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Um kurz nach halb sechs verließen Gibbs und ich den mit schwarzem Marmor ausgelegten Fahrstuhl, der uns in den fünften Stock eines Wohnhauses gebracht hatte, in dessen beiden oberen Etagen das Penthouse lag, in dem der Swingerclub untergebracht war. Leise klassische Musik hatte uns auf dem Weg nach oben begleitet und hallte noch immer in meinen Ohren wider, als wir den kurzen Flur betraten, der mit einem goldenen Teppich ausgelegt war. Die Wände waren weiß gestrichen und die Nüchternheit, die diese Farbe normalerweise mit sich brachte, wurde von etwa einem halben Dutzend Bildern, die mich ein wenig an Picasso erinnerten, aufgelockert.
Die Apartmenttür bestand aus einem dunklen Holz, das sich hervorragend in die Umgebung einfügte und in Augenhöhe befand sich ein Türklopfer in der Form eines Dildos, was mich unwillkürlich zum Grinsen brachte ��" Jethro verleitete er zu einem Stirnrunzeln. Zu meiner Erleichterung gab es auch einen Klingelknopf, der mit dunkelrotem Plüsch überzogen war.
„Diese Lolita hat einen seltsamen Geschmack“, murrte Gibbs und drückte auf den Knopf ��" sofort erklang ein heller Glockenton. „Was erwartest du auch von einem Swingerclub?“ fragte ich und mein Grinsen wurde noch breiter. Meine anfängliche Niedergeschlagenheit, dass wir so kurz vor Feierabend noch hierher fahren mussten, war verflogen, da er mir auf der Fahrt zu dem Penthouse ein weiteres Mal versichert hatte, dass wir pünktlich um 18 Uhr dieses Gebäude wieder verlassen würden. Allerdings war ich weiterhin der Meinung, dass ich auf die Erfahrung verzichten konnte, auf Menschen zu treffen, die auf Leder und Fesseln standen. Nicht, dass ich etwas gegen Fesselspiele hätte ��" die Experimente mit Jethro zeugten eher vom Gegenteil ��" aber Leder war überhaupt nicht mein Ding, schon gar nicht, wenn es Richtung SM ging. Ich verstand nicht, was so toll daran sein sollte, jemanden zu unterdrücken und dabei Lust zu empfinden.
Als Darlene beiläufig mitbekommen hatte, wo wir heute noch hinfahren würden, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, uns ein paar Tipps mit auf den Weg zu geben, während sie mit großen Augen das Großraumbüro gemustert hatte. McGee war richtig froh gewesen, dass sie ihn aus ihren Klauen entlassen hatte und hatte sich schleunigst hinter seinen PC verzogen, während sich Ziva anscheinend gerne mit ihr unterhalten hatte. Allerdings hatte sie mir noch immer nicht verraten, welcher Gegenstand ihr Interesse erregt hatte. Sie hatte nur gegrinst und auf meine etlichen Fragen geschwiegen. Meine Fragerei hatte mir lediglich eine Kopfnuss von Gibbs eingebracht, was wiederum von Darlene mit kugelrunden Augen quittiert worden war, die nicht hatte glauben können, dass er seinen Ehemann auf den Kopf schlug. Tim hatte ihr schnell erklärt, dass das ein ganz normales tägliches Ritual war und bevor sie ihre Aufmerksamkeit zu lange auf ihn hatte richten können, hatte er sich wieder hinter seinem Bildschirm versteckt.
Während Darlene im Großraumbüro gewesen war und uns immer wieder Tipps für die heutige Nacht gegeben hatte ��" „Es ist euer erster Hochzeitstag. Dieser gehört ordentlich gefeiert“, hatte sie ständig gesagt. ��" hatte Abby das Phantombild durch sämtliche Datenbanken gejagt und nebenbei die Rose untersucht, die am Tatort zurückgelassen worden war ��" bei beidem war kein positives Ergebnis herausgekommen. Nigel Wilders Freund war nicht bei den Marines und auch sonst nie verhaftet worden, jedenfalls tauchte sein Gesicht nirgendwo auf und die Rose war eine herkömmliche Züchtungsart, die man in jedem Blumenladen kaufen konnte. Somit war der Swingerclub die einzig wirkliche Spur, die wir hatten und die uns hoffentlich weiterbringen würde. Und sollte etwas Wichtiges dabei herauskommen, hatten sich Ziva und McGee bereit erklärt, am Abend weiterzuarbeiten, damit Gibbs und ich unseren Hochzeitstag genießen konnten.

Nicht einmal fünf Sekunden, nachdem Jethro geklingelt hatte, erklangen Schritte hinter der Tür, die gleich darauf geöffnet wurde und den Blick auf eine kleine, zierliche Frau freigab, die trotz der hohen Lackstiefel, die ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichten, mir gerade einmal bis zum Kinn ging. Ihre hellbraunen Haare waren kunstvoll gelockt und reichten ihr bis über die Schultern, ihre Augen waren von einem strahlenden Grau und wurden von dichten Wimpern eingerahmt. Der volle Mund passte hervorragend zu dem etwas rundlichen Gesicht, das um eine Spur zu viel mit Make-up geschminkt war. Ihr schmaler Körper wurde lediglich von einem ledernen BH und einem Lederminirock verhüllt.
„Willkommen“, sagte sie mit einer überraschend rauchigen Stimme, die überhaupt nicht zu ihr passte. „Ich bin Lolita und freue mich Sie hier begrüßen zu dürfen. Neue Gäste sind mir stets wichtig. Treten Sie nur ein.“ Ich hatte Mühe, dass meine Mundwinkel nicht zu zucken anfingen und warf einen kurzen amüsierten Blick zu Gibbs, der seine Augenbrauen hob. Genauso wie ich fand er die einstudiert klingende Begrüßungsrede komisch. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass sich hinter dem Namen Lolita eine derart zierliche Person verbergen würde. Ich hatte eher mit einer 1,80 Meter großen Schwarzhaarigen gerechnet, die eine Peitsche in der Hand hielt und mit dieser laut knallte, um uns in das Apartment zu drängen.
Sie öffnete die Tür komplett und bedeutete mit einem Schlenker ihrer Hand, dass wir eintreten sollten. Gleich hinter der Tür erstreckte sich ein riesiges Wohnzimmer, das etwa die Hälfte der Etage auszumachen schien. Durch die breiten Fenster hatte man einen hervorragenden Blick auf die Umgebung, den wolkenlosen Himmel und die Sonne, die sich langsam dem Horizont näherte und den Raum in ein helles Licht tauchte. Beinahe die gesamte linke Wand wurde von einer Bar eingenommen, auf deren Regale dutzende Flaschen mit alkoholischen Getränken standen, die von einem muskelbepackten Mann mit polierter Glatze professionell zu Cocktails gemixt wurden. Vor dem Tresen saßen zwei Frauen und ein Mann, alle bereits in ein enges Lederoutfit gezwängt und schlürften die bunten Getränke durch Strohhalme.
Auf der rechten Seite befanden sich jede Menge bequeme, mit schwarzem Samt bezogene Sessel, die einen geradezu einluden, sich ein wenig auszuruhen. Auch hier saßen ein halbes dutzend Personen, die sich angeregt unterhielten, Cocktails tranken und sich bei dem Knabbergebäck bedienten, das in Schalen auf runden Tischen platziert war.
An den gelb gestrichenen Wänden hingen vorwiegend Aufnahmen von Männern und Frauen, die allesamt in Leder gekleidet waren und deren Handgelenke teilweise Lederfesseln zierten. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass es sich dabei um Mitglieder des Clubs handelte. Rechts von der Tür führte ein Gang zu weiteren Zimmern, deren Türen jedoch geschlossen waren. Genauso wie im Fahrstuhl spielte leise Musik und lullte die Gäste des Clubs förmlich ein.

„Oben gibt es sechs Spielzimmer und zwei Bäder“, riss mich Lolita aus der Betrachtung des Raumes und deutete auf eine mit rotem Teppich ausgelegte Wendeltreppe, die sich in der Mitte des Raumes befand und sich nach oben wand wie eine Schlange. „Hier unten gibt es Umkleidekabinen. Die Lederoutfits und Masken werden von uns zur Verfügung gestellt. Larry wird euch die richtige Größe heraussuchen. An ihn könnt ihr euch immer wenden, wenn ihr Fragen habt. Er ist sozusagen das Mädchen für alles.“ Sie zeigte auf den Barkeeper, der gerade einen giftgrünen Cocktail in ein Glas leerte und dieses mit jeder Menge Früchten dekorierte. Seine mächtige Brust sprengte bei der Bewegung beinahe das Lederoberteil, das er trug.
Ich wechselte erneut einen amüsierten Blick mit Gibbs, der sich überraschend geduldig den kleinen Vortrag angehört hatte, jetzt aber seinen Dienstausweis auf seiner Hosentasche fischte. Es wurde Zeit, dass wir Lolita klarmachten, dass wir nicht zum Vergnügen hier waren. Allerdings musste ich zugeben, dass mir das Ambiente des Clubs durchaus gefiel, sah man von den ganzen in Leder gekleideten Personen ab, die sich hier aufhielten. Und es juckte mich in den Fingern, einen der farbenprächtigen Cocktails zu kosten.
„Wir sind bedauerlicherweise…“ bei diesem Wort konnte ich mir ein kurzes Hüsteln nicht verkneifen, „…nicht zu unserem Vergnügen hier“, sagte Gibbs, klappte seinen Ausweis auf und hielt ihn Lolita unter die stark gepuderte Nase. Sie kniff ihre Augen zusammen, musterte eingehend das Foto vor ihr, bevor sie ihren Kopf hob und zwischen uns hin und her blickte. „Und ich hätte schwören können, dass ihr beide ein Paar seid. Da ist etwas zwischen euch, so wie ein starkes Band, das euch verbindet. Ich habe es sofort gespürt, kaum dass ich euch gesehen habe.“ „Nun, eigentlich sind wir ja…“ begann ich, hielt aber inne, als mich Jethro kurz anrempelte, als er seinen Ausweis wieder in seiner Tasche verschwinden ließ. Er schüttelte kaum wahrnehmbar seinen Kopf und ich seufzte leise. Wahrscheinlich war es besser den Mund zu halten, denn plötzlich hatte ich das Gefühl, wenn die junge Frau vor uns erfahren würde, dass wir verheiratet waren, würden wir nicht pünktlich um 18 Uhr von hier wegkommen, da sie uns sicherlich einen Vortrag über ihr Liebesradar halten würde ��" gepaart mit dem Versuch uns zu überreden, dass wir uns doch noch ins Vergnügen stürzen sollten.
„Also, was kann ich für den NCIS tun, Agent…“ „Special Agent Gibbs. Und das ist Special Agent DiNozzo. Es geht um zwei Ihrer Mitglieder.“ „Haben sie denn etwas angestellt? Ich kann Ihnen versichern, wir haben hier keine Leute, die Probleme machen. Wir achten sehr darauf, wen wir als Mitglied aufnehmen und wen nicht. Sollte jemand Ärger machen, wird dieser ohne zu zögern hinausgeschmissen.“
Jethro ignorierte ihren Einwurf und rempelte mich ein weiteres Mal an, weshalb ich ganz schnell zwei Fotos aus meiner Jackentasche holte. „Das ist Nigel Wilder“, sagte ich und hielt ihr das Bild des Marine hin, das Ducky während der Autopsie gemacht hatte und das lediglich sein Gesicht zeigte. Lolita wurde unter ihrem Make-up blass und ihre Augen weiteten sich. „Ist er etwa… etwa tot?“ fragte sie und ihre Stimme war auf einmal gar nicht mehr rauchig, sondern ziemlich hoch. Sie griff sich an die Kehle und von dieser Geste alarmiert, blickte Larry zu uns herüber, mit einem derart besorgten Ausdruck auf seinem Gesicht, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob da mehr zwischen ihm und seiner Chefin war.
„Er wurde letzte Nacht ermordet“, antwortete ich schließlich und steckte das Bild wieder weg, nicht, dass sie noch in Ohnmacht fiel. „Das ist ja schrecklich“, meinte sie geschockt und atmete tief durch. „Nigel ist… war noch nicht lange bei uns, erst seit etwa einem Monat. Er war ein richtig netter Kerl, spaßig und hat sich mit jedem hervorragend verstanden. Sowohl die Männer als auch die Frauen waren von ihm begeistert, jedoch nehme ich an, dass Sie bereits wissen, dass er schwul war. Aber ich hatte keine Ahnung, dass er bei den Marines war.“ Es wunderte mich ein wenig, dass sie wusste, was der NCIS überhaupt war, ich verkniff mir aber dennoch einen entsprechenden Kommentar.

„Kennen Sie diesen Mann?“ wollte Gibbs wissen, als ich ihr das Phantombild zeigte, das McGee mit der Hilfe von Darlene angefertigt hatte. Lolita holte zitternd Luft und nickte. „Das ist Oliver. Er und Nigel haben sich hier kennen gelernt und waren sofort ein Herz und eine Seele. Es war Liebe auf den ersten Blick und seitdem sind sie meistens zusammen hierher gekommen. Hat er etwa…?“ „Das versuchen wir herauszufinden. Wir gehen jeder Spur nach, die wir haben. Kennen Sie auch seinen Nachnamen?“ fragte Jethro und die junge Frau nickte erneut. „Farraday. Er ist heute hier, wenn Sie mit ihm reden wollen.“ Sie deutete auf eine der Personen, die in den bequemen Stühlen saßen und ich erkannte ihn sofort als den Mann auf dem Phantombild. „Oliver ist heute so fröhlich wie immer. Anscheinend weiß er das mit Nigel noch gar nicht. Gott, es wird ihm das Herz brechen“, fügte sie hinzu und schluckte sichtlich. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, aber ich brauche jetzt einen starken Drink.“ Sie ließ uns einfach stehen und ging zu Larry, der sofort auf sie einredete.
„Bedauerlicherweise?“ konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen und grinste Gibbs an. „Willst du damit etwa andeuten, dass du auf Leder stehst?“ „Nein“, knurrte er und blickte in den Gang, wo gerade eine Tür geschlossen worden war und ein riesiger Kerl in unsere Richtung kam, der lediglich eine Maske, die seine obere Gesichtshälfte verdeckte, und einen Ledertanga trug, der nicht sonderlich viel verhüllte.
„Ich wollte nur nicht unfreundlich klingen“, fügte er hinzu und funkelte den anderen Mann gefährlich an, als dieser sich über die Lippen leckte und mich im Gehen von oben bis unten musterte. „Seit wann bist du denn freiwillig freundlich?“ fragte ich und hob amüsiert meine Augenbrauen, da er mich gerade vor dem Riesen wie eine Herde Schafe vor dem bösen Wolf beschützte ��" es fehlte nur noch, dass er sich schützend vor mich stellte.
„Zu manchen Menschen kann ich durchaus nett sein“, meinte er und kniff seine Augen zusammen, als der Mann vor uns stehen blieb und mich lüstern angrinste. Er war größer als ich, überragte mich um einen halben Kopf und ich kam mir auf einmal winzig klein vor. Ich schluckte und konnte nur mit Mühe dem Drang widerstehen, mich hinter Gibbs’ Rücken zu verstecken. Genauso wie bei Edwards heute Morgen kam sofort sein Beschützerinstinkt an die Oberfläche, gepaart mit Eifersucht, die er einfach nicht unterdrücken konnte, obwohl er genau wusste, dass ich ihm nie untreu werden würde. Außerdem war er mir viel lieber als irgendein muskelbepackter Kerl, der so aussah, als ob er nicht viel Grips hätte und lieber seine Muskeln sprechen ließ als seinen Mund.
Erneut leckte er sich über die Lippen und taxierte mich mit beinahe schwarzen Augen. „Habt ihr Lust auf einen heißen Dreier? Wenn ihr einmal erlebt habt, wie gut ich bin, wollt ihr den ganzen Abend sicher nicht mehr wechseln“, sagte er mit tiefer Stimme und mit einer derartigen Überzeugtheit von sich selbst, dass ich mir ein Grinsen nicht verkneifen konnte ��" zu meinem Pech schien er das als ein Ja zu verstehen. Er streckte seinen Arm aus und wollte nach meiner Hand greifen, um mich wahrscheinlich zu den Umkleidekabinen zu führen, aber innerhalb des Bruchteils einer Sekunde stand Jethro vor mir und die Finger das anderen stießen gegen seine Brust. Der Mann blinzelte dümmlich und sein Grinsen verschwand von seinen Lippen.
„Sehen wir vielleicht so aus, als ob wir Lust auf einen Dreier hätten?“ grollte er gefährlich ruhig und zu meiner Überraschung konnte ich eine Spur Angst und Unsicherheit in den dunklen Augen des Fremden erkennen. „Aber… aber das ist doch das heutige Thema“, sagte der Mann zögernd. „Was mein Ehemann damit sagen wollte“, meinte ich und konnte nicht umhin, das Wort zu betonen, „ist, dass wir bereits ein anderes Angebot angenommen haben. Aber Sie werden sicher noch ein anderes Paar finden.“ Ich packte Gibbs am Arm und zog ihn Richtung Oliver Farraday, der einen orangefarbenen Cocktail trank und über irgendetwas lachte, das einer seiner Gesprächspartner gesagt hatte. Er wirkte so unbeschwert und glücklich, dass es mir einen kleinen Stich ins Herz versetzte, weil wir seine Welt wohl in Kürze durcheinander bringen würden. Einen Menschen zu verlieren, den man über alles liebte, war eine wahre Schreckensnachricht ��" davon konnte ich ein Lied singen, nur hatte ich das Glück gehabt, Gibbs wiederzubekommen. Hin und wieder dachte ich noch an die Ereignisse, die beinahe unsere Beziehung ruiniert hätten, die mir aber Gott sei Dank wie ein schlechter Traum vorkamen.

„Was für ein arroganter Kerl“, knurrte er und warf diesem noch einen gefährlichen Blick zu. „Was hast du auch erwartet, Jethro? Wir sind immerhin in einem Swingerclub. Da ist es doch normal, wenn man angesprochen wird. Deshalb kommen die Leute auch hierher.“ „Aber wir nicht.“ „Dann hättest du dir Bundesagent auf die Stirn tätowieren sollen. Abby hätte das sicher gerne für dich erledigt.“ Er sah mich belustigt mit erhobenen Augenbrauen an. „Ich lasse mich lieber tätowieren, als dass ich dich mit irgendjemandem teile, Tony. Du gehörst nur mir.“ Die letzten Worte hatte er sanft ausgesprochen und schlang einen Arm um meine Taille. „Ich liebe dich auch“, erwiderte ich, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und zwinkerte Lolita zu, die uns mit großen Augen beobachtete. Vor ihr stand ein leeres Glas und sie war nicht mehr ganz so blass. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie ihr Liebesradar nicht im Stich gelassen hatte und nicht am Alkohol. Larry schenkte ihr nach und musterte uns eingehend. Ihm schien es nicht sonderlich zu gefallen, Bundesagenten hier zu haben.
Jeder der sechs Männer, die beieinander saßen, hatten ein anderes Outfits an, manche mit Masken, manche ohne. Oliver gehörte zu denen ohne Maske und er schien zu spüren, dass wir wegen ihm hier waren, jedenfalls hob er den Kopf und blickte uns an. Er war attraktiver als auf dem Phantombild, das ich wieder zusammenfaltete und in meine Jackentasche zurücksteckte. Mit einem leisen Geräusch stellte er das halbleere Glas auf den Tisch, stand auf und richtete sich seinen Tanga, der noch enger war als jener von dem anderen Kerl.
Jethro holte erneut seinen Ausweis hervor und stellte uns vor. „Ist es wegen Nigel?“ fragte er sofort und Panik trat in seine grauen Augen. „Ist… ist ihm etwas passiert? Ist das der Grund, warum er noch nicht hier ist? Wir wollten uns um halb sechs hier treffen und…“ Er brach ab und blickte uns flehend an. Da uns die anderen Fünf interessiert musterten, ruckte Gibbs mit seinem Kopf in Richtung Bar. Ich nahm Oliver sanft am Oberarm und führte ihn zum Tresen, wo er sich wie mechanisch auf einen der Hocker setzte. Lolita sah ihn mitleidig an und Larry stellte ihm sofort ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit hin. Alkoholgeruch stieg mir in die Nase und mir wurde schon schwummrig, wenn ich nur stark Luft holte.
Jethro und ich setzten uns links und rechts von Oliver an die Bar. „Mister Farraday“, begann er leise, obwohl uns niemand außer der jungen Frau und dem muskelbepackten Mann zuhören konnte ��" die anderen drei, die vorhin hier gewesen waren, waren nach oben verschwunden. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Nigel Wilder heute Morgen in seiner Wohnung ermordet aufgefunden wurde.“ Zuerst kam keine Reaktion, Oliver starrte auf die vielen Flaschen direkt vor ihm, aber dann vergrub er sein Gesicht in seinen Händen und seine breiten Schultern fingen zu beben an.
„Mister Farraday“, sagte Gibbs und ihm schien es nichts auszumachen, dass vor ihm ein Mann in Tränen ausgebrochen war, während ich nicht wirklich wusste, was ich tun sollte. Bei Frauen war das irgendwie leichter, ihnen konnte man Taschentücher anbieten, aber ich hatte keine Ahnung, ob das Oliver überhaupt wollte. Vielleicht war er eher der Typ, der sich die Nase lieber am Hemdsärmel abwischte oder in diesem Fall am nackten Unterarm.
„Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Dieser machte eine Bewegung mit dem Kopf, die wie ein Nicken aussah. „Wann haben Sie Nigel das letzte Mal gesehen?“ „Gestern Abend“, kam prompt die Antwort, gefolgt von einem leisen Schluchzen. Gleich darauf ließ er die Hände sinken und blickte uns an. „Wir haben… wir haben… Sie wissen schon.“ „Miteinander geschlafen?“ half ich ihm weiter und er nickte erneut. Er wischte sich mit einer Hand über die tränennassen Wangen und holte tief Luft. „Nigel ist gegen 20 Uhr bei mir aufgetaucht und hat mir von einem anscheinend heißen Typen erzählt, den er in seinem Lieblingssexshop getroffen hat. Aber dessen Freund war ziemlich eifersüchtig und hat ihn rüde abgewiesen. Vielleicht hat der ja etwas damit zu tun“, fügte er hinzu und ich grinste Gibbs hinter Olivers Rücken an. Dieser hatte ihn gerade unwissentlich des Mordes bezichtigt, aber ihn schien das ebenfalls eher zu amüsieren als zu ärgern. „Wir werden dem nachgehen“, meinte er und schien es nicht für nötig zu halten, den jungen Mann aufzuklären, dass dieser „heißer Typ und sein eifersüchtiger Freund“ gerade neben ihm saßen. Ich biss mir auf die Zunge, damit mir kein Kommentar entkam.
„Wann ist Nigel wieder gegangen?“ fragte Jethro, während Farraday dazu übergegangen war, auf seine Hände zu starren. Die Tränen waren versiegt und er hatte sich wieder besser in der Gewalt ��" jedenfalls äußerlich. „Gegen zehn nach zehn. Ich habe ihm gesagt, er soll sich ein Taxi rufen. Er braucht zwar zu Fuß nur 15 Minuten bis zu seiner Wohnung, aber die liegt in keiner sicheren Gegend. Mir wäre wohler gewesen, wenn er sich ein Taxi genommen hätte. Wäre er doch nur bei mir geblieben. Aber er hat gesagt, er wolle mich nicht stören, weil er früh raus musste, um zur Arbeit zu fahren. Wäre ich doch nur hartnäckiger gewesen, wäre er noch am Leben“, fügte er hinzu, schluchzte, nahm schließlich das Glas und leerte es in einem Zug bis zur Hälfte. Der Alkohol raubte ihm für ein paar Sekunden den Atem und trieb ihm Tränen in die Augen.

„Wissen Sie, ob Nigel irgendwann einmal jemanden zurückgewiesen hat? Vielleicht hier im Club?“ fragte ich, in der Hoffnung auf eine Antwort, die uns weiterbrachte. Oliver starrte ins Glas und schüttelte schließlich den Kopf. „Nein, er hat nie ein Angebot abgelehnt, das er bekommen hat. Und er hat mir nie erzählt, dass er jemanden zurückgewiesen hat. Aber ich weiß nicht alles von seiner Vergangenheit. Wir kannten uns doch erst seit einem Monat und dachten, wir hätten noch genug Zeit, um das Leben des jeweils anderen zu erkunden. Ich weiß nur, dass seine Mutter noch lebt und er eine wirklich gute Beziehung zu ihr hat. Sein Vater war bei den Marines, so wie Nigel. Wir… wir haben eher die Stunden genutzt, um uns zu amüsieren, als über die Vergangenheit zu reden.“
Oliver trank den Rest aus, stellte das Glas aber noch immer nicht zurück, sondern drehte es in seinen Fingern hin und her. „Was haben Sie gemacht, als Nigel weg war?“ wollte ich wissen, da ich nicht direkt nach seinem Alibi fragen wollte. Ich glaubte sowieso nicht, dass er Wilder ermordet hatte, außerdem hätte er gar kein Motiv, da er ja nicht zurückgewiesen worden war. „Ich habe mich vor den Fernseher gelegt und mir Schlaflos in Seattle angesehen.“ „Klasse Film“, rutschte es mir heraus und erhielt prompt einen strafenden Blick von Jethro. „Ich habe nicht sonderlich viel davon mitbekommen“, erwiderte Oliver und drehte das Glas immer schneller. „Ich war zu sehr in den Erinnerungen versunken, was Nigel und ich… also, was wir getan haben. Und wenn ich mir jetzt vorstelle, dass er nie wieder zurückkommt… tut mir leid“, murmelte er, als erneut Tränen auf seine Wangen tropften. Larry kam sofort herbeigeeilt und schenkte ihm nach. Gibbs stand auf und bedeutete mir, es ihm gleichzutun.
„Wenn Ihnen noch irgendetwas einfallen sollte, egal was, rufen Sie mich an“, sagte er und legte eine Karte auf den Tresen neben den schluchzenden Oliver. Dieser nickte leicht und ertränkte seine Trauer gleich darauf in Alkohol. Es war zwar kein Bourbon, aber es erinnerte mich erneut an die Ereignisse vor eineinhalb Jahren, als ich ebenfalls versucht hatte, meinen Kummer mit Alkohol zu dämpfen ��" erfolglos. Dadurch war alles nur noch schlimmer geworden, gefolgt von einem Kater, wie ich ihn seit dem College nicht mehr gehabt hatte.
Gibbs, der zu ahnen schien, wohin meine Gedanken abgeschweift waren, ergriff meine rechte Hand und drückte aufmunternd zu. Ich lächelte ihn an, zum Zeichen, dass es mir gut ging und gemeinsam strebten wir auf die Tür zu. Mittlerweile hatten sich auch die anderen nach oben verzogen und wir waren alleine, bis auf Larry, Oliver und Lolita, die sich uns in den Weg stellte. Sie blickte wissend auf unsere miteinander verschränkten Finger. „Ich habe ja gewusst, dass ihr ein Paar seid. Mich kann man nicht so leicht täuschen. Es ist sicher nicht einfach, zusammen zu leben und zusammen zu arbeiten.“ „Wir bekommen es ganz gut auf die Reihe“, erwiderte Gibbs und ich nickte zustimmend. „Und ihr seid sicher, dass ihr nicht doch bleiben wollt? George hat ja großes Interesse an euch gezeigt.“ „Ähm nein, wir bleiben lieber unter uns. Außerdem teilt Jethro nicht gerne“, meinte ich augenzwinkernd. „Wie wahr“, brummte er und verleitete Lolita zu einem herzlichen Lachen.
„Nun, dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend. Ich werde mich um Oliver kümmern. Er kann jetzt sicher ein wenig Aufmunterung gebrauchen.“ „Aber passen Sie auf, dass er sich nicht betrinkt. Alkohol hilft nicht gegen Trauer“, sagte ich, worauf sie ihren Kopf schief legte und mich intensiv musterte. „Sie sprechen aus Erfahrung, oder?“ fragte sie und ich nickte. „Ja, aber das ist eine längere Geschichte, die schließlich mit einer Hochzeit geendet hat.“ Lolita blickte mit großen Augen zwischen Jethro und mir hin und her, ehe ihr Mund zu einem perfekten „O“ wurde. „Aber im Gegensatz zu mir wird Oliver den Menschen, den er liebt, nicht wieder zurückbekommen“, fügte ich hinzu und sah noch einmal zu dem jungen Mann, der gebeugt dasaß, so als ob er die gesamte Last der Menschheit auf seinen Schultern tragen würde. „Ich passe auf ihn auf“, sagte sie schließlich und schüttelte unsere Hände, bevor sie sich verabschiedete und uns alleine ließ.

Es war kurz nach 18 Uhr, als wir wieder auf den kurzen Flur hinaustraten und die Tür hinter uns leise ins Schloss fiel. „Farraday ist sicher nicht unser Täter“, ergriff ich das Wort, während wir zum Fahrstuhl gingen. „Er hat Nigel wirklich geliebt und hatte einfach kein Motiv.“ „Ich gebe dir Recht, Tony. Und das heißt wohl, wir stehen wieder am Anfang“, erwiderte Gibbs und drückte den Abwärtsknopf. „Ja, aber darüber machen wir uns erst morgen Gedanken“, meinte ich und grinste breit ��" einerseits, weil wir pünktlich nach Hause fahren würden, andererseits, weil er mir Recht gegeben hatte. „Jetzt werden wir erst einmal den Feierabend genießen.“ „Und ich werde uns etwas Köstliches kochen“, sagte Jethro und zog mich in den Fahrstuhl. „Danach habe ich richtig Lust, ein kleines Picknick mit dir und leckeren Erdbeeren im Garten abzuhalten und dabei die Sterne zu beobachten.“ „Die Sterne?“ fragte ich interessiert, erhielt aber keine Antwort darauf, sondern lediglich ein geheimnisvolles Lächeln. Und auf einmal hatte ich das Gefühl, dass es das erste Mal war ��" seit ich angefangen hatte, ihn mit meiner Neugierde zu nerven - dass er etwas von dem Hochzeitstagsgeschenk verraten hatte, das ich bald von ihm erhalten würde.

Fortsetzung folgt...
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