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Ich lief die Treppe von der obersten Etage ins Großraumbüro hinunter und unwillkürlich kam es mir so vor, als ob ich vor der Direktorin flüchten würde. Genauso wie bei Jethro gestern konnte ich nicht länger in ihrer Nähe bleiben, war sie doch im Prinzip die Wurzel allen Übels. Wäre sie nicht auf die Idee gekommen, Gibbs von dem Auftrag zu erzählen, wäre er die ganze Woche über bei mir gewesen und ich hätte nicht umsonst trauern müssen. Aber wenigstens verstand sie meine Wut, auch wenn sie darüber nicht erfreut war, dass ich es wagte, mich ihr entgegenzusetzen. Immerhin war sie ja die Direktorin und normalerweise war sie es, die andere in ihre Schranken verwies und nicht umgekehrt. Aber ich war über den Punkt hinaus, wo ich mir noch Gedanken machte, wer hier das Sagen hatte. Ich war einfach nur stinkwütend auf Jen und auch auf Jethro, dass sie es gewagt hatten, mit uns allen ein derart falsches Spiel zu spielen.
Und wenn sie jetzt auch wütend auf Gibbs war, da er mir trotz ihres Verbotes gesagt hatte, dass er noch am Leben war, dann sollte mir das nur Recht sein. Über die Konsequenzen, die sein Handeln zur Folge hatte, machte ich mir keinen Kopf und auch nicht darüber, ob der ganze Auftrag eventuell den Bach hinuntergehen würde. Momentan machte ich mir eher Sorgen darüber, wie ich meine Wut in den Griff bekommen konnte, um mir seine Erklärung anzuhören.
Ich steckte buchstäblich in der Zwickmühle. Einerseits wollte ich endlich, dass Licht in die ganze Angelegenheit kam, andererseits wusste ich nicht, wie ich es schaffen sollte, Jethro unter die Augen zu treten, ohne ihn erneut anzuschreien, so wie ich es gestern getan hatte. Es kam mir ungewohnt schwer vor, meinen Verstand einzusetzen, aber wenn ich daran dachte, dass ich meinen Freund bald wiedersehen würde, konnte ich nicht umhin zuzugeben, dass die Panik, die mich vorhin überrollt hatte, stärker wurde.
Und noch dazu würden jetzt auch meine Kollegen von der ganzen Sache erfahren, würden herausfinden, dass ihr Boss noch lebte, anstatt in einem Sarg unter zwei Meter Erde begraben zu sein. Sie alle waren nicht so sehr mit ihm verbunden wie ich es war, dennoch hatten sie genauso getrauert und mitbekommen, wie schlecht es mir in den letzten Tagen gegangen war. Vor allem McGee hatte das am meisten bemerkt, insbesondere am Dienstag, als er mich im Verhörraum getröstet und wieder aufgebaut hatte. Er war eine wichtige Stütze gewesen, auch wenn er manchmal unbeholfen im Angesicht meines Schmerzes gewesen war. Wenn einer auf Gibbs wütend werden würde, dass er seinen Tod nur vorgetäuscht hatte, dann Tim. Die Zeiten, wo er vor dem Chefermittler Angst gehabt hatte, waren vorbei und in den letzten Monaten war er immer selbstsicherer geworden.
Allerdings wusste ich noch immer nicht, wie ich ihnen beibringen sollte, dass Jethro noch lebte. Wahrscheinlich war es am besten, wenn sie es mit eigenen Augen zu sehen bekamen, anstatt dass ich irgendwelche Erklärungen versuchte. Zumal es mir sicher schwer fallen würde, alles mit ruhiger Stimme zu erläutern, wenn ich jetzt schon wieder das Bedürfnis hatte, auf irgendetwas einzuschlagen. Es wurde wirklich Zeit, dass ich meine Gefühle in den Griff bekam, bevor ich zu Abby hinunter gehen würde. Außerdem wollte ich nicht unbedingt die Freude aller mitbekommen, wenn sie erfuhren, dass ihr Boss noch am Leben war.
Vor allem die Forensikerin würde aus dem Häuschen sein, wenn ihr geliebter silberhaariger Fuchs plötzlich vor ihr stehen würde. Von all meinen Freunden konnte ich mir bei ihr am ehesten Vorstellen, dass sie nicht ganz so wütend werden würde. Abby hatte es schon immer fertig gebracht, für gewisse Situationen großes Verständnis aufzubringen und diesmal würde es wahrscheinlich auch nicht anders sein.

Mit einem finsteren Gesichtsausdruck, den ich vorher bereits in Jens Büro aufgesetzt hatte, eilte ich zu meinem Schreibtisch, nahm meinen Dienstausweis und steckte ihn wieder in meine Hosentasche. Etwas zu heftig zog ich die oberste Schublade auf und verstaute darin meine Dienstwaffe, ehe ich sie wieder mit einem lauten Knall schloss und schließlich den verwunderten Blicken von Ziva und McGee begegnete.
„Was ist überhaupt los, Tony?" wollte die Israelin wissen und schenkte mir ein Stirnrunzeln. „Du kommst über zwei Stunden zu spät, mit einer Laune, die unter dem Gefrierpunkt liegt und du sagst uns auch noch, es ist nicht mehr nötig, nach Verdächtigen zu suchen. Außerdem bist du wütend zur Direktorin hinaufgegangen und du hast so ausgesehen, als ob du ihr am liebsten den Hals umdrehen würdest. Was geht hier vor sich? Haben wir etwas verpasst?"
„Was hier vor sich geht?" fragte ich zynisch und blickte demonstrativ auf meine Uhr. „Geht in etwa 19 Minuten zu Abby hinunter, dann werdet ihr herausfinden was los ist und warum ihr nicht mehr weiter nach Jethros Mörder suchen müsst." Ich konnte nicht umhin, das Wort höhnisch zu betonen, was mir noch mehr verwunderte Blicke einbrachte. „Und dann werdet ihr auch verstehen, warum ich nicht gerade bester Laune bin", fügte ich hinzu und umrundete meinen Schreibtisch. Ziva und McGee sahen sich ratlos an und ich konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Momentan mussten vor ihren Augen jede Menge Fragezeichen herumtanzen, aber sie würden noch bald genug Antworten finden.
„Tony, wo willst du hin?!" rief mir McGee nach, als ich meine beiden Kollegen zurückließ und zum Fahrstuhl eilte. „Zu Ducky", antwortete ich ärgerlich und biss mir gleich darauf auf meine Unterlippe. Ich sollte aufhören, meine Wut an den anderen auszulassen. Sie konnten am wenigsten dafür, was passiert war und es reichte bereits, dass sie wahrscheinlich genauso schockiert sein würden wie ich, wenn sie Jethro gegenüber standen.
Ungeduldig hämmerte ich auf den Knopf für den Fahrstuhl, der sich zu meinem Glück nicht gegen mich verschworen hatte und dessen Türen sich sofort öffneten. Ich stürmte in die kleine Kabine, drückte auf den Knopf für die Pathologie und sah dabei zu, wie sich die Türen viel zu langsam schlossen. Der Aufzug setzte sich in Bewegung und ich atmete ein paar Mal tief durch, versuchte mich zu beruhigen, obwohl ich liebend gerne auf die Wände eingeschlagen hätte. Aber ich musste endlich lernen, mit meinen Gefühlen umzugehen, weshalb ich mich damit begnügte, meine Hände zu Fäusten zu ballen und unruhig auf der Stelle herumzutreten.
Die Fahrt in den Keller dauerte nur ein paar Sekunden, dennoch kam es mir wie eine kleine Ewigkeit vor und als das leise Pling ertönte, stürmte ich aus der Kabine, kaum dass sich die Türen geöffnet hatten – und wäre beinahe mit Ducky zusammengestoßen, der vor dem Fahrstuhl mit einigen Glasröhrchen in der Hand gewartet hatte. Ich konnte gerade noch ausweichen und verhindern, dass durch unsere etwaige Kollision die Behälter auf den Boden fielen und zerbrachen. So wie es aussah, war der Pathologe damit beschäftigt, die Vorräte auszusortieren und neu zu katalogisieren.

„Ist etwas passiert, Tony?" fragte er sofort, als er meinen finsteren Gesichtsausdruck bemerkte, der ihm verriet, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. In seine Augen trat ein Ausdruck von Sorge und er musterte mich von oben bis unten. „Und ob etwas passiert ist", antwortete ich und versuchte die Wut aus meiner Stimme zu verdrängen, aber der Ältere bemerkte sie sofort. „Ich komme mir im Moment ziemlich veräppelt vor", sagte ich und warf frustriert meine Arme in die Luft, um meine Worte damit zu unterstreichen. „Ich brauche deine Hilfe, Ducky." „Nun, das ist wohl offensichtlich, mein Lieber. Aber ich denke, es ist besser, wenn wir das nicht auf dem Flur besprechen." Er nickte in Richtung Pathologie und setzte sich unverzüglich in Bewegung. Die Türen öffneten sich mit einem Zischen und er strebte ohne zu zögern zu seinem Schreibtisch, wo er die Glasröhrchen vorsichtig platzierte, damit sie nicht auf den Boden rollen konnten. Während sich Ducky anschließend an den Tisch lehnte, konnte ich nicht ruhig stehen bleiben, sondern lief auf und ab.
„Glaubt er etwa, er kann hier einfach so auftauchen, in der Hoffnung, es wird alles gut werden, dass ihm jeder um den Hals fällt?" begann ich, ohne dem Pathologen auch nur die Chance zu lassen, etwas zu sagen. „Aber ich verwette ein Monatsgehalt, dass nicht jeder mit Freude reagieren wird! Nicht nach dem, was er mir angetan hat! Und die Direktorin… sie wusste natürlich die ganze Zeit Bescheid! Hat zugesehen, wie ich am Boden zerstört war und noch dazu war sie es, die mir gesagt hat, dass Jethro tot ist, wo sie es doch besser wusste! Und wie konnte sie es nur wagen, diese Rede bei der Beerdigung zu halten?! Für jemanden, der sich bester Gesundheit erfreut! Aber ich hätte von Anfang an wissen müssen, dass etwas nicht stimmt! Und er hat einfach zugelassen, dass ich derart leide, dass ich um ihn trauere, wo er doch die ganze Zeit am Leben ist! Kannst du dir das vorstellen?! Am Leben!!!"
Ich hielt in meiner Wanderung inne, als ich aus den Augenwinkeln bemerkte, wie sich Ducky versteifte, sich kerzengerade aufrichtete und mich mit leicht geöffnetem Mund anstarrte. Es war wohl das erste Mal, dass er sprachlos war und auch die Tatsache, dass nach zehn Sekunden immer noch Schweigen herrschte, bestärkte mich in der Vermutung, dass ich ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Erst jetzt erkannte ich, dass es besser gewesen wäre, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, aber ich hatte mir endlich den ganzen Frust von der Seele reden wollen und dass der Pathologe ja nicht wusste, was gestern Abend vorgefallen war, hatte ich für einen kurzen Moment vergessen.
Seine normalerweise gesunde Gesichtsfarbe nahm ein gespenstisches Weiß an und ich glaubte für den Bruchteil einer Sekunde, dass er einfach zusammenklappen würde. Aber stattdessen ließ er sich in den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen, während er mich weiterhin ungläubig anblickte.
„Tony, was…? Willst du damit etwa sagen…? Wiederhol das noch einmal", brachte er schließlich einen ganzen Satz zu Stande. Ich seufzte, fuhr mir mit meinen Fingern durch die Haare und lehnte mich meinerseits an einen der Stahltische. Jetzt, wo ich nicht mehr der Einzige war – abgesehen von Jen – der wusste, dass Gibbs nicht tot war, fühlte ich mich gleich um einiges besser und ich spürte regelrecht, wie mir eine ungeheure Last von den Schultern genommen wurde.
„Jethro lebt, Ducky. Er ist kerngesund und hat keinen einzigen Kratzer am Körper. Gestern haben wir jedenfalls nicht ihn begraben." „Und die Direktorin wusste davon?" „Natürlich wusste sie davon. Deshalb komme ich mir auch so veräppelt vor. Ich bin so was von stinkwütend, auf sie und auf Jethro. Weißt du, was das Schlimmste ist? Das Ganze ist für einen Undercoverauftrag und noch dazu war es seine Entscheidung, diesen zu machen. Er hat mich absichtlich so leiden lassen! Absichtlich!"
Erneut breitete sich Schweigen aus und ich konnte die Räder, die sich hinter Duckys Stirn drehten, förmlich vor mir sehen. Er schien nicht besonders wütend zu sein, dass sein bester Freund seinen Tod nur vorgetäuscht hatte, oder aber er hatte seine Gefühle viel besser im Griff als ich Allerdings war der Pathologe derjenige, der für fast jede Situation noch mehr Verständnis aufbrachte als Abby und er betrachtete immer alles mit Logik.

„Ich bin mir sicher, dass Jethro eine gute Erklärung dafür hat, weshalb er für einen Undercoverauftrag seinen Tod vortäuscht", sagte er schließlich und fuhr sich durch seine Haare. „Ich kenne ihn jetzt seit über 10 Jahren und bin mir sicher, dass viel dahinter stecken muss, dass er dich so leiden lässt, Tony." „Ich weiß", gab ich zu und verschränkte meine Arme vor der Brust. „Nur das Problem ist, ich war gestern viel zu wütend, um mir irgendeine Erklärung anzuhören. Und ich habe keine Ahnung, wie ich es schaffen soll, ihn nachher zu sehen. Ich habe Angst, Ducky, Angst davor, dass ich etwas Unüberlegtes sagen oder tun werde. Und ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, ihm unter die Augen zu treten, ohne gleich wütend zu werden. Gestern dachte ich für einen kurzen Moment, dass alles wieder gut wäre, als ich erkannt habe, dass er echt und nicht nur eine Einbildung ist. Aber als ich erfahren habe, weshalb er noch am Leben ist, da… ich konnte einfach nicht mehr in seiner Nähe sein. Es tat einfach so schrecklich weh."
„Und jetzt befürchtest du, dass es dir erneut so ergehen wird", stellte er fest und ich nickte. „Es ist auch dein gutes Recht, sauer zu sein und ich schätze mal, du hast das Jethro auch spüren lassen." „Ich habe noch nie jemanden so angeschrien wie ihn. Ich komme mir irgendwie verraten vor." Ducky seufzte leise, stand auf und lehnte sich neben mich an den Stahltisch. „Liebst du ihn noch, Tony?" fragte er unverhofft und gegen meinen Willen breitete sich bei seinen Worten eine leichte Wärme in meinem Inneren aus. „Ja, das tue ich", antwortete ich ohne zu zögern. „Und deswegen tut es ja so schrecklich weh." „Nun, Liebe kann man nicht einfach so abstellen und es ist verständlich, dass es schmerzt, was er dir angetan hat und dass du wütend auf ihn bist. Ich denke, das beste Mittel, um diese Wut in den Griff zu bekommen, ist, dass du dir Jethros Erklärung anhörst. Egal wie schwer es ist, ihm unter die Augen zu treten", unterband er meinen Versuch, Widerspruch einzulegen.
Das Gesagte in die Tat umzusetzen würde nicht einfach werden, aber es war wohl wirklich die einzige Möglichkeit, endlich mit meinen Gefühlen umzugehen. Gibbs bald wiederzusehen, machte mir noch immer ein wenig Angst, vor allem da ich mich weiterhin zu ihm hingezogen fühlte, aber es ließ sich schlecht vermeiden, vor allem wenn wir auf einen grünen Zweig kommen wollten.
„Du hast Recht", erwiderte ich schließlich und richtete mich ein wenig auf. Die ganze Sache kam mir auf einmal gar nicht mehr so aussichtslos vor und ich spürte regelrecht, wie ich mich ein wenig entspannte. Es war die richtige Entscheidung gewesen, mit Ducky über alles zu reden, mit jemandem, der von Anfang über Gibbs' und meine Beziehung Bescheid gewusst hatte. Er war es auch gewesen, der mich dazu gebracht hatte, vor sieben Monaten den ersten Schritt zu machen und ich war ihm noch heute dafür dankbar. Er war schon immer der Vermittler zwischen uns gewesen und ich war mir sicher, dass er diese Rolle auch weiterhin innehaben würde.
„Wie kommt es, dass du so ruhig bist? Ich meine, du hast doch auch um Jethro getrauert", fragte ich und blickte den Pathologen stirnrunzelnd an. „Nun, mein lieber Anthony, das liegt wohl daran, dass ich erst so richtig realisieren muss, dass Gibbs noch lebt und ich wahrscheinlich eher gewillt bin, mir den Grund für sein Handeln anzuhören. Nachher habe ich noch immer Zeit, mit ihm zu schimpfen." Die Art wie er es sagte, so als ob er ein unartiges Kind dafür schelten wollte, dass es einen Keks gestohlen hatte, ließ mich unwillkürlich lächeln. Auch wenn Ducky äußerlich der gutmütige Mann war, konnte ich mir durchaus vorstellen, dass er laut werden konnte, wenn er wollte. Aber in mancher Hinsicht war er viel vernünftiger als ich und ich wusste, egal welche Entscheidung ich bezüglich Jethros und meiner Beziehung machen würde, er würde mich dabei unterstützen.
„Du hast gesagt, Gibbs kommt hierher?" wollte der Pathologe wissen und richtete sich ein wenig seine Fliege. „Ja, er geht zu Abby. Sie wird die Überwachungskameras ein wenig manipulieren, damit niemand sonst vorzeitig mitbekommt, dass er noch lebt." „Nun, dann werden wir ihnen einen Besuch abstatten, nicht wahr?" Dabei hob er seine Augenbrauen und auch wenn sich noch immer etwas in mir dagegen sträubte, nickte ich. Allerdings war die Panik fast verebbt und meine Wut so weit auf einen niedrigen Level gesunken, dass ich das Gefühl hatte, mir die Erklärung anhören zu können, ohne gleich wieder aus der Haut zu fahren. Wie es danach weitergehen würde, würde sich noch herausstellen.

Fortsetzung folgt...
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