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Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, als ich die Tür von meinem Haus aufsperrte und sie nur Sekunden später mit aller Kraft hinter mir ins Schloss warf, sodass die Scheibe des Fensters daneben klirrte und der Knall in der Stille laut widerhallte. Mir war es egal, wenn sich die Nachbarn beschwerten, mir war es egal, wenn das Fenster zerbrach und dadurch kalte Luft ins Innere strömen würde – momentan war mir alles egal. Nichts war wichtig, außer dem dringenden Bedürfnis, auf etwas einzuschlagen. Ich war so wütend wie noch nie zuvor in meinem Leben und am liebsten hätte ich so laut geschrien wie ich konnte, hätte all den Schmerz, der mit dieser Wut einherging, von meiner Seele gebrüllt.
All die Tränen, die ich vergossen hatte, seit ich den Park verlassen hatte, hatten nicht im Geringsten eine Linderung gebracht, hatten stattdessen alles schlimmer gemacht. Ich fühlte mich verraten, verhöhnt und schrecklich einsam, gleichzeitig aber vollkommen hohl, so als ob jemand mein gesamtes Inneres herausgekratzt hätte. Wie hatte das alles nur passieren können? Ich schlitterte förmlich von einem Albraum zum nächsten, mit keiner Aussicht, daraus aufzuwachen. Ich hatte getrauert, war mehr als einmal zusammengebrochen bei der Aussicht, ohne Gibbs leben zu müssen und dann stellte sich heraus, dass er nur mit meinen Gefühlen gespielt hatte, dass er bewusst seinen Tod vorgetäuscht hatte, um einen dämlichen Undercovereinsatz durchführen zu können.
Bei diesem Gedanken überkam mich erneut unbeschreibliche Wut und ich schlug so fest ich konnte auf die Tür ein, versuchte den Schmerz auf diese Weise etwas erträglicher zu machen. Ich lehnte meine Stirn gegen das Holz, das ich so lange bearbeitete, bis die Knochen in meiner Hand weh taten und sich erneut Tränen unter meinen geschlossenen Augen bildeten. Einen Moment lange wollte ich diesen nachgeben, beschloss aber, dass ich nicht weinen würde. Nein, ich würde keine Träne mehr vergießen, damit war jetzt endgültig Schluss. In den letzten Tagen hatte ich viel zu viel geheult – und wofür? Um zu erfahren, dass ich umsonst so gelitten hatte, dass alles nur ein großer Fake gewesen war.

Ich war so glücklich gewesen, als ich realisiert hatte, dass Jethro echt war, dass er wirklich lebte, hatte ich doch geglaubt, ihn für immer verloren zu haben. Nichts und niemand hatte mich darauf vorbereitet ihn unter dieser Laterne stehen zu sehen, mit Augen, die wie eh und je gefunkelt hatten. Ich hätte eine Ewigkeit in seinen Armen liegen können, auf diesem kalten Boden im Park. Es war unglaublich gewesen, ihn wieder zu spüren, seinen Atem auf meiner Haut fühlen zu können, seine Hände, die zärtlich über meine Wangen gefahren waren, um die Tränen wegzuwischen. Und ständig sein Blick voller Liebe und für einen kurzen Moment war alles perfekt gewesen, ich hatte nicht darüber nachdenken wollen, warum Gibbs auf einmal wieder bei mir war und mich fest in seinen Armen hielt. Seit Tagen hatte ich nicht mehr diese Freude verspürt – das letzte Mal, als er am Samstagabend noch zu mir gekommen war, um mit mir eine Nacht voller Leidenschaft zu verbringen. Hatte ich vorher angenommen, seine damalige Verzweiflung rühre von der schlecht verlaufenen Videokonferenz, so war das nicht einmal annähernd die Wahrheit.
Jetzt verstand ich, warum Jethro so verzweifelt gewesen war, weil er gewusst hatte, was er mir nur ein paar Stunden später antun würde. Aber es hatte ihn nicht davon abgehalten, es dennoch durchzuziehen, mich alleine zu lassen, um mir anschließend den schlimmsten Schmerz, den ich je verspürt hatte, zuzufügen. War die Nacht noch vor kurzem die letzte schöne Erinnerung, die ich von Gibbs gehabt hatte, so hatte sie sich mittlerweile ins Gegenteil verwandelt. Wie hatte er es nur wagen können, noch ein letztes Mal mit mir zu schlafen, in dem Wissen, was danach kommen würde? Hatte er gehofft, sich seinerseits schöne Erinnerungen mitzunehmen? Hatte er geglaubt, er wäre es mir schuldig, mir für ein paar Stunden fast meinen Verstand zu rauben?
„Du bist mir mehr schuldig als nur Sex", schrie ich beinahe und wischte mir die Tränen von den Wangen, die trotz all meiner Bemühungen unter den Augenlidern hindurchgequollen waren. Hatte sich Jethro nicht vorstellen können, dass er mein Leben mit seiner Entscheidung beinahe zerstört hatte? Er hielt mein Herz in seinen Händen und ich hatte das Gefühl, je mehr Zeit verstrich, desto mehr drückte er zu, so lange, bis es irgendwann unwiderruflich zerbrechen würde. Wieso hatte ich mich nur in ihn verlieben müssen? War es nicht von vornherein klar gewesen, dass unsere Beziehung zum Scheitern verurteilt war? Regel Nummer 12… nicht umsonst war sie von Gibbs aufgestellt worden und wir beide hatten geglaubt, wir könnten uns darüber hinwegsetzen.
Liebe zwischen Kollegen… ich war so naiv gewesen zu glauben, nichts und niemand könnte uns auseinanderbringen und dann passierte so etwas. Und das Schlimmste war, dass ich Jethro noch immer liebte, dass mein Herz nach ihm schrie, obwohl er mir das alles angetan hatte. Wieso war es nur so schwer, überhaupt darüber nachzudenken, einen Schlussstrich zu ziehen? Wieso war es nicht möglich, Liebe einfach abzuschalten? Wieso musste sie nur so schrecklich wehtun? Und wieso konnte ich nicht einfach den liebevollen Blick vergessen? Sieben Monate reinstes Glück und dann schmiss er das alles weg, nur für einen Undercoverauftrag. Wie konnte er nur? Wieso war ihm dieser Auftrag bloß wichtiger als ich?

Jetzt erst wurde mir in meiner Wut bewusst, dass ich doch eine Erklärung wollte, obwohl ich es vorhin abgestritten hatte. Ich hatte einfach nur so schnell wie möglich von Gibbs wegkommen wollen, hatte seiner Gegenwart entfliehen müssen, um dem Schmerz zu entkommen, den seine bloße Anwesenheit in mir hervorgerufen hatte. Selbst an ihn zu denken gab mir das Gefühl, jemand würde mir ein Messer mitten in mein Herz rammen und es genüsslich umdrehen.
Ich hätte wissen müssen, dass etwas direkt vor meiner Nase ablief, ich hätte auf meinen Instinkt hören sollen, dass mit Direktor Shepard etwas nicht stimmte. Schon alleine der Ausdruck in ihren Augen, als sie mir gesagt hatte, dass Gibbs bei einem Unfall ums Leben gekommen war, hätte mich misstrauisch machen müssen. Bereits da hatte ich gespürt, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, aber zu diesem Zeitpunkt war ich viel zu überwältigt gewesen, als mich die Erkenntnis überrollt hatte, dass Jethro für immer fort war. Es war kein Platz für andere Gedanken gewesen, ich hatte mit meiner Trauer zu kämpfen gehabt, da hatte ich nicht auch noch darüber grübeln wollen, warum mich Jen so komisch angesehen hätte, als ob sie mehr wissen würde.
Und jetzt wurde mir auch klar, warum sie mich nicht von meinem Vorhaben, Gibbs' Unfall untersuchen zu wollen, abgebracht hatte, warum sie nicht mehr durch den Wind gewesen war, als ich ihr gesagt hatte, dass es Mord gewesen war. Sie hatte gewusst, worum es ging, hatte von dem Sprengstoff gewusst, hatte gewusst, dass ich nie einen Täter finden würde, weil es einfach keinen gab. Ich war viel zu froh darüber gewesen, dass sie mich weiter hatte arbeiten lassen als dass ich darüber nachgedacht hätte, wie seltsam es doch eigentlich war, dass sie mich nicht nach Hause geschickt hatte. Jeder vernünftige Direktor hätte dafür gesorgt, dass ich für mindestens eine Woche keinen Fuß mehr in das Hauptquartier setzen würde, aber Jen hatte sich so untypisch verhalten, hatte sich nicht an die Regeln gehalten. Weil sie gewusst hatte, dass meine Nachforschungen ins Nichts führen würden, weil sie gewusst hatte, dass ich irgendwann vor einer Mauer stehen würde.
Mittlerweile war ich mir auch sicher, dass ich am Dienstagvormittag in ein Telefonat zwischen ihr und Gibbs geplatzt war und dass sich deshalb auf ihrem Gesicht für einen kurzen Augenblick Schrecken abgezeichnet hatte. Ich hatte sie nicht bei einem Anruf mit ihrem Geliebten gestört, sondern bei etwas viel Heiklerem. Hatten die beiden vielleicht über mich geredet? Hatte die Direktorin Gibbs ständig auf dem Laufenden gehalten, was ich machte, wie es mir so ging? Wie ich damit zurecht kam, dass er tot war? Alleine bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht. Wieso hatte ihm Jen auch von dieser Verbrecherorganisation erzählen müssen? Hätte sie nicht einfach einen anderen Agenten nehmen können? Warum Jethro? Im Prinzip war sie doch die Wurzel allen Übels.
Erneut überkam mich Wut und ich schlug ein weiteres Mal auf die Tür ein, ehe ich den Rücken durchstreckte und mich umdrehte. Es war finster im Haus, nur das Licht von den Straßenlaternen sickerte durch die Vorhänge vor den Fenstern und warf fahle Streifen auf den Parkettboden. Draußen schneite es noch immer und die Flocken bildeten langsam aber sicher eine Zentimeter dicke Schicht. Es war so friedlich, nichts war zu hören, weshalb mir das Schlagen meines Herzens umso lauter vorkam. Mein Innerstes war in Aufruhr und am liebsten hätte ich meine Autoschlüssel genommen und wäre stundenlang ziellos herumgefahren, aber ich wusste, bei diesem Wetter würde ich wahrscheinlich irgendwann im Graben landen, vor allem, wenn ich meine Wut auf das Gaspedal übertragen würde, was bei der Fahrt vom Park zu mir nach Hause bereits ein paar Mal gesehen war und ich die Kontrolle über den Wagen beinahe verloren hätte. So schrecklich die Situation auch war, ein tödlicher Unfall meinerseits würde doch gar nichts lösen – nun ja, vielleicht meine Probleme, aber was war mit den anderen?

Langsam setzte ich mich in Bewegung, legte zielsicher den Weg vom Vorraum ins Wohnzimmer zurück, wobei ich mir unterwegs die Jacke auszog und sie richtiggehend auf die Couch pfefferte, bevor ich das Licht der Lampe auf dem Tisch daneben einschaltete. Ich versuchte nicht daran zu denken, was Jethro und ich noch am Samstagabend auf dem Sofa gemacht hatten, wie er sich an mich geklammert hatte, so als ob es keinen Morgen mehr geben würde.
„Ich liebe dich, Tony. Vergiss das nie, egal was passiert." Seine Worte hämmerten in meinem Kopf wider und führte mir die Situation vor Augen, als er sie gesagt hatte. „Du hast gewusst, was du mir damit antust!" schrie ich hilflos in den leeren Raum hinein und ballte meine Hände zu Fäusten. „Egal was passiert?! Du bist so ein Idiot!" Aber niemand hörte mich, niemand nahm Notiz davon, dass ich hier in meinem Wohnzimmer stand, wahrscheinlich vor den Scherben meiner Beziehung, die mir alles bedeutet hatte. Gibbs war mein Ein und Alles gewesen, aber nein, er beschloss den Helden zu spielen, einerlei wie ich mich dabei fühlen würde.
„Egal was geschieht, vergiss niemals, dass ich dich von ganzem Herzen liebe." Seine Stimme war in meinem Kopf, wiederholte immer wieder die Worte, die damals mein Misstrauen erregt hatten. Wieso konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Wieso musste er mich auch noch quälen, obwohl er gar nicht hier war? „Lass mich in Ruhe!" schrie ich und raufte mir buchstäblich die Haare, in der Hoffnung, seine Stimme damit vertreiben zu können, seine Worte, von denen ich wusste, dass sie die volle Wahrheit waren. Aber wenn es so war, wieso tat mir Jethro das an? Ich wollte eine Erklärung, aber gleichzeitig wollte ich ihn nie wieder sehen, wollte nicht in seine blauen Augen blicken, die ich doch so sehr liebte, wollte nicht in sein Gesicht sehen, nur um daran erinnert zu werden, was wir uns alles aufgebaut hatten.
„Wenn du mich liebst, wieso tust du mir das dann an?! Wieso?!!" Mit vor Tränen verschleierten Augen blickte ich zum Kamin, auf dessen Sims sich das Bild von Gibbs befand, wo er neben seinem Boot stand und lächelte – ein Lächeln, das er nur für mich reserviert hatte, so offen, so liebevoll, so sexy. Ich wusste noch, kurz nachdem ich das Foto gemacht hatte, hatte er mich auf den Boden des Kellers gezerrt und mir eines ums andere mal gezeigt, dass seine Hände nicht nur geschickt darin waren, ein Boot zu bauen. Und die ganze Zeit hatte er mir ins Ohr geflüstert, dass ich das Wertvollste in seinem Leben war.
Bevor ich es verhindern konnte, löste sich aus meiner Kehle ein Schluchzen und ich wurde deswegen noch wütender. Ich wollte nicht mehr weinen, wollte nicht mehr schwach sein, wollte nicht mehr leiden. Wieso konnten diese verdammten Tränen nicht einfach aufhören zu fließen?
So als ob es schuld daran wäre, nahm ich das Bild in meine Hand und betrachtete es kurz, fuhr mit dem Daumen das Gesicht nach, das ich weiterhin so sehr liebte, obwohl mir sein Besitzer solche Schmerzen zufügte. Warum hatte ich mich ausgerechnet in ihn verlieben müssen? Wieso hatte ich ihm mein Herz geschenkt?
Auf einmal schien mich Jethros Lächeln zu verhöhnen und meine Knöchel wurden weiß, als ich den Rahmen des Bildes immer fester umklammerte. Seine Augen funkelten mich fröhlich an, schienen mich jedoch gleichzeitig zu verspotten. Mein Atem wurde schneller und die Tränen mehr, die reihenweise auf das saubere Glas, das das Foto schützte, tropften. Anstatt eines Schluchzens stieg diesmal ein Knurren in meiner Kehle auf und ehe ich wusste, was ich überhaupt machte, holte ich mit meinem rechten Arm aus und schleuderte das Bild von mir, legte in den Wurf die gesamte Wut und Schmerz, die ich empfand. „Bastard!" schrie ich in dem Moment, als der Schnappschuss auf der Wand neben der Terrassentür auftraf und das Glas mit einem lauten Splittern zerbrach, der Rahmen mit einem leisen Poltern auf den Boden fiel. Scherben rieselten auf die Erde, wo sie in weitere kleinere Teile zerbarsten. Auf dem Parkett bildete sich ein kleines Scherbenmeer – ein Scherbenmeer, das den momentanen Zustand unserer Beziehung zeigte.
„Bastard", wiederholte ich leise, da mich die Kraft verlassen zu schien. Genauso wie im Park gaben meine Knie unter mir nach und ich sank auf den Teppich neben dem Sofa. Ich versuchte mit aller Macht, nicht zu weinen, ich wollte keine Träne mehr wegen Gibbs vergießen, wollte wegen ihm nicht mehr leiden, aber meine Augen hatten andere Pläne. Ehe ich mich versah, legte ich den Kopf an die Lehne der Couch und ließ den Gefühlen freien Lauf – in der Hoffnung, dass es mir danach vielleicht besser gehen würde.

Fortsetzung folgt...
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