessel geschmissen hatte. Aber stattdessen lag meine Kleidung, die er mir ausgezogen hatte, ordentlich gestapelt auf dem Sofa, ein Zeichen dafür, dass er hier unten gewesen sein musste. „Wo steckst du bloß?" murmelte ich und stieß die Küchentür, in der Hoffnung, ihn dort zu finden, auf. Aber auch dieser Raum war verlassen, was mich nicht sonderlich wunderte, sonst hätte er mir geantwortet, als ich nach ihm gerufen hatte.
Die neuen Möbel schimmerten in dem hellen Licht und verbreiteten eine gemütliche Atmosphäre. Obwohl sieben Monate vergangen waren, seit ich hier drinnen einen Mann erstochen und die Küche komplett neu eingerichtet hatte, überkam mich hin und wieder ein beklemmendes Gefühl. Die Ereignisse von damals waren noch immer präsent und mir war bewusst, dass ich Gibbs beinahe verloren hätte. Hätte das FBI auch nur eine Sekunde länger auf sich warten lassen, hätte eine Kugel sein Herz getroffen und ihn aus dem Leben gerissen. Das war der Grund, weshalb ich Fornell seitdem mit ganz anderen Augen sah und nicht mehr nur als Agent, der sich immer wieder gerne in unsere Ermittlungen einmischte.
Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen aus meinem Gehirn zu verbannen, bemerkte den Zettel, der mitten auf dem Küchentisch lag und darauf wartete, von mir gelesen zu werden. Bereits von Weitem erkannte ich Jethros Handschrift und in der Hoffnung, dass die Zeilen erklärten wo er steckte, nahm ich das Blatt Papier und musste bereits bei den ersten Worten grinsen.

Guten Morgen, Schlafmütze!
Du hast noch tief geschlafen und dabei so entspannt ausgesehen, dass ich dich nicht wecken wollte.
Da ich weiß, wie sehr du ein ausgiebiges Frühstück magst, habe ich mir gedacht, ich hole uns schnell ein wenig Gebäck. Für den Fall, dass du die Nachricht liest, bevor ich wieder zurück bin, kannst du schon einmal einen Kaffee machen. Und vergiss nicht, für mich extra stark.
Bis gleich, Jethro


Breit lächelnd legte ich die Nachricht wieder auf den Tisch zurück. Das war typisch Gibbs. Er dachte ständig nur an sein Koffein, von dem er heute sicher schon eine Dosis gehabt hatte, wie mir die benutzte Tasse in der Spüle verriet. Es war ein Wunder, dass er sich auch noch von etwas anderem ernährte als von seinem Lieblingsgetränk.
Mit der Entscheidung, dass er sich heute gleich zwei Gute Morgenküsse verdient hatte, drehte ich mich um und wollte die Kaffeemaschine in Betrieb setzen, als mich das unerwartete Klingeln meines Handys zusammenzucken ließ. „Das darf doch nicht wahr sein", sagte ich und legte für eine Sekunde den Kopf in den Nacken. „Wenn sich heute jemand umbringen hat lassen, drehe ich dem Mörder eigenhändig den Hals um." Kurz darauf kam mir allerdings in den Sinn, dass es Jethro sein könnte, der vielleicht eine Autopanne hatte. Oder vielleicht wollte er sich erkundigen, ob ich schon den Kaffee fertig hatte. Mit der Aussicht, dass es mein Freund war, der anrief, eilte ich ins Wohnzimmer, wo auf dem Tisch mein Handy lag, klappte es auf und warf einen Blick auf die Nummer. Unwillkürlich entschlüpfte mir ein Stöhnen, als Zivas Name auf dem Display erschien. „Nein, nein, nein", murmelte ich leicht ärgerlich, denn auf einmal hatte ich das Gefühl, dass ich den freien Sonntag vergessen konnte. „Sag jetzt nicht, dass wir einen neuen Fall haben", meldete ich mich, ohne ihr einen guten Morgen zu wünschen. Aber sie regte sich nicht darüber auf, wie ich eigentlich erwartet hatte. „Habe ich dich geweckt?" fragte die junge Frau, wobei ihre Stimme seltsamerweise belegt und ein wenig brüchig klang. In meinem Inneren breitete sich ein ungutes Gefühl aus, was ich aber durch meinen üblichen Humor zu verdrängen versuchte. „Du hörst dich an, als ob jemand gestorben wäre." Ziva holte unverkennbar scharf Luft, eine Reaktion, die mir gar nicht gefiel. „Es ist besser, wenn du ins Hauptquartier kommst, Tony", sagte sie leise und ging nicht auf meine vorherige Bemerkung ein. „Was ist los?" wollte ich wissen und obwohl ich keinen Grund dazu hatte, stieg in mir Angst auf und ließ mein Herz zusammenkrampfen. „Nicht am Telefon. Komm einfach her." „Und was ist mit Gibbs?" Aber meine Frage hörte sie schon gar nicht mehr – sie hatte einfach aufgelegt. Lautes Tuten war das Einzige, was ich vernahm. Meine Hand, die das Handy hielt, zitterte leicht und ich spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte und mir das Atmen erschwerte. Aber gleich darauf schüttelte ich den Kopf und vertrieb das Gefühl der Angst. Nur weil sich Ziva so komisch angehört hatte, hieß das noch lange nicht, dass etwas passiert sein musste. Und vielleicht war es nur ein Scherz von ihr, um mich ins Büro zu locken und mir somit den Sonntag zu verderben.
Ohne lange darüber nachzudenken, wählte ich Jethros Nummer, um ihn zu fragen, ob er wusste, weshalb ich zum NCIS kommen sollte, aber ich hörte nur die Mailbox Ansage. Überrascht hob ich eine Augenbraue, denn schließlich war er es, der uns ständig eintrichterte, immer erreichbar zu sein. ‚Vielleicht ist er nur in einem Funkloch', beruhigte ich mich selbst und klappte das kleine Gerät zu. Wahrscheinlich hatte ihn Ziva bereits angerufen und er war auf dem Weg ins Hauptquartier. Aber wieso hatte er sich dann nicht bei mir gemeldet und mir gesagt, dass es einen neuen Fall gab?
„Jetzt mal nicht gleich den Teufel an die Wand, Anthony", schimpfte ich mich selbst, ging in den Vorraum und zog meine Jacke an. Es gab sicher eine gute Erklärung, weshalb Gibbs nicht angerufen hatte. Wieso hatte ich aber so ein komisches Gefühl im Magen? Wieso sagte mir mein Instinkt, dass es nicht ein neuer Fall war, weswegen ich ins Büro fahren sollte? Ich drängte erneut die Angst zurück, die sich ausbreiten wollte, schnappte mir meinen Rucksack und öffnete die Tür, um in die kalte Luft, die wunderbar rein roch, hinauszugehen. Der Sturm gestern hatte eine mindestens 15 Zentimeter dicke Schneedecke hinterlassen, die unter meinen Schuhen knirschte, während ich zur Garage ging, um meinen Wagen zu holen. Bevor ich das Tor öffnete, versuchte ich wieder, Jethro zu erreichen, hatte aber genauso wenig Erfolg wie vor ein paar Minuten. Die Unruhe in meinem Inneren wurde immer größer und ich hörte nicht einmal die lauten Begeisterungsschreie der Nachbarskinder, die sich über den vielen Schnee freuten.
Innerhalb von ein paar Sekunden saß ich in meinem Auto, hatte den Motor gestartet und fuhr rückwärts auf die ruhige Straße, die bereits von einem Schneepflug geräumt worden war, aber dennoch war es leicht eisig, sodass ich einen Meter weiter rutschte, bevor ich anhielt, einen Gang einlegte und mit quietschenden Reifen losfuhr. Normalerweise passte ich meine Fahrweise an die Straßenverhältnisse an, aber heute machte ich eine Ausnahme und trat das Gaspedal bis zum Boden durch. Mein Gefühl sagte mir, dass ich ganz schnell im Hauptquartier sein sollte. Auf einmal wurde mir klar, dass es sicher kein Scherz von Ziva gewesen war, dass irgendetwas passiert sein musste, sonst hätte sie sich nicht so leise angehört, ihre Stimme nur ein Bruchteil ihrer sonstigen Intensität.
In bester Gibbsmanier überholte ich viel zu langsame Autofahrer, überfuhr mehr als einmal eine Kreuzung bei Gelb und vergaß, dass es so etwas wie Verkehrsregeln gab. Nicht selten wurde mir lautes Hupen nachgeschickt, als ich in den Gegenverkehr auswich, um schneller vorwärts zu kommen und zwei Mal hätte ich beinahe die Kontrolle über meinen Wagen verloren, als ich zu schnell abgebogen war und die Straße an diesen Stellen rutschig war. Dennoch erreichte ich innerhalb von 15 Minuten ohne Unfall das Hauptquartier und hielt mit quietschenden Reifen auf meinem üblichen Parkplatz in der Tiefgarage, die an diesem Sonntag ziemlich leer war. Ich ließ meinen Blick kurz über die anderen Fahrzeuge schweifen, entdeckte aber jenes von Gibbs nicht. „Das muss nichts heißen", sagte ich mir selbst. Immerhin war es möglich, dass irgendwo ein Stau war, was bei den schwierigen Straßenverhältnissen auch kein Wunder war oder Ziva hatte ihn noch nicht erreicht oder er war noch auf dem Weg hierher. Für meinen Geschmack waren das aber zu viele oders und um mir nicht weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, wo mein Freund steckte, eilte ich zum Fahrstuhl, drückte auf den Knopf und wartete ein wenig ungeduldig, bis sich die Türen öffneten, nur um kurz darauf noch ungeduldiger zu warten, bis er die dritte Etage erreichte.
Mit dem mir nur allzu vertrauten leisen Pling glitten die Türen auseinander und präsentierten mir ein ungewohnt leeres und ruhiges Großraumbüro. Keine Telefone, die klingelten, keine Agents, die hektisch herumliefen und keine lauten Stimmen, die sich Informationen zuriefen. Helles Sonnenlicht fiel durch die breiten Fenster und schaffte eine freundliche Atmosphäre. Aber trotzdem vermochte es nicht, mein klopfendes Herz zu beruhigen. Mit großen Schritten ging ich zu meinem Platz und sagte: „Hier bin ich. Was gibt es denn so Wichtiges?" Meine Stimme hörte sich so unbeschwert wie immer an, obwohl ich mich überhaupt nicht so fühlte – im Gegenteil. Mir wäre es lieber, wieder in meinem warmen Bett zu liegen und nicht hier zu sein.
Ich wollte bereits meinen Rucksack auf den Boden fallen lassen, hielt aber mitten in der Bewegung inne, als ich zu meinen Kollegen und Freunden sah. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, das war mir sofort klar und es hatte nichts damit zu tun, dass Direktor Sheppard ebenfalls anwesend war.
Mein Blick glitt automatisch zu Gibbs' Schreibtisch, an dem aber nicht er sondern Abby saß. Ihr Kopf hing nach unten, aus ihren Rattenschwänzen hatten sich einzelne Strähnen gelöst und sie wirkten nicht so lustig wie sonst, sondern eher traurig. Ihre immer allgegenwärtige Fröhlichkeit war verschwunden und sie schien nicht einmal mitzubekommen, dass sie nicht alleine war, sondern war in ihrer eigenen Welt gefangen. Ihr schlanker Körper bebte und wenn mich nicht alles täuschte, hatte sie gerade einen leisen Schluchzer von sich gegeben. Die Angst, die mich seit Zivas Anruf heimgesucht und die ich erfolgreich verdrängt hatte, kam mit doppelter Wucht zurück und mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ich sah zu Ducky, der neben der Forensikerin stand und ihr tröstend eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Seine Fliege saß heute schiefer als sonst und sein Körper wirkte ein wenig gebeugt. An diesem Morgen wirkte er mehr denn je wie ein alter Mann und nicht wie der flinke Pathologe der er war. In seinen Augen konnte ich eine Trauer erkennen, die mich beinahe zurückstolpern ließ. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder, so als ob er zum ersten Mal nicht wusste, welche Worte er verwenden sollte.
In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß, der auch nach mehrmaligem Schlucken nicht wegging. Panik stieg in mir auf, als ich meinen Blick weiter über Palmer – der seine Schuhspitzen bewunderte – zu McGee schweifen ließ, der auf seinem Stuhl saß und mich aus roten geschwollenen Augen ansah. Es war unverkennbar, dass er vor kurzem geweint hatte und auch jetzt noch mit den Tränen kämpfte. Er schüttelte ungläubig seinen Kopf, fuhr sich mit zitternden Händen durch sein kurzes Haar und betrachtete anschließend seine Finger. Und noch bevor ich zu Ziva und Jenny sah, die nebeneinander standen, wusste ich es – wusste mit Bestimmtheit den Grund, weshalb Abby an Jethros Platz saß und nicht er. Wusste mit Bestimmtheit, weshalb Ducky zum ersten Mal in seinem Leben die Worte fehlten, wusste mit Bestimmtheit, weshalb Tim geweint hatte.
Plötzlich hatte ich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen und ich begann, keuchend ein- und auszuatmen. Ein unglaublicher Schmerz schien mir mein Herz zusammenzupressen, nur um es gleich darauf in tausend Stücke zerspringen zu lassen. Meine Augen wurden verräterisch feucht und die Umgebung verschwamm vor mir. „Nein", flüsterte ich beinahe tonlos und schüttelte den Kopf. „Tony…" begann Ziva, brach aber ab, als ich sie direkt ansah. Sie wirkte auf einmal zerbrechlich und unendlich traurig – war nicht mehr die toughe Agentin, so wie ich sie kannte. Die junge Frau machte einen Schritt auf mich zu, aber ich wich zurück. „Nein", wiederholte ich diesmal lauter, wollte es nicht hören, wollte nicht glauben, was so offensichtlich war.
Die erste Träne rann mir über meine Wange, aber ich wischte sie nicht weg, war unfähig auch nur einen Arm zu heben. Flehend blickte ich zu Jenny, die mich mitfühlend ansah und auch sie wirkte zum ersten Mal, seit ich sie kannte, nicht mehr wie die starke Direktorin, die sie immer an den Tag legte. In diesem Moment war sie nur noch eine Frau mit Gefühlen. „Es tut mir leid, Tony", sagte sie mit ungewohnt leiser Stimme und ihre sonst so strahlenden Augen verloren ihren Glanz. Und dann sagte sie die Worte, die ich nicht wahrhaben wollte, die ich nicht hören wollte und die mein bisheriges Leben wie ein Kartenhaus einstürzen ließen: „Es tut mir leid, aber Gibbs ist heute Morgen bei einem Unfall ums Leben gekommen."

Fortsetzung folgt...
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