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Der Wind war mittlerweile zu einem kleinen Sturm angewachsen und wirbelte die Flocken regelrecht vor sich hin, bevor sie auf den gefrorenen Boden fielen und dort eine durchgehende weiße Schicht bildeten. Es war kälter geworden, die Äste der Bäume raschelten lauter und eine lose Zeitungsseite wurde von den Böen hin und her geweht. Die Schaukel rechts neben Gibbs knarzte mehr denn je und die Scharniere bettelten förmlich darum, geschmiert zu werden. Er saß an derselben Stelle wie am Samstag und blickte auf den silbernen Ring, mit dem Unterschied, dass er ihn diesmal an seinem Finger trug und nicht auf seiner Handfläche liegen hatte.
Schneeflocken blieben in seinen Haaren hängen, der Wind zerrte an seinem Mantel und bauschte ihn auf, aber Jethro kümmerte sich nicht darum ihn zuzuknöpfen. Die Kälte ließ seine Haut taub werden und er hoffte, dass diese Taubheit in das Innere seines Körpers dringen würde, um den Schmerz dort abzutöten. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon hier saß und den Ring anstarrte, den Beweis einer Liebe, von der er hoffte, sie nicht verloren zu haben. Irgendwie hatte er gehofft, der unwillkürliche Tränenausbruch würde es ihm etwas leichter machen, mit allem umzugehen, aber er fühlte sich nicht wirklich erleichtert, war nur wieder fähig, etwas klarer zu denken.
Gibbs wusste, dass es nicht klug war, sich so lange dieser eisigen Kälte auszusetzen, es zuzulassen, dass sich Flocken in den Kragen seines Mantels verirrten, aber er wollte nicht zu dem schäbigen Apartment fahren, das er vorübergehend sein Zuhause nannte. Die Wände würden ihn wahrscheinlich erdrücken und innerhalb kürzester Zeit würde er durchdrehen, würde ihm die Decke auf den Kopf fallen. Und in diesem Park gab es wenigstens keine Hindernisse, nichts, das ihn einengen konnte. Er hatte keine Ahnung, ob er heute Nacht überhaupt in die Wohnung zurückkehren würde, oder ob er das Risiko auf sich nehmen und Zuflucht in seinem Bootskeller suchen sollte. Es war der Ort, an dem er immer nachdenken konnte, wo er sich immer sicher fühlte, wo ihn jedes Mal eine innerliche Ruhe überkam.
Allerdings würde ihn wohl auch dort alles an Tony erinnern und daran, was sie erlebt hatten. Es gab sicher keinen Raum seines Hauses, mit dem nicht eine Erinnerung an seinen Freund verbunden war und sei es die Waschküche, wo diesem einmal versehentlich ein dunkelroter Socken zur Weißwäsche gerutscht war.
Sicherlich war es besser, wenn er einfach die ganze Nacht herumfahren oder hier sitzen bleiben würde, um darüber nachzudenken, wie er alles wieder geradebiegen und erklären konnte. Jethro hoffte noch immer, dass Anthonys Wut ein wenig verrauchen würde, sobald er die gesamte Wahrheit erfuhr, wenn er ihm erklärte, warum er die Entscheidung getroffen hatte, seinen Tod vorzutäuschen, um Darien zu überführen. Und dieser setzte immer mehr Vertrauen in seinen alten Freund, wie sich heute am Nachmittag erwiesen hatte. Coolidge hatte ihm verraten, dass er Gibbs am Samstag in seine neuen Pläne einweihen würde und somit würde er auch endlich wissen, wo der nächste Anschlag geplant war. Er hatte nicht gewagt zu fragen, warum nicht bereits morgen, aber Hayden hatte von sich aus erzählt, dass er den nächsten Tag nicht in Washington sein würde, sondern sich mit dem Mann, der die Bombe baute, die bald fertig sein würde, traf. Natürlich hatte er keine Namen genannt, aber dennoch war klar, dass Darien wohl wirklich so skrupellos sein würde, irgendein Gebäude in die Luft zu sprengen, um möglichst viel Schaden anzurichten. Es würden wieder Menschen sterben, Familien würden auseinandergerissen werden, so wie es bei ihm der Fall gewesen war.
Traurig fuhr Jethro den Ring mit seinem Finger entlang und überließ sich den Erinnerungen, die ihn dazu gebracht hatten, Tony so zu verletzen, die ihn dazu gebracht hatten, sein bisheriges Leben aufs Spiel zu setzen. Es war ein Versprechen gewesen, ein Versprechen an den Menschen, der ihm vor Jahren alles bedeutet hatte, war es doch die einzige Familie gewesen, die ihm noch geblieben war…

Eine dunkle Wolke, obwohl die Sonne vom strahlend blauen Himmel schien, hing über dem hübschen, zweistöckigen Haus in einem Washingtoner Vorort. Der Frühling war dabei, in den Sommer überzugehen, sämtliche Blumen standen in voller Blüte, überall summten Bienen und verliehen der Umgebung noch mehr Frieden. Die gesamte Straße wurde von hohen Bäumen gesäumt, die wohltuenden Schatten spendeten und unter denen größtenteils die Wagen der Eigentümer der Häuser standen. Die Autos waren durchgehend sauber poliert und glänzten in der Nachmittagssonne vor sich hin. In den Gärten mit den saftigen Wiesen tollten Kinder herum und ihr fröhliches Geschrei hallte laut wider, zeugte davon, wie sie sich freuten, dass das schöne Wetter anhielt. Für die Kleinen war die Welt in Ordnung, sie ahnten nichts von der Trauer, die in dem weiß gestrichenen Haus am Ende der Straße herrschte. Außerhalb der Mauern ging das Leben seinen gewohnten Gang, niemand bemerkte die dunkle Wolke über dem schwarzen Dach und niemand registrierte den grauhaarigen Mann, der gerade seinen Wagen in der Auffahrt jenes Hauses abstellte.
Normalerweise wäre Gibbs mit quietschenden Reifen stehen geblieben, aber an diesem Sonntag war es anderes, alles war anders, seit er den Anruf erhalten hatte, der ein weiteres Stück seines Lebens zerstört hatte. Gestern hatte er noch gehofft, dass dieses Telefonat nie erfolgen würde, dass es noch eine Möglichkeit gab, dass alles gut wurde, aber seine ganzen Hoffnungen waren mit nur wenigen Worten zerstört worden.
„Sie haben ihn gefunden, Jethro." Noch immer hörte er die schluchzende Stimme Jamies, hörte ihre Verzweiflung, hörte durch das Telefon hindurch, dass etwas in ihr zerbrochen war. Zu diesem Zeitpunkt war er mitten in einem Streit mit noch Ehefrau Nummer zwei gewesen und er hatte sie fuchsteufelswild zurückgelassen, hatte ihr nicht gesagt wo er hin wollte. Wahrscheinlich nahm sie an, er hätte einen neuen Fall – der Grund, warum sie sich in den letzten Wochen ständig in den Haaren lagen. Sie behauptete, er sei mit seinem Job verheiratet und würde außerdem mehr Stunden in seinem Bootskeller verbringen als mit ihr. Aber momentan war ihm nicht daran gelegen, seine Ehe zu retten, Jamie war viel wichtiger als jede Frau der Welt.

Gibbs krampfte seine Hände um das Lenkrad, als er die Fassade des Hauses hinaufblickte und ohne Mühe das Fenster fand, von dem er wusste, dass dahinter das Zimmer von James Jr. lag, ein aufgeweckter Junge, zwölf Jahre, 11 Monate und 12 Tage alt. Nur würde er seinen nächsten Geburtstag nicht mehr erleben – er war seit etwa 18 Stunden tot, gestorben bei der Explosion eines Einkaufszentrums, das willentlich in die Luft gesprengt worden war und hunderte Menschen das Leben gekostet hatte, die den Samstag Nachmittag dazu genutzt hatten, einzukaufen. Den Medien und somit der Öffentlichkeit wurden nähere Details verschwiegen, das Einzige was bekannt gegeben wurde, war die Zahl der Toten, die noch immer stieg und vor kurzem wieder um eins erhöht worden war.
„Sie haben ihn gefunden, Jethro." Die Worte hatten ihn direkt ins Herz getroffen und er hatte eine ganze Minute nur dastehen können, den Telefonhörer am Ohr, während ihn Diane mit irgendwelchen Schimpfnamen bedacht hatte. Er hatte ihr Geschrei nicht mehr mitbekommen, sondern hatte nur den verhängnisvollen Satz in seinem Kopf gehört. James Jr. Gibbs, sein heißgeliebter Neffe, das Kind, an das er sich förmlich geklammert hatte, nachdem er Kelly verloren hatte. Der Junge hatte ihm alles bedeutet, er war wie ein Sohn für ihn gewesen, nachdem James' Vater vor sieben Jahren an Krebs gestorben war. Jimbo, wie er von seinen Eltern liebevoll genannt wurde, hatte in seinem Onkel einen Ersatzdaddy gesucht, hatte nach seiner Nähe gesucht wie Jethro nach der des Jungen. Er war es gewesen, der Gibbs nach dem Tod von Shannon und Kelly mit seiner unbeschwerten Art aufgeheitert hatte, der ihn praktisch gezwungen hatte, weiterzuleben. Seine Schwester Jamie und James waren die einzige Familie, die ihm noch geblieben war und die ihm alles bedeuteten. Und jetzt hatte er schon wieder ein Kind verloren, zwar nicht sein leibliches, aber es fühlte sich irgendwie so an, nachdem er einen entscheidenden Teil zu der Erziehung des Jungen beigetragen hatte, er hatte ihn sogar fürs Boote bauen begeistern können. Noch am Freitag hatten sie gemeinsam an diesem gearbeitet, hatten das Holz glatt geschliffen – es schien eine Ewigkeit zurückzuliegen, ein Leben lang.

So weh es auch tat, schon wieder jemanden verloren zu haben, Jethro konnte nicht weinen – er hatte sämtliche Tränen für Shannon und Kelly vergossen und brachte es nicht fertig, welche zu produzieren, auch wenn sein Inneres förmlich danach schrie. Wieso spielte gerade ihm das Schicksal einen derartigen Streich? Warum musste immer ihm so etwas passieren? Warum starben die Menschen, die er über alles liebte? Die Wunden, die der Verlust seiner Familie hinterlassen hatte, hatten erst begonnen sich langsam zu schließen und jetzt waren sie wieder aufgerissen worden, bluteten wie eh und je.
Und genauso wie bei seiner Frau und Tochter verspürte Gibbs das dringende Bedürfnis nach Rache. Er wollte denjenigen finden, der dafür verantwortlich war, der so gierig nach Geld war, dass er dafür den Tod von hunderten Unschuldigen in Kauf nahm. Er wusste von dem Bekennerschreiben, sämtliche Bundesbehörden und Polizeistationen im ganzen Bundesstaat waren darüber informiert worden. Sie hatten die Bedrohung ernst genommen, aber nicht so ernst, dass es jemals zu einer Zahlung gekommen wäre. Und jetzt hatte er James Jr. verloren, genauso wie er Shannon und Kelly verloren hatte und er wusste, der Verlust würde Jamie in einen Schatten ihrer selbst verwandeln. Die schwache Stimme am Telefon hatte es bewiesen, es war keine Fröhlichkeit mehr enthalten gewesen, keine Freude, sondern nur unendliche Trauer. Wenn er nicht aufpasste, würde er auch noch seine Schwester verlieren und dann wäre er ganz alleine – ein schrecklicher Gedanke.

Mit ungewohnt zittrigen Händen öffnete Jethro die Tür und stieg aus seinem Wagen. Die milde Luft empfing ihn, aber er nahm sie nicht wirklich wahr, genauso wenig wie die fröhlichen Kinderstimmen, den Rasenmäher und das Vogelgezwitscher. Es zählte nur noch das hübsche Haus und die Frau darin, die um ihren einzigen Sohn trauerte, der das Ebenbild seines Vaters war – die gleichen braunen Haare, die gleichen grauen Augen, das gleiche verschmitzte Lächeln. James war für Jamie eine Stütze gewesen, nachdem sie ihren geliebten Mann verloren hatte und nur Gott wusste, wie es jetzt weitergehen, wie sie mit allem umgehen würde. Jeder Mensch konnte nur ein gewisses Maß an Leid ertragen und Gibbs hatte so das Gefühl, dass dieses Maß bei seiner Schwester fast erreicht war.
Langsam und wie in Trance ging er den gepflegten Weg zur Tür hinauf und drückte die Klinke hinunter. Er wusste, dass nicht abgesperrt war – das war es nie untertags. Die Scharniere quietschten leise und eine Sekunde später gab die Tür den Blick auf einen freundlich eingerichteten Vorraum frei, auf dessen linker Seite eine Treppe in die obere Etage führte.
Sämtliche Wände des Hauses waren in warmen Farben gestrichen und die Möbel waren zeitgemäß und modern, nicht teuer aber auch nicht billig. Alles passte perfekt zueinander und in jedem Raum hingen Bilder der Familie – eine Familie, von der es jetzt nur noch zwei Mitglieder gab.
Ohne auf die Umgebung zu achten, eilte Gibbs die Stufen nach oben und bereits auf der Hälfte der Treppe hörte er das herzzerreißende Schluchzen Jamies, das die Stille des Hauses durchbrach. Es tat ihm innerlich weh zu wissen, dass sie so litt und er nichts dagegen tun konnte, außer sie in den Arm zu nehmen. Jedes Wort des Trostes würde sich leer anhören, nur eine Phrase, die im Prinzip nur noch alles schlimmer machte.
Jethro ging über den Teppich, der seine Schritte dämpfte, und erreichte gleich darauf eine angelehnte Tür rechts, hinter der das Weinen seinen Ursprung hatte. Es war James' Zimmer, voller Poster von Star Wars und seinem Lieblingsfootballteam. Die Sonne tauchte den Raum in strahlendes Licht, das Fenster stand offen und ließ die warme Luft herein. Auf dem Schreibtisch darunter lagen Schulbücher verstreut herum, Bücher, die der Junge jetzt nicht mehr brauchen würde. Auf einem Regal standen Pokale, die er bei Schwimmwettbewerben gewonnen hatte und einen Platz nahm ein Bild von James Sr. ein, Jamies Ehemann.
Auf dem Bett, das an einer der Wände stand, saß seine Schwester, einen Polster mit Astronautenmotiv fest gegen ihre Brust gepresst, während Tränen auf das Kissen tropften und von dem Stoff aufgesogen wurden, der bereits einen großen nassen Fleck aufwies. Ihr sonst ordentlich frisiertes blondes Haar war zerzaust und stand wirr vom Kopf ab, ihre normalerweise strahlenden braunen Augen waren rot und geschwollen und ihre Wangen waren so schrecklich blass, dass sie wie ein Gespenst wirkte. Ihr zierlicher Körper wurde von Schluchzern geschüttelt und sie schien die Ankunft ihres Bruders nicht einmal zu bemerken. Stattdessen vergrub sie ihr Gesicht in den Polster und murmelte immer wieder den Namen ihres Sohnes, der nie wieder zurückkommen würde.
Gibbs wusste nicht, was er machen sollte, um ihr wenigstens ein wenig helfen zu können. Er wusste, wie es sich anfühlte, ein Kind zu verlieren, es zeriss einen von innen heraus und am liebsten wollte man sich nur noch verstecken, wollte dem Schmerz irgendwie entkommen, der einem schier das Atmen unmöglich machte. Er hatte keine Ahnung, warum er auf einmal so ruhig wurde, warum er seinen eigenen Schmerz so ohne weiteres wegsperren konnte. Aber eines wusste er, er musste jetzt stark sein, für sich selbst und für Jamie.

Langsam ging er auf sie zu und setzte sich neben sie auf die Matratze. In dem Zimmer roch es nach frisch gewaschener Wäsche und dem Frühling, der draußen herrschte. Durch das geöffnete Fenster drangen die Stimmen der Nachbarskinder und das Dröhnen des Rasenmähers, aber auch diesmal schien alles ganz weit weg zu sein.
„Das ist nicht fair", schluchzte Jamie in den Polster und drückte ihn noch fester. „Wieso Jimbo? Wieso mein Junge? Was hat er nur getan? Er wollte sich doch nur mit einem Freund treffen, um anschließend ins Kino zu gehen. Wieso… wieso habe ich ihm es nur erlaubt? Wieso ha… habe ich nicht darauf bestanden, dass… dass er zuerst seine Hausaufgaben fertig macht? Es ist doch alles meine Schuld!" schrie sie schließlich und hob ihren Kopf. Der Blick in ihre tränenverschleierten Augen versetzte Jethro einen Stich und er konnte nichts anderes machen, als einen Arm um ihre Schultern zu legen und ihr einen tröstenden Kuss auf die Schläfe zu geben.
„Du hast keine Schuld", flüsterte er und wunderte sich selbst über den beruhigenden Ton in seiner Stimme. „Wenn einer Schuld hat, dann dieser Mistkerl, der die Bombe platziert hat." „Er war doch erst zwölf, fast dreizehn. Weißt du, was die mir gesagt haben? Er sei von einem Stahlträger erschlagen worden. Er war nicht im Explosionszentrum, dennoch… Oh Gott, James!" Gibbs brach es fast das Herz, seine sonst so starke Schwester so zu sehen, voller Trauer und weder ein noch aus wissend. Anstatt etwas zu sagen, nahm er ihr den Polster aus den kraftlosen Fingern, legte ihn auf die Seite und nahm die junge Frau in die Arme. Ihr Körper wirkte so zerbrechlich, als könnte sie der kleinste Lufthauch entzweibrechen und Jethro wünschte sich, er könnte ihr etwas von ihrem Leid abnehmen.

Die Minuten schleppten sich dahin, der Rasenmäher hörte auf zu dröhnen und irgendwo begann eines der Kinder zu weinen. Jamie beruhigte sich ein wenig und als sie ihren Kopf wieder hob, wirkte sie seltsamerweise gefasst, so als ob sie einen Entschluss gefasst hätte, den sie unbedingt durchziehen wollte. In ihre Augen war ein stählernes Funkeln getreten und für einen kurzen Moment schien seine Schwester, wie sie noch vor einigen Tagen gewesen war, wieder durch, kam die knallharte Staatsanwältin zum Vorschein, die sie gewesen war, bevor sie die Nachricht, dass ihr Sohn gestorben war, erreicht hatte.
„Versprichst du mir etwas, Jethro?" fragte sie leise und ihre Stimme war fester, zitterte aber dennoch und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie erneut zusammenbrechen würde und dann wahrscheinlich länger als für ein paar Minuten. Vielleicht wäre es besser, Ducky anzurufen. Dieser würde sich sicher um seine Schwester kümmern können. Obwohl er normalerweise nur mit Leichen zu tun hatte, war er überraschend sensibel im Umgang mit lebenden Menschen und er mochte Jamie, war sie eine der wenigen Menschen, die immer seinen unendlich langen Geschichten lauschte.
„Alles", antwortete Gibbs schließlich und strich ihr zärtlich durch die zerzausten Haare. „Versprich mir, dass du diesen Bastard findest, der mir meinen Jungen genommen hat. Versprich mir, dass du ihn zur Strecke bringst, ich will, dass dieser Mistkerl dafür büßt, was er mir angetan hat – was er uns beiden angetan hat."
Es war nicht wenig, was sie von ihm verlangte, aber er wusste, das Bedürfnis nach Rache war auch bei ihm vorhanden. Es würde schwer werden, herauszufinden, wer wirklich hinter dem Anschlag steckte und bei den Ermittlungen mitzumischen, vor allem, weil er persönlich involviert war. Aber er wusste, dass er, sollte sich je eine Möglichkeit ergeben, den Verantwortlichen zu schnappen, diese nutzen würde.
„Ich verspreche es dir", erwiderte Jethro schlussendlich und Jamie blickte ihn dankbar an. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, stand auf und ging zum Schreibtisch, wo sie die oberste Schublade aufzog und etwas herausnahm – es war ein Taschenmesser, das Gibbs seinem Neffen zum 12. Geburtstag geschenkt hatte. Langsam kam seine Schwester auf ihn zu, kniete sich vor ihm nieder und brachte die kleine aber scharfe Klinge, zum Vorschein. Ohne zu zögern, nahm sie seine linke Hand, setzte die Schneide auf der Handfläche auf und zog sie blitzschnell über seine Haut. Der Schmerz war stechend, ging aber schnell in ein unangenehmes Brennen über. Der Schnitt war nicht tief, dennoch quoll Blut hervor und tropfte auf den Teppich, wo es unschöne Flecken hinterließ.
Jethro hinterfragte ihr Tun nicht, hatten sie das doch schön öfters gemacht, vor allem als Kinder, wenn sie einen Streich ausgeheckt und sich gegenseitig versprochen hatten, den anderen zu decken. Nur damals hatten sie sich immer nur in den Finger geschnitten, nie in die ganze Hand – aber diese Situation war auch ganz anders.
Jamie setzte das Messer an ihrer eigenen Handfläche an und wie bei ihrem Bruder zog sie die Schneide ohne zu zögern über ihre Haut. Anschließend nahm sie Jethros Hand und drückte die beiden Wunden aufeinander. „Es ist mit Blut besiegelt, Jethro. Egal wie lange es dauert, vergiss nie dein Versprechen." Und alles was er machen konnte, war zu nicken und zu beobachten, wie sich die braunen Augen wieder mit Tränen verschleierten und Jamies Körper erneut von Schluchzern geschüttelt wurde. Auch wenn er jetzt noch keinen Schimmer hatte, wie er das Versprechen einlösen sollte, so wusste er doch, dass es irgendwann so weit sein würde. Irgendwann würden sie beide ihre Rache bekommen, egal was er dafür tun musste…


Gibbs war so sehr in seine Erinnerungen vertieft gewesen, dass er erst jetzt den Wind, der weiterhin durch den Park pfiff, als ziemlich eisig empfand und er merkte erst in diesem Augenblick, dass er leicht zitterte. Noch immer starrte er auf den silbernen Ring, während er langsam in die Gegenwart zurückkehrte und das Gesicht seiner Schwester in den Untiefen seines Bewusstseins verschwand. Jamie hatte sich seit dem Tag verändert, sie war nie wieder dieselbe gewesen und trotz seiner Bemühungen war sie irgendwann doch in das schwarze Loch gefallen, in das er beinahe selbst gestürzt wäre, hätte es nicht James Jr. gegeben. Jamie hatte schlussendlich das gemacht, wozu Jethro vor Jahren nicht fähig gewesen war – sie hatte sich das Leben genommen.
Der Verlust ihres Mannes und ihres Kindes war zu viel gewesen, obwohl Gibbs immer für sie dagewesen war. Aber ein Bruder konnte ihr nicht den Gatten und den Sohn ersetzen und irgendwann war ihr alles zu viel geworden. Darien war schuld, dass er nach Shannon und Kelly auch noch den Rest seiner Familie verloren hatte und alleine das Versprechen hatte ihn aufrecht gehalten. Er hatte sich Ducky anvertraut, hatte von dem Schnitt mit dem Taschenmesser und von dem Wunsch seiner Schwester erzählt. Der NCIS war schließlich nach und nach seine Familie geworden, die zahlreichen Fälle hatten ihn auf Trab gehalten, das Versprechen hatte ihm geholfen, weiterzumachen und Ducky hatte ihn immer wieder aufgemuntert.
Und schließlich war Tony in sein Leben getreten, ein großspuriger Detective vom BPD, der ihn trotz seiner kindischen Art beeindruckt hatte. Obwohl er ihm damals für die zahlreichen blöden Sprüche am liebsten den Kopf abgerissen hätte, so hatte er ihn doch zum NCIS geholt, hatte das Potential eines hervorragenden Ermittlers hinter der Maske des Kindskopfes gesehen. Das Schicksal hatte sie beide zusammengeführt und dafür gesorgt, dass eine Liebe zwischen ihnen entstanden war, die ihn so glücklich wie nie zuvor gemacht hatte. Gibbs hatte aufgehört, ständig an das Versprechen zu denken, der Gedanke an Rache war in den Hintergrund gerückt und er war einfach nur froh gewesen, Tony zu haben - der Grund, warum er alles durchgestanden hatte, warum er noch immer am Leben war.
Mit jedem Tag war Jethros Liebe größer geworden und umso schwerer war es ihm gefallen, die Entscheidung zu treffen, Darien das Handwerk zu legen. Jamie bedeutete ihm noch immer unglaublich viel, obwohl sie nicht mehr lebte, aber dann war da Anthony, der für ihn das Wichtigste auf der Welt war. Aber es waren James Jr. und seine Schwester gewesen, die dafür gesorgt hatten, dass er nach Shannons und Kellys Tod keinen Blödsinn angestellt hatte, es war ihnen zu verdanken gewesen, dass er weitergemacht hatte, obwohl er sich am liebsten selbst aufgegeben hätte - er schuldete den beiden immens viel.
Mittlerweile wusste Jethro jedoch, dass er alles komplett falsch angepackt hatte, er hätte Tony von seiner Schwester und seinem Neffen erzählen sollen, bevor er den Auftrag angenommen hatte. Aber am Samstag war ihm die Gefahr, dass Darien herausfinden könnte, dass Gibbs ihn belog, viel zu groß erschienen und er hatte Anthony nicht gefährden wollen. Aber jetzt wusste er, dass er trotz allem mit ihm reden hätte sollen und ihre Beziehung würde dann wahrscheinlich nicht kurz davor stehen, auseinanderzubrechen. Jethro war selbst schuld, wenn er zum dritten Mal jemanden verlieren würde, der ihm unglaublich viel bedeutete und er hatte keine Ahnung, wie er es überleben würde, sollte Tony wirklich einen Schlussstrich ziehen.

Erneut fuhr er traurig mit einem Finger über den Ring, versuchte in dem Metall Trost zu finden. Das Kleinod war ein Zeichen ihrer Liebe und egal wie schwer es werden würde, Gibbs würde um Anthony kämpfen. Er würde nicht zulassen, dass seine eigene Dummheit dafür verantwortlich war, dass er das Beste, das ihm seit Jahren passiert war, wieder verlieren würde. Irgendwie würde er es wieder geradebiegen und musste er sich für alles hundert Mal entschuldigen, dann würde er das machen – er würde sogar sämtliche Regeln, die er aufgestellt hatte, brechen, nur damit er Tony wieder zurückbekam.
Jethro würde nicht zulassen, dass Darien ihm auch noch seinen Freund wegnahm und sollte er deswegen seine Tarnung gefährden, so nahm er das in Kauf. Das Wichtigste war, sich wieder mit Anthony zu versöhnen, denn er wusste, ohne ihn würde er auch das Versprechen nicht erfüllen können. Gibbs musste einfach das Wissen haben, dass, wenn alles vorbei war, er wieder zu jemandem nach Hause kommen konnte, dass er jemanden hatte, der auf ihn warten würde.
Und während er auf der Schaukel saß, gab er ein weiteres Versprechen ab – das Versprechen, alles in seiner Macht stehende zu tun, damit Tony ihm verzieh.

Fortsetzung folgt...
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